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Wenn Stadt Bildung mit- denkt, dann ... 2016 >>> DIE BILDENDE STADT HERAUSGEBER ANGELA MILLION FELIX BENTLIN ANNA JULIANE HEINRICH IN KOOPERATION MIT DER VODAFONE STIFTUNG DEUTSCHLAND

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Wenn Stadt Bildung mit- denkt, dann ...

2016

>>>

DIE BILDENDE STADT HERAUSGEBER ANGELA MILLION FELIX BENTLIN ANNA JULIANE HEINRICH IN KOOPERATION MIT DER VODAFONE STIFTUNG DEUTSCHLAND

Wenn Stadt Bildung mitdenkt, dann ...

Perspektiven von Lehre, Forschung und Praxis auf die Idee einer bildenden Stadt

Diese Veröffentlichung gibt die wichtigsten Ergebnisse der Sommerschule 2015 „Die bildende Stadt“ wieder, die im Rahmen des Projektes „Fachlicher Nachwuchs entwirft Zukunft“ der Nationalen Stadtentwicklungspolitik (BMUB, BBSR) und der Vodafone Stiftung Deutschland unterstützt und von der TU Berlin durchgeführt wurde

2016

>>>

DIE BILDENDE STADT HERAUSGEBER ANGELA MILLION FELIX BENTLIN ANNA JULIANE HEINRICH EINE KOOPERATION MIT DER VODAFONE STIFTUNG DEUTSCHLAND

Dr. Barbara HendricksBundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor sicherheit

„ Das vorliegende Buch dokumentiert und würdigt die innovativen Lösungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Sommerschule 2015“

Hochschulen entscheiden gemeinsam über ein Thema, bieten miteinander abgestimmte Lehrveranstaltungen an und gehen dann mit ausgewählten Studierenden in eine inten­sive Projektphase vor Ort. So haben Stu­dierende wie Lehrende die Möglichkeit, sich hochschul übergreifend mit Planungsthemen der Zukunft auseinanderzusetzen und ihre Ideen einer breiteren Fachöffentlichkeit zu präsentieren.Dies geschieht zum Beispiel im Rahmen ei­ner Konferenz wie dem „Hochschultag der Nationalen Stadtentwicklungspolitik“. Auch dieses Projekt wird vom BMUB gefördert. Beide Projekte verfolgen letztlich dasselbe Ziel: Die Stadtentwicklung in Deutschland braucht auch weiterhin eine hohe Quali­tät, zum Wohle der Menschen, die in den Städten leben. Beim Hochschultag geht es dabei stärker um die Kooperation von Wis­senschaft und Praxis. Im Projekt „Fach­licher Nachwuchs entwirft Zukunft“ steht die Ausbildung der künftigen Planerinnen

und Planer unserer Städte im Vordergrund. Beide fördern auf ihre Weise die Qualität der Stadtplanung und damit die Lebensqualität in unseren Städten.Ich bin davon überzeugt, dass die Studie­renden von dieser Art der Zusammenarbeit besonders profitieren, weil sie die Koopera­tion und Kommunikation fördert, weil sie die Qualität der Ausbildung verbessert und damit die Chancen auf dem Arbeitsmarkt und für ein erfolgreiches Berufsleben steigert. Mein Dank gilt allen Müttern und Vätern dieses Er­folgs und in diesem Jahr besonders auch der Vodafone Stiftung Deutschland und ihrem Engagement, das diese Publikation ermög­licht hat.

Grußwort der Bundesbauministerin

Barbara Hendricks über die Abschluss publikation des Projektes „Fachlicher Nachwuchs entwirft Zukunft – Die bildende Stadt“ im Rahmen der Nationalen Stadtentwicklungspolitik

Wie bringt man die Themen Bildung und Stadtentwicklung zusammen? Studierende und Lehrende haben das in der Sommer­schule 2015 und bei den Lehrveranstal­tungen an ihren Hochschulen im Semester zuvor versucht. Die künftigen Planerinnen und Planer haben mit viel Engagement und Leidenschaft diskutiert und für ein Stadtquar­tier im Berliner Bezirk Reinickendorf – den Lettekiez – ganz konkrete Ideen entwickelt. Das vorliegende Buch dokumentiert und würdigt die innovativen Lösungen der Teil­nehmerinnen und Teilnehmer an der Som­merschule 2015.Das Bundesministerium für Umwelt, Natur­schutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) fördert seit mehreren Jahren das Hoch­schulprojekt „Fachlicher Nachwuchs ent­wirft Zukunft“. Dabei arbeiten junge ange­hende Stadtplanerinnen und Stadtplaner an bis zu dreizehn Hochschulen zusammen und beschäftigen sich mit aktuellen For­schungsfeldern der Stadtentwicklung. Die

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>DIE BILDENDE STADT VORWORT

„ Nicht nur Schule und Elternhaus beeinflussen die Bildungschancen, sondern auch der gesamte Sozialraum“

Komplexe Fragestellungen erfordern inno­vative Methoden. Deshalb wurden für dieses Projekt die kreativsten Nachwuchsstadt­planerinnen und ­stadtplaner aus den be­teilig ten Hochschulen zusammengerufen, um Lösungsideen zu entwickeln – zunächst ein ganzes Semester lang an ihrer jeweiligen Heimathochschule und danach gemeinsam in kleinen, hochschulübergreifenden Teams während einer zweiwöchigen Sommerschule in Berlin. Dort diente die in einem sozialen Brennpunktquartier gelegene Quinoa­Schule als praktischer Bezugspunkt für ihre Arbeit. Dabei gingen die Teams meist jedoch nicht nach einem schematischen Top­down­Pla­nungsverfahren vor, sondern dachten konse­quent vom Bürger her – im Sinne des Design Thinking. Der genaue thematische Zuschnitt sowie das methodische Vorgehen werden in den beiden folgenden Kapiteln kurz erläutert. Im Zentrum des Buches stehen jedoch die Ergebnisse, die im Rahmen dieses Projektes erarbeitet wurden – geordnet nach den drei Denkansätzen, die sich während der Arbeit herauskristallisiert haben. Zu jedem dieser drei Denkansätze werden neben den Ideen der Nachwuchsstadtplaner auch ergänzende Beiträge von ausgewiesenen Experten vor­gestellt. Abschließend wird herausgearbeitet, welche konkreten Handlungsempfehlungen sich aus diesen Erkenntnissen für Politik und Praxis ableiten lassen.

Dieses Buch richtet sich somit an alle Ent­scheidungsträger und Praktiker, die in Bund, Ländern und Kommunen, Stadtplanung und Bildungswesen daran arbeiten, die Bildungs­chancen in Deutschland zu verbessern. Wir hoffen, Ihnen damit Inspiration und neue Impulse zu bieten, um Sie bei Ihren Bemü­hungen für diese wichtige Zukunftsfrage zu unterstützen.

Sebastian GallanderLeiter Thinktank , Vodafone Stiftung Deutschland

Mark Speich und Sebastian Gallander über die Idee des Buches

„Städte sind Geräte zum Speichern und Wei­tergeben von Wissen“, konstatiert Steven Johnson sinngemäß in seinem vielbeach­tetem Buch „Emergence“. Dieser Vergleich mag etwas zugespitzt sein, aber er deutet auf einen wichtigen Punkt hin, der in den bil­dungspolitischen Diskussionen in Deutsch­land bisher noch zu wenig beachtet wird: Nicht nur Schule und Elternhaus beeinflus­sen die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen, sondern auch der gesamte Sozialraum – die Gemeinde, der Stadtteil –, in dem sie jeden Tag einen großen Teil ih­rer Zeit verbringen. So hat beispielsweise eine groß angelegte Studie des „Equality of Opportunity Project“ der Harvard Univer­sity gerade verdeutlicht, dass das nachbar­schaftliche Umfeld während der Kindheit ein Schlüsselfaktor für den langfristigen Erfolg eines Kindes sein kann. Es stellt sich also verstärkt die Frage, wie sich Städte so ge­stalten und organisieren lassen, dass da­durch die Bildungschancen der Kinder und Jugendlichen, die dort aufwachsen, best­möglich gefördert werden. Die Vodafone Stif­tung Deutschland, die immer wieder nach

neuen Ansätzen zur Verbesserung der Bil­dungschancen in Deutschland sucht, hat diese Frage auf gegriffen und an die vom Bundesbauminis terium geförderte Initiative „Fachlicher Nach wuchs entwirft Zukunft“ herangetragen – dies war der Grundstein für das Projekt „Die bildende Stadt“.Dieses Projekt ist ein Gemeinschaftswerk von zehn Hochschulen aus ganz Deutsch­land: der RWTH Aachen, TU Berlin, BTU Cottbus­Senftenberg, TU Dortmund, FH Erfurt, HCU Hamburg, Universität Kassel, Universität Siegen, Universität Stuttgart so­wie der Bauhaus­Universität Weimar. Allen Beteiligten gilt unser aufrichtigster Dank, da ohne ihr großes Engagement dieses Projekt nicht möglich gewesen wäre. Ganz beson­ders danken wir dem Team der TU Berlin, das dieses Projekt fachlich und organisatorisch exzellent geleitet hat (in alphabetischer Rei­henfolge): Felix Bentlin, Anna Juliane Hein­rich, Dietrich Henckel, Jürgen Höfler, Angela Million und Susanne Thomaier. All dies war entscheidend für die Entwicklung von Ant­worten auf die hier aufgezeigte komplexe Fragestellung.

Die Stadt als Bildungsraum erschließen

Dr. Mark SpeichGeschäftsführer, Vodafone Stiftung Deutschland

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>DIE BILDENDE STADT VORWORT

Die bildende StadtAngela Million, Felix Bentlin,Anna Juliane Heinrich 10

Hochschulkooperation mit MehrwertSusanne Thomaier, Dietrich Henckel 14

Handlungsempfehlungen Angela Million, Dietrich Henckel 110

Impressum 114

ORTE 82 BILDEN ERFAHRUNGENWIE VIELSEITIG GESTALTETE STADTRÄUME LERNERFAHRUNGEN IM ALLTAG FÖRDERN

> Universität Stuttgart

Partneruniversitäten des Projekts „Fachlicher Nachwuchs entwirft Zukunft“ 2015 in Deutschland

> HafenCity Universität Hamburg

> RWTHAachen

> TU Dortmund

> Bauhaus-Universität Weimar

> FH Erfurt> Universität

Kassel

> TU Berlin

> BTU Cottbus- Senftenberg

> Universität Siegen

Das Entwurfsprojekt PlaygroundL 3.1 > Universität Kassel 84

Wissenstransfer im StadtraumL 3.2 > TU Dortmund 86

Licht an! L 3.3 > BTU Cottbus­Senftenberg 88

Transformiertes GewerbegebietS 3.4 > Sommerschule Berlin 90

Perspektivwechsel LernortS 3.5 > Sommerschule Berlin 92

Grenzen gestaltenS 3.6 > Sommerschule Berlin 94

Kidz im KiezS 3.7 > Sommerschule Berlin 96

Fragmentierte ReformenE 3.8 Barbara Schönig 98

Bilden Orte Erfahrung? E 3.9 Anna Juliane Heinrich 102

Wenn Sozialpädagogen und Architekten …

E 3.10 Christine Loth, Thomas Coelen 106

BÜRGER 52 BILDEN STADTRÄUMEWIE AKTIVE BEWOHNER UND STADTPLANER MIT­ UND VONEINANDER LERNEN

SCHULEN 20 BILDEN NACHBAR SCHAFTENWIE SICH SCHULEN ALS NEUARTIGE ORTE DES ZUSAMMENLEBENS UND ­LERNENS ERFINDEN

Bildungsbauten im Umbruch L 1.1 > Universität Stuttgart 22

Bausteine der Bildung L 1.2 > TU Berlin 24

Gemeinschaft durch Schule in Sonneberg

L 1.3 > Bauhaus­Universität Weimar 26

Alle unter einem DachL 1.4 > RWTH Aachen 28

Bildungshafen MüggeL 1.5 > HCU Hamburg 30

Das vertraute FremdeS 1.6 > Sommerschule Berlin 32

Impulsgeber Quinoa-Schule S 1.7 > Sommerschule Berlin 34

Mehr Mut zur Öffnung der Schulen

E 1.8 Felix Bentlin 36

Eine lokale Bildungslandschaft E 1.9 Theda von Kalben 40

Learning VillageE 1.10 Charlotte Eller 44

Mehr Stadt wagenE 1.11 Britta Hüttenhain 48

Mapping als Tool der Stadtraumanalyse L 2.1 > TU Berlin 54

Flüchtlinge zeigen ihre Stadt L 2.2 > FH Erfurt 56

Mit anderen Augen L 2.3 > Universität Siegen 58

[Eigen] Initiative Epensteinplatz S 2.4 > Sommerschule Berlin 60

Pionierraum Lettezeile S 2.5 > Sommerschule Berlin 62

Transitraum zu Wohnraum S 2.6 > Sommerschule Berlin 64

Kleiner Fuchs, großes Symbol S 2.7 > Sommerschule Berlin 66

Von der Kooperation zur Kollaboration E 2.8 Jörg Stollmann 68

Stadt als Campus E 2.9 Sally Below 74

Richtungswechsel E 2.10 Nikolai Roskamm 78

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> <DIE BILDENDE STADT INHALT

LEGENDE

L > LEHRVERANSTALTUNG

S > SOMMERSCHULE

E > EXPERTENBEITRAG

Mediennutzung. So verstanden, geschieht Bildung an den unterschiedlichsten Orten und in diversen Räumen. Durch die ver­mehrte Berücksichtigung dieser Orte und Situationen gewinnen auch Regionen und Städte, vor allem aber Stadtteile und Quar­tiere für die Bildungsdebatte an Bedeutung. Sie setzen mit vielfältigen räumlichen Situa­tionen und Gelegenheiten einen Rahmen für Bildungsprozesse beziehungsweise werden ihrerseits in solchen Prozessen gestaltet.

Stadtplaner gestalten Bildung

Da Stadtplaner und Stadtgestalter Stadt den­ken und (mit)planen, gestalten sie auch direkt und indirekt Bildungs­Settings. Dieser Begriff bezieht sich auf verschiedene institutionali­sierte Orte, an denen unter anderem Lern­prozesse stattfinden: Während vorwiegend formale Bildungs­Settings organisationsbe­zogene und örtlich verankerte Angebote mit Bildungsauftrag beschreiben (zum Beispiel die Schule), sind non­formale Settings fragile, lebensweltliche und nicht notwendigerweise geografisch verortete Gelegenheiten, in de­nen Bildungsprozesse stattfinden können (BMBF 2004, BMFSFJ 2005, Deinet/Icking 2011, Mack 2008). Mit diesem Einfluss der Stadtplaner geht eine große Verantwortung einher. Daher haben sich angehende Stadt­planungsstudierende im September 2015 in einer Sommerschule explizit damit auseinan­dergesetzt, Stadt als Ort für Bildung und als Kontext für Bildungsprozesse zu verstehen und weiterzudenken.

Es gab in den letzten Jahren eine Reihe von Entwicklungen, die das Thema für Planer und Stadtgestalter interessant machen: Raum fin­det als sogenannter dritter Pädagoge mehr Beachtung in der Bildungspraxis. Wir beo­bachten in Europa die Schaffung von soge­nannten Bildungslandschaften, die teilweise auch baulichen Ausdruck finden. Und vieler­orts arbeitet die soziale Stadtentwicklung ge­zielt an Bildungsangeboten und mit Bildungs­institutionen zusammen, um Ansatzpunkte für Maßnahmen einer zukunftsfähigen Stadt­ und Quartiersentwicklung zu schaffen. Nicht zuletzt beschäftigen sich damit auch Interna­tionale Bauausstellungen (IBA) wie in Sach­sen­Anhalt, Hamburg und Heidelberg. Letz­tere hat sich gegenwärtig die „Wissensstadt“ als Leitthema auf die Fahnen geschrieben.Bildungswesen und Stadtentwicklung wer­den somit seit einiger Zeit als wichtige Partner angesehen. Vielerorts wächst die Erkennt­nis, dass es einer stärkeren Verschränkung der beiden Handlungsfelder bedarf, um den neuen Anforderungen an Bildungspolitik und ­praxis sowie an räumliche Planung, Gestal­tung und Entwicklung gerecht zu werden. In diesem Sinne gibt es konkrete Forderungen, dass Stadtplaner und Stadtgestalter sich stär­ker im Bereich der Bildung engagieren und einbringen sollen, wie zum Beispiel formuliert in der „Aachener Erklärung“ des Deutschen Städtetages und den drei Thesen zur Rolle der Bildung in der Nationalen Stadtentwick­lungspolitik (Burgdorff/Herrmann­Lobreyer 2010, Download über www.nationale­stadt­entwicklungspolitik.de). Das Thesenpapier wurde als Ergänzung der „Leipzig Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt“ zum Umgang mit dem Thema Bildung verstan­den und hält fest: Bildungseinrichtungen und Bildungsgelegenheiten prägen den Stadt­teil. Stadtplanung kann Bildung erschweren. Stadtentwicklungsplanung und Bildungspla­nung müssen zusammengebracht werden.

Bei den Schlagworten Stadt und Bildung denken die meisten Menschen zuerst an Schulen. Je nach eigener Lebenssituation geraten auch Kindergärten, Volkshochschu­len oder Universitäten in den Fokus. Doch lernen wir nur in klassischen Bildungseinrich­tungen? Während der Alltag bestritten wird, bewegen wir uns in der Stadt, sammeln Er­fahrungen an verschiedenen Orten, werden konfrontiert mit Situationen und Begeben­heiten. Dabei wirkt unsere Umwelt – bewusst oder unbewusst – ebenfalls auf uns ein: Wir suchen unsere Wege, lesen Reklame, beo­bachten andere Menschen. Dies geschieht auch umgekehrt. Kurzum: Wir lernen und leh­ren ständig in unserer Umwelt.Diese Erkenntnis setzt sich in den aktuellen Debatten der Planungs­ und Erziehungswis­senschaft mehr und mehr durch und wird so in die gegenwärtige Bildungsdebatte getra­gen. Gleichzeitig ist Bildung immer häufiger Ansatzpunkt sozialer Stadtplanung. Planer werden „zunehmend zum Akteur innerhalb einer sich verstärkt profilierenden kommu­nalen Bildungspolitik und pädagogische

Akteure begreifen sich immer mehr und häu­figer als Bestandteile von städtischen Kon­texten“ (Million/Coelen/Heinrich 2015, S. 2). Geprägt sind diese Aktivitäten von dem Konsens, dass Bildung nicht nur ein bedeu­tender ökonomischer Faktor, sondern auch bei der Integration von Bevölkerungsgruppen und der Stabilisierung benachteiligter Quar­tiere von grundlegender Bedeutung ist. Dabei werden Lernerfahrungen, Wissen und Kom­petenzen in den sich weiterhin entwickelnden Wissensgesellschaften als immer wichtigere Ressourcen angesehen.Nach den intensiven Debatten von Wissen­schaft, Politik und Bevölkerung, welche nicht zuletzt durch den PISA­Schock im Jahr 2001 ausgelöst wurden, herrscht heute zuneh­mend Einigkeit darüber, dass Bildung immer und überall stattfindet: nicht nur im Schulun­terricht, sondern auch in Familien, Vereinen, Jugendclubs, Kulturangeboten, im öffentli­chen Raum, unter Gleichaltrigen oder durch

Angela Million, Felix Bentlin und Anna Juliane Heinrich über Stadtplaner und Stadtgestalter, die sich einmischen

Die bildende Stadt

Kann man einen Stadt-teil wie den Berliner Lette kiez so gestalten, dass er zum Ort für Be-gegnungen und Bildung wird? Diese und weitere Fragen beschäftigten die Teilnehmer der Sommer-schule

>>ZUM THEMA DIE BILDENDE STADT EINLEITUNG

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Untersuchungsgebiet steht exemplarisch für ein großstädtisches Quartier mit sozia­len Herausforderungen, wobei die private Quinoa­Schule nach neuen Konzepten und Lernkonstellationen gerade für sozial benach­teiligte Kinder und Jugendliche sucht. Von den Studierenden wurden Straßenräume als eigenständige, nutzbare Räume für Kinder gestaltet. Sie entwickelten anregende, mul­tifunktionale öffentliche Räume als Orte des selbstständigen Lernens sowie Prototypen für Informationsplattformen zu Bildungs­ und Beteiligungsangeboten im Quartier. Ein Ge­werbegebiet wurde durch die Ansiedlung einer Schule neu gedacht und Gewerbetrei­bende in ihrer bildenden Funktion stärker in die Pflicht genommen. Mauern und Zäune wurden als Fassaden umgestaltet, die auch Einblicke in das dahinterliegende Tun und Können zum Beispiel einer Kleingartenanlage und eines Gewerbebetriebes bieten. Aber auch globale Campus­Architekturen wurden kritisch beleuchtet und Gegenmodelle als Zu­kunftsvisionen entworfen.Bei der Auswertung der Projektergebnisse konnten drei verschiedene Schwerpunkte des Querschnittsbereichs Bildung und Stadt­entwicklung herausgearbeitet werden, die auch die Gliederung des Buches leiten:> Schulen bilden Nachbarschaften – Wel­

che zentrale Rolle kann die Institution Schule für die Quartiersentwicklung spielen?

> Bürger bilden Stadträume – Wie kann Bür­gerwissen für die Stadtplanung zugäng­lich und nutzbar gemacht werden?

