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Schünemann herausgegeben von Christian Kämpf Wilhelm Christian Müller Beiträge zur Musik- und Kulturgeschichte Bremens um 1800

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Schünemann

herausgegeben von Christian Kämpf

Wilhelm Christian MüllerBeiträge zur Musik- und Kulturgeschichte Bremens um 1800

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Michael RüppelZwischen Nationalstolz und Italiensehnsucht – Wilhelm Christian Müller als Reiseschriftsteller 153

Thomas ElsmannWilhelm Christian Müller als Propagandist nationaler Freiheit und UnabhängigkeitDie Gesänge der Hellenen und Philhellenen 1820 –1827 168

Michael LadenburgerWilhelm Christian Müller und Ludwig van BeethovenDie Beethoven-Pflege in Bremen zu Lebzeiten des Komponisten 181

Axel SchröterIm Bann GoethesZu den Liedkompositionen Elise Müllers 208

Christian KämpfDie Musik im Übergang vom goldenen ins messingene ZeitalterWilhelm Christian Müllers Kampf gegen die »einseitigen Alterthümler« 223

Ulrich TaddayRobert Schumanns kleines KomponistenlexikonChronologische Geschichte der Musik nach Wilhelm Christian Müllers Ästhetik 246

Personenregister 259

Verzeichnis und Nachweis der Abbildungen 266

Autoren 269

Inhalt

Vorwort 4

Christian Kämpf»… seine letzte Lebenskraft mit Vorschreien des Kirchengesanges verschwenden«Das Bremer Domkantorat zur Amtszeit Wilhelm Christian Müllers 1784 –1817 7

Tobias GravenhorstWilhelm Christian Müllers Dommusiken (1784 –1809) aus musikwissenschaftlich-hymnologischer Perspektive 42

Kerstin JergusVon den Anfängen bürgerlicher Bildung in BremenWilhelm Christian Müllers Erziehungsinstitut 56

Oliver Rosteck»… um der Welt nützliche brauchbare Bürger zu bilden«Die Bedeutung der Musik in Wilhelm Christian Müllers pädagogischem Wirken 71

Hauke Kuhlmann und Florian Pehlke Lyrisches zum MitnehmenWilhelm Christian Müllers Sammlung deutscher poetischer Meisterstücke des 18ten Jahrhunderts 83

Tilman HannemannReligionsunterricht, Sinnesbildung, NaturbewusstseinBeiträge Wilhelm Christian Müllers zum bürgerlichen Religionsverständnis 98

Simon GerberDie Familien Müller und Schleiermacher – Geschichte einer Freundschaft 119

Andreas Schulz»Friede fürs Vaterlande und Ruhe zum bürgerlichen Geschäfte«Wilhelm Christian Müller als patriotischer Freiheitsdichter und Historiker der antinapoleonischen Kriege 134

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lehrer einen für die spätere kaufmännische Laufbahn der Kinder geeig-neten Unterricht anbieten. Seine Arbeit war offensichtlich erfolgreich. Bereits drei Jahre später leitete Müller sein eigenes Erziehungsinstitut, sechs Jahre nach seiner Übersiedlung nach Bremen wurde er auf Emp-fehlung der Dompastoren zum Domkantor ernannt. Seine beiden Kinder Elise und Adolph kamen 1782 und 1784 zur Welt. Über 30 Jahre lang wirkte Müller als Privatlehrer und Kantor. Schon in den 1770er-Jahren begann er, sich schriftstellerisch zu pädagogischen, historischen und musikalischen Themen zu äußern. Nach seiner Pensionierung 1817 er-schienen neben vielen weiteren Arbeiten seine großen Reisebeschrei-bungen und seine zweibändigen Aesthetisch-historischen Einleitungen in die Wissenschaft der Tonkunst. Müller widmete dieses Alterswerk dem Herzog seiner alten Heimat, Bernhard II. von Sachsen-Meiningen, wo-raufhin ihn dieser zum Hofrat ernannte. Leider konnte Müller diese besondere Würdigung seiner Person nicht mehr entgegennehmen. Er starb am 13. Juli 1831, noch ehe die Nachricht Bremen erreichte. Ein Glückwunsch des Bremer Senats, der ihm anlässlich des fünfzigjährigen Gründungsjubiläums seiner Erziehungsanstalt übergeben werden sollte, erreichte Müller ebenfalls nicht mehr rechtzeitig. Bremer Zeitungen und

Vorwort

In einem umfangreichen Nachruf auf den Bremer Domkantor, Pädago-gen und Schriftsteller Wilhelm Christian Müller im Neuen Nekrolog der Deutschen ist zu lesen: »Er suchte in jeder Beziehung Bremens Ruhm, so wie er Bremens Ruhm war.« Worauf gründet sich Müllers Ruhm, von dem hier die Rede ist? Eine erste Antwort darauf bringt die Gegen-überstellung zweier Quellentexte, die einmal gegen Ende des 18. Jahr-hunderts, das andere Mal in der Mitte des 19. Jahrhunderts Stellung zur bremischen Musikkultur beziehen: Der englische Musikhistoriker und Komponist Charles Burney konnte 1772 auf einer musikalischen Forschungsreise nur wenig Schmeichelhaftes über den Stand des bre-mischen Musiklebens notieren: »Auf meiner Reise von Hamburg nach Amsterdam hielt ich mich bloß einige Stunden in dieser Stadt auf, weil sie keine musikalische Reizungen hat, die mich zu einem längern Auf-enthalt hätten bewegen können. Ich ging indessen doch nach der Thum-kirche, welche die Lutheraner inne haben, woselbst ich die Gemeinde, ohne die Orgel, eine jämmerliche Melodie singen hörte. Als dieser Ge-sang zu Ende gebracht war, preludirte der Organist zu einem Chorale, aber herzlich schleppend und elend.« 1841 hingegen kam der Bremer Korrespondent für das in Stuttgart erscheinende Morgenblatt für gebil-dete Stände, Friedrich Engels, zu einer ganz anderen Einschätzung: »Die beste Seite Bremens ist die Musik. Es wird in wenigen Städten Deutsch-lands so viel und so gut musiziert wie hier. Eine verhältnismäßig sehr große Anzahl von Gesangsvereinen hat sich gebildet, und die häufigen Konzerte sind immer stark besucht.«

Was hatte sich in den rund 70 dazwischenliegenden Jahren getan? Als Antwort muss an dieser Stelle auf die herausragenden Leistungen Wilhelm Christian Müllers verwiesen werden: Müller gilt als erster mu-sikalischer Erzieher, als Wegbereiter der Wiener Klassik und als Initiator des bürgerlichen Konzertwesens in Bremen, als Reformator der Bremer Kirchenmusik und als Bremens erster Musikhistoriker. Er war als Dom-kantor, Pädagoge und Schriftsteller die treibende Kraft und Schlüsselfi-gur der Bremer Musiklandschaft um 1800. Ohne sein Wirken wären die Gründung der Bremer Singakademie 1815 und die Gründung des Vereins für Privat-Concerte 1825 (ab 1895 Philharmonische Gesellschaft) nicht möglich gewesen. Dabei stellt sein jahrzehntelanger Einsatz für das Mu-sikleben Bremens nur einen Teilbereich seines Wirkens dar.

Wilhelm Christian Müller, der am 7. März 1752 als ältester Sohn einer kinderreichen Pastorenfamilie in Wasungen (Sachsen-Meiningen, heute Thüringen) zur Welt gekommen war, wurde im Jahre 1778 von einigen Bremer Kaufmannsfamilien in die Hansestadt geholt. Er sollte als Privat-

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Zeitschriften würdigten den Verstorbenen genauso wie die wichtigen Fachzeitschriften umgehend mit Traueranzeigen, Gedichten und mehr-seitigen Nachrufen. Das Bremische Unterhaltungsblatt schrieb in seiner Ausgabe vom 20. Juli 1831: »Zum Pädagogen von der Natur gebildet, hatte er dieses seegensreiche Geschäft mit jugendlicher, ihm eigenthüm-licher Lebhaftigkeit ergriffen und glücklich, emsig und immer thätig fortgeführt. In den Resultaten seiner Erziehungsmethode ehrt Bremen seine ansehnlichsten Bürger.«

Die Vielfältigkeit seiner Biographie mag ein Grund dafür sein, dass ein umfassendes Bild von Leben und Leistung des Bremer Domkantors, Pädagogen und Schriftstellers Wilhelm Christian Müller bislang noch nicht gezeichnet worden ist. Denn eine fundierte Darstellung seines Wirkens kann nicht nur aus der Perspektive einer Fachdisziplin und schon gar nicht aus dem Blickwinkel eines einzelnen Autors heraus ge-leistet werden. Mein herzlicher Dank gilt deshalb zuerst allen an diesem Band beteiligten Autoren. Sie beleuchten in ihren Aufsätzen nicht allein Einzelaspekte einer bildungsbürgerlichen Biographie in der Umbruch-phase zwischen Früher Neuzeit und Moderne, sondern liefern aus den unterschiedlichen Forschungsinteressen der Erziehungs-, Literatur- und Geschichtswissenschaft, der Musikwissenschaft und Musikpädagogik heraus zugleich wesentliche Beiträge zur Bremer Musik- und Kulturge-schichte um 1800. Für ihre Hilfe bei der Recherche und Bereitstellung der Quellen sowie für die schnelle Anfertigung von Fotographien danke ich den Mitarbeitern der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen Frau Birte Dinkla, Frau Maria Hermes-Wladarsch und Herrn Thomas Elsmann herzlich, ebenso Frau Henrike Weyh und Frau Rita Stumper im Bremer Dom-Museum. Ich danke dem Carl Schünemann Verlag für die Aufnahme des Bandes in sein Verlagsprogamm und Frau Caroline Simonis im dortigen Lektorat für ihre allseitige und zuvorkommende Betreuung. Allen Angehörigen des Instituts für Musikwissenschaft und Musikpäda-gogik der Universität Bremen sei für ihr freundliches Interesse und ih-ren kollegialen Zuspruch während der Arbeit an diesem Band gedankt. Herrn Ulrich Tadday danke ich für seine umfassende Unterstützung.

