zwei kaufvorschriften im recht von gortyn

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Miszellen Zwei Kaufvorschriften im Recht yon Gortyn*) IC IV 41 col. VII 1-19 und 72 col. VII 10-15 I. In dem erhaltenen Inschriftenmaterial aus Gortyn sind zwei Gesetzes- stellen zu finden, die Vorschriften für den Verkauf von Tieren und Sklaven enthalten: IC IV 41 col. V I I I —19 („Inschrift der Nordmauer", im folgenden: Text A) und IC IV 72 col. VII 1 0 - 1 5 („Großes Gesetz", im folgenden: Text B) 1 ). Die herrschende Meinung erklärt beide Texte als die ersten Erscheinungen der Gewährleistung für Sachmängel in einer archaischen Periode der griechischen Rechtsentwicklung 2 ) : Der Verkäufer eines Sklaven müsse innerhalb einer gesetzlich vorgeschriebenen Frist (30 bzw. 60 Tage nach dem Kauf) für die von diesem vor oder nach Vertragsschluß begangenen Delikte Gewähr leisten. Hatte der Sklave ein Delikt begangen, könne ihn der Käufer dem Verkäufer zurück- geben. Dagegen möchte ich im folgenden einen Interpretationsversuch vorführen, der die beiden Quellen nicht als Redhibitionsfall versteht: Die Stellen sind vielmehr als Regelung der Haftung für Schäden durch die verkauften Tiere und Sklaven zu erklären und handeln von noxae deditio an den Geschädigten. *) Die vorliegende Untersuchung ist während eines Stipendienaufenthaltes der Verfasserin am Leopold Wenger-Institut in München entstanden. Den Herren Prof. Dr. G. Thür, Prof. Dr. D. Nörr und Doz. Dr. A. Bürge schulde ich vielen Dank für wichtige Hinweise und Anregungen. Besonders herzlich danken möchte ich Herrn Prof. Dr. G. Thür für die sorgfältige Thema- beratung, seine wichtigen Hinweise im Gespräch und die geduldige Durchsicht des Manuskriptes, womit er bei der Entstehung dieser Arbeit sehr bedeutsam mitgewirkt hat. 1 ) Die Interpretation der beiden gortynischen Gesetzesbestimmungen ergab sich im Laufe einer Untersuchung der Gewährleistung für Sachmängel auf dem Gebiet des griechischen Rechts. 2 ) Vgl. R . D a r e s t e , Recueil des inscriptions juridiques grecques I, Paris 1895, 375, 397; F. Bücheler —E. Zitelmann, Das Recht von Gortyn, Frank- furt 1885, 168; F. Bechtel SGDIIII/2, 4991; J. Kohler-E. Ziebarth, Das Stadtrecht von Gortyn, Göttingen 1912, 54; M. Guarducci, Kommentar zu IC IV 41 col. VII 1-19 und IC IV 72 col. VII 10-15; R. F. Willets, The Law Code of Gortyn, Berlin 1967, 45; F. Pringsheim, The Greek Law of Sale, Weimar 1950, 451; R . Metzger, Untersuchungen zum Haftungs- und Ver- mögensrecht von Gortyn, Basel 1973, 80ff.; anders nur J . u. Th. Baunack, Die Inschrift von Gortyn, Göttingen 1912, 108, 132. Brought to you by | Heinrich Heine Universität Düsseldorf Authenticated | 134.99.128.41 Download Date | 9/19/13 12:44 PM

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Page 1: Zwei Kaufvorschriften im Recht von Gortyn

Miszellen

Zwei Kaufvorschriften im Recht yon Gortyn*)

IC IV 41 col. VII 1-19 und 72 col. VII 10-15

I. In dem erhaltenen Inschriftenmaterial aus Gortyn sind zwei Gesetzes-stellen zu finden, die Vorschriften für den Verkauf von Tieren und Sklaven enthalten: IC IV 41 col. V I I I —19 („Inschrift der Nordmauer", im folgenden: Text A) und IC IV 72 col. VII 1 0 - 1 5 („Großes Gesetz", im folgenden: Text B)1). Die herrschende Meinung erklärt beide Texte als die ersten Erscheinungen der Gewährleistung für Sachmängel in einer archaischen Periode der griechischen Rechtsentwicklung2) : Der Verkäufer eines Sklaven müsse innerhalb einer gesetzlich vorgeschriebenen Frist (30 bzw. 60 Tage nach dem Kauf) für die von diesem vor oder nach Vertragsschluß begangenen Delikte Gewähr leisten. Hatte der Sklave ein Delikt begangen, könne ihn der Käufer dem Verkäufer zurück-geben.

Dagegen möchte ich im folgenden einen Interpretationsversuch vorführen, der die beiden Quellen nicht als Redhibitionsfall versteht: Die Stellen sind vielmehr als Regelung der Haftung für Schäden durch die verkauften Tiere und Sklaven zu erklären und handeln von noxae deditio an den Geschädigten.

*) Die vorliegende Untersuchung ist während eines Stipendienaufenthaltes der Verfasserin am Leopold Wenger-Institut in München entstanden. Den Herren P r o f . Dr. G. T h ü r , P r o f . Dr . D. Nörr und Doz. Dr . A. Bürge schulde ich vielen Dank für wichtige Hinweise und Anregungen. Besonders herzlich danken möchte ich Herrn Prof. Dr . G. Thür für die sorgfältige Thema-beratung, seine wichtigen Hinweise im Gespräch und die geduldige Durchsicht des Manuskriptes, womit er bei der Entstehung dieser Arbeit sehr bedeutsam mitgewirkt hat.

1) Die Interpretation der beiden gortynischen Gesetzesbestimmungen ergab sich im Laufe einer Untersuchung der Gewährleistung für Sachmängel auf dem Gebiet des griechischen Rechts.