> Orte bilden Erfahrungen – Welche Orte fördern den Erfahrungserwerb im Stadt­raum und wie helfen dabei gezielt gestal­tete Stadträume?

Ergänzt werden die drei Schwerpunkte um Beiträge aus der Planungspraxis und ­for­schung. Experten der Stadtplanung und Er­ziehungswissenschaftler geben Einblicke in

bestehende Fallbeispiele und Forschungs­ergebnisse. Demnach erscheint gerade der ländliche Raum besonders betroffen von der Veränderung der Bildungseinrichtungen und stellt sich damit als ein notwendiges Vor­Ort­Labor dar, um neue Lehr­ und Lernange­bote in veränderten räumlichen Kontexten zu testen.Deutlich wird in den Arbeiten der Studieren­den und den Beiträgen der Experten, dass nur durch die Zusammenarbeit über diszipli­näre, administrative und räumliche Grenzen hinweg innovative und lebendige Lernorte entstehen. Sowohl Bildungsbauten als auch Campus­Areale sollten „mehr Stadt wagen“ und stärker in die Alltagsrouten aller Bewoh­ner einbezogen werden. Insbesondere in der Gestaltung des öffentliches Raums wird deutlich, dass auch die Lernbewegung für Planer und Gestalter vom begrenzenden Raumcontainer zum nutzergestalteten So­zialraum nötig ist, um Lernkontexte und Er­fahrungsräume für eine Wissensgesellschaft hervorzubringen.

QUELLEN> BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung)

(Hg.) (2004): Konzeptionelle Grundlagen für einen Nationalen Bildungsbericht – Non­formale und informelle Bildung im Kindes­ und Jugendalter. Berlin.

> BMFSFJ (Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend) (Hg.) (2005): Zwölfter Kinder­ und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder­ und Jugend­hilfe in Deutschland. Berlin.

> Burgdorff, Frauke / Herrmann­Lobreyer, Monika (2010): Bildung im Rahmen der Nationalen Stadtentwick­lungspolitik. Ausgangssituation, erste Projekte und ein gemeinsames Thesenpapier. IzR 2/3.2010. Berlin.

> Deinet, Ulrich / Icking, Maria (2011): Jugendarbeit als Brü­cke zu Bildung im öffentlichen Raum. In: Bollweg, Petra / Otto, Hans­Uwe (Hg.): Räume flexibler Bildung. Bildungs­landschaft in der Diskussion. Wiesbaden. S. 71–85.

> Mack, Wolfgang (2008): Bildungslandschaften. In: Coelen, Thomas / Otto, Hans­Uwe (Hg.): Grundbegriffe Ganztagsbildung. Das Handbuch. Wiesbaden. S. 741–749.

> Million, Angela / Heinrich, Anna Juliane / Coelen, Thomas (2015): Schnittfelder zwischen Stadtentwicklung und Bildungswesen. In: Coelen, Thomas / Heinrich, Anna Juliane / Million, Angela (Hg.) (2015): Stadtbaustein Bildung. Wiesbaden. S. 1–19.

10 Semesterbeiträge, 10 Workshop-beiträge und 10 Expertenbeiträge

Ein reichhaltiger Pool an Studienbeiträgen von Studierenden der Stadt­ und Regional­planung, Raumplanung, des Urban Design und der Sozialen Arbeit hat sich dieser Fra­gen angenommen und im Rahmen von Se­mesterarbeiten sowie in der Sommerschule „Fachlicher Nachwuchs entwirft Zukunft“ angenähert. Die Resultate des Projektes werden in dieser gemeinsamen Publikation mit der Unterstützung der Vodafone Stiftung Deutschland veröffentlicht und sollen damit der Wissenschaft und Lehre sowie auch der Politik und der Verwaltung zugänglich ge­macht werden. Bereits im Sommersemester 2015 arbeiteten zehn Planerhochschulen bundesweit an dem Thema Stadt und Bildung. Während sich ei­nige Hochschulen verstärkt mit der Analyse von regionalen Bildungsstandorten, lokalen Akteursnetzwerken und der Sicht von Be­wohnern auf ihre gebaute Umwelt beschäf­tigten, arbeiteten andere Teams an städte­baulichen Entwürfen zur Entwicklung von Campus­Arealen und Nachbarschaften un­ter Bildungsaspekten. Auch stadttechnische Entwürfe zeigten, wie Stadtgestaltung eine bessere Orientierung und Auseinanderset­zung in und mit Stadträumen befördern kann. Nach Abschluss des Semesters haben die Teilnehmer ihre Erkenntnisse in der Sommer­schule im Sinne des gegenseitigen Lernens präsentiert. Die Sommerschule im darauffolgenden Sep­tember bestand aus zehn intensiven Work­shoptagen, in denen städtebauliche Ent­würfe, Fotostrecken und dokumentierte Interventionen für den Berliner Lettekiez und die Quinoa­Schule entstanden. Das

Bildungseinrichtungen und ­gelegenheiten müssen somit als Teil von Stadtentwicklung mitgedacht werden, um Bildungschancen nicht durch konträre Planungsvorgaben zu beeinträchtigen. Stadtentwicklungsplanung und Bildungsplanung müssen miteinander verknüpft werden. Zahlreiche kommunale Ini­tiativen, vorbildhafte Bauwerke und konkret gebaute Bildungslandschaften zeigen auf, wie Planende zur Qualifizierung kommunaler Bildung beitragen und Bildung als zentralen Baustein von Stadt­ und Quartiersentwick­lungsstrategien nutzen. Dies bedeutet nicht, dass damit das Wesen der bildenden Stadt in seinem Inhalt und seiner Gestalt von Stadt­planern durchdrungen ist und zum Planungs­alltag gehört. Es werden erste Antworten ge­geben, aber auch reichlich offene Baustellen und Fragen aufgezeigt, allen voran: Was kön­nen lernende und lehrende Stadträume sein, und wie können sie gestaltet werden? Welche Akteure und Institutionen sind Partner in der Gestaltung?

Die Sommerschule baut auf den Ergebnissen von Semesterprojekten, Seminaren und städte-baulichen Entwürfen aus dem Sommersemester 2015 auf

Wir bedanken uns bei allen Studierenden und Lehrenden der Partneruniversitäten für die spannende Zusam-menarbeit. Insbesondere danken wir Jürgen Höfler für seine tatkräftige Unterstützung

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>>ZUM THEMA DIE BILDENDE STADT EINLEITUNG PROF. DR.­ ING. ANGELA MILLION FELIX BENTLIN MSC DIPL.­ ING. ANNA JULIANE HEINRICH FG STÄDTEBAU UND SIEDLUNGSWESEN TU BERLIN

theoretisch. Dies führt nicht nur zu einer sehr breiten Themenerschließung, sondern durch die einsemestrige Auseinandersetzung mit dem Thema auch zu einer beachtlichen Ar­beitstiefe. Dabei ist unabdingbar, dass kom­munizierbare Ergebnisse als Input für die Sommer­/Winterschule erarbeitet werden.

> Die Sommer-/Winterschule als Format des Austauschs

Jedes Jahr richtet eine andere Hochschule das Angebot aus. Jeweils drei Studierende aus den Lehrveranstaltungen der beteiligten Hochschulen nehmen daran teil. In hoch­schulübergreifenden Gruppen entwickeln sie die in den Lehrveranstaltungen erarbeiteten Erkenntnisse weiter, wenden diese auf kon­krete Untersuchungsgebiete an und vertiefen die Fragestellung des Rahmenthemas. Ziel ist es letztlich, Vorschläge zur Gestaltung (Ent­würfe) oder konzeptionellen Weiterentwick­lung planerischen Handelns zu machen. Do­zenten der beteiligten Hochschulen betreuen die Teilnehmer, Fachleute aus Wissenschaft und Praxis kommen ergänzend für Vorträge sowie zur Diskussion von Zwischenergebnis­sen hinzu.

> Ergebnisse gemeinsam aufbereiten und nach außen tragen

Die Ergebnisse des gesamten Prozesses – aus Lehrveranstaltungen und Sommer­/Winterschule – werden auf verschiedenen Kanälen einer breiteren (Fach­)Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Einerseits steht dabei der Austausch zwischen den Studierenden der beteiligten Hochschulen als zukünf­tigen Entscheidungsträgern im Vordergrund.

Andererseits sollen die Gedanken und Ideen der angehenden Planer auch in die Fachöf­fentlichkeit hineingetragen werden. So stellen Studierende die Ergebnisse jeweils auf dem Hochschultag der Nationalen Stadtentwick­lungspolitik vor, wo Hochschulen mit der pla­nerischen Praxis und der Ebene der Landes­ und Bundesministerien zusammengebracht werden. So wird eine breite Diffusion der Erkenntnisse des Nachwuchses sicherge­stellt. Zudem wird ein Beitrag dazu geleistet, zukunftsweisende Themen auf der Basis der erprobten experimentellen Arbeitsweisen und der Konzeption neuer planerischer Hand­lungsansätze zu etablieren. Darüber hinaus entsteht jedes Jahr eine Veröffentlichung, welche die Ergebnisse aus Lehrveranstal­tungen und Sommer­/Winterschule zusam­menfasst und die über die Webseiten des Projektes einem breiteren Publikum zugäng­lich gemacht wird.

Insgesamt generiert das Projekt einen Aus­tausch zwischen Hochschulen und Praxis, zwischen Nachwuchs und Etablierten und zwischen den Hochschulen untereinander.

Kann es funktionieren, dass bis zu dreizehn Hochschulen in der Lehre gemeinsam ein Thema bearbeiten oder lässt das die Indivi­dualität der Lehrstühle nicht zu – weil jeder macht, was er will? Es funktioniert! Und jeder kann trotzdem ein bisschen machen, was er will.Kann es funktionieren, dass Studierende der Architektur, Raumplanung oder Urbanistik gemeinsam an bestimmten Fragestellungen arbeiten oder sind die Herangehensweisen zu unterschiedlich? Es funktioniert! Und alle profitieren von den Denkweisen und Fähig­keiten der anderen.Die Ergebnisse dieses Buches sind die Früchte einer solchen Kooperation zwischen zehn Hochschulen, die seit einigen Jahren Lehrveranstaltungen und Sommer­ oder Win­terschulen zu gemeinsam getragenen The­men durchführen. In dem Kooperationspro­jekt „Fachlicher Nachwuchs entwirft Zukunft“ widmen sich die beteiligten Hochschulen je­des Jahr einem anderen Thema, integrieren

dieses in ihre Lehre und gestalten dazu ge­meinsam eine hochschulübergreifende Som­mer­ oder Winterschule. „Die Bildende Stadt“ ist dabei ein Themenzyklus des Kooperati­onsprojektes, das im Rahmen der Nationalen Stadtentwicklungspolitik gefördert wird. Das Projekt nimmt explizit Zukunftsfragen städ­tischer Entwicklung in den Fokus und be­zieht daher Lehrstühle aus Planungsstudien­gängen ein. Die gemeinsame Arbeit an einem Thema so­wie die Sommer­/Winterschule mit Studie­renden aller beteiligten Studiengänge intensi­vieren den Dialog zwischen den Hochschulen auf mehreren Ebenen:

> Die Vielfalt der Hochschulen ermöglicht inhaltliche Breite

Die beteiligten Lehrstühle wählen sowohl das Format der Lehrveranstaltungen – Se­minar, Studienprojekt, Entwurf, Qualifika­tionsarbeiten – als auch deren inhaltlichen Fokus selbst, was im Vorfeld des Semesters koordiniert wird. Der jeweilige thematische Zuschnitt des Projekts lässt dabei genug Freiraum zur eigenen inhaltlichen und di­daktischen Schwerpunktsetzung innerhalb der Rahmenthemen. Durch die unterschied­lichen Ausrichtungen der beteiligten Lehr­stühle werden ganz verschiedene inhaltliche wie auch räumliche Zugänge zum jeweiligen Thema gewählt – von entwurfsorientiert bis hin zu stadtsoziologisch, von praxisnah bis

Susanne Thomaier und Dietrich Henckel über das Format Sommerschule im Rahmen des Projekts „Fachlicher Nachwuchs entwirft Zukunft“ der Nationalen Stadt ent wicklungs politik

Hochschul-kooperation mit Mehrwert

Studierende der Archi-tektur, Stadtplanung, Raumplanung, Urba-nistik und der Sozialen Arbeit näherten sich gemeinsam dem Thema der „bildenden Stadt“ und profitierten von der Zusammenarbeit

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>>ZUM FORMAT DIE BILDENDE STADT EINLEITUNG

WEITERFÜHRENDE INFORMATIONEN UNTERwww.isr.tu­berlin.de/sqzwww.isr.tu­berlin.de/unsichtbarwww.isr.tu­berlin.de/stadtressourcenwww.isr.tu­berlin.de/zeitgerechtwww.isr.tu­berlin.de/selbstgemachtwww.die­bildende­stadt.de

Die verschiedenen Formen der Diffusion der Ergebnisse – Hochschultag, Webseite, Pu­blikation – haben das Format so etabliert und bekannt gemacht, dass mit der Vodafone Stiftung Deutschland im jüngsten Durchlauf erstmals ein weiterer – auch finanziell för­dernder – Partner integriert werden konnte, mit dem das Thema die „bildende Stadt“ (2015–2016) vereinbart wurde. Die Semi­nare in den beteiligten Hochschulen rückten spezifische Fallstudien, in der Regel aus dem räumlichen Zusammenhang der jeweiligen Hochschule, in den Mittelpunkt. Auf der Ba­sis dieser Ergebnisse wurde die Sommer­schule in Berlin an einem konkreten Kiez an der Grenze von Reinickendorf und Wedding durchgeführt. Das vorliegende Buch fasst die Ergebnisse dieses Durchlaufs zusammen.Eine Besonderheit des Projekts ist, dass es stets zukunftsrelevante und meist noch nicht umfassend erforschte Fragen der Stadtent­wicklung aufgreift und somit die Möglichkeit bietet, neue Gedanken einzufangen und un­gewöhnliche Herangehensweisen zu erpro­ben. Damit gehen meist intensive Auseinan­dersetzungen zu Begriffsdefinitionen oder ­annäherungen und ­abgrenzungen einher. Auch gerade dafür ist die fachliche Breite, die durch die Einbindung unterschiedlicher Lehrstühle ermöglicht wird, eine Bereiche­rung. Durch die Kombination von Lehrver­anstaltungen und gemeinsamer Sommer­/Winterschule werden die jeweiligen Themen in einem beeindruckenden Umfang bearbei­tet und wertvolles Wissen generiert. Mit den Ergebnispräsentationen beim „Hochschul­tag der Nationalen Stadtentwicklungspolitik“ laden die Studierenden zum Dialog zwischen universitärer Arbeit und Praxis ein. Dieser

hochschulübergreifende Dialog auf mehreren Ebenen bietet einen großen Mehrwert, da die Studierenden mit neuen Denk­ und Arbeits­mustern in Kontakt kommen und dadurch ihr eigenes Lernverhalten reflektieren. Die Integration verschiedener Herangehenswei­sen erlaubt ganzheitliche Betrachtungswei­sen, wie sie die Komplexität künftiger Stadt­entwicklungsaufgaben erfordert. Durch die Einbindung zahlreicher Wissenschaftler und verschiedener Experten in die Winter­/Som­merschulen werden die kreativen Arbeiten der Studierenden diskutiert und überprüft.Das Projekt wird von Beginn an vom Institut für Stadt­ und Regionalplanung an der TU Berlin koordiniert und jedes Jahr zusam­men mit einem wechselnden Partner aus der Reihe der beteiligten Lehrstühle konzipiert, die dann für die Ausrichtung und Ausgestal­tung der Sommer­/Winterschule verant­wortlich sind. In den bisherigen Durchläufen waren jeweils zwischen acht und zwölf Hoch­schulen aus Deutschland beteiligt. Durch die Kontinuität ist eine intensive Vernetzung ent­standen, die es vor allem mit Blick auf den Nachwuchs lohnt, aufrechtzuerhalten.

Dahinter steht die Intention, Inter­ und Trans­disziplinarität zu fördern, neue Impulse durch die Ideen der Studierenden zu zukunftsrele­vanten Themen anzustoßen, den Nachwuchs an die Praxis heranzuführen und die Koope­ration zwischen Studierenden und Lehrenden an den Hochschulen über die Grenzen der ei­genen Institution hinaus zu fördern. Für diesen Anspruch ist die Themenwahl von entscheidender Bedeutung: Es muss sich um Themen handeln, > die noch nicht allzu etabliert sind und eine

explorative Herangehensweise erlauben, > von denen zu erwarten ist, dass sie für die

zukünftige Planung von großer Bedeutung sind

> und für die die Beteiligung unterschied­licher Disziplinen und die „Mischung“ un­terschiedlicher Hochschulkulturen einen Mehrwert versprechen.

Die bisherige Erfahrung spricht dafür, dass es sich um ein erfolgreiches Konzept han­delt. Die Hochschulkooperation startete mit dem Vorläuferprojekt „Innovationen für Stadt­quartiere der Zukunft“, das 2009–2010 im Rahmen des ExWoSt­Programms gefördert wurde. Im Rahmen der Nationalen Stadtent­wicklungspolitik wurde sie ab 2011 unter fol­genden Themen weitergeführt:> Die „unsichtbare Stadt“ (2010–2011) wid­

mete sich der Stadt und den Sinnen jen­seits des Sehens, den Fragen von Macht und Einfluss, unsichtbaren Grenzen und Strategien der Perspektivierung sowie dem Zusammenhang von Digitalisierung und Stadt. In einer Zukunftswerkstatt während der Sommerschule an der HCU in Hamburg entwickelten die Studieren­den basierend auf diesen Vorkenntnissen vor allem Methoden der Erfassung des Unsichtbaren.

> Die „ressourceneffiziente Stadt“ (2011–2012) betrachtete ein ehemaliges Zechen­gelände in Gelsenkirchen­Herten, für das in Kooperation mit der Stadt und anderen Akteuren im Ruhrgebiet Konzepte für eine ressourceneffiziente Entwicklung erstellt werden sollten. Dafür wurden bei der Som­merschule an der TU Dortmund vor Ort die Grundlagen entwickelt, die dann während des Semesters in den einzelnen Hoch­schulen weiter ausgearbeitet und schließ­lich in einem weiteren gemeinsamen Work­shop wieder zusammengeführt wurden. Im Gegensatz zu den anderen Durchläufen fand die Sommerschule hier als Auftakt vor den Lehrveranstaltungen in den beteiligten Hochschulen statt.

> Die „zeitgerechte Stadt“ (2012–2013) rückte Fragen der temporalen Struk­turen von Städten und Quartieren und die verschiedenen Dimensionen von Zeitgerechtig keit (unter anderem der Zeit angepasst, sozialräumliche Verteilung von Zugänglichkeit) in den Mittelpunkt. Die Pub likation, die auf Basis der Veranstal­tungen und der Winterschule an der BTU Cottbus­Senftenberg entstanden ist, wird 2016 Ausstellungsstück in der Ausstellung des Technischen Museums Wien zur Zu­kunft der Stadt unter der Rubrik „zeitge­rechte Stadt“ sein.

> Die „selbstgemachte Stadt“ (2013–2014) behandelte Fragen rund um Eigeninitiati­ven von Bürgern zur Gestaltung der städ­tischen Umwelt und das Verhältnis von informeller und formeller Planung. Bei der Winterschule an der RWTH Aachen be­schäftigten sich die Studierenden unter anderem mit Strukturen und Motiven der Akteure, mit dem Verhältnis von Initiativen „von unten“ zur kommunalen Planung so­wie den Auswirkungen „selbstgemachter“ Projekte auf die Stadt.

Durch den engen Aus-tausch mit Experten aus Hochschulen und dem Untersuchungsgebiet werden die Konzepte der Teilnehmer stetig diskutiert, teils vor Ort reflektiert und gemein-sam weiterentwickelt

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>>ZUM FORMAT DIE BILDENDE STADT EINLEITUNG DIPL.­GEOGR. SUSANNE THOMAIER PROF. DR. DIETRICH HENCKEL FG STADT­ UND REGIONALÖKONOMIE TU BERLIN

Untersuchungsgebiet der Sommerschule: Der Berliner Lettekiez im Bezirk Reinickendorf erstreckt sich zwischen dem U-Bahnhof Franz-Neumann-Platz mit dem Schä-fersee im Westen und dem Gewerbegebiet Kühnemann-straße nahe dem S-Bahnhof Wollankstraße im Osten. Neben einer Mischung aus kleinen Wohnensembles der Wiederaufbaujahre und Wohngebäuden sowie einzelner öffentlicher Gebäude aus der Gründerzeit, prägen vor allem Kleingartenkolonien, Vorgärten sowie Freiräume wie der neugestaltete Letteplatz das Gebiet und verleihen dem Kiez einen durchgrünten Charme. Leer stehende und sanierungsbedürftige Gewerberäume, teilweise in wertvoller historischer Bausubstanz, durchziehen sowohl die Wohnstraßen als auch das Gewerbegebiet. Der Lette-kiez ist Teil des Städtebauförderungsprogramms „Soziale Stadt“ und steht exemplarisch für Quartiere mit sozialen und ökonomischen Herausforderungen

Neben dem Untersu-chungsgebiet arbeiteten die Teilnehmer im Atelier der Stadtplaner auf dem Campus der TU Berlin, der Gastgeberin dieser Sommerschule

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>>SOMMERSCHULE DIE BILDENDE STADT EINLEITUNG

I I I I I I I I

Schulen sind ein Kristallisationspunkt für gesellschaftliche Veränderungen in Stadt und Land. Sie sind häufig Ausgangspunkt für Stadtumbau oder Stadterweiterung, weil sie allerorts kulturelle, soziale und ökono-mische Werte vereinen. Für die einzelne pä-dagogische Architektur finden sich vielzäh-lige konzeptionelle Ansätze und praktische Beispiele.