Mein besonderer Dank gilt der Karin-und-Uwe-Hollweg-Stiftung, die durch eine großzügige Förderung die Herausgabe des Bandes in dieser Form überhaupt erst ermöglichte.

Der Herausgeber

Bremen, im August 2016

Christian Kämpf

»… seine letzte Lebenskraft mit Vorschreien des Kirchengesanges verschwenden«

Das Bremer Domkantorat zur Amtszeit Wilhelm Christian Müllers 1784 –1817

Wilhelm Christian Müller wurde am 5. November 1784 als Kantor am Bremer St.-Petri-Dom eingeführt. Seitdem sparte er nicht mit öffentlicher Kritik an diesem Amt, die er in viele seiner späteren Schriften einstreute, am deutlichsten in seinem »Versuch einer Geschichte der musikalischen Kultur in Bremen«, den er als Beitrag für Johann Smidts Hanseatisches Magazin 1800 verfasst hatte. Hierin treten einige längere Absätze hervor, in denen Müller die Funktion, Bedeutung und gesellschaftliche Wahr-nehmung des Kantorenamts im Allgemeinen, aber auch im Besonderen mit Blick auf die Bedingungen in Bremen und in den anderen norddeut-schen ›Handelsrepubliken‹ (Hamburg und Lübeck) auf Basis sozialhisto-rischer Argumentationen darzustellen sucht. Seine Schilderungen der alltäglichen Kantorenarbeit wirken nicht selten resignativ-elegisch, der autobiographische Einschlag ist unverkennbar. Schließlich kulminieren die Passagen in dem Wehruf: »Welch eine klägliche Figur spielt ein alter Kantor!«1 Müller war zu diesem Zeitpunkt 48 Jahre alt und bekleidete das Domkantorat bereits seit 16 Jahren. Schon allein die sprachliche Dis-krepanz zwischen der amtlichen Formulierung des Dienstauftrags, der Kantor solle »den Gesang der Psalmen gebührend ordiniren«2, und deren Paraphrasierung durch Müller, der Kantor müsse leider »seine letzte Le-benskraft mit Vorschreien des Kirchengesangs verschwenden«3, verdeut-licht, dass hier Auftrag, Anspruch, Wirklichkeit und Wahrnehmung des Kantorats nicht selten weit auseinanderfielen.

Seine einzelnen Kritikpunkte am Kantorenamt, die Missstände, die er anprangert, verweisen im Ganzen auf einen Problemkreis, der unter den Themenbereichen ›Ausbildung und Qualifikation‹, ›Aufgaben und Kom-petenzen‹, ›Berufliche Rangstellung und Karrierechancen‹ sowie ›Profes-sionalisierung und Modernisierung‹ die strukturellen Rahmenbedingun-gen des Kantorenamts als Forschungsgegenstand anzeigt. Das Bremer Domkantorat zur Amtszeit Wilhelm Christian Müllers 1784 – 1817 soll dahingehend in diesem Aufsatz in den Mittelpunkt des Interesses gestellt werden. Der Gegenstand in seiner allgemeinen zeitlichen und räumli-chen Verortung, nämlich das Kantorat gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Norddeutschland, wurde lange Zeit kaum als Forschungsgebiet wahr-

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genommen, nicht zuletzt deshalb, weil gemeinhin einer anerkannten Hochzeit des Kantorats im 17. Jahrhundert das 18. Jahrhundert meist nur als Zeit des Niedergangs gegenübergestellt wurde4 und hinter dem mitteldeutschen Kantorat als gedachtem Ideal das Kantorat im Norden und Süden nur als weniger bedeutsam zurückbleiben konnte.5 Das Desi-derat erstmals benannt und am Beispiel Hamburgs eingehender bearbei-tet hat Joachim Kremer in seiner Dissertation aus dem Jahre 1995,6 der er weitere Untersuchungen zum Thema folgen ließ.7 Neben den Arbeiten Kremers wird für diesen Aufsatz vor allem auch die 2008 erschienene musik- und bildungshistorische Studie von Gesa Kasel berücksichtigt, in der sie das Kantorat zwischen 1750 und 1830 an höheren Schulen in Hannover, Göttingen, Lüneburg, Braunschweig und Hildesheim unter-sucht hat.8 Neben Aktenmaterial des Bremer Staatsarchivs und Müllers Publikationen und Gelegenheitsdrucken in der Staats- und Universi-tätsbibliothek Bremen wird wie für die Studie Kasels der Hannoversche Staatskalender als eine für die untersuchte Zeit und Region bedeutende Quelle für die Kantoratsforschung herangezogen.

Eine Studie, die sich verbindlich mit dem Bremer Domkantorat be-fasst, liegt indessen nicht vor. Friedrich Wellmanns Arbeiten zu Wilhelm Christian Müller (1911, 1914) fehlt ein über die Erkundung der biogra-phischen Details und der regionalen Beziehungen hinausgehendes For-schungsinteresse.9 Ursula Wegeners schulgeschichtliche Dissertation unter dem Titel Die lutherische Lateinschule und das Athenaeum am Dom in Bremen in ihrer politischen und kulturellen Bedeutung (1941) zeich-net die Entwicklung der Domschule bis ins beginnende 19. Jahrhun-dert nach und hebt die wichtige Funktion, die das seit 1642 bestehende Kantorat bei der Gründung der Schule einnahm, zu Beginn ihrer Studie hervor, ohne aber die Entwicklung dieses Amts im Besonderen weiter-zuverfolgen.10 Die enorme Bedeutung, die den neuen musikalischen Geselligkeitsinstitutionen des Bildungsbürgertums – Wilhelm Christian Müllers Übungs- und Familienkonzerte, Daniel Schüttes Privatkonzerte, Lebrecht Grabaus Chöre – für die Entwicklung der Bremer Musikkultur um 1800 zukam, betonte Klaus Blum (1960, 1975) zu Recht, ließ aber zu Unrecht die traditionellen Musikinstitutionen wie das Domkantorat aus seinen Darstellungen des Bremer Musiklebens um 1800 meist außen vor.11 Oliver Rosteck dokumentierte in seiner Bremischen Musikgeschich-te von der Reformation bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts (1998) detail-reich und mit einer erheblichen Arbeit an den Quellen u. a. die musika-lischen Ämter am Bremer Dom bis zum Amtsantritt Müllers, leider aber ohne die ermittelten Zeugnisse dann systematisch zu einer Geschichte des Bremer Domkantorats zu ordnen.12 Auch Hans-Christoph Hoff-mann behandelt in seiner Darstellung über den Bremer Dom im 17. und

18. Jahrhundert (2015) die Biographien der Organisten und Kantoren recht umfangreich, ohne aber die Erkenntnisse der Kantoratsforschung mit einzubeziehen.13 Die Arbeiten von Kremer und Kasel zeigen hinge-gen auf, dass zur städtischen Musikgeschichte gerade die Kantoratsfor-schung einen ganz wesentlichen Zugang liefert und dabei einen Katalog von Fragen aufschlägt, die »im Bereich der Berufs- und Institutionenge-schichte, der Sozial- und Mentalitätsgeschichte, der Struktur- und Bil-dungsgeschichte, der Kompositions- und Kulturgeschichte«14 liegen und interdisziplinäre Verknüpfungen anzeigen. Wenn der Bildungshistoriker Carl Haase für die niedersächsische Lateinschule in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erklärt, dass »sie niemals vorher in einer so lebhaf-ten Konkurrenz mit anderen Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen gestanden hat und […] sie niemals vorher so stark vom Wind, ja vom Sturm der Veränderung umbraust war«15, so gilt dies für das Kantorat als Lateinschullehreramt in besonderem Maße. Und wenn Kremer davon spricht, dass »die Zahl der Unbekannten und aufeinander zu beziehen-den Variablen« auf dem Gebiet der Kantoratsforschung »gegenwärtig größer als die der zweifelsfrei feststehenden Ergebnisse«16 sei, so kann dies im Hinblick auf das Kantorat in Bremen um 1800 doppelt unterstri-chen werden.