2) Vgl. R . D a r e s t e , Recueil des inscriptions juridiques grecques I, Paris 1895, 375, 397; F . B ü c h e l e r —E. Z i t e l m a n n , Das Recht von Gortyn, Frank-furt 1885, 168; F . B e c h t e l SGDIII I /2 , 4991; J . K o h l e r - E . Z i e b a r t h , Das Stadtrecht von Gortyn, Göttingen 1912, 54; M. Guarducc i , Kommentar zu IC IV 41 col. VII 1 - 1 9 und IC IV 72 col. VII 1 0 - 1 5 ; R . F . W i l l e t s , The Law Code of Gortyn, Berlin 1967, 45; F . Pr ingshe im, The Greek Law of Sale, Weimar 1950, 451; R . Metzger , Untersuchungen zum Haftungs- und Ver-mögensrecht von Gortyn, Basel 1973, 80ff.; anders nur J . u. Th . B a u n a c k , Die Inschrift von Gortyn, Göttingen 1912, 108, 132.

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536 Miszellen

II. Die Texte Text A: IC IV 41 col. V I I 1 - 1 9

. · Μ ]ταί χ-ρήματα επί ναόν επι-διόμεν\ον\ ή έπελενσ-αντα ή ]στα[.

5 . ]Αο[. . . ]α[. ] πεπά&αι

τούτον [ ]ta[.. .]πε[. ,].αι [τό]μ πριάμ-ενον [τοις μεμπ]ο[μέ-νοις τον] κρημάτον τάν

10 αταν κατ[ι]σστά[μ]?ίν α-ί] βεκάστδ εγρατται, κ-αι τάν ανδρ' αυτόν επί τοις [μ]εμπομένοις τ-ον κρημάτον ημην, αϊ χ-

15 α μη περαιόσει ή κα πρία-ται εν ταϊς τριάκοντ' άμέ-ραις. ai δέ κα συνγνδντι τ-άν δίκ' άμεράν μη περαώσ-η]ν, άνδοκάν δε καί

T e x t Β: IC I V 72 col. V I I 1 0 - 1 5

Wer χρήματα3) zum Tempel hintreibt oder hinträgt ...

Der Käufer soll denjenigen, die wegen der χρήματα klagen, die Buße zahlen, wie es aufgeschrieben ist, und der (unfreie) Mann soll denjenigen gehören, die wegen der κρήματα klagen, wenn er (diese) nicht innerhalb von dreißig Tagen nach dem Kauf herausgibt. Wenn sie (d. h. die Kläger) aber innerhalb von zehn Tagen zustimmen, daß er (diese) nicht herausgibt, aber Bürgschaft und ...4).

10 α\ΐ] κ' εκς ay-οράς πρ\ί]άμενος δδλον με π-

εραιόσει τάν βεκσεκοντ' άμ-

εράν, αϊ τινά κα πρό&' άδικε-ÍV

χει ε ύστερον, τ δι πεπαμέν-

15 οι ενδικον Β μεν.

Wenn jemand einen Sklaven auf dem Markt gekauft hat, und (ihn) nicht innerhalb von sechzig Tagen herausgibt, wenn er jemandem vorher oder nachher Schaden

zugefügt hat, soll die Klage gegen den Erwerber zulässig sein6).

3) Die „χρήματα" bezeichnen Vermögensgegenstände; darunter sind ebenso Sachen wie Tiere oder Sklaven zu verstehen. Es ist fraglich, ob die κρήματα nur bewegliches Vermögen bedeuteten; vgl. dazu — auch für die frühere Literatur — D. L o t z e , Studien zur Rechtsstellung unfreier Landbevölkerungen in Griechen-land bis zum 4. Jh. v. Chr., Berlin 1959, 12ff. Aus dem Vergleich mit col. I ergibt sich, daß es hier um Tiere geht, die Schaden gestiftet haben.

4) Dagegen ist die typische Übersetzung ζ. B. bei Dares te (o. Anm. 2) 397 zu lesen: « . . .L 'homme qui aura amené ou porté dans un temple des objets ... L'acheteur paiera à ceux qui réclament les objets le montant de la condamnation, tel qu'il est écrit pour chaque cas, et l'homme appartiendra de sa personne aux réclamants, si l'acheteur ne résilie pas dans les trente jours de l'achat. Si dans les dix jours ils conviennent de ne pas résilier, mais de fournir une caution e t . . . » Ahnlich bei Koh l e r — Z i ebar th (o. Anm. 2) 31: „der Mann, welcher Besitz-tümer zum Tempel hintreibt oder hinträgt ... Der Käufer soll denen, welche die Güter zurückverlangen, die Geldstrafe, so wie für jeden Eall gesetzlich festgesetzt ist, zahlen, und der Mann soll mit seiner Person denen haften, welche die Güter zurückverlangen, wenn der Käufer nicht innerhalb dreißig Tagen den Kauf rückgängig macht. Wenn sie aber innerhalb zehn Tagen übereinkommen, nicht rückgängig zu machen, aber Bürgschaft und . . ." Vgl. auch Guarducci , Kom-mentar zu IC IV 41 col. V I I 1 - 1 9 ; Bechte l SGDI III/2, 4998; Me t zge r (o. Anm. 2) 82ff. ; wo ,,περαιόσει" mit „zurückverkauft" übersetzt wird.

6) Als typische Übersetzung kann die von Dares te (o. Anm. 2) 375 zitiert werden : « Si quelqu'un ayant acheté un esclave au marché n'a pas résilié dans

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Page 3: Zwei Kaufvorschriften im Recht von Gortyn

E. Jakab , Kaufvorschriften in den IC 537

I I I . Aus drei Gründen wird nunmehr versucht, die herrschende Inter-pretat ion als Redhibitionsfall zu widerlegen und andere Möglichkeiten einer vernünftigen Erklärung zu f inden: aus der Grundbedeutung von περαώσει, aus dem Textzusammenhang und aus dem Ergebnis der Einzelexegesen.