Als offener Treffpunkt können sie unter-schiedliche Akteure von der regionalen bis zur lokalen Maßstabsebene vernetzen. Da-rüber hinaus gibt es Konzepte, die aufzei-gen, wie sich Schulen in der Region und dem Quartier als Orte der Zusammenarbeit und Integration aufstellen können. Zum ei-nen dort, wo sich Nachbarn eines Quar-tiers treffen, kennenlernen und dadurch zur sozialen Stabilität und dem Zusammenhalt im Quartier beitragen. Zum anderen dort, wo heutzutage nicht mehr nur Kinder und Jugendliche aus der Nachbarschaft lernen, sondern wo sich im Sinne eines lebenslan-gen Lernens Angebote für alle Nachbarn finden: egal ob Pensionär in einer Siedlung, Einzelhändler in einer Geschäftsstraße oder Unternehmer an einem Gewerbestand-ort. So werden Schulen zum Imagefak-tor, Impulsgeber und Lebensraum für ihre Umgebung.

1 Wüstenrot Stiftung (Hg.) (2004): Schulen in Deutschland. Neubau

und Revitalisierung. Stuttgart.

2 Zentralstelle für Normungsfragen und Wirtschaftlichkeit im

Bildungswesen (1999): Typenschulbauten in den neuen Ländern.

Berlin.

3 Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft | Urbane Räume (Hg.)

(2012): Schulen planen und bauen. Berlin.

DIE LEBENSZYKLUSBETRACHTUNG VON SCHULGEBÄUDEN SPIELT BEIM PLANEN UND BAUEN EINE WESENTLICHE ROLLE – DENN DIE HERSTELLUNGSKOSTEN BETRAGEN DURCHSCHNITTLICH 17 %, BETRIEBSKOSTEN HINGEGEN 80 % DER GESAMTEN INVESTITIONSKOSTEN 1

SCHULEN BILDEN NACHBAR SCHAFTENWIE SICH SCHULEN ALS NEUARTIGE ORTE DES ZUSAMMENLEBENS UND -LERNENS ERFINDEN

BAUJAHR VON SCHULGEBÄUDEN IN DEUTSCHLAND IN GESCHÄTZTEN PROZENT 2

BIS 1869 1899 1918 1945 1965 1985

3 %

12 %13 %

6 %

12 %

46 %

6 %2 %

DURCHSCHNITTLICHE AUFENTHALTSDAUER EINES SCHÜLERS IN SCHULEN 3

10.000 – 15.000 Stunden

HERSTELLUNGSKOSTEN

BETRIEBSKOSTEN

17 %

80 %

80% DER SCHULEN HABEN EINE UNBEFRIEDIGENDE LUFTQUALITÄT 1

80 %6 bis 8 Stunden

DER UNTERRICHT SPIELT SICH IN RELATIV KLEINEN ZEITFENSTERN AB. NACHMITTAGS, AN WOCHENENDEN UND IN DEN FERIEN AUCH GANZTAGS SIND DIE GEBÄUDE IN DER REGEL UNGENUTZT 1

IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII

20102000

205 Tage

24

12

618

Bildungsbauten im Umbruch

Studierende der Universität Stuttgart nahmen an der zweitägigen Tagung „Stadt, Schule, Quartier – Bildungsbauten im Umbruch“ in Schwäbisch Gmünd teil, die durch das Forum Stadt – ein Zusammenschluss von Städten mit historischer Bausubstanz – veranstaltet wurde. Den Hintergrund der Tagung bildeten die neuen Anforderungen an Schulen durch die Ausweitung zu Ganztagsschulen sowie die veränderten Lernwelten, die Herausforde-rungen im Umgang mit denkmalgeschützten Schulbauten, die Auswirkungen der Schulen auf das Quartier und nicht zuletzt die Frage nach daraus resultierenden neuen Aufgaben der Stadtplanung und die Rolle des Planers in diesem Prozess.

Wie wird Schule zur Bildungslandschaft?

Schule wird schon längst nicht mehr in einem Gebäude gedacht. Vielmehr setzt sie sich zu-sammen aus schulischem Lernen, ergänzt durch Lernräume und Bildungsangebote au-ßerhalb des Schulgebäudes. Der Begriff Bil-dungslandschaft steht zusammenfassend für dieses Netzwerk an formeller und informeller Bildung. Seit den 1990er Jahren wird infor-melles Lernen in Deutschland immer mehr in allen Bereichen der Pädagogik themati-siert. Dieser Wandel innerhalb der Pädago-gik stellt neue Anforderungen an Lernräume. Das schulische Lernen wird ergänzt durch

eine Vielzahl an außerschulischen Lernange-boten im Einzugsgebiet einer Schule. Dazu zählen beispielsweise religiöse und kultu-relle Einrichtungen, Lernen im digitalen Raum und im Stadtraum oder auch Angebote von Vereinen.

Netzwerk Schule und Lernfeld Stadt

Als Planer können wir nicht alle Aspekte von Bildungslandschaften beeinflussen. Aus diesem Grund haben wir uns im nächsten Schritt darauf konzentriert, zu überlegen, an welchen Punkten wir als Planer unterstützend einsetzen können, welche Aspekte der Bil-dung in der Stadt wir miteinbeziehen müssen und wo eventuell Bildung in der Stadt statt-finden kann. Dabei haben wir zwischen zwei Punkten differenziert: dem Netzwerk Schule und dem Lernfeld Stadt. Beide wurden auf verschiedenen Maßstabsebenen betrachtet: Schule als Gebäude, Schule und Nachbar-schaft und Schule und Stadtteil. Netzwerk Schule meint die Forderungen und Anliegen der Schule, die wir als Planer berücksichti-gen müssen. Unter dem Schlagwort Lernfeld Stadt verstecken sich die Forderungen der Gemeinde an die Schuleinrichtung. Neben dem Mehrwert für die Stadt beziehungsweise den Stadtteil durch die Schule, geht es auch um die Aufgaben und Rahmenbedingungen, welche die Stadt gegenüber der Schule über-nehmen muss. Eine frühzeitige Zusammen-arbeit von Akteuren aus Planung, Pädagogik, Politik und Verwaltung ermöglicht eine Bün-delung der Aspekte durch eine ausführliche gemeinschaftliche Planung.

Schulen in der Stadtregion unter scheiden sich stark je nach Lage: Satellitentypen, Zentrumstypen, Randtypen

Gebäude im Kontext des Quartiers: Raum­situationen innerhalb der Bildungslandschaft

Satellit

Zentrum

dam Ran

schulisches Lernen

PädagogikPädagogische Aspekte wie Lernrhythmus, das Alter des Schülers, neue Unterrichtsformen und Inklusion stellen neue Anforderungen an den Lernraum

Schule als GebäudeBestand (insbesondere denkmalgeschützter Bestand) und Neubau müssen mit den Herausforderungen der räumlichen Übersetzung der Pädagogik umgehen.

außerschulisches Lernen

> religiöse Einrichtungen> anonymes Lernen> kulturelle Einrichtungen> digitaler Raum> weitere staatliche und private

Bildungseinrichtungen> Freiraum> Vereine

von der Phase Null bis zur Inbetriebnahme

AkteureKommune/Land

PädagogenPlaner/Architekten

ElternModeratorLernende

Partizipation

Wie können Planer in Zukunft sinnvoll zum notwendigen Wandel von Lern räumen beitragen?

> Schwäbisch Gmünd

SEITE 22 | 23SCHULEN BILDEN NACHBARSCHAFTEN LEHRVERANSTALTUNG UNIVERSITÄT STUTTGART STÄDTEBAU-INSTITUT THEKLA EISELE, ANNA KÜBLER SASKIA NIKLAS

L 1.1

Bausteine der Bildung

Im Wintersemester 2015/16 fand an der TU Berlin ein Design Studio statt, das es sich zur Aufgabe gemacht hatte, in fünf Arbeitsgrup-pen ein Bildungsquartier in Berlin-Gesund-brunnen zu entwerfen. Besondere Beachtung fanden Ansätze des integrativen und kreativen Lernens und vor allem die Fragen:

Wie kann die Aneignung von Stadt räumen gefördert sowie die Verzahnu ng von Schule und Stadt räumlich etabliert werden?

Es sollten Synergien zwischen religiösen, kul-turellen und kreativen Standorten erzeugt, Kooperationen zwischen Stadt und Schule geschaffen und außerschulische Angebote gestaltet werden. Einen weiteren Fokus bildete das „wilde Lernen“ im öffentlichen Raum.Dabei wurden von den Studierenden nut-zungsoffene Orte entworfen, die sich un-terschiedliche Gruppen temporär aneignen und selbst bespielen können. Zur besseren Vernetzung und Integration von Schule und Stadt war es wichtig, Grenzen aufzubrechen, Schulen zu öffnen und die Schnittstelle zwi-schen Stadt- und Schulraum differenzierter zu definieren.Die Aufgabenstellung sah vor, Bildungsein-richtungen räumlich und funktional besser in ihr Quartier einzubinden, um Lernwelt und

Alltagsrealität der Schüler stärker zu verzah-nen und damit größere Lernpotentiale zu erschließen. Außerdem kann mit diesen In-strumenten die Identifikation der Kinder und Jugendlichen (und im weiteren Sinne auch de-ren Eltern) mit dem Quartier gestärkt werden.Die einzelnen Bausteine, welche von den ver-schiedenen Gruppen entwickelt wurden, sind prototypisch in den Grafiken dargestellt. Als räumliche Schnittstelle etablierte sich bei den meisten Teams die Nachbarschaft als Betrachtungsebene, denn Kooperationen der Schulen mit Vereinen, Betrieben und öf-fentlichen Einrichtungen können hier ebenso möglich gemacht und aufgezeigt werden, wie die Etablierung von Mehrfachnutzungen ver-schiedener Räume. Dem Abbauen von phy-sischen und psychischen Grenzen wurde im Entwurfs prozess ein besonderer Wert zuge-messen, um eine wirkliche Öffnung der Schule zum Stadtraum zu erreichen – erst dann wer-den die Schüler zum Entdecken, Aneignen und Bespielen ihres Umfeldes angeregt. Ein qualitativ hochwertiger öffentlicher Raum und die Etablierung dezentraler Lernorte schaf-fen nicht nur ein neues Setting des Lernens, sondern erzeugen auch ein neues Bewusst-sein und eine veränderte Wahrnehmung un-serer gebauten Umwelt und sozialräumlichen Alltagswelt.

Wie Bildung ins Quartier kommt – fünf verschiedene Strategien

Legende: Themen der einzelnen Strategien

> Berlin

Studierende entwickeln Ideen für lehrende und lernende Orte in Berlin-Gesundbrunnen

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L 1.2SCHULEN BILDEN NACHBARSCHAFTEN LEHRVERANSTALTUNG TU BERLIN FG STÄDTEBAU UND SIEDLUNGSWESEN NINA FRANZKOWIAK

Einzelne Funktionen sind ineinander verzahnt

Gemeinschaft durch Schule in Sonneberg

In den vergangenen Jahren konnten starke Veränderungen der Lernformen an Schulen beobachtet werden. Selbstlernprozesse er-fahren als Ergänzung zum klassischen Fron-talunterricht heute eine größere Wertschät-zung als früher. Dafür ist es notwendig, dass eine starke Vernetzung von Klassen-, Arbeits- und Gemeinschaftsräumen, etwa durch räumliche Bündelung, auch jahrgangsüber-greifend erreicht werden kann. Der Begriff Gemeinschaftsschule sollte nicht nur schulin-tern, sondern auch in Bezug auf eine stär-kere Integration der Öffentlichkeit verstanden werden. Für diese Öffnung sollten spezielle Räume zur Mehrfachnutzung zur Verfügung stehen. Wichtige Aspekte dabei sind eine ausreichende Flexibilität der Räume, die Er-reichbarkeit auch außerhalb der klassischen Schulöffnungszeiten und die barrierefreie räumliche Integration in das Umfeld. Mit die-sem Hintergrund forschten Studierende der Bauhaus-Universität Weimar an einer Schule in Sonneberg und entwickelten Konzepte.

Welche Anforderungen werden an eine Gemeinschaftsschule gestellt?

Wie können bruchlose Bildungsbiografien und der Bildungsverbund um das Gemein-schaftsschulprojekt Sonneberg-Köppelsdorf gestärkt werden?

Die bereits bestehende Kooperation mit der Kindertagesstätte „Köppelsdorfer Kin-derwelt” wird in der an der Gemeinschafts-schule etablierten Grundschulstufe fortge-setzt. Daneben unterstreicht die Einrichtung eines zusätzlichen Gebäudes („Quartiers-haus“) die Bedeutung der Schule als Zen-trum des Quartiers. Es ist auch außerhalb der regulären Schulöffnungszeiten zugänglich und wird zu einem wichtigen Bindeglied zwi-schen Anwohnern und Schülern. Zusätzliche Räumlichkeiten helfen, den Ganztagsbetrieb zu erweitern und außerschulische Aktivitäten zu integrieren. Dabei könnten Kooperationen mit der Kreismusikschule Sonneberg und der Volkshochschule Sonneberg eine Rolle spielen. Mit einer Umstrukturierung des Schulge-ländes und der Zuweisung von spezifischen Nutzungen für einzelne Bereiche werden neue Räume geschaffen. Dazwischen ent-stehen partielle Verflechtungsräume, die ei-nen atmosphärischen Übergang zwischen den Nutzungen schaffen und das Leitbild der bewegungsfreundlichen Schule stärken. Die Gestaltung naturnaher Außen- und Erho-lungsräume mit Sitzmöglichkeiten wie auch eines grünen Klassenzimmers erweitern die bestehenden Lernsettings – und es ent-stehen zukunftsfähige und erfolgreiche Bil-dungsbedingungen, nicht nur für die Schüler, sondern auch für die Bewohner des Stadt-teils Köppelsdorf.

Kooperationen in der Region erhöhen die Strahlkraft

Welche Funktionen sind für Schulgebäude und ­räume einzuplanen? Das untersuchten Studierende an einer Gemeinschafts­schule in Sonneberg

> Sonneberg

Studierende erörtern, durch welche Maßnahmen eine Schule zum Zentrum ihres Quartiers werden könnte

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L 1.3SCHULEN BILDEN NACHBARSCHAFTEN LEHRVERANSTALTUNG BAUHAUS-UNIVERSITÄT WEIMAR PROFESSUR STADTPLANUNG

Ein komplexes Geflecht: Für die verschiedenen Akteure muss das Zentrum zum Teil ganz unterschiedliche Funktionen bieten

Alle unter einem Dach

Aachen-Nord ist ein vielfältiger Stadtteil in zentraler Lage mit etwa 15.500 Einwohnern auf einer Fläche von rund 300 Hektar. Ar-beitslosigkeit und zahlreiche Familien mit Mi-grationshintergrund prägen diesen Teil der Stadt. Aufgrund seines besonderes Entwick-lungsbedarfs wurde Aachen-Nord daher Ende 2009 in das Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ aufgenommen. Wegen sei-ner sozialen und kulturellen Vielfalt sowie der innerstädtischen Lage weist der Stadtteil ein hohes Entwicklungspotential auf.Im Rahmen der Zielsetzungen des Integrier-ten Handlungskonzepts (IHK) „Nordlichter“ stellt der Umbau des ehemaligen Straßen-bahndepots in der Talstraße zu einem Kultur- und Stadtteilzentrum für Aachen-Nord ein Schlüsselprojekt dar. Die Gesamtkosten des Projekts belaufen sich voraussichtlich auf 9,4

Millionen Euro. Akteure aus dem sozialen und kreativ-kulturellen Bereich ziehen im Depot unter ein Dach. Das Raum- und Nutzungs-programm des Gebäudes wurde in einem Beteiligungsverfahren erarbeitet, bei dem die zukünftigen Akteure und Stadtteilbewohner partizipierten. Im Herbst 2016 soll das Zen-trum eröffnen.

Welche Vor- und Nachteile bringt die Entwicklung eines gemeinsamen Bildungsstandorts?

Die Prozess- bzw. Projektgestaltung wurde von Studierenden der RWTH Aachen nä-her beleuchtet. Dabei wurden die verschie-denen Ebenen des Kultur- und Stadtteilzen-trums intensiv untersucht. Stadträumliche wie auch städtebauliche Integration, Exper-teninterviews mit beteiligten Institutionen

Außerdem kann die niedrigschwellige Zu-gänglichkeit zu einem identitätsstiftenden Beitrag sozioökonomisch schwacher Grup-pen führen. Ferner wird die Akteurszu-sammenarbeit vereinfacht, wodurch das Spektrum an Bildungsangeboten und die Nachfrage der Stadtteilbewohner verstärkt werden können. Ein gemeinsamer Standort bringt aber auch Probleme mit sich. Zum ei-nen den Verlust der „eigenen“ Adresse, zum anderen potentielle Nutzungskonflikte. Des Weiteren sind die Akteure in unterschied-lichen Handlungsfeldern tätig, was eine Ko-ordination notwendig macht. Letztlich kön-nen die Kooperationsprojekte eine hohe Attraktivität für die Bewohner der Gesamt-stadt ausstrahlen, wobei auch die Gefahr besteht, die Bedürfnisse der lokalen Bewoh-ner zu vernachlässigen.

und Initiativen, die räumliche wie funktionale Mischung der Akteure im Depot und die zeit-liche Entwicklung des Gesamtprojektes bil-deten wichtige Eckpunkte der Analyse. Als Essenz wurde folgende Hauptthese formu-liert: Die räumliche Bündelung von sozialen und kreativ-kulturellen Akteuren an einem zentralen Bildungsstandort bringt Chancen und Risiken mit sich, sowohl für die Akteure als auch für die Stadtteilbewohner. Nachfolgend wurde versucht, die Chancen und Risiken näher zu definieren, Konfliktpo-tentiale frühzeitig zu erkennen und anzuspre-chen, Synergien zu beleben und Gemein-samkeiten zu stärken.Als Chance wurde die Namensgebung in-terpretiert, welche eine positive Außen-wahrnehmung und die alltägliche Nutzung des Bildungsstandortes erwarten lässt.

Ein lebendiges Kultur­ und Stadtteilzentrum – das soll einmal aus dem ehemaligen Aachener Straßenbahndepot werden

Um wirklich Teil des Viertels zu werden, muss das Kulturzentrum mit zahlreichen anderen Institutionen und Akteuren im Stadtraum vernetzt werden

> Aachen

Studierende der RWTH Aachen untersuchen die Chancen und Risiken eines zentralen Bildungsstandortes

SEITE 28 | 29SCHULEN BILDEN NACHBARSCHAFTEN LEHRVERANSTALTUNG RWTH AACHEN LEHRSTUHL FÜR PLANUNGSTHEORIE UND STADTENTWICKLUNG

L 1.4

Bildungshafen Mügge

Das Projektgebiet für einen städtebaulichen Entwurf im Müggenburger Zollhafen liegt im Hamburger Stadtteil Veddel, der durch Fritz Schumachers Backsteinarchitektur geprägt ist. Die Veddel liegt isoliert am südlichen Ende der Innenstadt und wird von dieser durch die Elbe abgetrennt. Im Westen begrenzen Bahngleise, im Osten eine Autobahntrasse den Stadtteil. Der Müggenburger Zollhafen prägt das Erscheinungsbild. Heute dient er dem IBA DOCK als Liegeplatz, Hafenschiffen als „Schleichweg“ und einer kleinen Segel-schule als Übungsbecken.

Wie können Bildungseinrichtungen als Entwurfsgrundlage für neue Stadtquar-tiere eingesetzt werden?

Rund um den Zollhafen befinden sich vier un-terschiedliche Bildungseinrichtungen. Da ist zum einen das Auswanderermuseum Bal-linStadt, das seit 2007 die Geschichte von Reisen in die „neue“ Welt erzählt und für das am süd-westlichen Ufer drei Auswanderer-hallen als Ausstellungsflächen originalgetreu wiederaufgebaut wurden. Am nördlichen Ufer ankert zum anderen das IBA DOCK. Es dient seit der Bauausstellung als Infor-mationszentrum und ist heute noch der Sitz der IBA Hamburg GmbH, die auch nach Ende der IBA 2013 weiterhin städtebauliche Projekte durchführt. Das „Haus der Pro-jekte – die mügge“ ist 2012 als IBA-Projekt fertig gestellt worden und dient als Aus- und

Weiterbildungszentrum für Jugendliche von der Veddel. Unterstützt wird diese Bildungs-einrichtung von ansässigen Gewerbetrei-benden und Unternehmen. Verbunden mit dem Haus der Projekte ist auch die Segel-schule, die Kindern und Jugendlichen den Wassersport in ihrem Stadtteil näherbringen soll. Etwas weiter weg, im nördlichen Bereich der Veddel, liegt die Stadtteilschule. Alle Bil-dungsabschlüsse bis zum Abitur können hier erworben werden. Die Stadtteilschule bietet im Zollhafen Segelkurse als Schulfach an. Ergänzend zu den vorhandenen Bildungsein-richtungen am Müggenburger Zollhafen und dem Aufbrechen der hohen Flutschutzmauer entsteht durch den städtebaulichen Entwurf von Studierenden der HCU Hamburg eine bühnenartige Bildungslandschaft, die den Müggenburger Zollhafen den Bewohnern der Veddel zugänglich macht. Dafür wird die Fläche mit den Ansätzen „ans Wasser, über das Wasser und auf das Wasser“ erschlos-sen. Unterschiedliche Nutzungen lassen die Mügge zum Bildungshafen werden, denn Lernen geschieht nicht nur im Klassenzim-mer, sondern auch in der Freizeit, beim Spie-len und beim Sport. Über die Nutzung der Wasserfläche, sei es als Kanupolo-Feld, als Wasserspielplatz oder als Fläche für kulturelle Veranstaltungen, kann sich die Mügge als vielfältige Bildungslandschaft entwickeln. Die Besonderheit hierbei ist das vielfältig einsetz-bare Mehrzweckponton (kurz: MZPt). Das bewegliche Element spannt je nach Anlege-variante neue Räume auf und ermöglicht eine vielfältige Bespielung der Wasserfläche und des Ufers. So könnten Schüler das MZPt zum Beispiel als Aufenthalts- und Klassenraum nutzen, wenn sie im Schulgarten über Anbau und Nutzung von Pflanzen lernen.