Auch wenn Müller in späteren Schriften und schon in seinem »Versuch einer Geschichte der musikalischen Kultur in Bremen« (dort sicherlich auch bedingt durch die Publikation im Hanseatischen Magazin) den ver-gleichenden Blick Richtung Hamburg und Lübeck in vielerlei Hinsicht selbst nicht scheute, so ist doch zuerst festzuhalten, dass das Bremer Kantorat an der Domschule auch für die Amtszeit Müllers nur schwerlich in eine Reihe zu stellen ist mit dem Kantorat am Lübecker Katharineum, wo schon 1756 Johann Hermann Schnobel seinen Antecessor Caspar Ruetz abgelöst hatte, und mit dem Kantorat am Hamburger Johanne-um, wo Christian Friedrich Gottlieb Schwenke seit 1789 in der Nachfolge von Georg Philipp Telemann und Carl Philipp Emanuel Bach arbeitete. Zwar ist der im 16. Jahrhundert in Bremen eingeführte und der Musik wenig geneigte Calvinismus einer der wesentlichen Punkte, womit eine »musikhistorische Sondersituation Bremens« strukturgeschichtlich zu begründen und die eine von den beiden anderen Hansestädten zu un-terscheiden ist.17 Doch mit dem alleinigen Verweis auf den in Bremen lange Zeit vorherrschenden Calvinismus lässt sich eine von den Kantora-ten am Johanneum und am Katharineum abgehobene Sondersituation für das lutherische Bremer Domkantorat zumindest für das Ende des 18. Jahrhunderts nur noch ungenügend behaupten. Schließlich hatte eine enorme Zuwanderung von Gläubigen lutherischen Bekenntnisses im Laufe des Jahrhunderts die konfessionelle Zusammensetzung der Stadt

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bei Amtsantritt Müllers schon vollkommen verändert. Um 1800 waren die 14.000 Anhänger der calvinistischen ›Staatsreligion‹ zahlenmäßig bereits von den 18.000 Lutheranern überholt.18 Auch die Gleichberech-tigung aller Konfessionen, beispielsweise bei der Besetzung politischer Ämter, wurde heiß diskutiert und vornehmlich von Johann Smidt früh vorangetrieben.19 Damit soll nicht bestritten werden, dass die jahrhun-dertelange mentalitätsgeschichtliche Prägung Bremens durch den Calvi-nismus auch am Ende des 18. Jahrhunderts (und weit ins 19. Jahrhun-dert) noch erheblichen Einfluss auf die Musikkultur der Stadt ausübte, zumal Müller selbst in seiner Bremer Musikgeschichte darauf verweist. Diesem religions- oder mentalitätsgeschichtlichen Faktor muss aber doch ein weiterer, zwar mit diesem unmittelbar in Zusammenhang ste-hender, aber für das Bremer Domkantorat im Untersuchungszeitraum bedeutsamerer übergeordnet werden, der ein territorialgeschichtlicher Faktor ist: In der von einem bürgerlichen Rat regierten reichsunmittel-baren Hansestadt bildete die Bremer Domfreiheit seit dem Mittelalter eine Enklave, zunächst unter erzbischöflicher, nach dem Westfälischen Frieden unter herzoglicher, kurfürstlicher und königlicher Hoheit. Erst im Zuge des Reichsdeputationshauptschlusses 1803 fiel der Dombezirk an die Hansestadt.

Wie das Land zwischen Bremen, Hamburg und der Elbmündung zum überwiegenden Teil gehörte auch der Bremer Dombezirk im 18. Jahr-hundert politisch zu den Herzogtümern Bremen und Verden. Im Laufe des Großen Nordischen Krieges gelangten die Herzogtümer zunächst aus schwedischer in dänische Hand und 1715 dann als administrativ vereinigtes Territorium Bremen-Verden in den Besitz Kurhannovers.20 Sie wurden von nun an von Stade aus durch »Cöniglich-Großbrittan-nische und Churfürstlich Braunschweig-Lüneburgische«, so die genaue Anrede in dienstlichen Briefen, »zur Regierung der Herzogthümer Bre-men und Verden Hochverordnete Herren Geheimer Rath und Regie-rungs-Räthe«21 verwaltet. In Stade wurden ebenfalls die kirchlichen An-gelegenheiten für Bremen-Verden verhandelt. Das in den Jahren 1651 und 1652 von den Schweden eingerichtete Konsistorium war hier 1715 von Kurhannover wiedereingesetzt worden.22 Ein General-Superinten-dent, der Mitglied des Konsistoriums war, hatte in den Herzogtümern Bremen und Verden die kirchliche Aufsicht. Unter seiner Obhut standen auch die vier Lateinschulen der Region: in Bremen am Dom, in Stade, Buxtehude und Verden am Dom. Im Territorium Bremen-Verden waren diese die einzigen öffentlichen Schulen, die die Zöglinge zu Studium und geistlichem Beruf führen konnten. Neben der geographischen, der politisch-administrativen und der kirchlichen Zusammengehörigkeit spricht für einen gemeinsamen Blick auf diese Schulen auch die jewei-

lige Größe ihrer Kollegien: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verfügte die Domschule in Bremen über sechs bis sieben Lehrkräfte, die Domschule in Verden über fünf bis sechs und die Schule in Stade über sieben bis acht, nur das Kollegium der Schule in Buxtehude war mit durchgängig drei Lehrern weniger stark besetzt.23 Die Buxtehuder Lehranstalt ähnelt hinsichtlich ihrer Größe damit eher einem kleinstäd-tisch-ländlichen Typus der Lateinschule, wie er auch in den nicht weit entfernten Orten Otterndorf und Altenbruch im Lande Hadeln zu finden war, obwohl die beiden letztgenannten Lehranstalten, völlig atypisch für diese Schulform, erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gegrün-det wurden. Vor diesem Hintergrund ist die hanseatische Perspektive Müllers hinsichtlich des Kantorenamts nicht angebracht. Die lutherische Domschule in Bremen war nicht wie Katharineum und Johanneum die eine städtische Gelehrtenschule einer freien Reichsstadt, sondern stell-te lediglich eine unter mehr oder weniger gleichwertigen Lateinschulen der Region dar.24 Statt der genannten Lehranstalten in Hamburg und Lü-beck sind die Lateinschulen des Elbe-Weser-Dreiecks in Stade, Verden und Buxtehude für die Bremer Domschule die eigentlichen Referenzen, weswegen an geeigneten Stellen dieses Aufsatzes neben Hamburg und Lübeck auch auf diese verwiesen werden soll.

»… Geschicklichkeit im Unterrichte junger Kinder« – Ausbildung und Qualifikation

In Bremen wie in Verden, Stade und Buxtehude war das Kantorat zu-nächst einmal ein Schullehreramt. Der Kantor nahm eine bestimmte Position innerhalb des Lehrerkollegiums ein, zu dem im gesamten 18. Jahrhundert in Stade, Verden und Bremen neben dem Kantor ein Rek-tor, ein Konrektor und ein Subkonrektor sowie in Stade und Bremen ein Grammaticus gehörten. Weitere Lehrerstellen waren in Stade, Verden und Bremen mit einem Subkantor, Collaborator, Subkantor-Gehilfen, Infimus oder Schreib- und Rechenmeister besetzt. Die letztgenannten Ämter konnten zeitweise wegfallen, einander ablösen oder in ihrer Rangstellung innerhalb des Lehrkörpers wechseln. Das kleinere Kolle-gium in Buxtehude bestand durchgängig nur aus Rektor, Kantor sowie Schreib- und Rechenmeister. Zwar war an der Göttinger Universität be-reits ab 1737 unter Johann Matthias Gesner ein philologisches Seminar gegründet worden, staatlicherseits normiert wurde die Lehrerausbil-dung in Kurhannover aber erst um 1830.25 Bis dahin war das Studium der Theologie üblicherweise die Voraussetzung für eine Lehrerstelle an einer höheren Schule im Kurfürstentum. Dies war, wie Gesa Kasel für die Lateinschulen in Hannover, Göttingen, Lüneburg, Braunschweig und