A. D i e G r u n d b e d e u t u n g d e s W o r t e s „ π ε ρ α ι ό ω " in d e n a n t i k e n Q u e l l e n . Eine abweichende Möglichkeit, die beiden Texte zu verstehen, ergibt sich einmal aus der Übersetzung eines einzigen Wortes, des ,,περαιόσει" (Text A, Z. 15, 18/19; Text Β, Z. 11/12). I n der hier vorgeschlagenen Übersetzung „heraus-geben" ist die Grundbedeutung des Verbes verwendet: „hinüberfahren, hinüber-liefern, übersetzen. . ." 6 ) . I n zahlreichen antiken Quellen ist das Verbum in diesem Sinne gebraucht ') . Als zweite mögliche Bedeutung wird das Wort in den meisten Wörterbüchern mit „περαίνω" gleichgesetzt8). Es ist bemerkenswert, daß das „περαιόω" hauptsächlich in den früheren Quellen in der ersten Bedeutung gefunden werden kann. I n den Wörterbüchern, die den römerzeitlichen und byzantinischen Wortschatz verarbeiten, finden wir entweder nur das „περαίνω" mit seiner Bedeutung: „beenden, vollenden, zum Ende bringen"9) oder beide Verbformen in der gleichen Bedeutung10). Demnach gehen die meisten Heraus-geber und Interpreten der Gesetze von Gortyn von der späteren und häufigeren Form des Verbum (περαίνω) aus.

Im Großen Gesetz kommt das Wort in verschiedenen Formen vor: περαώσει VII 11/12, πέρει I I I 4, V 37, περοι I I I 2, 23, 30, 43. In der früheren Edition von J . und Th. Baunack11) wurde das Wort bei allen Formen konsequent mit der Grundbedeutung übersetzt. Aber schon Bücheler und Zitelmann haben bei manchen Stellen zwar die Grundbedeutung beibehalten12), bei anderen — wegen der Interpretationsschwierigkeiten — aber eine abweichende Lösung bevorzugt13).

les soixante jours, et que l'esclave ai t fai t quelque tor t avan t ou depuis l 'achat au marché, le procès sera dirigé contre le détenteur. » Ahnlich auch K o h 1er — Z i e b a r t h (o. Anm. 2) 19: „Wenn jemand einen Sklaven vom Markte kauf t und nicht binnen sechzig Tagen den Kauf rückgängig macht, soll fü r den Fall, daß der Sklave vor dem Kauf jemandem Unrecht zugefügt hat oder es später tu t , der Besitzer verantwortlich sein." Vgl. auch G u a r d u c c i , Kommentar IC IV 72 col. VI I 1 0 - 1 5 ; B e c h t e l SGDI I I I /2 , 4991; B ü c h e l e r - Z i t e l m a n n (o. Anm. 2) 30; W i l l e t s (o. Anm. 2) 45; P r i n g s h e i m (o. Anm. 2) 451; M e t z g e r (o. Anm. 2) 80ff.

6) Vgl. " to pass, a c r o s s . . . " nach L i d d e l l - S c o t t und H . S t e p h a n u s , Thesaurus Graecae linguae, Paris 1842 — 1847.

7) Vgl. z. B .Thukyd . 1. 5.; 4. 121.; 6. 34.; Polyb. 1. 11. 9., 1. 166., 3. 113. 6.; Plut . Mor. p 196C; Aristoph. Ran. 138.; Plato Axioch. p 3 6 8 B ; Xenoph. Anab. 7. 2. 12.; Lukian De luctu 5.

8) Für diese Bedeutung werden aus der zeitgenössischen Literatur Xen. Hell. 2. 4. 39. ; und daneben noch weitere spätere Quellen (ζ. B. Hesych. ; Leo Diac. Hist, p 37. 19.; Philo vol. 2. p 384. 7.; Clem. Al. p 374.) zitiert.

9) So ist in der folgenden Ausgabe nur das περαίνω erwähnt : G. W . H . L a m p e , A Patristic Greek Lexicon, Oxford 1961: περαίνω = fulfill, limit.

10) So ζ. Β. E . A. S o p h o k l e s , Greek Lexicon of the Roman and Byzantine Periods, New York 1900: περαιόω = περαίνω = to bring to an end, to finish, end, complete.

11) VI I 11/12: nach dem Ausland verhandelt , I I I 2, 4, V 37: wegträgt, weg-führ t , I I I 23, 30, 43 : wegnimmt.

12) I I I 4, V 37, I I I 2, 23, 30, 43: wegträgt. 13) VI I 11/12: Ziel setzen läßt, vgl. damit I X 44: mit Ziel . . . und auf Ziel . . .

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Page 4: Zwei Kaufvorschriften im Recht von Gortyn

538 Miszellen

Der Gedanke, die Stelle mit der Redhibition zu erklären, geht auf Dareste14) zurück und wurde seither in jeder Neuausgabe und Kommentierung der Texte übernommen15).

B. A r g u m e n t e a u s dem T e x t z u s a m m e n h a n g . Auch der Blick auf die Umgebung der beiden Texte spricht gegen ihre Deutung im Sinne der Red-hibition.

1) Text Α. In den davor stehenden Kolumnen der Inschrift der Nord-mauer sind verschiedene Regelungen getroffen, die sich mit Fällen der Schädi-gung des Eigentümers befassen. Kurz zusammengefaßt können folgende Haupt-gruppen unterschieden werden: Tierschäden (col. I I — I I I 7), Verkauf des flüchtigen Unfreien (col. IV), Landbearbeitung- und Fruchtziehungsrecht der Gewaltunterworfenen (col. V4—10), Haftung für die Schäden, die Unfreie erlitten oder zugefügt hatten (col. V 11—VI 16). Danach kommt unsere Stelle (col. VII).