Um den Zollhafen im Süden Hamburgs zu revitalisieren, gilt es u.a., sich mit Bildungs­akteuren im Umfeld zu vernetzen (unten Mitte) und den Anwohnern Zugänge zum Wasser zu ermöglichen (unten rechts)

Der Bildungshafen Mügge – hier ein pers­pektivischer Masterplan (oben) – liegt südlich der Elbe, abgetrennt vom Zentrum der Hanse­stadt. Wie die Hamburg­Karte (unten) zeigt, wäre er für den Stadtteil Veddel eine wichtige Bildungseinrichtung und schlösse eine Lücke

> Hamburg

Ideen für einen alten Zollhafen

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L 1.5SCHULEN BILDEN NACHBARSCHAFTEN LEHRVERANSTALTUNG HCU HAMBURG LEHRSTUHL FÜR STÄDTEBAU UND QUARTIERPLANUNG SVEN GLOWIK

Das vertraute Fremde

Das Areal östlich des Lettekiezes ist gegen-wärtig ein homogenes, monofunktionales Gewerbegebiet. Einzelne Initiativen nutzen die günstigen Standortfaktoren und setzen Impulse für den Kiez. Neben der Quinoa-Schule ist dabei vor allem die ehemalige Bun-desmonopolverwaltung für Branntwein zu nennen. Als baulicher Identitätsträger des Quartiers und Standort für unterschiedliche Initiativen und Start-ups nimmt dieser Gebäu-dekomplex eine besondere Stellung ein.

Mit Hilfe einer Dystopie und einer Utopie sollen Szenarien vorgestellt werden, um Fragen zum Verständnis eines öffent-lichen Bildungsquartiers anzustoßen und Erkenntnisse über deren Substanz anzuregen.

Was passiert, wenn ein Großinvestor das be-schriebene Areal kauft, um dort einen soge-nannten „Technologie-Campus“ zu entwi-ckeln? Dieses dystopische Szenario soll dabei helfen, Vorstellungen für diese Art von sozial wie räumlich kontextualisierten Konzeptionen zu gewinnen. Nach Abriss des Bestandes werden neue Gebäude vorgeschlagen, die jeweils eine spezifische Nutzung im Bildungs- und Wissenschaftsbereich haben und durch eine zentrale Achse miteinander verbunden sind. Zeitgenössische Hochhausarchitek-tur verleiht dem urban.tech.eduation.center

Exklusivität und ermöglicht es der Fachöffent-lichkeit, in engem Austausch miteinander zu kooperieren. Dieses Gebiet wird kein Stück Stadt, es wird als ein Stück Zukunft globaler Wirtschaftsakteure entwickelt.Kerngedanke eines zweiten, utopischen Ent-wurfsszenarios ist die qualitative wie auch quantitative Erweiterung des bildenden öf-fentlichen Raumes durch den branntwein.hof. Die Verflechtung von historischen In-dustriegebäuden und neuen multifunktio-nalen Räumlichkeiten erzeugt Vertrauen und Gemeinschaftsgefühl bei den Nutzern. Die „neue“ Adresse wird zu einem Treffpunkt im Kiez. Mit der verlängerten Mittelbruchzeile ist der Hof untrennbar mit dem Kiez verbunden. Die Organisation der Einheiten funktioniert durch eine gerichtete Orientierung bei starker Durchmischung der Funktionen. Die einzel-nen Nutzungsbereiche sind mit einem neu-tralen und gleichwertigen Erschließungsnetz miteinander verbunden, wobei der Hof sehr permeabel ist und sich gegenüber allen Inte-ressierten wie auch für Veranstaltungen öff-net. Der Hof fungiert als nördliche Verbindung zwischen Provinzstraße und Koloniestraße und schließt somit den Entdeckungsraum der Panke mit ins Lernnetzwerk ein. Eine Kiezkan-tine, ein kleines Hotel sowie einige Hofgärten zur Selbstversorgung verleihen dem Areal ei-nen öffentlichen Charakter. Mit der Unter-bringung von Kreativschaffenden, Künstlern, Vereinen, schulischen Angeboten, Sportnut-zungen und weiteren Lehr- und Lernorten sowie einer Außenstelle des Quartiersma-nagements wird der Kiez in seiner Gesamt-heit entlastet und erweitert. Die Mischung der Nutzer leistet einen positiven Impuls für das Gewerbegebiet, wodurch die Strahlkraft bis weit in den Lettekiez bewahrt werden kann.

Eine 3­D­Skizze visualisiert das erste Szenario, in dem ein Gewerbegebiet abgerissen wird und ein Hochhaus­Bauprojekt namens urban.tech.education.center mit einer starken Funktions trennung und einem stark gerichteten öffentlichen Raum entsteht

Im Szenario 2 entsteht durch eine Verkettung öffentlicher Räume im Osten des Lettekiez‘ (Karte oben) das Projekt branntwein.hof (Karte Mitte), bei dem historische Industriegebäude erhalten bleiben und durch multifunktionale Räume behutsam ergänzt werden. Bei den Anwohnern erzeugt das Projekt Vertrauen und Gemeinschaftsgefühl. Das moderne urban.tech.education.center (unten) richtet sich dagegen ausschließlich an eine exklusive Öffentlichkeit und prägt den Stadtteil durch eine extrovertierte Hochhausarchitektur

Technologie-Campus versus Kiez- Treffpunkt: Wie sich Bildungsquartiere unterschiedlich auswirken können

SEITE 32 | 33SCHULEN BILDEN NACHBARSCHAFTEN SOMMERSCHULE MARIUS FREUND ANH QUYNH PHAM ROMANO RICHTER

S 1.6

Impulsgeber Quinoa-Schule

Bei der Analyse des Entwurfsgebietes liegt der Fokus des Projektes auf der Quinoa-Schule. Als private Mittelschule (7. bis 10. Stufe) der Montessori Stiftung Berlin eröffnete sie 2015 an einem neuen Standort in der Kühnemann-straße an der Grenze zwischen den Berli-ner Stadtteilen Gesundbrunnen und Reini-ckendorf. Neben den Besonderheiten dieses Schultyps ist die stadträumliche Einbindung von hohem Interesse. Der Standort ist geprägt von politisch-administrativen Grenzen, di-versen städtebaulichen Typologien mit hetero-genen Funktionen und Nutzungen und liegt an der Schnittstelle zwischen Soldiner Kiez und Lettekiez. Das umliegende Gewerbegebiet ist gekennzeichnet von Produktion, Verarbeitung sowie Veredelung und bildet einen starken Kontrast zu einer Schulnutzung. Gleichzei-tig finden sich in den angrenzenden Kiezen vielfache Anknüpfungspunkte zu formalen

Die Quinoa-Schule wird als Pioniernutzung angesehen und die Strahlkraft dieser Institu-tion soll perspektivisch untersucht werden. Mithilfe der Szenariotechnik können unter-schiedliche Entwicklungspfade gezeichnet werden, um das Veränderungspotential zu verdeutlichen.

Wenn sich eine Schule in einem Gewerbegebiet ansiedelt, dann ...

Antworten auf diese Fragestellung wurden in drei unterschiedlichen Szenarien gegeben:> Szenario 1: Der Erhalt des Bestands und

die Besonderheit der Quinoa-Schule als erste und einzige Bildungseinrichtung im Gewerbegebiet steht im Vordergrund. Die Schule baut nach und nach Synergien zu den angrenzenden Nutzungen auf, so-dass die gewerblichen Einrichtungen Teil des schulischen Lehrplans werden.

> Szenario 2: Das Gewerbegebiet wird mit formalen Bildungseinrichtungen ergänzt, wodurch die Quinoa-Schule neue Koope-rationspartner findet, aber auch informelle Bildungsräume entstehen. Die Heterogeni-tät sich ergänzender Bildungsangebote ver-dichtet das Gebiet zu einem Bildungscluster.

> Szenario 3: Die Vorteile der innerstäd-tischen Lage werden genutzt und das Ge-biet zu einem Mischgebiet transformiert. Neue Wohnnutzungen, weitere Bildungs-einrichtungen und ergänzende Hand-werksbetriebe verleihen dem Quartier ei-nen besonderen Charakter.

Es wird deutlich, dass Schulen im Quartier unterschiedliche Rollen einnehmen können. Dabei können sie stark von ihrem Umfeld pro-fitieren und gleichzeitig einen bedeutenden Einfluss auf die Quartiersentwicklung und -steuerung ausüben.

Die Quinoa­Schule wird im zweiten Szenario zum Mittelpunkt eines Bildungs­clusters im Gewerbegebiet und transformiert das Gewerbegebiet in einen Bildungs­ und Gewerbe­standort mit weiteren Bildungseinrichtungen

Die funktionale Verflechtung zwischen der Schule und den umliegenden Unternehmen im Gewerbegebiet steht im Vordergrund dieses Szenarios

Im dritten Szenario trans­formiert sich das Gewerbe­gebiet in ein durchmischtes Quartier und erfindet sich neu, indem Wohn­, Arbeits­, und Bildungs angebote schrittweise eingefügt werden

Bildungsinstitutionen (zahlreiche Kindergär-ten und Oberschulen) wie auch zu informellen Bildungsräumen (zum Beispiel Letteplatz, Mittelbruchzeile).Das Konzept „Impulsgeber Quinoa-Schule“ versucht vom Ausgangspunkt der Schule zukünftige Quartiersentwicklungen zu anti-zipieren und mögliche Szenarien zu skizzie-ren. Gegenwärtig gibt es keine konkreten Planungen für das Gebiet, wobei sich der Standort zukünftig mit veränderten Rahmen-bedingungen auseinandersetzen muss:> Die geplante Schließung des nahegele-

genen Flughafens Berlin-Tegel führt zu Veränderungen der Mietpreise.

> Die innerstädtische Lage ist attraktiv für neue Nutzungen und Initiativen.

> Die Öffnung des Gewerbegebietes für die Quinoa-Schule stellt eine besondere Nut-zungsmischung dar.

Die künftige Entwicklung des Schulstandorts und des Gewerbegebietes wird in Form einer Bild­ Collage visualisiert und zeigt die Möglichkeit einer Transformation des Gebietes in ein Bildungs­cluster mit unter schied­lichen Architekturen

Wie könnte eine Schule ein umgebendes Gewerbegebiet verändern? Verschiedene Szenarien sind denkbar

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S 1.7SCHULEN BILDEN NACHBARSCHAFTEN SOMMERSCHULE MADLEN FINK TOBIAS SONDEREGGER TATIANA WIST

Felix Bentlin über die gegenwärtige Schul-entwicklung in Deutschland und warum sich Schulen zur Stadt auch baulich öffnen sollten

Mehr Mut zur Öffnung der Schulen

Schätzung des Deutschen Instituts für Urba-nistik beträgt der Investitionsbedarf in kom-munale Schulbauten bis 2020 mindestens 25 Milliarden Euro und dies ohne die Schulsport-hallen miteinzuberechnen (vgl. Reidenbach 2008, S. 210). Die daraus hervorgehende Un-sicherheit wirft die Frage nach den gegen-wärtigen Entwicklungstendenzen der deut-schen Schullandschaft auf.

Bildung im räumlichen Umbruch

Die regionale Schulentwicklung steht in je-dem deutschen Bundesland vor einschnei-denden Herausforderungen: Trotz schrump-fender und wachsender Regionen zeigt das Gesamtsaldo der Schulen einen deutlichen Negativwert von 6 100 Schulschließungen. Einerseits nimmt die Anzahl der Bildungs-einrichtungen und der Schüler bundesweit ab, und das wohnortnahe Bildungsangebot wird in vielen Regionen zur Herausforderung (siehe Abb. 1 u. 4). Andererseits wächst die Zahl der Zuwanderer im schulpflichtigen Alter (siehe Abb. 3). Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) rechnet bis Ende 2016 mit 300.000 zusätzlichen geflüchteten und asylsuchenden Kindern und Jugend-lichen im Schulbereich. Doch die Zahlen müssen differenziert nach Schultyp und Re-gion betrachtet werden, um die tiefgreifenden Veränderungen der deutschen Bildungsland-schaft zu verstehen. Einerseits boomt der Privatschulsektor mit seinen konfessionellen

Es herrscht Unsicherheit über die Schulland-schaft von morgen. Politik und Verwaltung, aber auch Planer, Architekten, Pädagogen, Eltern und Kinder sowie Jugendliche stellen ganz unterschiedliche Anforderungen an Schulbauten. Einzig kleinster gemeinsamer Nenner scheint die Erkenntnis, dass sie Orte des Lehrens und Lernens sind. Nur eine Min-derheit betrachtet sie als kollektiven Ort des Lebens. Als unumgängliche Bildungs- und Sozialisationsinstanz fehlt dem Gehäuse der Schule – dem Schulbau – und der darüber geführten öffentlichen Diskussion eine starke gemeinsame Vision.Während auf oberster raumplanerischer Ebene Konzepte geschrieben werden, die „einen europäischen Raum des lebenslan-gen Lernens“ (Europäische Kommission 2001) fordern und Bildungsreformer auf städ-tischer Ebene Bilder von Lernlandschaften, Stadtteilschulen oder Treibhäusern für mo-dernes Lernen zeichnen, drängen moderni-sierungsbedürftigte Schulbauten die Städte und Gemeinden in Deutschland zu Investiti-onen ohne konkrete Zielvorstellungen über zukünftige Bildungsräume (vgl. Montag Stif-tung 2011, S. 3; vgl. Braum 2010, S. 6 u. S. 14; vgl. Schindele 2009, S. 23). Nach einer

und reformpädagogischen Angeboten so-wie Schularten, die mehrere sowie höhere Bildungsgänge und -abschlüsse anbieten. Andererseits sterben die Haupt-, Real- und Primarschulen (siehe Abb. 2). Da immer mehr junge Menschen die Hochschulreife anstre-ben, besuchten 36 Prozent mehr Schüler im Schuljahr 2012/2013 einen allgemeinbilden-den Bildungsgang im Sekundarbereich II als vor zehn Jahren (vgl. GEW 2015; vgl. Mer-cator-Institut 2015; vgl. Malecki et al. 2014, S. 8–17 u. S. 35–37).Während im ländlichen Raum der starke Rückgang der Schülerzahlen in den letzten Jahren zu Schulschließungen führte, müs-sen die Ballungs- und Wachstumsräume zusätzlichen Wohnraum schaffen und ent-sprechend eine soziale Infrastruktur wie Kindergärten, Schulen, Sport- und Freizeit-anlagen neu errichten. So gründete beispiels-weise die Stadt München 2013 eine Arbeits-gruppe „Schulbauoffensive“ und plant bis 2030 den Neubau von 41 Schulen mit einem Investitionswert von rund 1,8 Milliarden Euro (vgl. Presse- und Informationsamt 2013, S. 22–30). Besonders in schrumpfenden Regionen werden dagegen Entscheidungs-kämpfe über Schulschließungen zwischen Gemeinden, Landkreisen und Ländern ge-fochten. Nach einer kalkulatorischen Logik werden in den meisten Fällen Schulschlie-ßungen von den Ländern gegen den Willen der Kommunen favorisiert. In Niedersach-sen forderte beispielsweise der Landesrech-nungshof die dortigen Kommunen auf, die Schließung von 65 Grundschulen durchzu-führen, wobei die Kommunen und das Kul-tusministerium entgegneten, dass „es nicht nur um die Erhaltung der Wirtschaftlichkeit“ gehen könnte (vgl. Lambek 2014). Im Gegen-satz dazu stellte die Kultusministerkonfe-renz (KMK) als oberste politische Bildungs-instanz bereits 2004 die Bildungsversorgung der Bevölkerung als „eine besondere

Planungsaufgabe“ heraus. „Das Schulge-bäude hat hier nicht nur als Bildungsstätte, sondern auch als kommunaler Bezugspunkt Bedeutung. Die Weiternutzung bestehen-der Schulgebäude kann nach verschiedenen Strategien gesichert werden. Sie reichen von der Absenkung der Mindestschulgrößen [...] bis zur Mehrfachnutzung als Bildungs- und Weiterbildungsstätte. Auch Umnutzungen der Gebäude in Teilen oder im Ganzen finden statt“ (Lederer et al. 2004, S. 46).Durch den Rückgang der Schülerzahlen als Folge der demografischen Entwicklung wird 2020 der Bestand an Schulraum im Verhält-nis zum Bedarf an Schulraum überwiegen, anders gesagt: Ein Drittel des Schulraums wird leer stehen, wenn Räume nur konven-tionell für den Frontalunterricht und keine Flächen für zusätzliche Funktionen benötigt werden. Unter den öffentlichen Gebäuden verfügen Schulen schon heute über ein un-vorstellbares Raum- und Flächenpotential: Sie werden durchschnittlich nur an 205 von 365 Tagen im Jahr und nur etwa acht Stun-den am Tag genutzt (siehe Abb. 5; vgl. Koh-ler/Peter 2004, S. 251–252). Somit kann nicht nur ein enormes Flächenpotential in der deut-schen Schullandschaft dargestellt werden, sondern auch ein räumlicher Umbruch: weg vom staatlich geführten Kleinschulhaus, oft gegen den Willen der Städte und Dörfer, hin zu zentralen Schulerweiterungen und Schul-neubauten in wachsenden Ballungsräumen. Ob Rückbau oder Neubau, es bleiben die Fragen: Welche qualitativen Anforderungen stellen wir an Schulgebäude, und wie können wir dieses stark vernachlässigte Flächenpo-tential nutzen?

Ganztagsschulen öffnen sich

In der bildungstheoretischen und -politischen Diskussion um kommunale Bildungsplanung hat sich die „Bildungslandschaft“ zum neuen Leitbegriff entwickelt. Ganztagsschulen fällt

2000

040

000

2002 /2003

2012 /2013

2000

060

000

1000

00

2006 2014

0

3

6

9

12

2004 /2005

2014 /2015

Haupt-schule

Real-schule

Gesamt-schule

Waldorf-schule

Schulen mitmehreren BG

Gymna-sium

Grund-schule

Veränderungen der Schulanzahl in % 2002/03 bis 2012/13

Abb.1 Die Schüler­zahlen an allgemein­ bildenden Schulen sanken innerhalb von 10 Jahren deutlich

Abb.4 Zwischen den Schuljahren 2002/2003 und 2012/2013 wurden 6100 Schulen geschlossen

Abb.3 Knapp 100.000 Kinder und Jugendliche zwischen 10 und 18 Jahren kamen 2014 nach Deutschland – viermal so viele wie 2006

Abb.2 Betroffen von den Schließungen waren primär die Hauptschulen und die Realschulen. Einen Zuwachs konnten hingegen die Integrier­ten Gesamtschulen, die Freien Waldorfschulen und die Schularten mit mehreren Bildungs­gängen verzeichnen

-13 %SCHÜLER

-7 % -37 % -16 % -1 %-14 %

+22 %

+51 %

+ 400 %ZUGEWANDERTE

SCHÜLER

-15 %SCHULEN

25 Mrd. €INVESTITIONSBEDARF IN

KOMMUNALE SCHULBAUTEN BIS 2020

Mio. Schüler

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E 1.8SCHULEN BILDEN NACHBARSCHAFTEN EXPERTENBEITRAG

QUELLEN> Baier, Tina (2013): Endlich mehr Gerechtigkeit. In: Süddeutsche

Zeitung vom 26.02.2013. > Braum, Michael / Hamm, Oliver G. (Hg.) (2010): Worauf baut die

Bildung? Fakten, Positionen, Beispiele. Basel. > Europäische Kommission (2001): Einen europäischen Raum des

lebenslangen Lernens schaffen. Brüssel.> Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (2015): Datenblatt

zur Pressekonferenz 08.10.2015. Bildung kann nicht warten! Berlin.> Kohler, Niklaus / Peter, Markus (2004): Die Nachhaltigkeit von

Schulgebäuden als Beispiele öffentlichen Bauens. In: Wüstenrot Stiftung (Hg.): Schulen in Deutschland. Stuttgart. S. 246–276.

> Lambek, Michael (2014): Entscheidung liegt bei Kommunen. In: Weser Kurier vom 30.03.2014.

> Lederer, Arno et al. (2004): Ein Situationsbericht zu Schulbau, Schulsanierung und Schulschließung. In: Wüstenrot Stiftung (Hg.): Schulen in Deutschland. Stuttgart. S. 36–68.

> Malecki, Andrea et al. (2014): Schulen auf einen Blick. Statistisches Bundesamt. Wiesbaden.