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Hildesheim nachweisen konnte, auch bei den Kantoren nicht anders,26 sodass Müllers Ausbildungsgang – abgesehen von den ersten Semestern, die er auf Wunsch seines Onkels, dem geheimen Hofrat Georg Heinrich Ayrer, mit juristischen Studien verbrachte – in diesem Punkte als typisch anzusehen ist. Er hatte in Göttingen und seit April 1776 unter der Matri-kel 5467 in Kiel27 Theologie studiert und sich daraufhin 1778 vom Kon-sistorium seines Vaterlandes Sachsen-Meiningen examinieren lassen.28 Typisch hierbei ist auch, dass Müllers musikalische Ausbildung nicht Teil eines ordentlichen Curriculums an Gymnasium oder Universität war, sondern er diese nur ›nebenbei‹ durchlief, beispielsweise in seiner fränkischen Heimat mit privatem Klavierunterricht beim Schulmeister des Nachbardorfs, in Göttingen als Freund Johann Nikolaus Forkels, der zu dieser Zeit Organist an der Universitätskirche war,29 und in Altona bei Caspar Siegfried Gähler, einem Schüler Carl Philipp Emanuel Bachs.30 Auch die Arbeit als Hauslehrer, der Müller schon während des Studiums und im Anschluss daran nachgegangen war, findet sich in den Biogra-phien späterer Lateinschullehrer häufig. In dieser Hinsicht steht Müller in der Tradition des ›gelehrten Kantors‹31 und in einer Reihe mit seinen Vorgängern im Kantorat an der Bremer Domschule: Die Mehrzahl seiner Amtsvorgänger hatte Theologie studiert, Nikolaus Heinrich Grimm in Leipzig, Johann Samuel Lorentz Rücker in Helmstedt, Johann Gottfried Weinmeister in Halle und Jena sowie Laurentius Laurenti in Kiel. Rücker und Weinmeister hatten sich wie Müller nach dem Studium zunächst als Hauslehrer verdingt.32 Dieser Bildungsweg findet sich darüber hinaus auch bei der Mehrzahl der Bremer Subkantoren: Carl Martin Bertholdi studierte in Greifswald und Göttingen,33 Johann Christian Lüllmann stu-dierte in Göttingen und arbeitete als Hauslehrer in Bremen,34 Johann Ge-org Benjamin Täntzer betrieb für kurze Zeit in Jena theologische Studi-en und war dann ebenfalls zunächst Privatlehrer,35 sein späterer Gehilfe Johann August Römhild hatte, bevor er eine Hauslehrerstelle in Verden annahm, in Halle studiert,36 Matthias Christoph Wiedeburg war ehemals Student in Frankfurt an der Oder und übte sich, da er erst keine andere Anstellung finden konnte, ebenso mehrere Jahre als Hauslehrer.37

Dass Müllers Wirken als Hauslehrer aber noch vor Antritt des Kanto-rats in die Gründung eines privaten Erziehungsinstituts im Jahre 1781 mündete, das unter stadtbremischem Schutz Kinder von gut begüterten Kaufmannsfamilien beider protestantischer Konfessionen aufnahm und mit großer Anerkennung aufseiten der Schüler und Eltern sowie mit lauten Protesten aufseiten der Domprediger und -lehrer jahrzehntelang betrieben wurde, ist nur eine, wenn auch die höchst bemerkenswer-te Besonderheit, durch die Müller aus der Schar seiner Vorgänger am Bremer Dom und seiner Kollegen in Stade, Verden und Buxtehude her-

vorzuheben ist. Sein Ausbildungsweg endete nämlich nicht schon mit dem kirchlichen Examen des vaterländi-schen Konsistoriums, sondern führte über einen den Freunden und Kom-militonen gewidmeten, didaktisch aufgearbeiteten Leitfaden fürs Stu-dium unter dem Titel Methodica sev de studiis apte instituendis praecepta, den als Abschiedsgeschenk der Alum-nus Müller auf knapp sechzig Seiten drucken ließ,38 über die Mitheraus-gabe des Jugendbeobachters, einer von 1776 an einige Jahre erschiene-nen Zeitschrift zu Fortbildung des Geistes, Geschmaks und Herzens er-wachsnerer Jugend, wie der Untertitel ausführte,39 und über Hospitationen am Erziehungsinstitut Joachim Heinrich Campes in Hamburg sowie bei Ernst Christian Trapp am Des-sauer Philanthropinum zu einem durch philosophische Disputation und Abschlussprüfung an der Universität Kiel 1781 erlangten Magister-grad.40 Keiner seiner Vorgänger und Amtskollegen hatte bis dato einen solchen Universitätsabschluss erworben (zumindest wird unter den Kantoren im Hannoverschen Staatskalender nur Müller mit diesem Titel geführt). Müllers Bildungsgang ist durch eine moderne Spezialisierung auf den Lehrerberuf gekennzeichnet, wie sie an der Bremer Domschule bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal von den Lehrkräften der oberen Klassen vorgewiesen werden konnte, auch wenn beispielsweise Johann Christian Lüllmann, Johann Heinrich Christian Ungewitter und Her-mann Bredenkamp in Göttingen studiert hatten und damit zumindest in Berührung mit der durch Gesner begründeten moderneren Lehrer-bildung gekommen sein mochten.41

Der weiterführende Ausbildungsgang Müllers, der sich in den genann-ten Stationen dokumentiert, betrifft drei zusammengehörige Aspekte der Spezialisierung auf das Lehramt hin. Erstens markiert das Magisterexa-men eine wissenschaftlich-fachliche Qualifikation. Es honoriert im Gan-zen Kenntnisse ›in philosophia et liberalium artes‹, eine Formulierung, die höchst unterschiedliche Disziplinen zusammenfasst. An der philoso-phischen Fakultät der dänischen Universität Kiel zählten zu Beginn der 1780er-Jahre beispielsweise die Fächer Ökonomie und Naturwissenschaft dazu, gelesen von Johann Christian Fabricius, auch Naturrecht, Poli-tik, Beredsamkeit, Poesie und Geschichte, die Wilhelm Ernst Christiani

Wilhelm Christian Müller porträ-tiert von Jacob Fehrmann 1790

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vertrat. Er hatte Müller 1781 auch die akademischen Würden verliehen. Christian Cay Lorenz Hirschfeld hielt Vorlesungen über Kunstgeschichte und Ästhetik, Andreas Weber über Mathematik, Logik, Metaphysik und natürliche Religion.42 Die Breite, in der Müller seine akademischen Stu-dien betrieben hatte, spiegelte sich auch in den angebotenen Lehrinhal-ten seines privaten Erziehungsinstituts wider: Vor dem Latein- und Reli-gionsunterricht standen moderne Fremdsprachen, künstlerische Fächer und Schulstunden zur »Weltgeschichte«, »Naturalien Kenntniß«, Physik, Mathematik, Arithmetik, »Statistick und Geographie« im Lektionsplan von 1785.43 Die spätere, auf die sogenannten ›Realien‹ hin ausgerichte-te Modernisierung der Lehrinhalte an der Bremer Domschule, die sich nach Drängen des Scholarchen Adolph Freiherr Knigge 179444 und nach abermaligen Reformen des neuen Rektors Hermann Bredenkamp 1799 in verbesserte Unterrichtspläne manifestierte,45 betraf – wohl auch auf Müllers Vorschläge und Wünsche Rücksicht nehmend – vornehmlich die Unterrichtsstunden des Kantors. Er unterrichtete neben Religion und La-tein nun vor allem Französisch, Naturgeschichte und Mathematik.46 Und auch das Fach Technologie sollte, wie Ursula Wegener formuliert, »der in allen Sätteln gerechte Kantor Müller übernehmen«47.

Zweitens schließt Müllers Spezialisierung auf das Lehramt hin auch eine vertiefte und moderne Hinwendung zu bildungspolitischen Fragen und zur Pädagogik als wissenschaftliche Disziplin ein, wie sie in der üb-lichen Bildung zum Lateinschullehrer über ein theologisches Studium nicht vorgesehen war. Prägend waren Gotthilf Traugott Zachariae, Mül-lers Theologie-Professor in Göttingen und Kiel, der auch auf pädagogi-schem Felde veröffentlichte,48 und sicherlich auch Martin Ehlers, der in Kiel pädagogische Vorlesungen gab und wohl auch Müller den späteren Kontakt zu Joachim Heinrich Campe und Ernst Christian Trapp vermit-telte. Müller nahm durch seine Arbeit am Jugendbeobachter schon früh am von Reformern wie Johann Bernhard Basedow, Campe und Trapp be-herrschten erziehungswissenschaftlichen Diskurs seiner Zeit teil. Vor der Bremer Gesellschaft Museum hielt er Vorlesungen über neue Lesemetho-den und das richtige Alter der Einschulung.49 Seine Erziehungs-Lesegesell-schaft für ältere Erzieher und lesende Jugend, die für das Jahr 1794 belegbar ist, enthielt aufklärerische und reformpädagogische Schriften von Knigge, Campe, Christian Gotthilf Salzmann und Johann Christoph Friedrich Guts Muths, darunter Guts Muths’ Gymnastik für die Jugend.50 Im selben Jahr wurden in den neuen Schulgesetzen am Dom nach jahrhundertelangem Verbot erstmals Leibesübungen für die Freistunden empfohlen.51 Später trat Müller als strenger Kritiker Johann Heinrich Pestalozzis an die Öffent-lichkeit52 und veröffentlichte einen zweibändigen Versuch einer allgemei-nen pragmatischen Elementarschule.53

Drittens beinhaltet Müllers Spezialisierung auf das Lehramt auch eine gewisse Art von schulpraktischer Ausbildung, mit der er sich von seinen Kollegen in Bremen, Stade, Verden und Buxtehude deutlich ab-hob. Damit ist weniger seine langjährige Erfahrung als Hauslehrer in Göttingen für die Kinder seines Onkels Ayrer, in Kiel bei Zachariae und in Altona bei dem dänischen Konferenzrat Johann Heinrich Baur gemeint54 als vielmehr seine Hospitationen am Erziehungsinstitut Campes in Ham-burg und am Dessauer Philanthropin bei Trapp, wo er die neusten Un-terrichtsmethoden der Reformpädagogik kennenlernen und unter An-leitung erfahrener Lehrer praktisch erproben konnte.