Schon nach der Stellung des Textes im Gesamtzusammenhang kann ver-mutet werden, daß auch hier die Haftungsfrage wegen irgendwelcher Schäden geregelt ist, die auf dem Verhalten eines Tieres oder eines Unfreien beruhen.

2) Text B. Der Überblick über das Große Gesetz gestaltet sich schwieriger als die Behandlung der Inschrift von der Nordmauer: Von dem hier zusammen-gefaßten Material sind nämlich fast alle Lebensverhältnisse betroffen. Als Zentralfrage kann aber die kasuistische Regelung von Statusverhältnissen bezeichnet werden. So sind vor unserem Text familienrechtliche Probleme (Ehebruch 1 1 2 - 4 5 , Scheidung I I 45-11116, Erbrecht der Frau I I I 17 -31) und die Klassen der gesetzlichen Erbfolge (V 8—VI 43) geregelt. Für die Technik der Gesetzgebung ist es typisch, daß alle möglichen Streitfälle, die im Zusammen-hang mit bestimmten Lebensverhältnissen auftreten können und gesetzlicher Regelung bedürfen, assoziativ möglichst am gleichen Ort behandelt werden. Deshalb scheint das ganze Gesetz — im Vergleich mit einem heutigen Gesetz-buch — sehr unsystematisch und unlogisch zu sein. Aber diese Gesetzestechnik und dieses „System" entsprechen den Befürfnissen jener Zeit. Es ist das System des Gewohnheitsrechts, dessen Normen nach den empirischen Erfahrungen in der Praxis langsam entwickelt werden. In diesem System kann es als selbst-verständlich angenommen werden, daß mit dem Status der Frau sich auch die Probleme der Scheidung (II 4 6 - I I I 1 6 ) , des Erbrechtes (III 17—31) oder des unehelichen Kindes (III 44—IV 23) geregelt finden. Ebenso wird im Anschluß an die „kleine Familie" (Frau, Kinder und das Erbrecht der letzten) der Status der unfreien Familienangehörigen behandelt.

Aus diesen Normen kann die Umgebung unseres Textes zusammengestellt werden. Unmittelbar davor (VI 46—VII 10) steht eine Sachverhaltsgruppe, die mit den vorher und nachher regulierten Lebensverhältnissen nur lockere Ver-bindung hat. Unter die erbrechtlichen Tatbestände sind solche Fälle einge-

14) Text A Z. 15: ne résilié, Ζ. 18: ne pas résilier (o. Anm. 4); Text Β Z. 11/12: n'a pas résilié (o. Anm. 5).

15) Vgl. K ö h l e r — Z i e b a r t h (o. Anm. 2) 17, 31 : den Kauf rückgängig macht; ähnlich B e c h t e l SGDI III/2, 4991, 4998; W i l l e t s (o. Anm. 2) 45, 70; P i n g s -he im (o. Anm. 2) 451ff.

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Page 5: Zwei Kaufvorschriften im Recht von Gortyn

E. J a k a b , Kauf Vorschriften in den IC 539

gliedert, welche die Ents tehung der Unfreiheit und die daraus folgenden Probleme zum Inha l t haben. Es handel t sich dabei jedoch um keine vollständige Auf-zählung der Ents tehungsar ten der Sklaverei. Man ha t den Eindruck, daß hier nur solche Fragen interessieren, welche die Sta tusveränderung irgendwie be-rühren. Ih r gemeinsames Merkmal liegt darin, daß die erwähnten Personen ihren S tand oder ihre „Familie"16) gewechselt haben. So wird zunächst eine spezielle Schuldknechtschaft e rwähnt (VI 46—55)17), nachher die E h e zwischen Freien und Sklaven (VI 55—VII 10) mit der Sta tusbes t immung der Kinder und deren Erbrecht1 8) . I n diesem Zusammenhang wird auch das Problem des auf dem Markt gekauf ten Sklaven geregelt, der Schäden zugefügt h a t (VII 10—15). Nachher sind sehr lang und ausführlich wieder erbrechtliche Probleme behandel t (VII 1 5 - I X 24).

Der Textzusammenhang weist also in die Richtung, daß auch unser Text Β (VII 10—15) bes t immte Wirkungen zum Gegenstand ha t , die mi t dem Familien-band oder dem Gewaltverhältnis über Unfreie zusammenhängen. Der Schwerpunkt der Regelung liegt jedenfalls auf statusrechtl ichen nicht auf kaufrecht l ichen Fragen.

C. I n t e r p r e t a t i o n d e r b e i d e n T e x t e . Vor allem m u ß hier auf ein Specificum der gortynischen Gesetze hingewiesen werden: Auch das „Große Gesetz"' kann als kein selbständiges, umfassendes Gesetzbuch be t rachte t werden. Mit ihm wurde nur Gewohnheitsrecht aufgezeichnet, allenfalls f rühere Normen ergänzt und korrigiert19). Das Material der Bruchteile, die in verschiedenen Rechtsentwicklungsperioden ents tanden sind, bau t manchmal aufeinander auf . Demgemäß könnte m a n auch unsere Texte A und Β als aufeinander au fbauend verstehen20). Die unterschiedlichen Sachverhaltselemente der Texte (die un ten noch behandelt werden) sind durch ein gemeinsames Merkmal ve rknüpf t . Dieses bildet die H a f t u n g fü r die Schäden durch ein gekauftes Tier oder einen gekauf ten Sklaven: Wer haf te t , wenn das Tier oder der Unfreie durch Kauf seinen „πάστας" wechselt, aber vorher (oder nachher) j emandem Schaden zugefügt hat21)?

14) Unte r „Familie" ist hier die sog. „Großfamilie" bezeichnet, wozu nicht nu r die Blutverwandten, sondern auch die Sklaven oder anderen unfreien Angehörigen gerechnet werden können.