> Matzig, Gerhard (2009): Die große Chance beim Bauen. In: Süddeutsche Zeitung vom 22.01.2009.

> Mercator-Institut für Sprachförderung (Hg.) (2015): Neu zugewan-derte Kinder und Jugendliche im deutschen Schulsystem. Köln.

> Montag Stiftung Urbane Räume (Hg.) (2011): Schulumbau. Strategien zur Anpassung von Bestandsgebäuden. Köln/Bonn.

> Neitzke, Peter (2009): Die Herrschaft der Konstruktion. In: Baumeister, 106 (12). München. S. 34–37.

frühes Ergebnis der Diskussion war, „dass veränderte inhaltliche Konzepte auch diesen Veränderungen entsprechende bauliche Rea-lisierungen und architektonische Gestaltungen erfordern“ (Wüstenrot Stiftung 2004, S. 6). Jedoch tritt das Dilemma zwischen der Kritik der Nutzer an menschenfeindlicher Schular-chitektur und den unter Architekten gefeierten Schulbauten immer wieder auf. Einerseits wer-den Schulneubauten als „Aufbewahrungs-anstalten“ in einem „Land der verödeten öf-fentlichen Räume“ kritisiert (vgl. Baier 2013, Matzig 2009). Andererseits ist die Baufachöf-fentlichkeit von Schulhäusern beeindruckt, die nur „aus den Bedingungen der Architek-tur“ konstruiert werden, wobei nicht auszu-schließen sei, dass es trotzdem den Lern-betrieb nachhaltig verändere (Neitzke 2009, S. 34). Andere Kritiker, wie beispielsweise der inzwischen emeritierte Pädagogik-Profes-sor Christian Rittelmeyer, gehen noch weiter und sagen, dass die Entwicklung des Schul-baues im Widerspruch zu den modernen pä-dagogischen Erkenntnissen steht. In seinen Untersuchungen kommt Rittelmeyer zu dem Schluss, dass das sogenannte Fabrikmodell vorherrsche, das heißt gleichartige Klassen-räume, monotone Fassaden. Dazu versam-melt er Metaphern weiterer Kritiker, die auch die starke Abgeschlossenheit von Schulge-bäuden zum Stadtraum verdeutlichen wie Bildungstempel, Gefängnis-Schulen, Schul-Betonburgen oder Schulen im Kasernenstil (vgl. Rittelmeyer 2013, S. 8–9). Damit zeigt er auf, dass sich ein geschlossener Bautypus im Laufe der Jahrhunderte immer wieder durch-setzt und dabei nur in zeitgenössische Archi-tekturästhetik gehüllt wird. Hans Schindele, Vorstandsmitglied des Bayerischen Lehre-rinnen- und Lehrerverbandes, fasst zusam-men: „Vergessen wird: Fast alle Schulen sind gebäudemäßig ein Spiegelbild unserer über-holten Lern- und Schulkultur. Überall Räume, die ausschließlich frontales Lernen zulassen.

darin eine Schlüsselrolle zu. Mehr als jede zweite deutsche Schule bietet mittlerweile Ganztagsangebote an. Und es gibt weitere grundsätzliche Änderungen: So negiert of-fener Unterricht die hierarchische Rauman-ordnung des Frontalunterrichts und schafft individuelle Lernzonen. Hinzu kommen neue Formen der Wissensaneignung wie E-Lear-ning und neue Aufgaben der Schulen, etwa die Frühförderung. Selbstständiges Ler-nen spielt heute eine größere Rolle. Schul-verbände sowie Kooperationen mit Dritten sorgen für einen Austauschbedarf mit der Stadtgesellschaft. Beispielsweise bieten heute schon Musik-, Sport-, Technik- oder Kreativvereine Nachmittagskurse in Schulen an. Aber auch größere Veranstaltungsräume werden in Schulgebäuden für Präsentati-onen, Feste oder Versammlungen der Nach-barschaft genutzt. Darüber hinaus erlangt durch die Ganztagsschulentwicklung das Angebot von Mahlzeiten eine größere Bedeu-tung. Der Schulraum entwickelt sich somit immer mehr zu einem Lebensraum. Zeitliche und räumliche Offenheit benötigen aber eine flexiblere Raumorganisation als konventio-nelle Unterrichtsformen, damit auch außer-schulische Partner ihren Platz im Gefüge der Schule finden. Die räumliche Neustrukturie-rung der Schullandschaft ist in vollem Gange: Neubau von Kantinen, Bereitstellung von in-dividuellen Freizeit- und Lernräumen sowie nachbarschaftlicher Versammlungsräume.

Zwischen Architekturkritik und Abgeschlossenheit

In der Erziehungswissenschaft und -praxis werden Themen wie „Schule als Lebens-raum“ und „Raum als Lehrer“ immer wichtiger. Schulkongresse, aber auch Tagungen der Archi tektenkammern sowie der Ministerien der Bundesländer thematisieren den Schul-bau seit dem PISA-Schock 2000 und disku-tieren mit Erziehungs- und Bauexperten. Ein

Lange Gänge. Links und rechts zu kleine Klas-senzimmer mit der Normgröße von 58 Qua-dratmetern. Lernverdichtete Halbtagsschulen, die sehr wenig mit Erkenntnissen der Lernpsy-chologie zu tun haben. Kaum Gemeinschafts-räume zum Leben“ (Schindele 2009, S. 23). Positiv wird dagegen aus pädagogischer Sicht die Öffnung der Schule zur Stadt bewertet: „Hier kündigt sich ein neuer, wenn auch noch schwacher Trend im Schulbau an, der tradi-tionelle Elemente einer wohnlichen Stadt-gestaltung in den Schulanlagen reanimiert“ (Rittelmeyer 2010). Das pädagogische und architektonische Vokabular vermischt sich. Es wird notwendig, dass sich kooperierende Architekten, Pädagogen, Schul-, Bau- und Stadtplanungsämter in der Praxis interdiszipli-när verstehen. Noch fehlt es an einer gemein-samen Sprache und gemeinsamen Maßstä-ben unter Planern und Erbauern auf der einen und den Nutzern auf der anderen Seite.

Schulbauten als stadträumliche Potentiale

Die öffentliche Hand verfügt jetzt und zu-künftig über mehr Raum, als Bedarf an Un-terrichtsräumen herrscht. Das ist Herausfor-derung und Chance zugleich. Kommunen und Landkreise können darüber nachden-ken, wie sie dem Lernen mehr und besseren Raum geben und zugleich kollektive Räume in Kommunen und Stadtteilen schaffen. Diese Öffnung erfüllt einerseits Nachhaltig-keitsanforderungen durch die effizientere so-wie multifunktionale Nutzung bestehender Ressourcen, andererseits ergeben sich städ-tebauliche Potentiale. Ein verändertes Vor-stellungsvermögen, welche Nutzungen und Funktionen in Schulgebäuden stattfinden können, führt darüber hinaus zu einer grö-ßeren Bandbreite an Schulanlagen, die auch Angebote und Dienstleistungen an alle Stadt-bewohner richten wie Bibliotheken, Super-märkte, Arztpraxen, Konzert-, Theater- oder

Kinosäle, und kann gerade in schrumpfenden Regionen kulturelle Angebote sicherstellen oder in benachteiligten Quartieren als sozialer Ankerpunkt dienen. Der Schulbau wäre keine architektonisch abgeschlossene Einheit, sondern bildete ganz selbstverständlich als Teil des Stadtlebens gesellschaftliche Kon-ventionen und Lebensformen aus. Schüler träfen auf Passanten und Nutzer städtischer Angebote.

Bildungsräumliche Zwischenbilanz

Die Debatte um die Gestaltung der Schul-häuser gewinnt erst seit wenigen Jahren wie-der an Aufmerksamkeit. Schulhäuser – ob im Bestand oder Neubau – müssen demo-grafischen und gesellschaftlichen Anforde-rungen und damit neuartigen Nutzungen gerecht werden. Die Zunahme von Ganz-tagsschulen, die Einführung offener und indi-vidualisierter Unterrichtsformen und die Ma-xime des lebenslangen Lernens beeinflussen die Funktion und damit auch die Gestalt von Schulbauten. Schulen sind Quartiersmittel-punkte und spielen als Standortfaktor eine einflussreiche Rolle für die Stadtentwicklung.Es herrscht seit Beginn der Schulbautätig-keit eine Dominanz jener Betrachtung auf die Innenräume der Schulanlagen. Aus dieser Perspektive werden Raumprogramme unter technischen, wirtschaftlichen und architek-tonischen Gesichtspunkten geformt und in den Stadtgrundriss verpflanzt. Die äuße-ren Voraussetzungen, wie die Konfiguration des Wohnbezirks und die Verhältnisse in den Wohnquartieren, spielen nur eine Nebenrolle. Weitsichtige und integrierte Schulbau-Pla-nung ist aber nicht nur die Voraussetzung für die pädagogische und bauliche Lösung der Schulbaufrage, sondern bildet auch einen unersetzlichen Teil der Gestaltungsgrundla-gen des Wohnquartiers und derjenigen von Dorf, Stadt und Region. Die Bauaufgabe Schule wird zukünftig zur Bauaufgabe Stadt.

Nutzung der Schule nach Tagen im Jahr

Nutzung der Schule nach Stunden am Tag

205

160

168

ungenutzt

ungenutzt

Drei langfristige Trends zwingen zum Umdenken in der Schulbaufrage:> Immer mehr Schüler

verbringen immer mehr Zeit auf dem Schulareal

> Die Unterschiedlichkeit von Lernformaten und Lerncharakteren nimmt zu

> Das Schulhaus wird kommunaler Bezugspunkt und als Teil des Quartiers wahrgenommen

Besondere städtebau-liche Potentiale ergeben sich durch:> die Durchmischung

monofunktionaler Stadtquartiere mit Hilfe von multifunktional ge-nutzten Schulbauten,

> die Belebung öffent-licher Räume durch die zentrale Lage von Schulbauten, Gemein-schaftsflächen und An-eignungsmöglichkeiten in der Umgebung,

> die Umnutzung bedeutender oder leer stehender Bauwerke für den Schulbetrieb,

> die Herstellung eines räumlichen und sozia-len Bindeglieds in der Stadtgesellschaft mit Hilfe von nachbar-schaftlichen Angebo-ten in der Schule,

> und die Integration von Lernorten in der Stadt als Identifikations-objekte

> Presse- und Informationsamt der Landeshauptstadt München (2013): Jahresvorschau 2014. München.

> Reidenbach, Michael et al. (2008): Investitionsrückstand und Investitionsbedarf der Kommunen. Berlin.

> Rittelmeyer, Christian (2010): Baukünstler und Bildungslücken. In: DABkompakt. 2010 (3). Düsseldorf. S. 3–5.

> Rittelmeyer, Christian (2013): Einführung in die Gestaltung von Schulbauten. Frammersbach.

> Schindele, Hans (2009): Investieren in künftige Ruinen? In: BLLV Bayerische Schule. 62 (3/4). München.

> Wüstenrot Stiftung (2004): Schulen in Deutschland. Neubau und Revitalisierung. Stuttgart.

Abb.5

SCHULEN BILDEN NACHBARSCHAFTEN EXPERTENBEITRAG FELIX BENTLIN MSC FG STÄDTEBAU UND SIEDLUNGSWESEN TU BERLIN

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E 1.8

Theda von Kalben über das Bildungszentrum „Tor zur Welt“ in Hamburg-Wilhelmsburg

Eine lokale Bildungslandschaft

Bauausstellung (IBA Hamburg 2013) griff die Ideen auf und förderte eine regionale Bil-dungsoffensive. Vier neue Bildungshäuser wurden im Zeitraum der IBA (2006–2013) gebaut, unter anderem das Bildungszen-trum Tor zur Welt. Neben diesen baulichen Projekten wurde ein Netzwerk der verschie-denen Bildungseinrichtungen koordiniert, das heutige „Bildungsnetz Elbe“. Dort treffen sich vierteljährlich Delegierte der Bildungsein-richtungen, um aktuelle Fragen der Zusam-menarbeit untereinander und mit den Fach-behörden zu diskutieren und gemeinsam die Bildungssituation der Menschen im Stadtteil zu verbessern.

Das Projekt Tor zur Welt

Im Zentrum der Elbinsel Wilhelmsburg wurde 2013 das Bildungszentrum Tor zur Welt eröff-net. Wilhelmsburg ist ein Zuwanderstadtteil mit ca. 50.000 Einwohnern aus über 30 Nationen. Der Anteil junger Menschen ist im Vergleich zu anderen Stadtteilen besonders hoch, die Bil-dungssituation jedoch deutlich schlechter. In Hamburg beträgt die Quote der Schulabgän-ger ohne Hauptschulabschluss 7 Prozent, in Wilhelmsburg sind es dagegen 17 Prozent. Die Abiturientenquote liegt in der Gesamtstadt bei 55 Prozent, in Wilhelmsburg machen hingegen nur 28 Prozent das Abitur. Viele Kinder und Jugendliche aus Familien mit niedrigen Ein-kommen und fehlendem Bildungshintergrund können ihre Potentiale nicht ausschöpfen und brauchen deshalb zusätzliche Unterstützung durch die Bildungseinrichtungen.

Vor dem Hintergrund der bundesweiten De-batte über Bildungslandschaften und die Rolle der Schulen im Stadtteil gab es 2005 in Hamburg eine Initiative der Bildungsbe-hörde, die darauf zielte, Quartiersschulen zu entwickeln. Mit einer Öffnung der Schulen in den Stadtteil und einer besseren Vernet-zung von Bildung, Beratung und Betreuung wollte man die Bildungslage, insbesondere in sogenannten benachteiligten Stadttei-len, verbessern. Strukturelle Barrieren zwi-schen sozialer Herkunft und Schulabschluss sollten schrittweise abgebaut und mehr Kin-der mit Migrationshintergrund zu besseren Abschlüssen geführt werden. Bildungs- und Beratungsangebote für Erwachsene sollten darüber hinaus die soziale Lage der Familien stabilisieren. Auch die Wohnungswirtschaft erkannte in dieser Zeit, dass fehlende und schlechte Bildungseinrichtungen bildungs-orientierte Familien veranlassen, den Stadtteil zu verlassen. Sie forderte eine Verzahnung von Bildungs- und Stadtentwicklungspoli-tik als Strategie gegen die Abwanderung von Vor bildern und Leistungsträgern. Zuvor war bereits auf einer breit angelegten Zukunftskonferenz in Wilhelmsburg der Zu-sammenhang zwischen Bildung und Stadt-teilentwicklung auch auf lokaler Ebene stär-ker in den Fokus gerückt. Die Internationale

Drei Schulen und sieben nichtschulische Partner haben sich in Wilhelmsburg ge-meinsam auf den Weg gemacht, eine lokale Bildungslandschaft aufzubauen. In einem umfassenden Beteiligungsprozess mit den zukünftigen Mietern des Hauses wurden als Grundlage für einen internationalen Archi-tektenwettbewerb Konzepte entwickelt. Der preisgekrönte Entwurf des Büros bof archi-tekten und der Landschaftsarchitekten Brei-mann & Bruun wurde zwischen 2010 und 2013 umgesetzt.Ein besonderes Merkmal des Projektes ist die städtebauliche und architektonische Öff-nung zum Stadtteil. Die Gestaltung der Bau-körper mit viel Holz und Glas fügt sich har-monisch in das Umfeld ein und strahlt eine offene Atmosphäre aus. Die schulischen Freiflächen sind bis auf wenige Ausnahmen auch außerhalb der Schulzeiten öffentlich zugänglich und bieten vielfältige Spiel- und Aufenthaltsmöglichkeiten für die Anwoh-ner. Das Schulgelände wird von einer Straße geteilt, die durch besondere gestalterische Maßnahmen in das Freiraumkonzept inte-griert wurde.Das Tor zur Welt beherbergt Bildungs- und Beratungseinrichtungen für alle Altersgruppen:> Das ReBBZ (Regionales Bildungs- und Be-

ratungszentrum) besteht aus einer Grund-schulabteilung mit kleinen Lerngruppen für Kinder mit sonderpädagogischem Förder-bedarf und einer schulischen Beratungs-stelle für Bildungseinrichtungen aus dem ganzen Stadtteil.

> Die Elbinselschule, eine reformpädago-gische Grundschule, hat ihre Räume im Neubaubereich und setzt in besonderer Weise auf Theaterpädagogik, ein multisen-suelles Lernkonzept, die Förderung von Sprachkompetenz sowie ein begabungs-förderndes Lernangebot.

> Das Helmut-Schmidt-Gymnasium ist das einzige Gymnasium auf der Elbinsel mit einem profilierten Angebot von Jahrgang 5 bis 12. Das Bestandsgebäude wurde grundsaniert und zusätzliche Räume für besondere pädagogische Angebote eingerichtet.

> Die Bildungs- und Beratungseinrichtungen für Erwachsene sind zentral im sogenann-ten Torhaus am Ankerplatz platziert. Die Elternmentoren der Schulen arbeiten eng mit den Familienlotsen der angrenzenden Kita Koppelstieg zusammen und beraten Eltern bei Fragen rund um den Kita- und Schulalltag.

Ziele des Bildungszentrums

Die folgenden Hauptziele sind die Grundlage der Zusammenarbeit der Einrichtungen im Tor zur Welt: 1. Bildung im Stadtteil aufwerten und qualifi-

zierte Abschlüsse erhöhen2. Attraktive Bildungsangebote durch Koope-

rationen zwischen Schule und nicht-schu-lischen Partnern entwickeln

Darüber hinaus wird die Arbeit von gemein-sam definierten Leitlinien getragen. Die Bil-dungs- und Teilhabechancen der Menschen im Quartier sollen unabhängig von der sozi-alen Herkunft verbessert werden. Dabei wer-den die Heterogenität und die kulturelle Vielfalt als Chancen für erfolgreiche Bildungswege gesehen. Demokratische Grundhaltungen und nachhaltige Lebensformen bestimmen das tägliche Handeln der Einrichtungen im Haus. In einer guten Mischung aus Konzen-tration, Entspannung, Bewegung und ge-sunder Ernährung sollen unsere Kinder und Jugendlichen auf ihrem Bildungsweg geför-dert werden. Individuelles Lernen und die Persönlichkeitsentwicklung sind wesentliche Bestandteile der schulischen Konzepte im Bildungszentrum.

BILDUNGS- UND BERATUNGS-EINRICHTUNGEN IM TOR ZUR WELT:> verikom bietet Sprach-

und Integrationskurse an und berät Familien in Not

> Die Volkshochschule hat ein breites Spektrum an Kursen und konnte bereits im ersten Jahr über 40 neue Angebote durchführen

> Weiterbildung Hamburg berät Erwachsene in Fragen der Berufsorientierung und Umschulung

> Die Inselmütter werden als Beraterinnen für Familien mit Migrationshintergrund ausgebildet und begleiten bei Bedarf auch bei Behördengängen oder Arztbesuchen

> Die Elternschule hat verschiedene Kurse für Familien mit kleinen Kindern im Angebot und nutzt dafür das InselCafé als Ort der Begegnung und des Austausches

> Das freie Theater am Strom hat eigene Probenräume und ist ein wichtiger Kooperationspartner der Schulen

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E 1.9SCHULEN BILDEN NACHBARSCHAFTEN EXPERTENBEITRAG

vorgelesen und das erste Lesen geübt. Im Selbstlernzentrum und in der Mediothek des Gymnasiums wird recherchiert und präsen-tiert. Die drei Schulen teilen sich die Perso-nalkosten für eine Stelle in der Bibliothek, die neben der Ausleihe auch Schülergruppen be-treut und bei Hausaufgaben unterstützt.Kulturelle Vielfalt: Die Kinder und Jugend-lichen bringen vielfältige Begabungen aus ihren jeweiligen Kulturkreisen mit. Diese wer-den in den Schulen besonders gefördert und in der Aula und den Veranstaltungshallen re-gelmäßig in Musik- und Theatervorführungen präsentiert. Hierbei unterstützt unter ande-rem auch der Kooperationspartner Theater am Strom.Umwelt und Wissenschaft: Im Umwelt & Sci-ence Center werden biologische und phy-sikalische Methoden eingesetzt, und in der Medialen Geowerkstatt erstellen Schüler Un-terrichtsmaterialien und drehen Filme.Berufsorientierung: Im „School and Business Center“ des Gymnasiums arbeiten Schü-lerfirmen. Manche Schüler helfen zum Bei-spiel Lehrern bei Problemen mit Tablets und Whiteboards, andere vermarkten Schulklei-dung. Im Bereich der Erwachsenenbildung gibt es vielfältige Qualifizierungsmöglich-keiten. So können sich zum Beispiel Frauen aus unterschiedlichen Herkunftsländern als Inselmütter qualifizieren lassen, um anschlie-ßend Familien zu beraten. Der Caterer Re-bional beschäftigt Mütter als Küchenhilfen, von denen sich zwei bereits als Köchinnen ausbilden lassen. Sprach-, Gesundheits- und Computerkurse bietet die Volkshochschule zur Vorbereitung oder Wiedereinstieg in den Beruf.Sport und Bewegung: Zwei Dreifeldhallen und eine Bewegungshalle werden rund um die Uhr von den Schulen, Vereinen, der El-ternschule und der Volkshochschule genutzt.