Tatsächlich scheint Müllers besondere pädagogische Spezialisierung im Bewerbungsverfahren um die Neubesetzung des Domkantorats aus-schlaggebend gewesen zu sein. Er hatte in seinem Bewerbungsschrei-ben auch an erster Stelle und in größerem Umfang auf seinen fachlich- pädagogischen Ausbildungsgang verwiesen. Die Stader Regierung vergab schließlich das Kantorat an Müller »aus dem Bewegungsgrunde, weil derselbe sich zugleich durch seine Geschicklichkeit im Unterrichte junger Kinder bey allen beliebt gemacht, und daneben einen untadel-haften Wandel führe«55, womit sie in dieser Begründung die Punkte, die die Domprediger Johann Christoph Vogt, Hinrich Erhard Heeren und Johann David Nicolai in ihrem Empfehlungsschreiben für Müller zuvor angezeigt hatten,56 wiederholte. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern musste Müller vor Antritt seiner neuen Stelle keine Prüfung in Stade ablegen, denn aufgrund seiner mehrfach bezeugten pädagogischen und fachlichen Kompetenzen war sich die Regierung sicher, »denselben von dem sonst gewöhnlichen examine scholastico dispensiren zu können«57. Freilich war auch Müllers musikalische Kompetenz beachtet worden. Müller berief sich schon in seinem Bewerbungsschreiben »aufs ganze hiesige Publikum«, das ihn »hier für den besten Sänger, Klavierspieler und einzigen Komponisten« halte.58 Die Domprediger sahen bei ihm »nicht gemeine Kenntnisse in der Theorie der Musick«, erklärten, dass er nur »wenige seines gleichen beym Componiren, im Singen und auch im Spielen« fände.59 Aber am Ende zählte doch mehr, dass mit Müller ein Lehrer an die Domschule geholt werden konnte, der in Zeiten sinkender Schülerzahlen in der Lage war, durch gute pädagogische Arbeit die jun-gen Schüler der unteren Klassen an der Schule zu halten, gut vorbereitet an die höheren Klassen abzugeben und neue Zöglinge anzulocken. Es war erkannt worden, dass vor allem der Unterricht in den unteren Klas-sen verbessert werden musste, um dem strukturellen und in den oberen Klassen drängenden Problem der niedrigen Schülerzahlen entgegen-zuwirken. Dass bislang den Vorgängern Müllers im Bremer Domkanto-renamt aber gerade die dazu notwendigen pädagogischen Fähigkeiten

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abgingen, lässt das Empfehlungsschreiben der Domprediger vermuten. Denn hier wird Müllers »Geschicklichkeit im Unterrichte junger Kinder« noch einmal mit der Aussage herausgehoben, dass eine solche Geschick-lichkeit »sich sonst selten bey denen findet, die einen besondern Fleiß auf die Musik wenden«60.

»… den Gesang der Psalmen gebührend ordiniren« – Aufgaben und Kompetenzen

Müller hatte seine pädagogische Geschicklichkeit mit dem Erfolg seines privaten Erziehungsinstituts in Bremen unter Beweis gestellt. Im Bewer-bungsverfahren um das Domkantorat bezogen sich Müller, die Dompre-diger und nicht zuletzt die Stader Regierung auf ebendiese Tätigkeit. Müller war hier sein eigener Herr und Knecht. Er verfasste die Unter-richtspläne frei, bestimmte die pädagogische Ausrichtung, die Lehrmit-tel und den Lehrinhalt selbst. Zudem stellte er Unterlehrer ein, die ihm in seiner pädagogischen Ausrichtung zu folgen hatten. Die Situation an der Domschule in Bremen war dahingegen eine vollkommen andere. Die Kompetenzhierarchie, in die der neue Kantor sich nun einzufügen hatte, führte von den Stader Verwaltungsbehörden, über den General- Superintendenten, den Superintendenten und die beiden Scholarchen hinab zum örtlichen Prediger- und dem Lehrerkollegium. In Bezug auf die Stader Behörden ist die Frage, ob Schulangelegenheiten eher in der Verantwortlichkeit der Regierungsräte oder in der des Konsistoriums la-gen, hier insofern von keinem größeren Belang, als die Mitglieder der Regierung, meist drei an der Zahl, immer auch Teil des Konsistoriums waren und diesem der erste Regierungsrat, der regelmäßig zum Gehei-men Rat ernannt wurde, als Präsident vorstand.61 Dabei spiegelte dieses Ineinandergreifen der Verantwortlichkeiten auf Ebene der Stader Behör-den letztlich nur die lokalen Kompetenzverschränkungen am jeweiligen Schulstandort: Als Müller sich beispielsweise ab August 1783 um die Stel-le als Kantor am Dom bemühte, adressierte er sein Bewerbungsschrei-ben direkt an die Regierungsräte in Stade, jedoch nicht, ohne sich zuvor in Bremen der Unterstützung der Domprediger Nicolai, Heeren und Vogt vergewissert und freilich auch Hermann Andreas Rieffestahl, Pastor pri-marius, Scholarch, Superintendent und zugleich Konsistorialrat, sowie den General-Superintendenten für Bremen-Verden, Johann Hinrich Pratje, der ebenfalls einen Sitz im Konsistorium hatte, um Einverneh-men ersucht zu haben.62 Als Müllers Amtsführung 1789 zu Beschwer-de Anlass gab und diese zunächst während eines Konvents der Bremer Domprediger und Diakone laut wurde, bemühte sich Rieffestahl um private Vermittlung, den dienstlichen Bericht an die Stader Regierung

aber verfasste Johann Ludwig Ummius, der als Rektor der Domschule der eigentliche Vorgesetzte Müllers war.63 Die Regierungsberatungen im Falle des Bremer Kantors fanden dann nicht statt, ohne eine Stellung-nahme des General-Superintendenten Pratje noch einzuziehen.64 Den daraus resultierenden Beschluss als königlich-kurfürstlichen Befehl be-kam Kantor Müller später wiederum vom Domprediger und Konsistori-alrat Rieffestahl mitgeteilt. Bei späteren Auseinandersetzungen konnte Müller dann häufiger auf Vermittlung durch seinen Freund Adolph Frei-herr Knigge hoffen, der ab 1790 als hannoverscher Oberhauptmann und Scholarch für den Bremer Dombezirk zuständig war. An eine Scheidung der schulischen von den kirchlichen Angelegenheiten war bei einer sol-chen personell-administrativen Verschränkung im Elbe-Weser-Dreieck auch gegen Ende des 18. Jahrhunderts noch nicht zu denken. Dies vor allem auch in Bremen nicht, wo ohne das Einverständnis des Prediger-kollegiums (in Bremen wie in Verden mit einem Superintendenten an der Spitze, der zugleich einen Sitz im Konsistorium innehatte) selbst kleinere Änderungen im Schulalltag, beispielsweise hinsichtlich der Lehrmittel, kaum durchzusetzen waren. Größere Änderungen, wie Neu-besetzungen von Stellen und Veränderungen im Lehrplan, wurden zwar sowieso in Stade verhandelt, aber dies ebenfalls immer unter Einbezie-hung des örtlichen Predigerkollegiums in die Beschlussfindung. Der je-weilige Rektor stand seiner Lateinschule in Bremen, Verden, Stade und Buxtehude formal vor. Doch umstellt von den Mitsprache- und Entschei-dungsrechten des örtlichen Predigerkollegiums, des Superintendenten, der Scholarchen, des General-Superintendenten, des Konsistoriums und der Regierung war die Entscheidungsgewalt des Schulvorstehers erheb-lich eingeschränkt. Die Stimme des Rektors ist damit vor Ort auch in vielen Schulfragen gegenüber der Stimme des Predigerkollegiums und der Scholarchen höchstens als gleich, wenn nicht gar als weniger stark gewichtet einzuschätzen. Die anderen Lateinschullehrer und damit auch die Kantoren waren entsprechend ihrer Rangfolge im Lehrerkollegium noch deutlich weniger als der Rektor befugt, eigene Wege hinsichtlich Inhalt und Ausgestaltung ihres Unterrichts frei zu erproben.