17) IC IV 72 col. VI 46—55: Wenn jemand aus der Gefangenschaft losgekauft worden war, gehörte er dem Loskaufenden so lange, bis er das Lösegeld bezahlt ha t te .

18) IC IV 72 col. VI 55—VII 10: Als Hauptzweck der Regelung kann auch hier die Sta tusfrage (ob die Ehega t t en und deren Kinder als Freie oder als Unfreie zu behandeln sind) und das Erbrecht bezeichnet werden.

19) Vgl. dazu B ü c h e l e r — Z i t e l m a n n (o. Anm. 2) 46; K o h l e r — Z i e b a r t h (o. Anm. 2) 42; W i l l e t s (o. Anm. 2) 8. M. G a g a r i n , Ear ly Greek Law, Uni-versity of California Press 1986, 96ff. , 138ff., ve rmute t , daß die Normen der Großen Inschrif t schon f rüher irgendwo schriftlich niedergelegt waren und nach einiger Zeit im „Great Code" zusammengefaßt und in Gruppen gegliedert wurden.

20) Ähnlich sind die beiden Texte auch von M e t z g e r (o. Anm. 2) 80ff . in engem Zusammenhang behandelt .

21) Die „Normalfäl le" der H a f t u n g fü r Tierschäden sind in IC IV 41 col. I I —II I 7; f ü r Schäden durch den Schuldknecht in col. V 10 — VI 16; durch den verpfändeten Sklaven in IC IV 47, 1 — 33 geregelt.

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Page 6: Zwei Kaufvorschriften im Recht von Gortyn

540 Miszellen

1) Text Α. Im Text sind zwei Wörter gebraucht, aus denen die Grund-gedanken der Interpretation abgeleitet werden können: Einmal zeigen ,,πριάμε-vov" (Z. 7/8) und ,,πρίαταί" (Ζ. 15/16) einen abgeschlossenen Kauf an; zum anderen machen die „χρήματα" (Ζ. 2, 9, 14), die zum Tempel hingetrieben (Z. 2 bis 4) wurden und wegen derer geklagt wurde (Z. 8/9, 13/14), das Vorhandensein irgendwelcher Tierschäden wahrscheinlich.

Aus der Tatsache, daß der Text drei verschiedene Haftungslösungen enthält , nämlich die Bußzahlung des Käufers (Z. 7—11), den Verfall eines Unfreien22) zugunsten der Kläger (Z. 12—14) und die Herausgabe irgendwelcher Sachen (Z. 15), kann gefolgert werden, daß am Sachverhalt mindestens drei Personen beteiligt sind: Kläger, Käufer und ein Unfreier; ferner sind noch ein schädigendes und ein geschädigtes Tier anzunehmen. Die komplizierte Einbeziehung einer dritten Person (des verkauften Unfreien) ist im Text dadurch gerechtfertigt, daß bei den Haftungsregeln zwei verschiedene Haftungssubjekte erwähnt werden, der Käufer und ein „Mann", der den Klägern zu verfallen droht (Z. 12—16). Demgemäß müssen wir vermuten, daß in unserem Fall ein Unfreier ζ. B. ein Foixéτης oder δόλος samt seinem Vermögen — darunter befand sich ein schädigen-des Tier — verkauft wurde23). Das Tier hat te aller Wahrscheinlichkeit nach den Schaden bereits vor dem Kauf angerichtet; sonst hät te die Voraussetzung: „ή κα πρίαται εν ταϊς τριάκοντ' άμέραις" (Ζ. 15—17) keinen Sinn.

Nach dem bisher Gesagten kann der im Gesetz geregelte Fall folgendermaßen beschrieben werden: Ein Tier eines Unfreien hat te einem anderen Tier irgend-welche Schäden zugefügt. Der Geschädigte treibt oder t rägt das verletzte Tier wie üblich zum Tempel (Z. 2—4), um den Schaden anzuzeigen und hierauf vom Unfreien oder von dessen Herrn die Befriedigung seiner Ansprüche zu fordern. Dieses Verfahren war wohl bekannt und als gesetzliche Voraussetzung des Geltendmachens der Ansprüche anerkannt24). In dieser Situation wurde der Unfreie mit seinem gesamten Vermögen verkauft. Wie das ,,πριάμενον" (Ζ. 7/8) bestätigt, sollen die Geschädigten ihre Ansprüche gegen den Käufer geltend

22) Für die verschiedenen Kategorien der Unfreien im Recht von Gortyn siehe H . J . W o l f f , LAW, I . D . (1); R . F . W i l l e t s , Aristocratic Society in Ancient Crete, London 1955, 46ff.; L o t z e (o. Anm. 3) 12ff.; M. I . F i n l e y , The Servile Statuses of Ancient Greece, RIDA 7 (1960) 168ff. Während W o l f f behauptet, daß der Γοικέτης an die Scholle gebunden war und demgemäß nicht (isoliert?) veräußert werden konnte, sieht F i n l e y rechtlich keinen beweisbaren Unterschied zwischen den verschiedenen Kategorien der Unfreien.

23) Wie bekannt, waren die Unfreien in Gortyn mindestens begrenzt ver-mögensfähig. Vgl. IC IV 72 col. IV 34—38 über die Güter des Γοικέτης; s. auch B ü c h e l er — Z i t e l m a n n (o. Anm. 2) 103; K o h l e r — Z i e b a r t h (o. Anm. 2) 50—53; L o t z e (o. Anm. 3) 13ff.; A. K r ä n z l e i n , Eigentum und Besitz im griechischen Recht des 5. und 4. Jh . v. Chr., Berlin 1963, 42ff. Die Unfreien konnten auch veräußert werden: Vgl. IC IV 47, 27; IC IV 72 col. VII 10—15; K o h l e r — Z i e b a r t h (o. Anm. 2) 54; L o t z e (o. Anm. 3) 16.

