zur geschichte der entdeckung des kritischen zustandes

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985 2%~ Ceschichte dep Entdeckzcng des kritischen Zustandes Vort Walter E6mnig Bei einer Durchsicht der wissenschaftlichen Veroffent- lichungen von Georg Gottlieb Schmidt habe ich eine Be- merkung von ihm gefunden, die mir wert zu sein scheint, im Interesse der historischen Gerechtigkeit der Vergessenheit ent- rissen zu werden. Georg Gottlieb Schmidt war von 1789 bis 1837 Professor der Mathematik und Physik an der Uni- versitat GieBen. Er ist ohne Frage einer der tuchtigsten und angesehensten Physiker seiner Zeit in Deutschland gewesen, kann auch als Begrunder der physikalischen Sammlung und des physikalischen Instituts in GieBen angesehen werden. Unter seinen zahlreichen Arbeiten findet sich eine aus dem Jahre 1823, die betitelt ist: ,,Theoretische und experimentelle Bemerkungen uber die Perkinssche Uampfmaschine zur Wurdigung der Aussagen und der Urteile uber sie".I) Am Schlusse dieser Arbeit wirft Schmidt die fur die Theorie der Dampfmaschinen wichtige Frage auf, ob das Verhaltnis der Warmekapazitaten von Dampf und Wasser bei allen Teinperaturen dasselbe ware, und glanbt diese Frage verneinen zu mussen. Er behauptet, daB die Verdampfungswarme mit steigender Temperatur ab- nehmen miisse, und begriindet diese Behauptung mit folgen- dem Satz: ,,Es lasset sich eine Temperatur denken, (wenngleich nicht mit Bestimmtheit nachweisen) wobei die Dichte der Dampfe der Dichte des Wassers gleich kommen konnte. Sollte bei einer solchen Dampfbildung noch Tarme latent werden?(( Das ist der Gedanke des kritischen Zustandes, der hier zum ersten Male ausgesprochen wurde. Er hat aber erst 1) G. G. Schmidt, Gilberts Annalen 75. S. 343-384. 1823. Annalen der Physik. 5. Folge. 11. 63

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2 % ~ Ceschichte dep Entdeckzcng des kritischen Zustandes

Vort W a l t e r E6mnig

Bei einer Durchsicht der wissenschaftlichen Veroffent- lichungen von Georg Go t t l i eb Schmid t habe ich eine Be- merkung von ihm gefunden, die mir wert zu sein scheint, im Interesse der historischen Gerechtigkeit der Vergessenheit ent- rissen zu werden. Georg Go t t l i eb Schmid t war von 1789 bis 1837 Professor der Mathematik und Physik an der Uni- versitat GieBen. Er ist ohne Frage einer der tuchtigsten und angesehensten Physiker seiner Zeit in Deutschland gewesen, kann auch als Begrunder der physikalischen Sammlung und des physikalischen Instituts in GieBen angesehen werden. Unter seinen zahlreichen Arbeiten findet sich eine aus dem Jahre 1823, die betitelt ist: ,,Theoretische und experimentelle Bemerkungen uber die Perkinssche Uampfmaschine zur Wurdigung der Aussagen und der Urteile uber sie".I) Am Schlusse dieser Arbeit wirft Schmid t die fur die Theorie der Dampfmaschinen wichtige Frage auf, ob das Verhaltnis der Warmekapazitaten von Dampf und Wasser bei allen Teinperaturen dasselbe ware, und glanbt diese Frage verneinen zu mussen. Er behauptet, daB die Verdampfungswarme mit steigender Temperatur ab- nehmen miisse, und begriindet diese Behauptung mit folgen- dem Satz:

,,Es lasset sich eine Temperatur denken, (wenngleich nicht mit Bestimmtheit nachweisen) wobei die Dichte der Dampfe der Dichte des Wassers gleich kommen konnte. Sollte bei einer solchen Dampfbildung noch Ta rme latent werden?((

Das ist der Gedanke des kritischen Zustandes, der hier zum ersten Male ausgesprochen wurde. Er hat aber erst

1) G. G. S c h m i d t , Gilberts Annalen 75. S. 343-384. 1823. Annalen der Physik. 5. Folge. 11. 63

986 W. Konig. Entdeckung &s kritischen Zustandes

Beachtung gefunden, als er 38 Jahre spater von Mendele je f f bei seiner Formulierung des Begriffs der ,,absoluten Siede- temperatur" von neuem in ganz ahnlicher Form ausgesprochen murde.I) Es ist bezeichnend fur den ungewijhnlich scharfen und weiten Blick, mit dem S c h m i d t die physikalischen Tat- sachen iibersah, daB er so weit ausschauende Folgerungen aus den Beobachtungen zu ziehen vermochte, aus Beobachtungen, die er iibrigens selbst in zwei sorgfaltigen Experimentalunter- suchungen - 1795 uber die Ausdehnung einiger Fliissigkeiten durch die Warme2) und 1798 iiber die Expansivkraft, Dichte und latente Hitze des reinen Wasserdampfes bei verscliiedenen Temperaturen 3, - gesammelt hatte.

Hochst merkwiirdig ist es, dnB diese erste theoretische Vorahnung des kritischen Zustandes zeitlich vollkommen zu- sammenfallt mit dem ersten experimentellen Nachweis, riamlich mit den beriihmten Versuchen von Cagn ia rd d e L a S c h m i d t hat diese Versuche gekannt; er beschreibt sie in dem 1826 von ihni herausgegebenen Hand- und Lehrbuch der Xaturlehre auf Seite 425. Aber er hat eine Verbindung seines Gedankens mit diesen Versuchen nicht gesucht und nicht ge- funden, wie er anch seine geistreiche, aber ganz nebensachlich geauBerte Bemerkung von 1823 in sein Lehrbuch, in dem er die Physik durchaus als Erfahrungswissenschaft darstellen wollte, iiberhaupt nicht aufgenommen hat. Immerhin, wenn man Cagn ia rd de L a T o u r mit Recht den Entdecker des kritischen Zustandes nennt, ist es doch wohl gerecht, G. G. S c h m i d t s Gedanken daneben nicht nnerwahnt zu lassen.

1) M e n d e l e j e f f , Liebigs Ann. d. Pharmazie 119. S. 11. 1561. 2) 8. G. S c h m i d t , Grens Neues Journal d. Phys. 1. S. 216. 1795. 3) G. G. S c h m i d t , Grens Neues Journal d. Phys. 4. S. 251. 1795. 4) C a g n i a r d d e L a T o u r , Ann. de Chimie et de Physique 21.

6. 127. 1822 und 8'2. S. 410. 1823.

(Eingegangen 16. August 1931)