Wilhelm Christian Müller als »ein Mann«, wie General-Superintendent Pratje ihn charakterisierte, »der Subordination u. Gesetze nicht liebet, u. alles gern pro subitu nach seinen Ideen einrichten, oder eingerichtet wi-ßen will«65, musste sich mit Amtsantritt der komplexen Kompetenzhier-archie an der Domlateinschule fügen, was ihm, nach Jahren eigenverant-wortlicher Tätigkeit als Hauslehrer und Leiter des Privatinstituts, wohl nicht ganz leicht fiel. Die bereits oben erwähnte Beschwerde gegen ihn aus dem Jahre 1789 war dementsprechend durch Kompetenzüberschrei-tungen Müllers veranlasst: »Er übergiebt seine Classe eigenmächtig, auf

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Stunden, halbe – u. ganze Tage bald einem seiner nächsten Collegen, bald einem seiner obersten Schüler«, bezeugt Pratje. Und weiter:

Er setzt die Privatstunden ofte ganz aus, ändert Lectiones u. Auctores, wie es ihm einfällt, ohne Rücksprache mit dem Hr. Rector, oder den Hr. Scholarchen desfals zu nehmen, läßt sich nur sehr selten in der Kirche auf dem Platze sehen, der den Schullehrern von Alters her an-gewiesen ist, um auf ihre Schüler, zur Verhütung aller Unordnung ein gutes Auge haben zu können.66

In Müllers Verteidigungsschrift klingen die Vorwürfe dann freilich recht unerheblich. Dass er den zugewiesenen Kirchenplatz nicht regelmäßig eingenommen habe, fände beispielsweise darin seinen Grund, dass sei-ne Schüler sowieso meist in Begleitung und unter Aufsicht ihrer Eltern die Kirche besuchen würden und er als Kantor auch einen Platz auf dem Chor habe, wo er zudem die Predigt viel besser hören könne.67 Trotzdem erklärte er, zukünftig sein Verhalten entsprechend den Vorgaben zu än-dern. Aber die genannten Vorwürfe veranlassten ja nur die Beschwer-de. Eigentlich verursacht war sie durch Müllers Doppelberuf als Latein-schullehrer und Leiter eines eigenen Privatinstituts, das dem Ruf und dem Flor der Domschule angeblich schade. Sie zielte darauf ab, »daß ein guter medius terminus zur völligen Aufhebung dieses Instituts ge-funden werden könne«.68 Müller hatte aber seine Privatschule mit einem Privileg der stadtbremischen Obrigkeit bereits 1781 gegründet, also ei-nige Jahre bevor er als Lateinschullehrer in hannoversche Dienste trat, sodass die Regierungsräte in Stade, während sie die Beschwerde gegen den Bremer Kantor bearbeiteten, nicht ohne Selbstkritik rätselten, war-um nicht schon bei Amtsantritt Müllers auf die Auflösung seines Instituts hingewirkt worden war. Ein Geheimnis hatte Müller aus seiner privaten Lehrtätigkeit schließlich nie gemacht. Alle Beteiligten wussten von ihr. Sie galt im Bewerbungsverfahren für das Kantorat als ein Ausweis der besonderen pädagogisch-fachlichen Fähigkeiten Müllers, derentwegen er die Stelle ja letztlich erhielt.

Die Unvereinbarkeit zwischen dem öffentlichen Lehramt an der han-noverschen Domschule und der privaten Lehrtätigkeit am eigenen, un-ter stadtbremischem Schutz stehenden Erziehungsinstitut wurde vom Lehrkörper und dem Predigerkollegium am Dom immer wieder betont. Schließlich trügen die Privatschulen die Schuld für die niedrigen Schü-lerzahlen der öffentlichen Schulen. Die Arbeit am Erziehungsinstitut entzöge Müller die Kraft fürs öffentliche Amt. Es folgte Ende 1789 der königlich-kurfürstliche Befehl zur Auflösung des Instituts.69 Ihm konn-te Müller allerdings (nicht zuletzt, weil er die stadtbremisch-reformier-

te Bevölkerung auf seiner Seite hatte) durch einige Tricks und Kniffe ein Vierteljahrhundert lang entgehen, bis er 1814 sein Institut selbst schloss.70 Diese Diskrepanz zwischen öffentlicher und privater Lehrtä-tigkeit steht in engem Zusammenhang mit einem anderen Missverhält-nis, das zwischen dem öffentlichen Amt und dem Amtsträger bestand. Denn die Verantwortlichen im Neubesetzungsverfahren hatten ja genau bedacht, dass sie mit Müller einen pädagogischen Reformer zum neu-en Kantor machten, in der Bestallungsurkunde hielten sie aber an den althergebrachten Formulierungen fest, mit denen seit der Bestallung des ersten Kantors der Domschule, Christoph Hasselbach im Jahre 1642, also fast anderthalb Jahrhunderte hindurch die immer gleichen Aufga-ben des Domkantors immer wieder rekapituliert worden waren.71 Der ganz und gar konservativ ausgerichtete Dienstauftrag vom 15. Dezem-ber 1783, unterzeichnet von den drei Stader Regierungsräten Gotthelf Dietrich von Ende, Ernst Josua von Bülow und Claus von der Decken bestimmte für den Kantor,

daß zuförderst Allerhöchstgedachter Seiner Königlichen Majestät und Churfürstlichen Durchlaucht unsrem allergnädigsten Herrn er ge-treu, hold und gewärtig seyn, Dero und hiesiger Herzogthümer Nut-zen und Bestes nach äuserstem Vermögen suchen und befördern, Schaden und Nachtheil aber so viel an ihm ist, mit allem Fleiß war-nen, verhüten und abwenden, insonderheit daß er des Morgens und Nachmittags zu gehörigen Zeiten in seiner Classe bey seinen discipulis sich einstellen, sie mit gebührendem Fleiß und Treue unterrichten, auch sie in guter disciplin bescheidentlich halten; auch jedesmahl in der Kirche an Sonn-, Fest- und Beth-Tagen, nicht weniger des Mitwo-chen und Freytags, wenn geprediget wird, zu rechter Zeit sich einfin-den und den Gesang der Psalmen gebührend ordiniren, ingleichen mit den bey der Dom-Kirche bestellten Musicanten und Adjuvanten zu gewöhnlichen Zeiten, wie von seinem Antecessore geschehen oder ge-schehen sollen, auf der Orgel eine Figural und Instrumental-Music nebst dem Organisten oder sonst alleine nach bestem Vermögen an-stellen, Gott und der Gemeine damit dienen, auch wenn Begräbnisse in oder bey der Dom-Kirche vorfallen und die Dom-Schule samt den Knaben zum Todten-Gesang erfordert werden, als denn in Person dabey gegenwärtig seyn, mithin den Gesang dirigiren, über das mit allem Fleisse dahin sehen und sich bemühen, die Music bey dortigem Dom in gutes Aufnehmen und Flor zu bringen, auch darin zu erhal-ten, mit den übrigen Schul-Collegen in guter Harmonie und Frieden leben, anbey alles dasjenige, was ihm sonst wegen seines officii oblie-get, mit steter Geflissenheit verrichten, dabeneben in obgedachter

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Information, nicht weniger in vita, moribus et statu sich also verhal-ten solle, und wolle, wie einem getreuen Cantori und Schul-Collegen geziemet und wohl anstehet.72

Indikatoren für den statisch-konservativen Charakter dieses Dienstauf-trags sind nicht zuletzt Wörter und Phrasen, die das amtliche Handeln des künftigen Kantors als »gehörig«, »gebührend«, »gewöhnlich«, »ge-treu«, »zur rechten Zeit«, »wie von seinem Antecessore geschehen«, »wie geziemet und wohl anstehet« disponieren. Zuerst aber zeigt sich in der offensichtlichen Dreigliedrigkeit des auszufüllenden Tätigkeitsfeldes das traditionelle und mit dieser Dienstanweisung am Bremer Dom weiterge-pflegte Berufsbild des Kantors. Er hatte hier auch künftig pädagogisch, liturgisch-gottesdienstlich und repräsentativ-zeremoniell wirksam zu werden.73 Müllers pädagogischer Tätigkeitsbereich war zweiteilig: Er stand an der im Klassenlehrerprinzip organisierten Domschule einer der unteren Klassen vor und unterrichtete als ›wissenschaftlicher Leh-rer‹ bis zu den Unterrichtsreformen der 1790er-Jahre vornehmlich la-teinische Sprache und christliche Glaubensinhalte. Als ›musikalischer Lehrer‹ wirkte er nur in seinen obligatorischen Privatstunden, wo er im Fachlehrerprinzip mit Schülern aller Klassen einen Chor für die Kirchen-musik zu pflegen hatte. Für die Schüler war dieses Lehrangebot aller-dings fakultativ. Der liturgisch-gottesdienstliche Tätigkeitsbereich ist ebenfalls in zwei Aufgabengebiete zu gliedern: Zum einen zählte hierzu die allgottesdienstliche Arbeit, mittwochs, freitags, sonn- und feiertags als ›Choralkantor‹ den Gesang der Psalmen, d. h. den Gemeindegesang anzuleiten. Zum anderen war es seine Pflicht, als ›Figuralkantor‹ für die Aufführung von »Figural und Instrumental-Music«, d. h. für die Auffüh-rung einer größeren kirchenmusikalischen Komposition, meist einer Kantate, gewöhnlich an den hohen kirchlichen Festtagen Ostern, Pfings-ten und Weihnachten Sorge zu tragen.74 Der repräsentativ-zeremonielle Tätigkeitsbereich ist im Dienstauftrag mit den Leichengesängen ange-sprochen, die ebenfalls in Müllers Verantwortung lagen.