24) Vgl. IC VI 41 col. I 9 — 12, wo das verletzte Tier vom Beschädigten zum Ort des Rechtsstreites hingetrieben werden mußte, um die Verletzung be-weisen zu können. Ebenso wird das Anzeigen in IC IV 41 col. I I 9—11 vor-geschrieben: War das Hintreiben des Tieres wegen dessen Tod unmöglich, dann wurde die Beweisführung durch Zeugen ermöglicht, denen das Tier innerhalb von fünf Tagen gezeigt werden mußte.

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Page 7: Zwei Kaufvorschriften im Recht von Gortyn

E. Jakab, Kaufvorschriften in den IC 541

machen. Der Käufer hat zwei Möglichkeiten: Entweder zahlt er den Klägern die Buße (τάν αταν κατισστάμην Ζ. 8—11), wie es gesetzlich vorgeschrieben ist, oder er kann das schädigende Tier vom Γοικέτης ausliefern lassen (Z. 15/16). Dem Kläger steht dabei als Druckmittel gegen den Käufer der Zugriff auf den eben-falls haftenden Unfreien zur Verfügung. Verweigert also der Γοικετης trotz der Entscheidung seines Herren die Herausgabe des Tieres25), verfällt er selbst — vermutlich mit seinem Vermögen — dem Geschädigten (Z. 12—14).

In den Zeilen 16/17 findet sich eine Frist von 30 Tagen festgesetzt, die mit dem Verkauf des Unfreien beginnt. Demnach muß der Geschädigte mit seinem Zu-griff auf den Unfreien 30 Tage warten. So lange hat der Käufer Zeit, um den Γοχέτης zur Herausgabe des schädigenden Tieres — oder zum Zahlen (?) — zu veranlassen. Innerhalb dieser Frist von 30 Tagen kann der Käufer seine Bereit-schaft zu zahlen jederzeit äußern; ist sie aber ohne Bußzahlung oder Heraus-gabe des Tieres abgelaufen, verfällt der Γοικέτης den Klägern (Z. 12—16). Inner-halb der Frist kann der Käufer den Grund und die Höhe der Bußzahlung beur-teilen und je nach den Umständen den Γοικέτης zur Auslieferung des Tieres ver-anlassen. Er wird dabei aus den zur Verfügung stehenden Handlungsmöglich-keiten die günstigste auswählen. Ist der Käufer nicht bereit, das Tier ausliefern zu lassen, meldet er sich innerhalb der 30 Tage beim Geschädigten und schlägt eine bestimmte Summe statt der Herausgabe vor. Wenn der Kläger dem inner-halb von zehn Tagen zustimmt28) (Z. 17/18), d. h. die angebotene Summe (unter Verzicht auf die Herausgabe) akzeptiert, muß der Käufer als Sicherheit eine Bürgschaft stellen (Z. 19).

Demgemäß läuft die Frist von 30 Tagen (nach dem Wortlaut des Gesetzes) ab Kaufabschluß, die von 10 Tagen nach den oben angestellten Überlegungen ab dem Zahlungsangebot des Käufers, welches seinerseits innerhalb der 30 Tage erfolgen muß.

2) Text Β. Wieder findet sich die Form ,,πριάμενος" (Ζ. 11), die auf den abgeschlossenen Kauf hinweist. Daneben ist ein „δόλος" erwähnt, der jemandem Schaden zugefügt hat (Z. 13/14). Hiernach kann angenommen werden, daß ein ähnlicher Sachverhalt wie vorhin geregelt ist, die Haftung für Schäden durch den verkauften Sklaven. Somit erscheint es zulässig, die Vorschriften des Textes A als Parallele zur Darstellung des Verfahrens zu verwenden. Es ist also zu ver-muten, daß der Geschädigte als Voraussetzung für sein weiteres Vorgehen die Schäden zunächst einmal anzuzeigen hatte. Auch hier beginnt das Verfahren, wenn ein Tier geschädigt wurde, mit dem Hintreiben zum Tempel, sonst aber mit einem förmlichen Akt, mit dem der Geschädigte die Bußzahlung verlangte.

2S) Den Anlaß der Verweigerung der Herausgabe durch den foικέτης können verschiedene Motive bilden: ζ. B. daß der Γοικέτης kein Vermögen und kein Tier mehr hat (ähnlicher Fall ist unter IC IV 41 col. V 15—16 geregelt), oder weil er durch seine persönliche Haftung den Eigentümerwechsel erreichen möchte. Vgl. M e t z g e r (o. Anm. 2) 105; K o h l e r — Z i e b a r t h (o. Anm. 2) 123.

2e) Das Verbum ,,σννγνώντι" wird im allgemeinen mit „übereinkommen, vereinbaren" übersetzt, vgl. K o h l e r — Z i e b a r t h (o. Anm. 2) 31; Me tzge r (o. Anm. 2) 82. Dagegen paßt eine weitere Bedeutung des Wortes: "to agree" (nach L i d d e l l — Sco t t ) besser in den Textzusammenhang. Übrigens kommt das Wort auch in IC IV 72 col. V 46 vor, wo es von W i l l e t s (o. Anm. 2) 43 mit „agree" übersetzt wird.

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Dieses Moment bedurfte keiner wiederholten gesetzlichen Festlegung, weil es als seit langem selbstverständlich und wohlbekannt vorausgesetzt werden konnte.

Ebenso allgemein bekannt könnten auch die Wahlmöglichkeiten des Käufers gewesen sein: Wenn jemand wegen Schäden seiner Gewaltunterworfenen ver-klagt wurde, konnte er immer entweder die Buße zahlen oder den Schädiger ausliefern27). Der Ablauf des Verfahrens kann also folgendermaßen skizziert werden: Hintreiben zum Tempel, Aufforderung zum Zahlen, Ausübung des Wahlrechtes durch den Käufer, entweder zu zahlen oder auszuliefern, Zustim-mung durch den Geschädigten oder weitere gerichtliche Schritte.