Bildung im Stadtteil aufwerten und qua-lifizierte Bildungsabschlüsse erhöhen

Zur Umsetzung dieser Ziele bieten die ge-meinschaftlich genutzten Flächen besonders gute Voraussetzungen. Offene Lernbereiche und vielfältig gestaltete Klassenräume in den Schulen fördern das individuelle Lernen. At-traktive neue Fachräume wie zum Beispiel die Umweltzentren, die Mediale Geowerk-statt mit ihrer modernen Planetariumstech-nik, Bibliotheken und eine medientechnische Ausstattung auf dem aktuellen Stand in al-len Klassenräumen gehören zu den Neue-rungen des Zentrums. In einer großen Mensa mit Produktionsküche werden täglich 1 000 Essen von dem privaten Caterer Rebional frisch gekocht. Das gemeinsame Mittages-sen ist ein wichtiger Bestandteil des pädago-gischen Konzeptes. Das InselCafé ist für alle erwachsenen Mitarbeiter des Hauses, Gäste und Besucher aus dem Stadtteil täglich von 8 bis 16 Uhr geöffnet. Kinder, Jugendliche und Erwachsene finden im Tor zur Welt ein umfas-sendes Bildungsangebot in einer besonderen räumlichen Atmosphäre. Die inhaltliche Arbeit im Haus basiert auf fünf gemeinsamen Profilen, welche die Haupt-nutzer im Tor zur Welt in einem ausgiebigen Beteiligungsprozess als Grundlage für das Raumkonzept definiert haben.Sprache: Sprachförderung hat in Einwande-rerstadtteilen eine besondere Bedeutung, und das Lesen von Büchern ist ein zentraler Schlüssel zum Erfolg. Drei Bibliotheken ste-hen deshalb unterschiedlichen Altersgrup-pen zur Verfügung. In der Lesestadt wird

Kooperationen schulischer und nicht-schulischer Partner

Jede Einrichtung im Tor zur Welt ist grund-sätzlich autark in der Gestaltung und Umset-zung ihrer eigenen Aufgaben. Das gemein-same, übergeordnete Ziel der Kooperation und Vernetzung wird dadurch jedoch nicht infrage gestellt. Die Hauptnutzer treffen sich regelmäßig in unterschiedlichen Gremien, um sich über laufende Projekte und die Arbeit mit den jeweiligen Zielgruppen auszutauschen. Im schulischen Bereich geht es in erster Li-nie darum, die Übergänge zwischen Kita, Grundschule und Gymnasium zu verbessern und sich über die jeweiligen Unterrichtsme-thoden und Anforderungen auszutauschen. Auch gemeinsame Projekte und Regeln, zum Beispiel im Freizeitbereich, werden auf einer jährlich stattfinden Lehrerkonferenz aller drei Schulen diskutiert. Informelle Begegnungen in den gemeinschaftlich genutzten Räumen und beim Mittagessen befördern den Aus-tausch untereinander.

Die Erwachsenenbildungseinrichtungen un-terstützen sich gegenseitig, indem sie rat-suchende Kunden an die jeweiligen Part-ner weiterleiten. Interessierte werden zum Beispiel nach Abschluss eines Integrations-kurses und dem ersten Spracherwerb in die Weiterbildungsberatung oder an die Volks-hochschule in einen Computerkurs vermit-telt. Eltern erfahren in der Elternschule, wie das Schulsystem funktioniert und haben die Möglichkeit, sich mit anderen Eltern oder mit Pädagogen aus den Schulen auszutauschen. Das InselCafé dient dabei als erste Anlauf-stelle und Kontaktbörse.Nach nunmehr zweijährigem Betrieb sind die Aufnahmekapazitäten der Schulen und Er-wachsenenbildungseinrichtungen erreicht beziehungsweise überschritten. Die Nutzung der Räume durch externe Mieter nimmt stetig zu, und wir stellen uns aktuell den neuen He-rausforderungen durch die Zuwanderung in unserem Stadtteil.

Die Gebäude des Bildungszentrums gruppieren sich um den Ankerplatz, die zentrale Begegnungsfläche des „Tors zur Welt“

Neben Kita und mehreren Schulen gehört auch das InselCafé zum „Tor zur Welt“

Der Bildungscampus in Hamburg­Wilhelms­burg ist auf dieser Luftaufnahme leicht aufgehellt dargestellt und zeigt die städtebau­liche Verzahnung des Schulcampus mit dem umliegenden Quartier

Alle Informationen zum Projekt „Tor zur Welt“ und den Einrichtungen sind auf der Homepage tzw.hamburg.de zu finden

SCHULEN BILDEN NACHBARSCHAFTEN EXPERTENBEITRAG DIPL.- ING. THEDA VON KALBEN GESCHÄFTSLEITUNG BILDUNGSZENTRUM TOR ZUR WELT HAMBURG-WILHELMSBURG

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E 1.9

ÜBERSICHT DER NUTZER IM TOR ZUR WELT

Hauptnutzer> ReBBZ

(Fördergrundschule und Beratung)

> Elbinselschule (Grundschule)

> Helmut-Schmidt-Gymnasium

> verikom> Elternschule> Inselmütter > Volkshochschule> Weiterbildung

Hamburg> Theater am Strom> Rebional (Mensa,

Bistro, InselCafé)

Temporäre Nutzer / Kooperationspartner> Sportvereine> Kita Koppelstieg,

Familienlotsen> Kita Froschteich,

Anschlussbetreuung> Muttersprachlicher

Unterricht der Konsulate: Türkisch, Albanisch, Portugiesisch

> Thalia Theater, Hamburger Symphoniker

> Inselkino> Sprachbrücke> Planetarium HH> div. private Mieter,

Eltern > div. Stiftungen /

Ehrenamtliche

Schule

Charlotte Eller über studentische Wettbewerbs - ergebnisse zur Gestaltung einer Gemeinschafts-schule im schwäbischen Gäufelden und warum Räume zum Lehren und Lernen auch auf dem Land einen Wandel erfahren müssen

Learning Village stadträumliche Geflecht der Quartiere einzu-

binden, damit diese als Knotenpunkte des Austauschs und als Impulsgeber in der Ge-sellschaft wirken können. Bedingt durch die veränderten pädago-gischen Modelle und den zunehmenden Ganztagsbetrieb von Schulen ergeben sich nicht nur neue Anforderungen an die Ge-bäude wie Brandschutz- und Sicherheits-vorschriften, Barrierefreiheit oder die Be-seitigung von bauphysikalischen Mängeln, sondern auch an den räumlichen und infra-strukturellen Kontext. Die Position der Schule und ihre Verflechtungen im urbanen oder ländlichen Raum, der Bezug zum Siedlungs-gebiet, die Mobilität von Schülern, Lehrern und Eltern sowie die Qualität des öffentli-chen Raumes und des Schulweges erhal-ten dadurch eine neue Relevanz. Koopera-tionsmodelle mit ortsansässigen Vereinen, Initiativen oder sozialen Einrichtungen berei-chern nicht nur das Ganztagsangebot der Schule, sondern leisten einen großen Beitrag zum Umbau der Schule von einem reinen Lernort zu einem Lebensort für alle Bürger. Schulen können nicht mehr als abgekap-selte Einheiten geplant werden. Bildung muss ganzheitlich, übergreifend und vor allem ge-nerationenübergreifend gedacht werden (vgl. Bott et al. 2015, S. 265).

Lehren und Lernen im ländlichen Raum neu gestalten

In diesem Sinne war der Titel des studen-tischen Wettbewerbs in Gäufelden „Lern-Landschaft“ bzw. „Learning Village“ gleich in mehrfacher Hinsicht Programm. Der Schulstandort samt Außenanlage und Part-nern wird meist als Bildungslandschaft (vgl.

Unsere heutige Wissensgesellschaft rückt als Nachfolgerin der Industriegesellschaft in der Stadt- und Regionalentwicklung zuneh-mend in den Fokus. Gerade im ländlichen Raum kann der Wegfall von lokalen Bildungs-einrichtungen enorme Auswirkungen haben. Bildungsangebote sind jedoch wesentliche Standortfaktoren, gerade bei der Wahl des Wohnsitzes junger Familien. Der demogra-fische Wandel und der damit einhergehende Rückgang der Schülerzahlen (vgl. Bargel/Bargel 2010) führen vielerorts zu einem Be-legungsdefizit der Schulgebäude. Dies zieht die Schließung von wohnortnahen Schu-len nach sich, speziell der weiterführenden Schularten. Die Rolle der Institution Schule in Kommune und Gesellschaft muss daher – zumindest teilweise – neu definiert werden.

Anforderungen an Schulgebäude und Schulanlagen

Der fortwährende Wandel fordert die Kom-munen zu vielfältigen Anstrengungen auf, um ihre Stadtquartiere für Menschen aller Al-tersgruppen und Nationalitäten zu lebens-werten Räumen weiterzuentwickeln. Hierzu ist es zwingend erforderlich, Bildungsein-richtungen zukünftig intensiver in das soziale,

Montag Stiftungen 2012, S. 286–288) be-schrieben. Die Lern-Landschaft beschreibt darüber hinaus den informellen Charakter des individuellen Lernens in Kombination mit dem sich ständig transformierenden Raum – der Landschaft. Zudem greift der Titel die Lage der Schule im ländlichen Raum und die Nähe zur Natur auf. Die Bildungslandschaft kann auch als „Dorf unter Dörfern“ (vgl. ebd.) bzw. als „Village“ bezeichnet werden. Hier schwingt der Gedanke einer integrierenden Nachbarschaft mit hohem Maß an Gemein-schaftlichkeit mit (vgl. Bott et al. 2015, S. 312). Dieses Maß an Nachbarschaftlichkeit zeigt sich auch in der Realität, denn der Antrag zur Gemeinschaftsschule (GMS) Bondorf/Gäu-felden war ein Gemeinschaftsprojekt der bei-den Gemeinden und der jeweiligen Schule. In beiden Gemeinden verzeichneten die Werkrealschulen (WRS) rückläufige Schü-lerzahlen, entwickelten sich zu sogenannten „Restschulen“ und standen somit kurz vor der Schließung wie viele ländliche Sekundar-schulen in Deutschland. Ein häufiges Pro-blem: Der alte Baubestand eignet sich nicht oder kaum für die Anforderungen der „neuen“ Pädagogik und schon gar nicht für den not-wendigen Ganztagsbetrieb. „Bauen im Be-stand“ wird zunehmend auch im Schulbau eine wichtige Rolle spielen. Der studentische Wettbewerb in Gäufelden spiegelt eine realitätsnahe, derzeit akute Bauaufgabe wider, die beispielhaft für ähn-liche Schulen und Kommunen stehen kann. Gäufelden und Bondorf liegen ca. 30 km südwestlich von Stuttgart. Die Gemeinden zählen derzeit ca. 9 400 und 5 800 Einwoh-ner. Gäu felden liegt im Herzen des Oberen Gäus (sie he Abb. 4) und eignet sich somit als Zentrum der Bildungseinrichtungen dieser Region. Der typische Schulbau der WRS der 1980er Jahre liegt am Rande des Siedlungs-gebiets „auf der grünen Wiese“. Die GMS

Bondorf/Gäufelden zählt zu den wenigen genehmigten GMS mit horizontaler Teilung, das heißt, die Schule ist auf zwei Standorte verteilt: In Bondorf werden die Kinder von der Grundschule bis zur 7. Klasse unterrichtet; die älteren sollen ab dem nächsten Schuljahr das Gebäude der ehemaligen WRS in Gäu-felden nutzen. Trotz frei werdender Klassen-räume aufgrund sinkender Schülerzahlen werden insgesamt zusätzliche Flächen für den Ganztagsbetrieb, individualisiertes Ler-nen und Inklusion benötigt. Die Gemeinden des Oberen Gäus haben sich zudem für eine gemeinsame zukunftsfä-hige Lösung hinsichtlich der Integration einer Sekundarstufe II (Klassen 11, 12 und 13) und somit der Möglichkeit eines gymnasialen Ab-schlusses vor Ort zusammengeschlossen. Die Genehmigung hierfür kann jedoch erst erfolgen, wenn die Schulen im Einzugsgebiet die notwendigen Schülerzahlen nachweisen können. Sollte das der Fall sein, werden wei-tere An- oder Neubauten notwendig sein, um zusätzlich neun Klassen und dazugehörige Fachräume unterbringen zu können.Abgesehen von den architektonischen, städ-tebaulichen und landschaftsplanerischen Aufgaben muss in Gäufelden folglich in zwei bis drei Bauphasen gedacht werden. Um die-sen Herausforderungen gerecht zu werden, wurde die Kooperation mit dem Städtebau-Institut der Universität Stuttgart (SI, Lehrstuhl Städtebau und Entwerfen, Prof. Dr. H. Bott) ins Leben gerufen. Gemeinsam mit dem Ge-meinderat wurden vor Ort die konkreten Auf-gaben und Ziele abgesteckt. Diese flossen dann in die Auslobungsunterlagen für den studentischen Wettbewerb.

Externe

Schule (privat)

halb­öffentlich (Verantwortungs­bereich Schule)

Gemeinde/Verein Verantwortungsbereich(öffentlich)

Abb.1 Das Projekt „Step by Step“ war Gewinner des studentischen Wett­bewerbs „Lern­Land­schaft“. Das Vorhaben entwickelt eine Vision des Schulstandorts Gäufelden

Abb. 2 Schulgebäude sind öffentliche Orte. Sie bieten private Räume (z. B. zur Schulorgani­sation), halb­öffentliche Räume (z. B. eine Cafeteria) und öffent­liche Räume an, sodass ein Zusammenspiel aus sicheren Rückzugsorten und öffentlichem Aus­tausch entstehen kann

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E 1.10SCHULEN BILDEN NACHBARSCHAFTEN EXPERTENBEITRAG

QUELLEN> Bargel, Tino / Bargel, Holger (2010): Gutachten zur

Schulentwicklung in Baden-Württemberg. Bestand, Prognosen, Fortschreibung und Alternativen. Kurzfassung. Stuttgart.

> Bauer, Petra (2013): Multiprofessionelle Kooperation und institutionelle Vernetzung in der (Ganztags-) Schule. In: Bohl, Thorsten / Meissner, Sibylle (Hg.): Expertise Gemeinschaftsschule. Weinheim. S. 161–176.

> Bott, Helmut et al. (2015): Learning Village I Lern-Landschaft. GMS Bondorf/Gäufelden. Stuttgart. Städtebau Institut der Universität Stuttgart Lehrstuhl Städtebau und Entwerfen.

> Montag Stiftungen Jugend und Gesellschaft I Urbane Räume (Hg.) (2012): Schulen planen und bauen. Grundlagen und Prozesse. Berlin.

multiprofessionelle Kooperationen bearbei-tet (siehe Abb. 2). Letztere beschreiben die Zusammenarbeit zwischen Schule und ex-ternen Bildungspartnern als pädagogisches Konzept (vgl. Bauer 2013).Das Verknüpfen der Seminar- und Entwurfs-inhalte mit dem Ziel des Wissenstransfers verlangte von Lehrenden und Studierenden gleichermaßen ein ständiges Rückkoppeln der Seminarergebnisse mit den Entwurfspro-jekten. Forschendes Lernen (Seminar) und Forschendes Entwerfen (Entwurf) als ange-wandte Methoden vermitteln Kompetenzen, die Vielfalt transformativer Räume wahrzuneh-men, zu erforschen und experimentelle Ent-wicklungsszenarien zu produzieren. Mit dem studentischen Wettbewerb zum Umbau der Werkrealschule zu einer Gemeinschaftsschule in Form eines Drittmittelprojektes wurden Ri-siken und Chancen frühzeitig identifiziert und Szenarien entwickelt, wodurch ein grundle-gender Schritt zur Veränderung der Schul-landschaft in Gäufelden unternommen wurde.

Die entwickelten Szenarien und Lösungs-vorschläge sollen als Diskussionsgrundlage zwischen verschiedenen Akteuren und Nut-zern vor Ort dienen. Die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Meinungen ist ge-wünscht und für die letztendliche Entschei-dung notwendig. Die studentischen Entwürfe und die Auswertung sollen für das Thema und die architektonischen Möglichkeiten der Gestaltung einer GMS und ihres Umfeldes sensibilisieren. Auf diese Weise erhalten alle Beteiligten (Architekten, Pädagogen, Leh-rer, externe Bildungspartner, Eltern, Schüler, Vertreter der Gemeinde unter anderem) das gleiche Basiswissen, anhand dessen weitere Diskussionen geführt und Entscheidungen getroffen werden können.Gerade die Arbeiten der Preisträger des stu-dentischen Wettbewerbs zeigen, dass sich die Weitsicht wie auch das finanzielle Enga-gement der Gemeinde Gäufelden, die Phase Null (vgl. Montag Stiftungen 2012, S. 156–163) gemeinsam mit den Lehrenden und Stu-dierenden der Universität intensiv zu bearbei-ten, mehr als gelohnt haben. Im Folgenden sollen nun die zwei Preisträgerarbeiten mit ihrem jeweiligen Schwerpunkt vorgestellt werden: > „Step by Step“ von Thomas Ochensber-

ger und Julien Schmidtke (siehe Abb.1): Dieses Projekt macht die Problemstellung der anstehenden Bauphasen zum leiten-den Konzept. Die benötigten Gebäude werden Schritt für Schritt in eine Land-schaftstreppe, die von Nord nach Süd über das Gelände verläuft, integriert. Die Einbettung der Bausteine in die Land-schaft ermöglicht einen fließenden Über-gang vom Innen- zum Außenraum.

> „Ein gemeinsamer Ort für Gäufelden“ von Martina Hilligadt und Maximilian Umbach (siehe Abb. 4): Der traditionelle Dreiklang zwischen Gemeinde, Schule und Kirche um einen Marktplatz wurde aufgegriffen und neu interpretiert. Über die gemeinsame, generationenübergreifende Nutzung der Räume und Außenfläche, die eine räum-liche Mitte als Adresse definieren, entstand ein Lern- und Lebensort für alle Bürger. Das Thema der Mitte wird auch in der Ausge-staltung der Grundrisse weiterverfolgt, so-dass es als leitendes Konzept und Struktur bis ins Detail wiederzuerkennen ist.

Die Auswertung der studentischen Arbeiten floss in die Auslobung des Realisierungswett-bewerbs „Umbau und Erweiterung Gemein-schaftsschule Bondorf/Gäufelden“, der 2015 vom Büro löhle neubauer architekten aus Augsburg gewonnen wurde.Derzeit wird die Möglichkeit, durch räumliche Planung den bevorstehenden Aus- und Um-bau von Schulgebäuden in eine nachhaltige Entwicklung von Städten und Gemeinden ein-zubinden, nur unzureichend wahrgenommen. 2015 wurde die neue Schulbauförderrichtli-nie für Baden-Württemberg beschlossen, die nun auch allgemeine Umbaumaßnahmen der Bestandsschulen unterstützt. Folglich kann mit einer Welle von Anträgen der Schulen im Land für solche Umbaumaßnahmen gerech-net werden. Dies bietet die Chance zur Ge-staltung nachhaltiger, generationenübergrei-fender Bildungs- und Lernlandschaften. Es birgt aber auch die Gefahr eines unkontrol-lierten und vor allem unreflektierten (Um-)Bau-booms, wie es ihn in den vorangegangenen Jahrzehnten schon einmal gab. Es bleibt die Hoffnung, dass es noch weitere Kommunen und Gemeinden wie Gäufelden gibt, die es sich leisten, intensiv eine solche Transforma-tion zu diskutieren, alle Akteure zusammen-zubringen und so tragfähige und langfristige Lösungen zu finden.

Abb. 3 Die Karte des Gemeinde­verwaltungsverbands „Oberes Gäu“ zeigt die Schullandschaft und Verteilung der Schularten

Forschendes Lernen und Forschendes Entwerfen in der Phase Null

Der Wettbewerb wurde in die Lehrveranstal-tungen an der Universität (Fakultät 1, Archi-tektur und Stadtplanung) integriert. Gemein-sam mit dem Institut für Raumkonzeption und Grundlagen des Entwerfens (IRGE, Prof. M. Allmann) entwickelte das SI ein Lehrkonzept, welches den Entwurf mit einem theoretischen Seminar verknüpfte. Während man sich im Seminar analytisch-diskursiv dem Thema näherte, stand im Entwurf die konkrete Pla-nungsaufgabe in Gäufelden im Mittelpunkt, welche suchend-experimentell bearbeitet wurde. Anhand eines intensiven Workshops an der ehemaligen WRS in Gäufelden wurden mit den Betroffenen erste grobe Konzeptan-sätze besprochen. Beispielsweise wurden strategische Überlegungen zur Mehrfach-nutzung der Räumlichkeiten durch externe Bildungspartner beziehungsweise durch

SCHULEN BILDEN NACHBARSCHAFTEN EXPERTENBEITRAG DIPL.- ING. CHARLOTTE ELLER STÄDTEBAU-INSTITUT UNIVERSITÄT STUTTGART

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E 1.10

Aufnahmen des heutigen und Visionen eines künftigen Campus der Universität Stuttgart. Früher deutlich abge­grenzte Wissensquartiere sollen sich immer mehr zu offenen urbanen Vier­teln entwickeln, in denen Studierende, Lehrende und Wissenschaftler auf Lern­, Freizeit­ und Kulturangebote zugrei­fen können. Besondere Aufmerksamkeit gilt da­her den Übergangs zonen zwischen öffentlichen und privaten Räumen sowie der funktionalen Vernetzung mit der umgebenden Stadt

Britta Hüttenhain über Strategien zur Vernetzung von Wissensquartieren mit der Stadtgesellschaft

Mehr Stadt wagen

Wissensquartiere und Stadtgesellschaft,veränderte Lebensstile, neue Formen des Lehrens und Lernens sowie die nationale und internationale Konkurrenz um die soge-nannten Wissenseliten verändern den Blick auf das Verhältnis von Stadt und Bildungs-standorten. Bildungseinrichtungen und kommunale Planung stehen vor der gemein-samen Herausforderung, dem Strukturwan-del hin zur Wissensgesellschaft städtebau-lich Gestalt zu geben, lebenslanges Lernen zu fördern, den Wissenstransfer zwischen Schülern, Studierenden, Lehrenden und Forschern in und mit der Stadtgesellschaft zukunftsfähig auszubauen sowie die Wett-bewerbsfähigkeit von Stadt und Region zu stärken.In der Zeit der großen Universitätsgrün-dungen und -erweiterungen glaubte man, die Abgeschiedenheit eines Campus im Grünen böte ideale Studien- und Forschungsbedin-gungen. Heute – nach weniger guten Erfah-rungen mit großen Monostrukturen – wer-den die Campus-Areale unter einem anderen Blickwinkel betrachtet, und im akademischen wie unternehmerischen Bereich versuchen sich viele Institutionen wieder stärker in den öffentlichen Raum zu integrieren (vgl. unter anderem Christiaanse/Höger 2007). Zahl-reiche Städte nehmen die Entwicklung ihrer Wissensquartiere in den letzten Jahren wie-der auf die Agenda. Es hat sich gezeigt, dass sich Hochschulen auf ihre jeweilige Stadt und Region positiv auswirken, öffnen sie diese doch nach außen und fördern Toleranz, ohne andere Bewohner an den Rand zu drücken (vgl. Stichweh 2012). Auch der städtebauliche Diskurs widmet den urbanen Defiziten und Vernetzungspotentialen der Wissensquar-tiere zunehmend Aufmerksamkeit – die Stadt Heidelberg initiierte sogar eine Internationale Bauausstellung (IBA) „Wissen schafft Stadt“.