Mit der Neuaufsetzung des antiquierten Dienstauftrags sperrten sich die Verantwortlichen im Bestallungsverfahren in mehrerlei Hinsicht gegen Diskussionen und Entwicklungen, die in manchen Regionen be-reits im 16. Jahrhundert eingesetzt hatten und die eine derartige multi-funktionale Konstitution des Kantorenamts infrage stellten. Müller selbst griff diese Diskussionen in seinem »Versuch einer Geschichte der musikalischen Kultur in Bremen« auf. Seine Kritik zielte vor allem auf die in Bremen wie vielerorts noch immer übliche Verschränkung von litur gisch-gottesdienstlichem und pädagogischem Tätigkeitsbereich und dessen jeweilige Zweigliedrigkeit. Der Dienstauftrag nämlich, zu-

gleich als ›wissenschaftlicher‹ und ›mu-sikalischer Lehrer‹ an der Schule zu wir-ken, steht nach Müllers Auffassung einer notwendigen Spezialisierung in einer der beiden Fachrichtungen entgegen:

Die Kinder seiner Mitbürger gut erzie-hen, und sie mit Lust und Beifall in nützlichen Kenntnissen unterrichten, ist gewiß ein wichtigeres Talent, als die viel mühsamere Unterweisung der Ju-gend in der Musik. Und die Vereinigung beider Talente kann eben so selten in einer Person angetroffen werden, daß es kein Wunder ist, daß neben einer mittelmäßigen Kenntniß von Wissen-schaften und Sprachen, in der musika-lischen Kunst so selten einer über das Mittelmäßige komme.75

Während, wie Gesa Kasel herausgearbeitet hat, aus dem traditionellen multifunktionalen Kantorenamt der neue Beruf des fachlich spezialisier-ten Musik- oder Gesanglehrers sich in Hannover erst um 1846, in Göt-tingen erst um 1844, in Lüneburg ab 1824 und in Hildesheim ab 1816 herauslöste,76 waren nach Joachim Kremer andernorts »jedoch die bei-den Bereiche des wissenschaftlichen und des musikalischen Unterrichts bereits um 1700 als nicht mehr miteinander vereinbar betrachtet wor-den«.77 Dabei wurde schon in der zeitgenössischen Diskussion u. a. von Johann Nikolaus Forkel auf die Beispiele Telemann und C. P. E. Bach in Hamburg sowie Johann Sebastian Bach in Leipzig verwiesen, die sich als Kantoren von ihren Aufgaben als ›wissenschaftliche Lehrer‹ weitestge-hend freimachen konnten.78 In Kiel war gemäß Bestallungsurkunde ab 1781 vom neuen Kantor Johann Christoph Oehlers kein wissenschaftli-cher Unterricht mehr gefordert.79 Müller, der als Kantor am Bremer Dom auch nach den Reformen der 1790er-Jahre an sechs Tagen pro Woche dreißig Stunden nicht musikalischen Unterricht zu geben hatte,80 plä-dierte allerdings nicht allein auf eine Herauslösung des wissenschaftli-chen Unterrichts aus dem Aufgabenkreis des Kantors, sondern für eine Befreiung von den pädagogischen Aufgaben überhaupt:

Wer mag Lust zu einem Kantoramte haben, wo die meisten Stunden der Woche dem Schulamte geopfert werden müssen, wobei der musi-

Titelblatt von Müllers Amtsan-trittsrede

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kalische Kunstsinn erstumpft, und wobei der arbeitsame, am Ende der Woche erschlaffte, Mann froh ist, wenn er nur die erste Musik, welche ihm in die Hand fällt, den morgenden Sonntag aufführt! Kann dabei die Kunst, die Kirchenmusik vervollkommnet werden? Kann ein nothdürftiges kaltes Geleier zum Frommen der Gemeine dienen?

Eine bessere Einrichtung, wenn die Direktion der Musik nicht mit dem Schulamte verbunden ist, wäre allenthalben zu wünschen.81

Vorbilder hierfür konnten auch Telemann und C. P. E. Bach in Hamburg sein. Schon ein Dreivierteljahrhundert vor Müllers Aufsatz im Hanseati-schen Magazin konnte Telemann sich auch von seinen Aufgaben als ›mu-sikalischer Lehrer‹ häufig befreien. Bach folgte ihm darin. Das eigentliche Schulkantorat am Hamburger Johanneum war unter ihnen zu einem Ka-pellmeisterkantorat umgestaltet worden. An ihren Kirchenmusiken wirk-ten weniger die Schulknaben mit als vielmehr begabte Laien und Berufs-musiker.82 Vorgebildete Chorschüler wurden nicht selten aus Thüringen, Ober- und Niedersachsen angeworben.83 Als ›virtuoser Unternehmer‹ wendete Bach zudem sein kompositorisches Genie eher auf gut verkäuf-liche Musikalien fürs ganze Publikum als auf die regulären, meist unge-druckt gebliebenen Kirchenmusiken.84 Der Nachfolger Bachs, Christian Friedrich Gottlieb Schwenke, dessen Amtsverständnis eher dem eines traditionellen Schulkantors entsprach, fand für eine dementsprechende Amtsausführung die nötigen Strukturen schon nicht mehr vor.85 Wilhelm Christian Müller war als Klassenlehrer fest in den Lektionsplan der Dom-schule und in die Rangordnung der Lehrer eingebunden. Eine Verringe-rung des Lehrdeputats in den Wissenschaften und Sprachen oder eine gänzliche Befreiung von diesem kam nicht infrage. Diese Bedingungen an der Bremer Domschule ließen eine Verschiebung vom Schulkantorat hin zu einem Kapellmeisterkantorat nicht zu. Da aber die sogenannten Privatstunden, in denen er musikalischen Unterricht zu geben hatte, nicht Teil des ordentlichen Lehrplans waren, konnte Müller sich hier ähn-lich wie die Hamburger Vorbilder Freiheiten erlauben. Zwar diente der Unterricht auch weiterhin u. a. dazu, Mitwirkende für die Kirchenmusik auszubilden. Diese mussten nun aber nicht mehr allein Domschüler sein, auf deren Beteiligung am Unterricht oder an den Aufführungen sowieso kein Verlass war. Vielmehr setzte Müller den musikalischen Unterricht so an, dass auch erwachsene Dilettanten und Berufsmusiker daran teilneh-men konnten. Auch wird Müller diesen Unterricht nicht vor den Schü-lern seines Privatinstituts verschlossen haben. Es ist sogar anzunehmen, dass sie häufig einen erheblichen Teil der Besucher ausmachten. In der Folge konnte Müller für seine Musikaufführungen im Dom, zu denen er laut Dienstauftrag als ›Figuralkantor‹ verpflichtet war, aus einer grö-

ßeren Gruppe von gut ausgebildeten Interessierten auswählen. Zusam-men mit der von Adolph Freiherr Knigge und Müller vorangetriebenen allmählichen Reduzierung der festangestellten Musiker und Adjuvanten am Dom86 – die hierdurch freigesetzten Mittel konnten nun für professi-onelle Sänger und Instrumentalisten nach den Bedürfnissen der jeweili-gen Aufführung eingesetzt werden – führte dies zu einer Steigerung der kirchenmusikalischen Qualität am Dom, die sich ab den 1790er-Jahren durch Aufführungen von Werken solcher Komponisten wie Carl Heinrich Graun, Gottfried August Homilius, Johann Adolph Hasse, Giovanni Bat-tista Pergolesi, Mozart und Haydn dokumentiert.87