Erneut in das Gesetz aufzunehmen war nur, was nochmals betont oder ver-ändert werden sollte: Erstens eine (neue?) Frist von sechzig Tagen (Z. 12/13), zweitens die Bekräftigung der Haftung des Käufers als neuen Eigentümers, gleichgültig zu welchem Zeitpunkt das Delikt begangen wurde (Z. 13/14).

In Bezug auf das Problem der sechzigtägigen Frist sind folgende Lösungen denkbar: Erstens kann dies eine Klagefrist ab Deliktsbegehung sein, zweitens kann sie als Klagefrist oder — in Parallele mit dem früheren Text — als Warte-frist ab Kaufzeitpunkt erklärt werden und drittens kann man darunter eine allgemeine Wartefrist nach dem Anzeigen der Schäden verstehen, die dem Eigentümer des schädigenden Sklaven die nötigen Verhandlungen ermöglicht.

Die Einordnung als allgemeine Klagefrist ab dem Deliktzeitpunkt kann durch einen Blick auf die Fristregelungen im Recht von Gortyn beantwortet werden: Es ist auffallend, daß Klagefristen (und Fristen überhaupt) sehr selten erwähnt sind28). Daraus läßt sich schließen, daß Fristbestimmungen für ein Verfahren im allgemeinen als Ausnahme betrachtet werden können. Auch im Falle der Prozeßhandlungen sind die Tierschäden fristlos vorzunehmen29). Wenn über-haupt eine Frist gesetzt ist, betrifft sie ein Moment des Rechtsstreites, welches bestimmte Vorbereitungen, Überlegungen oder zwischenzeitliche Handlungen der Parteien erfordert.

Diese fristlose Regelung erscheint nicht mehr so überraschend, wenn wir uns den Ablauf des Verfahrens vorstellen: Die wichtigste gesetzliche Voraus-setzung für das Geltendmachen der Ansprüche war das öffentliche Anzeigen der Schäden. Dem Geschädigten stand keine andere Möglichkeit zur Beweis-führung offen30). Diese formale Regelung enthält eine „natürliche Klagefrist" :

27) Vgl. IC I V 41 col. I l - I I I 7; IC I V 47, 1 - 3 3 ; IC I V 41 col. V I I 1 - 1 9 . 28) Die folgenden Fristen sind im Großen Gesetz zu finden: I 7: εν ταΐς τρισΐ

άμέραις in bezug auf die Freilassung der freigesprochenen Person, I 26: τάν πέντ' άμεράν wieder für die Freigabe, I 47: εν τδι ενιαυτδι für Rückgabe, I I 31: εν ταΐς πέντ' άμέραις, V I I I 18: έν ταΐς τριάκοντα für die Heirat der Erbtochter, I X 29: τδ ενιαντδ eine einjährige Klagefrist, wenn der Bürger oder Schuldner gestorben ist, X I 48: iv ταΐς Γίκατι άμέραις für den Fraueneid nach der Trennung vom Manne, IC I V 41 col. I I 10—11: εν ταΐς πέντε für das Vorzeigen des verletzten Tieres gegenüber den Zeugen und daneben die Fristen der hier oben behandelten Sätze.

29) Vgl. IC I V 41 col. I l - I I I 7. 30) „Wenn er aber das beschädigte Tier nicht hintreibt oder das tote nicht

hinträgt oder nicht zeigt nach der gesetzlichen Vorschrift, soll kein Rechts-anspruch sein" IC I V 41 col. I 7 — 12, Übersetzung nach K o h l e r — Z i e b a r t h (o. Anm. 2) 29.

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E. Jakab, Kaufvorschriften in den IC 543

Man konnte mit einem verletzten oder getöteten Tier nicht lange warten, sondern es mußten die Wunden so bald wie möglich vorgezeigt werden. Da somit bereits das Interesse des Klägers eine möglichst baldige Klageerhebung verlangte, brauchte der Gesetzgeber keine Klagefristen zu setzen. Eine Klagefrist, die eine längere Zeitperiode zum Verklagen dem Geschädigten ermöglicht, wäre zwar einerseits bequemer, andererseits wäre aber damit der Beweislast des Geschädigten verdoppelt: Er müßte nämlich dann nicht nur die Schädigung, sondern auch deren Zeitpunkt beweisen.

Nach den gleichen Überlegungen ist es ebenso sinnlos, eine Klagefrist von 60 Tagen ab dem Kauf Zeitpunkt anzunehmen; zudem widerspräche eine solche Interpretation inhaltlich dem Text. Am Satzende findet sich nämlich die Formu-

lierung: „at τινά χα πρόιψ άδικεκει ε ύστερον" (Ζ. 13/14). Dies kann sich wirklich nur auf den Zeitpunkt des Kaufes beziehen. Wurde der Schaden von dem ge-kauften Sklaven entweder vor dem Kauf oder nachher verursacht, haf tet dafür immer der jetzige Eigentümer. Für den letzten Fall wäre aber eine Klagefrist von 60 Tagen nach dem Kaufzeitpunkt sinnlos. Dieselben Überlegungen sprechen auch gegen eine Wartefrist ab dem Kaufzeitpunkt.

So bleibt nur die dritte Möglichkeit, daß mit den sechzig Tagen eine Wartefrist zugunsten des Käufers gemeint ist. Nach den bisherigen Überlegungen kann sie nur mit der förmlichen Anzeige beginnen. Innerhalb dieser Zeit kann der jeweilige Eigentümer des schädigenden Sklaven seine Chance abschätzen: Er kann die Sache überprüfen, die Beweismittel zu seiner Verteidigung vorbereiten oder schließlich die Wahl treffen, ob er die Buße zahlen oder den Sklaven heraus-geben will.