Städte und Hochschulen befinden sich im globalen Wettbewerb um die „besten Köpfe“. Wissensarbeiter suchen neben der Fachex-zellenz auch ein attraktives Lebensumfeld. Zu diesem Lebensumfeld gehören einerseits räumliche Qualitäten und andererseits eine Stadtgesellschaft und damit ein soziales Um-feld, das Zukunftsperspektiven verspricht. Bei der Entwicklung von Wissensquartieren zu urbanen Stadtquartieren kommt auf der baulich-räumlichen Ebene der Ausformulie-rung solcher Bereiche, die als Schwelle oder Übergang zwischen privat und öffentlich die-nen, eine besondere Bedeutung zu. Ziel ist es, offene Lern-, Informations- und Wissens-quartiere zu gestalten, die gleichzeitig hoch spezialisierten funktionalen Anforderungen gerecht werden. Dieser Beitrag fokussiert die Campus-Areale, die stark von Hochschul-nutzungen und Forschungsinstituten geprägt werden. Für Schulstandorte und wissensori-entierte Gewerbeareale lassen sich viele As-pekte sinngemäß übertragen.

Hochschulen als integrierter Baustein der Stadt

Im historischen Rückblick wird deutlich, dass sich die Hochschulstandorte in der mittel-alterlichen europäischen Stadt immer als essentielle Bausteine der urbanen Textur entwickelt haben – sei es über integrierte Ver-sorgungseinrichtungen, sei es über Plätze und Hofanlagen (vgl. Bott 2015). Gebäude-typologisch wird diese Verschränkung der Universitäten mit der Stadt zum Beispiel in Bologna sichtbar, wo die Hochschule den zentralen städtischen Raum flankiert. Sie ist erste Adresse in der Stadt und geht eine Symbiose mit merkantilen Nutzungen ein.Obwohl Städte und Universitäten seither ganz unterschiedliche Transformationspro-zesse durchlaufen haben und zu großen und komplexen Gebilden – teils in der Größe von Kleinstädten – herangewachsen sind, be-einflussen sie sich wechselseitig (vgl. Jessen 2003). Die Verflechtung wird perspektivisch wohl eher noch an Bedeutung gewinnen, denn ein Charakteristikum der kompakten und dichten europäischen Stadt besteht auch darin, Nährboden für Innovationen zu sein. Und gerade diese Eigenschaft – Innova-tions- und Lernprozesse in Gesellschaft und Wirtschaft flexibel und kreativ zu gestalten – ist für die Wissensgesellschaft unabdingbar.

Wissenschaftsstädten mangelt es an urbaner Atmosphäre

Mit dem starken Wachstum der Universi-täten in den 1970er Jahren begann in Europa der Bau von Hochschulen auf der grünen Wiese, und die enge historische Verbindung von Stadt und Universität ging verloren. Der Wissenschaftsrat empfahl damals nach dem Vorbild des amerikanischen Campus große zusammenhängende Areale nach einheit-lichem Plan zu bauen. Zwar war das Leitbild schon damals der Bau von Wissenschafts-städten und somit einer Nutzungsmischung mit Studentenwohnheimen, Läden, Biblio-theken oder auch Sporteinrichtungen. Nur zeigt sich bis heute, dass sich urbane Leben-digkeit nicht von selbst einstellt, auch dann nicht, wenn mit sehr guten Architekten ge-baut wird und die Universitäten heute längst eingewachsen sind von Wohn-, Gewerbe- und Technologiegebieten.

Qualifizierung von Wissensquartieren

Mit dem Interesse der Wissensökonomie an urbaner Atmosphäre und Face-to-Face-Kontakten („tacit knowledge“) nimmt das Unbehagen an großen Monostrukturen mit funktionaler sowie sozialer Entmischung und hohem Verkehrsaufkommen zu. Städte wie Frankfurt, Zürich oder Wien entwickeln Konzepte für einen zeitgemäßen urbanen Campus. Wichtige Impulse kommen dabei auch aus der Wirtschaft, so bauen große Unternehmen wie Novartis in Basel, Thys-senKrupp in Essen oder Siemens in Mün-chen und Erlangen urbane Forschungs- und Entwicklungsquartiere. Alexandra den Heijer, die umfangreiche For-schungen zur europäischen Campusent-wicklung durchgeführt hat, macht deutlich, dass die Qualität der öffentlichen Räume

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E 1.11SCHULEN BILDEN NACHBARSCHAFTEN EXPERTENBEITRAG

Entlang wichtiger Wegeverbindungen bietet es sich an, hybride Gebäude mit publikumsintensiven Nut­zungen zu entwickeln, um Begegnung und Austausch innerhalb des Campus sowie mit der Stadtgesellschaft zu fördern. Erforderlich ist es in diesem Zusammen­hang, Hindernisse zu identifizieren und abzubauen

Menschen, die sich den Ort aneignen, brin-gen diese ein. Es gibt jedoch Nutzungen, die Frequenz und Interaktionen erzeugen und somit dazu beitragen, den Raum zu beleben, zum Beispiel ein Medienzentrum mit Café oder ein Parkhaus mit Fahrrad-Service-Sta-tion. Auch kann die Planung Einfluss nehmen auf die Nutzung und Gestaltung der Schwel-len- beziehungsweise Übergangszonen zwi-schen öffentlich und privat. Zentrale Aufgabe ist es in diesem Zusammenhang, wichtige Wege und Aufenthaltsbereiche mit einer be-lebten Schicht von Nutzungen zu säumen, die in den öffentlichen Raum ausstrahlen. Das kann und darf in Wissensquartieren keine endlose Folge von Läden und Cafés sein. Wenn es jedoch gelingt, diese Bereiche räumlich durch eine erhöhte Konturpräsenz der Gebäude zum öffentlichen Raum besser zu fassen und mit offenen Erdgeschosszonen eine Wechselbeziehung zwischen Innen- und Außenraum herzustellen – zum Beispiel durch Nachverdichtung und Umbau –, dann beste-hen gute Chancen für eine urbane Qualifizie-rung. Gut geeignet zur Belebung der Erdge-schosszone sind auch die unterschiedlichen studentischen Lernlandschaften, Biblio-theken und Ausstellungsflächen mit einer Ori-entierung zum Außenraum und mehr Flächen als bisher für Drittanbieter wie beispielsweise ein Fitnessstudio, das auch die benachbarte Quartiersbevölkerung nutzen kann.

Stadt und Wissensquartiere – auf dem Weg zu einem produktiven Dialog

Die Wachstumsbranchen der Wissensöko-nomie als Symbiose von Bildung, Forschung und Ökonomie werden die Hochschulen zu-künftig von der Peripherie ins Zentrum rü-cken, denn Bildung und Wissen entstehen erst durch Interaktion und Kommunikation. Die Entstehung und Pflege von Wissensnetz-werken sind ohne räumliche Nähe schwer

sowie der Architektur heute ein wichtiges Kriterium auch aus betriebswirtschaftlicher Perspektive ist, denn höhere Qualität er-mögliche es, flächensparend zu bauen. Gute Konzepte sind nutzungsflexibel und erlauben eine Mehrfachnutzung von Flächen, sowohl im Instituts- und Forschungsbereich als auch in Bezug auf studentische Arbeitsplätze. So braucht die Hochschule nicht mehr für je-den Mitarbeiter ein eigenes Büro vorzuhal-ten, sondern es gibt flexible Einheiten, die man buchen kann und die auch gemeinsam mit Forschungsinstituten genutzt werden können. Bei den studentischen Arbeitsplät-zen gilt es, qualifizierte Lernorte zu etablieren. Sie können aber durchaus flexibel organisiert sein – so muss es offene Zonen für kommu-nikatives Arbeiten geben genauso wie Zonen der Ruhe, im Innen- wie im Außenraum.

Der Campus als Stadt

In der gegenwärtigen Fachdiskussion in Euro pa ist das Leitbild der Stadtentwick-lung für Wissensquartiere ein urbaner Cam-pus mit qualitätsvollen öffentlichen Räumen, einer Anreichung mit publikumsintensiven Nutzungen und einer engen Verknüpfung mit der umgebenden Stadt. Dies gilt sowohl für Technologieparks als auch für den Umbau von Gewerbestandorten großer Unterneh-men sowie die Weiterentwicklung von Hoch-schulstandorten – so auch in Stuttgart.Für die Weiterentwicklung von Wissensquar-tieren können in Bestandsquartieren über-dimensionierte, nicht-integrierte Freiräume durch geschickte Nachverdichtung oder durch Abriss und Neubau zu zeitgemäßen Quartieren umgestaltet werden – in der Re-gel eine Gemeinschaftsaufgabe von Wis-senschaft, Wirtschaft, Stadtgesellschaft und Stadtpolitik.Urbanität im Sinne von Lebendigkeit lässt sich zwar nicht planen, denn erst die

vorstellbar. Hochschulen und Forschungs-institute können ihre Standorte zum Beispiel durch Mehrfachnutzung einzelner Flächen als kommunikative Orte gestalten, an denen Zukunftsfragen der Stadtregion und Gesell-schaft diskutiert oder neue Forschungser-gebnisse an besonderen Orten der Stadtge-sellschaft präsentiert werden. Hochschulen können zudem den Dialog über etablierte Programme wie KinderUni, Kinderferienpro-gramme oder Tag der offenen Tür, Tag der Wissenschaften oder Alumni-Netzwerke hi-naus durch neue Formate und Angebote zum lebenslangen Lernen erweitern.Das Ziel, an Wissensstandorten „mehr Stadt zu wagen“, klingt zwar primär als eine bau-lich-räumliche Aufgabe – wie ein städtebau-liches Zukunftsbild aussehen könnte, do-kumentieren in der Regel Masterpläne oder räumliche Leitbilder, wie sie in zahlreichen Städten in den letzten Jahren erarbeitet wur-den –, aber städtisches, urbanes Leben wird sich nur dann einstellen, wenn der europa-weit sichtbare Paradigmenwechsel dazu bei-trägt, dass die negativen Folgen der Funkti-onstrennung und fehlender stadträumlicher Qualitäten schrittweise durch Umbau und Nachverdichtung abgebaut werden.Dafür müssten Stadt und Land die Wissens-quartiere als urbane Labore der Stadtent-wicklung betrachten, an denen neue Formen des ressourcenschonenden Bauens, der in-terdisziplinären Kooperation, aber auch neue Finanzierungsmodelle ausprobiert werden können. Die verantwortlichen Planer in Stadt und Land müssten den Planungsprozess für Neubaumaßnahmen in Kooperation mit den Bildungs- und Forschungseinrichtungen so gestalten, dass sie nicht Bauherren für das jeweilige Gebäude (Optimierung des Einzel-gebäudes), sondern auch Choreografen für das Stadtquartier sind (Gebäude im städ-tischen Kontext). Jede geplante Veränderung

an Gebäuden und Nutzungen wäre also nach ihrem konkreten Beitrag zur Belebung des informellen Bildungsraums zu untersuchen. Dabei gelte es auch für die Weiterentwick-lung des Stadtraums Gelder zur Verfügung zu stellen. Auf die Bedeutung des öffentli-chen Raums als informellen Bildungs- und Lebensraum, der jeweils mitgestaltet wer-den will, müssten sich alle Akteure in einem dauerhaften Dialog der Stadtgesellschaft verständigen.

QUELLEN> Bott, Helmut (2015): UniverCity – Universität und Stadt. Broschüre

zur Ausstellung 2014. Stuttgart.> Christiaanse, Kees / Höger, Kerstin (Hg.) (2007): City and Campus.

Urban Design for the Knowledge Society. Zürich.> Heijer, Alexandra den (2012): Managing the university campus.

Exploring models for the future and supporting today’s decisions. > Jessen, Johann (Hg.) (2003): Editorial Stadt und Universität. In: Die

alte Stadt H. 1/2003, S. 1–6.> Stichweh, Rudolf (2012). Hochschulen wirken 24 Stunden auf eine

Region. Mitteilungsblatt Bildungs- und Kulturdepartement des Kantons Luzern. H. 2, S. 9.

Gebäude und Stadträume, bei denen Blickbeziehun­gen zwischen innen und außen gefördert werden, können positiven Einfluss nehmen auf eine Belebung am Campus sowie auf informelle Lernprozesse inner­halb der unterschiedlichen Bildungseinrichtungen und den Dialog mit der Stadtgesellschaft. Die Begegnungs­zonen beschränken sich dabei nicht nur auf Cafés und Läden, vielmehr gilt es vielfältige Lernlandschaften und Begegnungszonen über Fächer­ und Hierarchie­grenzen hinweg zu gestalten (zum Beispiel durch mehrfachnutzbare, offene Veranstaltungsräume oder offene Ausstellungsflächen)

Das Städtebau-Institut (SI) hat sich in den ver gangenen Jahren in mehreren Forschungs-projekten mit der Ent wick- lung von Universitäten be schäftigt. Dieser Beitrag basiert auf einem Forschungs projekt und begleitenden wissen-schaftlichen Symposien zum Masterplan Campus 2030 der Universität Stuttgart von Franz Pesch, Timo Kegel, Thorsten Stelter und Britta Hüttenhain

SCHULEN BILDEN NACHBARSCHAFTEN EXPERTENBEITRAG DR. BRITTA HÜTTENHAIN STÄDTEBAU-INSTITUT UNIVERSITÄT STUTTGART

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E 1.11

1 Statista: de.statista.com/statistik/daten/studie/30301/umfrage/

belegungen-der-volkshochschulkurse-im-jahr-seit-1962/ (29.01.2016)

2 Statistisches Bundesamt: www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/

GesellschaftStaat/BildungForschungKultur/Bildungsstand/Tabellen/

Bildungsabschluss.html (29.1.2016)

3 Grauel, Ralf / Klanten, Robert / Schwochow, Jan (2012): Deutschland

gestalten. Berlin.

4 Bundesstiftung Baukultur (Hg.) (2015): Baukulturbericht Gebaute

Lebensträume der Zukunft – Fokus Stadt.

5 Lücking-Michel, Claudia (2009): Partizipation von Kindern und

Jugendlichen – Zwischen Anspruch und Wirklichkeit.

www.bundesanzeiger-verlag.de (28.01.2016)

IM JAHRE 2004 HABEN LEDIGLICH 14 % DER KINDER UND JUGENDLICHEN HÄUFIG BEI PARTIZIPATIONSANGEBOTEN IN KOMMUNEN MITGEWIRKT, WÄHREND 60 % ANGABEN, NIE ODER SELTEN MITGEWIRKT ZU HABEN. JEDE/R VIERTE (26 %) WIRKTE MANCHMAL MIT, WIE ZUM BEISPIEL AN WOHNUMFELDVERBES-SERUNGEN ODER SPIELPLATZGESTALTUNGEN 5 14 %

MITWIRKEN

DIE NETZWERKKARTE DER AKTEURE DER BAUKULTUR ZEIGT, DASS DIE GEBAUTE UMWELT ZU EINEM THEMA VON ÖFFENTLICHEM INTERESSE BUNDES WEIT HERAN GE - WACHSEN IST 4

ZAHL DER KURSTEILNEHMER 1

6.40

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0

2008

ZAHL DER DEUTSCHEN, DIE

FÜR IHR KIND DAS GYMNASIUM ALS

WEITERFÜHRENDE SCHULART WÄHLEN

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GYMNASIUM | HAUPTSCHULE

75 % 0 %

ZAHL DER DEUTSCHEN, DIE FÜR IHR KIND DIE HAUPTSCHULE ALS WEITERFÜHRENDE SCHULART WÄHLEN WÜRDEN 3

ZAHL DER ABSCHLÜSSE VON DEUTSCHEN SCHULABGÄNGERN 2

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1962 2014 2014 2008 2014 2008 2014

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Bürger sind Experten ihrer Stadt und vor allem ihres Quartiers. Aus ihrem Alltag heraus kennen sie dessen Stärken und Schwächen und wissen, wo Handlungs-bedarf besteht. Gepaart mit individuellen Kompetenzen wird dieses Know-how sicht-bar und in die Nachbarschaft getragen, wenn Bürger ihre Stadt mitgestalten oder ihren Bedürfnissen dort Ausdruck verlei-hen. Kleine und kostengünstige Mitmach-projekte wie Musikveranstaltungen, Gärt-nern oder Picknick auf Pkw-Stellplätzen können Straßen und Plätze beleben.

Bürgerorientierte Planung geht vor Ort, fordert auf zum Gespräch, macht Lokal-wissen nutzbar und aktiviert bestehende Kompetenzen für Stadtentwicklung. Da-durch werden Bürger zu aktiven Stadtge-staltern. Gleichzeitig wird der öffentliche Raum aber auch zu einem Ort von Konfron-tationen, Konflikten und Kompromissen, die moderiert werden müssen. Der Vorteil solcher Prozesse: Stadtplaner und Bewoh-ner erweitern ihren Horizont und lernen voneinander.

BÜRGER BILDEN STADTRÄUMEWIE AKTIVE BEWOHNER UND STADTPLANER MIT- UND VONEINANDER LERNEN

Abb. 1 (oben) Welche Netzwerke bildet beispielsweise ein Verein im Berliner Stadtteil Gesundbrunnen? Die Abbildung zeigt, wie die Methode des Mappings die erhobenen Daten sichtbar macht

Abb. 2 (unten) Die Methode des Map pings erfordert eine syste­matische Vorgehensweise bei der Gewinnung von Informationen

Mapping als Tool der Stadtraumanalyse

Städte sind Orte voller Faszination. Men-schen strömen dorthin, um zu arbeiten, zu lernen, zu wohnen, zu kommunizieren – und letztendlich, um dort zu leben und sich selbst zu verwirklichen. Alle diese verschiedenen Aktivitäten und Perspektiven sind für Stadt-planer wichtig, um Planungsprozesse an-zustoßen, damit Städte für ihre Bewohner lebenswerter werden. Doch wie können sie diese Informationen bekommen?

Wie kann Wissen in der Stadt aufgespürt werden?