Die schulischen Verpflichtungen des Kantors standen aber einer weiteren Verbesserung und intensiveren Pflege der »Figural und Inst-rumental-Music« am Bremer Dom wie andernorts im Wege, schließlich hatte das »Musiksetzen, Schreiben, Probiren, Aufführen«88 der seltenen Fest- und Gelegenheitskantaten im Vergleich zu der alltäglichen Unter-richtsverpflichtung hier nur den Stellenwert eines Nebenamts und muss-te, wie Müller kritisierte, in der ›Freizeit‹ betrieben werden. Statt als ›Figuralkantor‹ trat der Leiter der Kirchenmusik am Bremer Dom meist als ›Choralkantor‹ in Erscheinung. Der eigentliche Schwerpunkt seines musikalischen Aufgabenkreises lag laut Bestallungsurkunde auf der Anleitung des Gemeindegesangs. Das »Vorschreien des Kirchengesan-ges«89, wie Müller den Dienstauftrag paraphrasierte, mag dem »besten Sänger, Klavierspieler und einzigen Komponisten«90 in Bremen als eine Verschwendung seines Talents vorgekommen sein. Tatsächlich tritt auch in diesem Punkt der konservative Bremer Dienstauftrag hinter Entwick-lungen zurück, die beispielweise in Hamburg schon 1615 dazu geführt hatten, dass sich – während das Einüben und Anleiten der Choräle von anderen Lehrern übernommen wurde – der Kantor des Johanneums gemäß seiner Profession auf die figurale Kirchenmusik beschränken konnte. Das »stellte einen entscheidenden Schritt zur Ausbildung des Kantorats als zentrales Musikeramt in Hamburg dar«91. Aber auch wenn es Müller und seinen Vorgängern gelungen wäre, sich zugunsten der Fi-guralmusik von den Aufgaben als ›Choralkantor‹ zurückzuziehen, wäre ein solcher Schritt zu einem ›zentralen Musikeramt‹ in Bremen freilich schon allein durch die konfessionelle und territorialpolitische Sonder-stellung des Doms nicht möglich gewesen. Der in Diensten Kurhanno-vers stehende Domkantor konnte auf stadtbremischem Gebiet eigentlich nur als Privatmann musikalisch wirken, wohingegen es vonseiten der Stader Regierung beispielsweise keine Bedenken dagegen gab, als ers-ten Dommusikanten den Konzertmeister der Ratsmusikanten, Dietrich Heinrich Frese, und als zweiten Dommusikanten den stadtbremischen Musikdirektor, Johann Christoph Horst, zu beschäftigen.

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Der von Müller in seinem »Versuch einer Geschichte der musikalischen Kultur in Bremen« geäußerte Wunsch nach einer Professionalisierung des Kantorats hin zu einem Musikerberuf ohne schulische Verpflichtun-gen mit Schwerpunkt auf der figuralen Kirchenmusik ist während seiner Amtszeit am Bremer Dom nur Wunsch geblieben. Müllers Engagement für die figurale Kirchenmusik scheint jedoch trotz der nachteiligen Be-dingungen in seiner Anfangszeit sehr hoch gewesen zu sein. Schon im Zuge der Verhandlungen um seine Bestallung hatte Müller einiges für die Figuralmusik am Dom bewirken können: »Das hiesige Publikum, selbst bis auf den Handwerksmann«, erklärte er beispielsweise dem General-Superintendenten Pratje, »gewinnt, besonders nun durch die Opern, einen feinren Geschmack und äußert Ekel an alter oder schlech-ter Kirchenmusik.«92 Dreißig Reichstaler pro Jahr forderte er deshalb zusätzlich zu seinem Gehalt, wovon er »die herrlichsten, edelsten, wür-digsten Kirchenkompositionen« anschaffen und so »die Religionsübung angenehmer, anziehender« machen wollte.93 Zwanzig Reichstaler sind ihm dann von den Regierungsräten tatsächlich genehmigt worden. Auch mit Blick auf die erhaltenen Libretti treten die ersten Jahre seines Kan-torats hervor. Seine wohl oft im Parodieverfahren zusammengestellten Choralkantaten blieben allerdings – typisch für die Zeit und die Gattung – ungedruckt. Im Gegensatz zu den Hamburger Vorbildern beschränkte Müller seine kompositorischen Ambitionen allein auf das kirchenmusi-kalische Amt. Es scheint, als sei die Dommusik unter dem Kantorat Mül-lers bis zur Jahrhundertwende nachgerade aufgeblüht. Anschließend aber sank sein Interesse zunehmend. Die finanzielle Ausstattung am Dom verschlechterte sich weiter und Müller fand mit seinen Privatkon-zerten am Erziehungsinstitut und den spätestens seit 1809 stattfinden-den Familienkonzerten im Bereich des bürgerlich-profanen Musiklebens einen hinreichenden Ersatz für seine musischen Ambitionen. Im selben Jahr bat er zum ersten Mal um eine Entbindung von der Direktion der Kirchenmusik. Da aber zu diesem Zeitpunkt kein Nachfolger zur Verfü-gung stand, blieb die kirchenmusikalische Leitung noch einige Jahre in Müllers Hand.94

»… weil die Cantores selten in Sprache und Wissenschaften die Stärcke haten« – Berufliche Rangstellung und Karrierechancen

Als Müller sein neues Amt als Kantor an der Domlateinschule 1784 an-trat, war ihm sicherlich bewusst, dass er nun in solch einem öffentlichen Anstellungsverhältnis stand, das im glücklichsten Falle nur erst durch das Ableben des Stelleninhabers beendet wurde. Die Stelle war erst da-mit wirklich, nach damaligen Sprachgebrauch, ›erledigt‹. Die Amtszeiten

von Müllers Vorgängern verdeutlichen, dass das Domkantorat auf eine gewisse personelle Kontinuität hin ausgelegt war: Christoph Hasselbach war ab 1642 bis zu seinem Hinscheiden 1683 41 Jahre lang Domkantor,95 Laurentius Laurenti bekleidete das Amt ab 1684 fast 38 Jahre bis kurz vor seinem Tode 1722,96 Samuel Johann Lorentz Rücker ab 1739 bis zu seinem Ableben immerhin 16 Jahre97 und direkt anschließend Nikolaus Heinrich Grimm ab 1755 bis zu seiner Emeritierung 1780 25 Jahre.98 Die personelle Kontinuität im Kantorenamt an Lateinschulen ist für das El-be-Weser-Dreieck bis zum Ende des 18. Jahrhunderts als typisch anzuse-hen, denn auch mit Blick auf die Kollegien der Lateinschulen in Stade, Buxtehude und Verden stechen die langen Amtszeiten der Kantoren her-vor, besonders auffallend in Verden, wo der Domkantor Johann Nicolaus Kuhlemann sein Amt ab 1750 über ein halbes Jahrhundert innehatte.

Eine solche dauerhafte Anstellung, wie Müller sie nun mit dem Kan-torat an der Domschule erhalten sollte, war für seine junge Familie, die gerade erst auf vier Personen angewachsen war, eine höchst dringliche Absicherung.99 Trotzdem er sich über den Erfolg seines Erziehungsinsti-tuts nicht beklagen konnte, war seine Lage doch ungewiss, wie er selbst im Bewerbungsschreiben gestand. Es galt nun, mit der Kantorenstelle »sichere Aussichten aufs Alter« zu gewinnen.100 Müller aber wusste wohl auch, dass seine neue Stellung als Kantor eine absolut statische Position innerhalb des Lehrerkollegiums an der Domschule darstellte. Während typischerweise ein Aufstieg vom Subrektor zum Konrektor und vom Konrektor zum Rektor vorgesehen war, wie die über den Hannoverschen Staatskalender nachvollziehbaren Laufbahnen von Johann Ludwig Um-mius, Johann David Nicolai und Justus Julius Gläsener, die ihren jewei-ligen Amtsvorgänger ablösten, belegen, und während auch eine Beför-derung von einer unter dem Kantorenamt angesiedelten Rangstellung möglich war, wie die Biographien von Johann Christian Lüllmann, der innerhalb von acht Jahren vom Subkantor zum Konrektor aufstieg, und von Wilhelm Conrad Sanders, der innerhalb von elf Jahren vom Hilfs-lehrer sogar zum Rektor befördert wurde, beweisen, war keiner, der das Kantorat am Dom bislang innehatte, in der Ämterfolge der Lehrer emporgekommen. An den Lateinschulen in Stade und Verden verhielt es sich ebenso. Dabei galt der Lehrerdienst an einer Lateinschule oft-mals nur als ein ›Durchgangsberuf‹, bevor man mit dem Wechsel in ein geistliches Amt eine besser angesehene und auch besser bezahlte Stel-le antreten konnte.101 Johann David Nicolai und Hermann Bredenkamp beispielsweise erhielten, nachdem sie an der Domschule vom Subkon-rektor schrittweise zum Rektor aufgestiegen waren, wenige Jahre später eine Dompredigerstelle. Meist musste man für einen Wechsel ins Predi-geramt aber nicht erst warten, bis man zum Rektor aufgestiegen war:

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»Er suchte in jeder Beziehung Bremens Ruhm, so wie er Bremens Ruhm war.«

Wilhelm Christian Müller (1752 – 1831) war für das schön-geistige Bremen im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert von großer Bedeutung. Als Domkantor, Pädagoge und Schriftsteller war Müller Reformator und Schlüsselfigur der Musik- und Bildungslandschaft.Herausgeber Christian Kämpf würdigt mit diesem Band Müllers Wirken in Bremen und für Bremen. Renommierte Autoren beleuchten seine Biographie aus den Perspektiven unterschiedlichster Fachdisziplinen heraus und geben so einen spannenden Einblick in das Kulturleben der Hanse-stadt um 1800.

ISBN 978-3-944552-88-0