Die Worte „at τινά κα πρόϋ' άδικεκει ε ύστερον" (Ζ. 13/14) sollen noch aus-führlicher behandelt werden. Die Bestimmung, daß von dem Sklaven jemandem Schäden entweder vor oder nach dem Kauf zugefügt wurden, hat die meisten Herausgeber des«.Gesetzes dazu veranlaßt, darin eine Regel der Sachmängel-gewährleistung zu sehen31). Doch kann die Bestimmung auch aus der frühen Entwicklungsstufe des Rechtssystemes erklärt werden: Wie aus IC IV 41 col. V i l —VI 16 und IC IV 47, 1—33 gefolgert werden kann, war in Gortyn die Verpfändung eines freien Mitbürgers oder eines Sklaven viel häufiger als deren Verkauf. Im Falle der Verpfändung galt aber das Prinzip des noxa caput sequitur nicht zu Lasten des Pfandgläubigers32). Es ist also vorstellbar, daß die Haftungs-übernahme mit dem Erwerb des Sklaven im Falle eines Kaufes gar nicht selbst-verständlich war, also einer besonderen Festlegung oder zumindest Erwähnung im Gesetz bedurfte (Z. 13/14).

Die Bestimmung, daß das Delikt sowohl vor als auch nach dem Kauf vor-gefallen sein konnte, läßt vermuten, daß die Regelung nicht nur auf den Fall

31) Vgl. o. Anm. 5. 32) Der verpfändete Freie haftete aus Delikt in erster Linie selbst mit seiner

Person und seinem Vermögen (IC IV 41 col. V i l —VI 16). Für Delikte des verpfändeten Sklaven haftete der Pfandnehmer nur dann, wenn sie auf seinen Befehl begangen wurden (IC IV 47, 1 — 5). Sonst haftete der Verpfänder (IC IV 47, 5 - 8 ) . Vgl. auch M e t z g e r (o. Anm. 2) 102ff.

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abstellt, daß der Sklave in der Zwischenzeit verkauft worden war. Demgemäß dürfte die Wartefrist von 60 Tagen nicht nur bei Schäden durch einen gekauften Sklaven, sondern auch bei Delikten jedes anderen Sklaven gegolten haben. Ins-gesamt läßt sich sagen, daß im Text Β zwei spezielle Regelungen in bezug auf die Schäden durch Sklaven zusammengefaßt sind: Erstens die Wartefrist von 60 Ta-gen ab Anzeige der Schäden, die vermutlich in jedem Fall zur Anwendung kam, wenn ein Eigentümer wegen der Schäden durch seinen Unfreien verklagt wurde; zweitens das Prinzip, daß durch einen Marktkauf die Haf tung für die Schäden, die von dem gekauften Sklaven (vor oder nach dem Kauf) zugefügt sind, den

Käufer tr ifft . Die Interpretation des ,,τδι πεπαμένοι ενδικον εμεν" (Ζ. 14/15) kann nach der früheren Literatur als geklärt angenommen werden33): Die Klage soll gegen den Eigentümer zulässig sein.

IV. Zusammenfassung. Vergleicht man die oben interpretierten Texte, kann abschließend festgehalten werden, daß sie nur ein gemeinsames Merkmal haben: In beiden ist die Haf tung für Schäden geregelt, die einem gekauften Unfreien zugerechnet werden. Dabei handelt es sich im Text A um die Schäden durch das Tier eines gekauften Γοικέτης, wobei die Beschädigung vor dem Kauf s tat t fand, während im Text Β die Haftung für die Schäden eines auf dem Markt gekauften Sklaven selbst festgesetzt ist, wobei die Schädigung sowohl vor als auch nach dem Kauf stattgefunden haben konnte. Daraus kann gefolgert werden, daß der Gesetzgeber verschiedene Einzelfälle vor Augen hat te: Text A regelt einen sehr engen Sonderfall. Text Β tr i ff t hingegen im Rahmen eines anderen Einzelfalls Regeln für einen etwas weiteren Bereich: die Festsetzung der Haftung des Käufers für den durch Kauf erworbenen Sklaven und eine längere Wartefrist zugunsten des Käufers die — wie man erschließen kann — offenbar ganz allgemein für den Eigentümer eines Sklaven gilt.

Bis jetzt blieb noch die Frage offen, wie das Verhältnis zwischen dem Käufer und Verkäufer gestaltet war. Vielleicht konnte sich der Käufer durch eine Bürgschaft gegen die Deliktsansprüche wegen der vor dem Kauf zugefüg-ten Schäden absichern34). Die Rechtsgrundlage dafür dürfte dann wohl eher in der Vertragspraxis als in einer besonderen gesetzlichen Regelung zu suchen sein. I n einer frühen Entwicklungsperiode des Rechtssystemes kann die Möglichkeit auch nicht ausgeschlossen werden, daß das Risiko des Verlustes der Kauf-sache in vollem Umfang dem Käufer zugewiesen war, d. h. ohne Gewährleistungs-ansprüche gegen den Verkäufer: „Augen auf, Kauf ist Kauf".

Szeged—München E v a J a k a b

33) Siehe dazu G. T h ü r , Bemerkungen zum altgriechischen Werkvertrag, in: Studi Biscardi V 1984, 486 Anm. 44, mit Hinweisen auf die frühere Literatur.

34) Vgl. dazu J . P a r t s c h , Griechisches Bürgschaftsrecht, Leipzig—Berlin 1909, 117ff.; M e t z g e r (o. Anm. 2) 54ff. Zur άνδοκά in der Großen Inschrift: IC IV 72 col. I X 2 4 - 4 0 ; I X 4 0 - 4 3 .

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