Im Rahmen eines Masterprojektes im Winter-semester 2015/16 setzten sich Studierende der TU Berlin mit dem Thema Bildung in der Stadt auseinander. Eine gewählte Methode zur Annäherung daran war das Mapping, also die kartografische und künstlerische Erfas-sung von Informationen. Im folgenden Beitrag sollen zwei Herangehensweisen näher be-schrieben und Antworten auf die Fragen ge-geben werden, was Mapping für Stadtplaner leisten kann, wie es funktioniert und welche Rückschlüsse wir damit in Bezug auf Bildung ziehen können. Im ersten Mapping (Abb. 3) wurde eine Grund- und Oberschule im Potsdamer Stadtteil „Am Stern“ im Hinblick auf außer-schulische Aktivitäten und Freizeitangebote qualitativ-subjektiv analysiert. Durch Beo-bachtungen vor Ort wurden verschiedene

Nutzungen festgestellt. Möglichkeiten zum Freizeit- und Vereinssport wurden dabei ebenso erhoben wie die Qualität der Aufent-haltsräume. Diese Informationen wurden mit Intensitäten sowie einer Einteilung der Nutz-ergruppen überlagert. Barrieren und Ver-schmutzung ergänzen die qualitativen Aussa-gen. Durch das Mapping wird deutlich, dass ein typischer Bildungsort nach der regulären Öffnungszeit von Personen als Ort der Kom-munikation und des Austausches genutzt wird und Zäune nicht unbedingt eine „Bil-dungsbarriere“ sind, da sie von den Nutzern überwunden werden. Der Stadtplaner lernt durch das Mapping, wie Stadträume im direkten Bezug auf Bildung in der Stadt in kleinem Maßstab genutzt werden und funktionieren. Allgemein können Bewe-gungsmuster oder Verhaltensweisen doku-mentiert werden und verborgenes Wissen

zutage fördern wie zum Beispiel Nutzungs-schwerpunkte von Schülern nach Schul-schluss. Die Verknüpfung der Beobachtungen mit dem konkreten Raum und der Zeit kön-nen ableitend Bildungsqualitäten oder Bil-dungsmissstände deutlich machen. Mit dem erworbenen Wissen können sich aber auch Bildungspotentiale aufzeigen lassen wie zum Beispiel das Entgrenzen von Bildungseinrich-tungen. Bisher nicht Sichtbares wird durch das Mapping im Raum greifbar und lässt den Planer Bildungszusammenhänge verstehen.Einen größeren Betrachtungsraum sowie eine andere Methode der Datenerhebung wurden im Beispiel des zweiten Mappings (Abb. 1) gewählt. Es zeigt die räumlichen und inhaltlichen Kooperationen eines Vereins im Stadtteil Gesundbrunnen und darüber hi-naus. Mit objektiver Datensammlung wird diese Betrachtung mit qualitativen Attribu-ten unterfüttert. Der Nachbarschaftsverein ist als informeller Bildungsort ein Treffpunkt zum Kommunizieren, Interagieren und Lernen. Es werden differenzierte Bildungsangebote für die Anwohner bereitgestellt. Durch das Map-ping lassen sich soziale Strukturen, Verbin-dungen und Netzwerke darlegen, die im ge-bauten öffentlichen Stadtraum nicht sichtbar sind. Das Aufspüren dieser Verknüpfungen ist ein wichtiger Schritt für Stadtplaner, um sich der Vielfalt an informellen Bildungsmulti-plikatoren bewusst zu werden.

Aufgespürte Bildung wird sichtbar gemacht

Die Methoden zeigen, welche Vielfalt Bil-dung hat und welche Wissensbestände dem Stadtplaner zugänglich gemacht werden können. Die angesprochene Faszination der Stadt – auch der unsichtbaren Stadt in Bezug auf Bildung – wird dadurch sichtbar gemacht. Die Verknüpfung der gesammelten Daten mit dem spezifischen kleinräumlichen Bezug in einem Mapping ist ein Bildungsprozess

seitens des Planers, der diese visuell ver-ständlich transportieren muss. Durch diesen Transport wird das Mapping an sich zu einem Wissens- und Informationsträger, durch den beispielsweise Rückschlüsse auf Verhaltens-weisen und Nutzungsgewohnheiten gezogen werden können. Das Mapping ist vielseitig und dient als Denk-anstoß. Es kann Missstände aufzeigen, Raum-wahrnehmung und gefühlte Orte darstellen, räumliche Nutzungen hinterfragen oder Ver-knüpfungen darlegen. Es kann als Erklärung und Diagnosemittel von stadt- und sozial-räumlichen Entwicklungen eingesetzt werden. Das Mapping bereichert den Entwurfspro-zess, indem es dem Planer hilft, zuvor vielleicht nicht sichtbare Verbindungen zu erkennen. Die multidimensionale Überlagerung sowie Visualisierung von Wahrnehmungen oder Daten zeichnet das Mapping als eine visuell greifbare Methode aus, die dem Stadtplaner viele Möglichkeiten gibt, Informationen neu zu verknüpfen, Bildungszusammenhänge zu beleuchten und neuartige Perspektiven ein-zunehmen, Potentiale aufzuzeigen, Annah-men zu bestätigen oder zu widerlegen sowie Entscheidungsprozesse zu begründen.

Abb. 3 Nach der qualitativ­subjektiven Untersuchung einer Potsdamer Grund­ und Oberschule macht das Mapping anschau­lich, wie intensiv Bildungsorte auch nach Schulschluss noch genutzt werden

Die kartografische und künstlerische Erfassung von Informationen kann verborgenes Wissen sichtbar machen

> Potsdam

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L 2.1BÜRGER BILDEN STADTRÄUME LEHRVERANSTALTUNG TU BERLIN, FG STÄDTEBAU UND SIEDLUNGSWESEN HENDRIK PREUSCHE ROMANO RICHTER

Den Alltag in ihrer neuen Heimat nahmen die geflüch­teten Kinder und Jugend­lichen mit Einwegkameras auf. Ihre Bilder wurden anschließend in einer Ausstel­lung den Erfurtern gezeigt

Die Teilnehmer eines Studienprojektes in Erfurt haben sich mit den Lebenswirklich-keiten von Flüchtlingen beschäftigt. Anlass waren die aktuellen Debatten rund um die Unterbringung und Inklusion von Flüchtlin-gen sowie die dramatischen Zustände in eini-gen deutschen Städten. Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, Aufmärsche der ThüGIDA (Thüringen gegen die Islamisierung des Abendlandes) und die Gründung der Erfur ter Bürgerversammlung gegen die kurz-zeitige Unterbringung von Flüchtlingen in der leer stehenden Schule am Erfurter Herren-berg haben die Studierenden bewegt, sich aus Sicht der Stadt- und Raumplanung inten-siv mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Wie sehen und erleben Neuankömm-linge den unbekannten Stadtraum, und was empfinden sie in ihrem Alltag?

Einheimische durchqueren die Stadt selbst-verständlich, da sie diese gut kennen und Teil ihres sozialen Gefüges sind. Viele Flüchtlinge hingegen sind mobilitätseingeschränkt und werden in ihren Gemeinschaftsunterkünften von der restlichen Stadtbevölkerung nahezu isoliert. Unter dem Titel „Zeig uns deine Stadt!“ wollten die Projektteilnehmer mit der Erfurter

Lessingschule als Kooperationspartnerin der Querschnittsaufgabe der Integration auf den Grund gehen. Die staatliche Gemeinschafts-schule unterrichtete zu diesem Zeitpunkt 16 Schüler im Alter zwischen 11 und 16 Jah-ren aus den Balkanstaaten Kosovo, Serbien und Mazedonien. Die jugendlichen Flücht-linge waren in einer sogenannten Vorschalt-klasse untergebracht, in der sie grundlegende Deutschkenntnisse erwerben sollten.Im Mai 2015 lernten die Projektteilnehmer die Schüler der Vorschaltklasse erstmals ken-nen. Um bestehende Sprachbarrieren zu überwinden, vermittelte eine Präsentation den Kindern bildhaft und spielerisch, was die Studierenden mit der Klasse vorhatten. An-schließend erhielt jedes Kind eine Einweg-kamera, um den Alltag und die Impressionen in und außerhalb der Schule sowie des Ge-meinschaftswohnheimes festzuhalten. Als Dankeschön dafür, dass die Schüler ihre Um-welt mit der Kamera dokumentierten, fand im Juni ein gemeinsamer Kreativ-Workshop im Wohnheim statt. An diesem Tag füllten die Jugendlichen Steckbriefe aus, in denen sie ihre persönlichen Geschichten von Flucht und Vertreibung sowie des Alltags in Erfurt erzählten.

Im Juli stellte die Projektgruppe die entwi-ckelten und ausgewerteten Fotos zusammen mit themenbezogenen Informationen auf ei-ner selbst organisierten Vernissage in der Erfurter Altstadt der Öffentlichkeit vor. Drei Wochen später zogen die Exponate in die Bi-bliothek der Erfurter Fachhochschule um. An-schließend sollte die Ausstellung noch mög-lichst lange durch die Stadt wandern und so breite Bevölkerungsschichten für das kom-plexe Thema sensibilisieren.

Flüchtlinge zeigen ihre Stadt

Mit der Wander­ausstellung wollen die Studierenden die Bevölkerung für die Lebenssituation der Flüchtlinge sensibilisieren

> Erfurt

Studierende der FH Erfurt ließen jugendliche Flüchtlinge mit Einwegkameras ihren Alltag dokumentieren

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L 2.2BÜRGER BILDEN STADTRÄUME LEHRVERANSTALTUNG FH ERFURT FG PLANUNGSRECHT UND PROJEKTENTWICKLUNG

„Epensteinplatz wegden-ken – neudenken“

Interviews und ein Detektivspiel gehörten zu der Feldforschung, mit der Studierende in Siegen die Nutzung des öffentlichen Raums untersuchten (Fotos rechts). Dabei identifizierten sie in der Siegener Innenstadt zwei nebeneinander liegende Areale, die „Oberstadt“ und die „Unterstadt“, die von der Bevölkerung jeweils ganz unterschiedlich wahrgenommen werden (Karte oben)

Im Sommersemester 2015 stand das Thema „Öffentlicher Raum als Bildungsraum“ im Mit-telpunkt eines Seminars an der Universität Sie-gen. Teilnehmer waren Bachelor-Studierende der Disziplinen Architektur und Soziale Arbeit. Der Diskussion im Seminar lag ein erweiterter Bildungsbegriff zugrunde, der sowohl formale und non-formale wie auch informelle Bildung umfasst. Die Studierenden diskutierten und erforschten, inwieweit öffentlicher Raum durch die Art und Weise, wie er gestaltet, genutzt und inszeniert wird, zu informellen Bildungs-möglichkeiten beitragen kann. Dazu lernten sie zunächst die notwendigen theoretischen Grundlagen kennen, in einem weiteren Schritt wendeten sie dann verschiedene Methoden in der Feldforschung praktisch an.

Wie werden Orte aus Nutzerperspektive beschrieben und bewertet? Welche Möglichkeiten des informellen Lernens sind vorhanden?

Dies waren zwei Fragen, denen die Teil-nehmer des Seminars nachgingen. Dafür suchten sie mittels einer Stadtteilbegehung im Zentrum der Stadt Siegen zunächst Orte heraus, die ihnen als Räume für potentielle Bildungs-Settings besonders geeignet er-schienen. An diesen befragten sie dann an zwei Tagen verschiedene Nutzer. Ziel der In-terviews war es, die Wahrnehmung öffent-licher Räume aus Nutzerperspektive ken-nenzulernen und Kriterien herauszuarbeiten, die Rückschlüsse auf die Anforderungen bei

der Planung und Gestaltung öffentlicher (Bil-dungs-)Räume geben. Darüber hinaus arbeiteten die Studierenden mit einer Jugendeinrichtung im Viertel zusam-men: Mittels eines zuvor im Seminar entwi-ckelten Detektivspiels durfte eine Gruppe von Kindern den Untersuchungsraum er-forschen. Die Seminarteilnehmer erhielten so die Möglichkeit, die Perspektive der Kin-der einzunehmen und deren Wahrnehmung kennenzulernen.Als Ergebnis der Befragungen konnten zwei Bereiche in der Innenstadt identifiziert wer-den, die sich in eine „Oberstadt“ und eine „Unterstadt“ einteilen lassen. Die Unterstadt, die durch großflächigen Einzelhandel in Form von Shopping-Malls, durch den Bahnhof und den zentralen Omnibusbahnhof gekennzeich-net ist, aber auch durch kulturelle Angebote wie zum Beispiel das Theater, wird von den Befragten als Aufenthaltsort deutlich weniger geschätzt. „Es fehlen attraktive Aufenthalts-bereiche im öffentlichen Raum“, ist ein oft ge-nannter Aspekt. Gleichzeitig wurden einige Bereiche als Angsträume von den Befragten benannt. Obwohl es in der Unterstadt deutlich mehr Angebote und Einkaufsmöglichkeiten gibt als in der Oberstadt, erfreut sich letztere aufgrund ihrer Kleinteiligkeit und der Qualität der Gebäude und Räume der größeren Be-liebtheit. Als besonders positiv empfanden die Interviewpartner die historische Altstadt, das Obere Schloss mit seinem Garten, die gastro-nomischen Angebote und die Beschaulich-keit. Als weitere Qualitäten nannten sie den Wochen markt, die Stadtbibliothek sowie den öffentlichen Raum rund um die Nikolaikirche, wo sich vielfältige Sitzgelegenheiten befinden.

Mit anderen Augen

> Siegen

Studierende erforschen mit den Siegenern neue Perspektiven auf ihre Stadt

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L 2.3BÜRGER BILDEN STADTRÄUME LEHRVERANSTALTUNG UNIVERSITÄT SIEGEN FG SOZIALISATION, JUGENDBILDUNG, LEBENSLAUFFORSCHUNG

[Eigen] Initiative Epensteinplatz

„Baustelle“ verwandelt. Zusätzlich werden dystopische und provokative Bauvorhaben wie die Schaffung von neuen Parkplätzen, der Bau eines zweispurigen Kreisverkehrs oder das Anlegen einer hundefreien Freiflä-che überzogen auf Bauschildern dargestellt. Ziel dieser Intervention ist es, den Dialog mit und zwischen den Anwohnern anzustoßen. Zudem soll ein Impuls zur (gemeinsamen) Auseinandersetzung mit den Potentialen des Raumes gesetzt werden. Ein Gedanke des Experiments war es, den Menschen im Kiez die Angst zu nehmen und ihnen zu zeigen, dass Veränderung und Ge-staltung nicht fremdbestimmt sein müssen, sondern mit Partizipation verbunden sein können. Zudem kann die Gestaltung des ei-genen Lebensraums über die Grenze der Türschwelle hinausgehen und der eigene Bil-dungshorizont durch den gemeinschaftlichen Austausch erweitert werden. Stattgefunden hat das Experiment dann jedoch nicht, denn die Bedenken des Quartiersmanagements (QM) Letteplatz waren zu groß, um ein Einver-ständnis geben zu können. „So eine Aktion könnten die Anwohner hier missverstehen.

Die Menschen, die hier leben, sind veräng-stigt oder aggressiv. Mit Partizipation spielt man nicht, und ihr verschreckt die Leute zu sehr, sodass sie in Zukunft gar nicht mehr auf uns zukommen könnten“, war die Aussage in einem Gespräch im September 2015. Das QM berichtete über den Epensteinplatz als einen sehr kritischen und konfliktgeladenen Bereich. Die Arbeit dort sei bisher stets er-folglos gewesen, und jegliche Versuche, auf die Bewohnerschaft zuzugehen, waren gescheitert. Da das Experiment nicht wie geplant durch-geführt werden konnte, wurden stattdessen durch die Projektgruppe potentielle Reakti-onen vonseiten der Bewohner ausformuliert und miteinander in Verbindung gesetzt, um daraus Handlungsmöglichkeiten zur Initiie-rung und Förderung lokaler Eigeninitiativen abzuleiten. Im Idealszenario wird aufgezeigt, wie sich einzelne Bausteine prozessual wei-terentwickeln und somit Austausch und Kom-munikation aufgewertet werden könnten. Die temporären Bespielungen könnten sich ver-stetigen und zeigen einen selbstdefinierten Aneignungsprozess.

Was würde passieren, wenn man den Bewohnern einen Platz wie den Epensteinplatz entzieht, den sie nicht nutzen? Visualisieren ließ sich der Versuch allerdings nur mit einer Fotomontage, denn wegen Bedenken des Quartiersmanagements blieb es bei einem Gedankenexperiment

Der Epensteinplatz ist ein Raum zwischen urbaner Dichte und Leere. Im Osten des Lettekiezes gelegen, ist der Platz durch he-terogene Bebauungstypologien und die lo-kalen Bewohnerstrukturen gekennzeichnet. Dieser ist durch Heterogenität im Hinblick auf Alter, Herkunft sowie die Ursachen der Wohnstandortwahl geprägt und kann einem überwiegend sozial- und kapitalschwachen Milieu zugeordnet werden. Außerdem sug-gerieren die Materialität des Platzes und die

kreisförmig arrangierte Baumbepflanzung eine scheinbar romantische Idylle, wobei der Platz durch fehlende Ausstattung und fehlendes Stadtmobiliar nur als Transitraum wahrgenommen wird. Bewohnerinterviews bestärkten diese Wahrnehmung, wobei die Gesprächspartner vor allem die Gestaltung des öffentlichen Raums als Problem nannten.

Was passiert, wenn ein nicht genutzter Freiraum dem Viertel entzogen wird?

Durch diese Fragestellung ist die Idee zu einem 24h-Experiment „Epensteinplatz weg-denken – neudenken“ entstanden. Die Idee: Der Epensteinplatz wird in eine unpassierbare

Wie könnten Bewohner auf Veränderungen des Platzes reagieren und wie könnte der jeweilige Prozess weiter ablaufen?

Konzepte und Interventionen ergänzen das Nutzungsangebot am Epensteinplatz

Studierende wollen Anwohner mit einem Kunst-Experiment zum Nachdenken anregen

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S 2.4BÜRGER BILDEN STADTRÄUME SOMMERSCHULE JENNIFER MÜNNER OPHELIA SUCHAN ISABELLE TISCHER

„Epensteinplatz wegden-ken – neudenken“

am Anfang und Ende der Lettezeile. Hier wird darauf verwiesen, dass der Raum zur freien Nutzung offensteht und lediglich die beiden Regeln „Achte auf deinen Nächsten“ und „Achte auf Sauberkeit“ beachtet wer-den müssen. Danach kann aus einem Mit-einander von lokalem Engagement und un-terstützenden Informationen zu möglichen Nutzungen ein temporärer, sich aber auch verstetigender partizipativer Aneignungs-prozess geschaffen werden. Im Pionierraum sollen Stadtbewohner lernen, dass der öf-fentliche Raum eine Vielzahl von Nutzungen ermöglicht und Nutzungskonflikte durch ein gestärktes soziales Miteinander verringert werden können.

Aktueller Zustand der Lettezeile

Die Lettezeile nach den vorbereitenden Maßnahmen

Perspektivische Aneignung der Lettezeile

Neugestaltete öffentliche Räume im Lettekiez werden von den lokalen Nutzern gut ange-nommen, wobei durch das Miteinander ein Bildungsmoment entsteht, bei dem alle Nut-zergruppen voneinander lernen. Bei der Ana-lyse der Aneignungsprozesse wurde deutlich, dass die Bespielung dieser Plätze durch eine Vielzahl von Verbots- und Gebotsschildern bestimmt bzw. eingegrenzt wird. Außerdem nimmt die Gestaltung starken Einfluss auf die Möglichkeiten der Aneignung, was bei einer Zunahme von Bauprojekten im öffentlichen Raum das Nutzungsverhalten einschränken kann und nur mehr für spezifische Gruppen von Interesse ist.

Braucht ein Bildungsquartier Räume, in denen keine bestimmte Nutzung durch Gestaltung vorgeschrieben ist und die sich die Stadtbewohner frei aneignen können?

Dieser Raum ist der „Pionierraum“. Er ent-steht im untergenutzten öffentlichen Raum, der bereinigt, entleert und für eine unbe-stimmte Benutzung aufbereitet wird. Anders als gestaltete Park- und Spielflächen enthält dieser Raum keine Nutzungsangebote wie etwa Bänke oder Spielgeräte. Er ist neutral, es gibt jedoch eine Markierung, die ihn deut-lich als Pionierfläche erkennbar macht. Diesen „Pionierraum“ verstehen wir als In-strument. Im Sinne eines öffentlichen Bil-dungsprozesses soll er dazu beitragen, das Bewusstsein der Stadtbewohner für den

städtischen Raum zu schärfen und sie auffor-dern, den öffentlichen Raum so vielfältig wie möglich zu nutzen. Wie ein Pionierraum die Nutzung für einen öf-fentlichen Raum erhöhen kann, haben wir an-hand eines Betrachtungsraums im Lettekiez zwischen Letteallee und Mittelbruchzeile aus-probiert, wobei aufgezeigt werden soll, wie sich ein solcher Raumtypus entwickeln kann. Im ersten Schritt – der Aufbereitung des Raumes – wird der ungenutzte Spielplatz an der Letteallee entfernt und die wildgewach-senen Sträucher zwischen Simmelstraße und Mittelbruchzeile zurückgeschnitten. Im näch-sten Schritt erfolgt die Ausweisung des Pio-nierraumes durch eine Bodenbeschriftung

Pionierraum Lettezeile

Die Entwicklungsstufen des Pionierraums sind fließend und können auch übersprungen werden

Wie öffentlicher Raum so aufbereitet werden kann, dass Stadtbewohner ihn eigenverantwortlich nutzen

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S 2.5BÜRGER BILDEN STADTRÄUME SOMMERSCHULE REEMA HEL SASKIA NIKLAS HANNES WALDENBURGER

Mitmach­Boxen an Later­nen (links) und Aufrufe auf dem Gehweg (rechts) – hier im Lettekiez – sind nur einige Möglichkeiten, um das Interesse der Anwohner an einer Neugestaltung des Straßenraums zu wecken

Für die Neugestaltung des Straßenraums gibt es zahlreiche Instrumente. Die Grafik zeigt den mehrstufigen Prozess, in dessen Rahmen sie angewandt und evaluiert werden können

Zum Straßenraum gehören die Fahrbahnen für den Kraftfahrzeugverkehr, aber auch Geh-wege und anliegende Flächen, die zum Par-ken, Anliefern oder dem Aufenthalt dienen. Bei der Begehung des Lettekiezes konnten zwei markante Beobachtungen gemacht werden: Der Straßenraum ist in weiten Teilen des Quartiers wenig oder gar nicht gestal-tet. So sind beispielsweise in der Kühlewein-straße außer den alten Straßenbäumen zwi-schen Pankower Allee und Simmelstraße keine Gestaltungselemente zu finden. Im Gegensatz dazu gibt es jedoch eine Vielzahl von üppig bepflanzten Balkonen, welche den Übergang zum öffentlichen Raum schmü-cken. Die Diskrepanz zwischen dem loka-len Wissen und der Gestaltung öffentlicher Räume ist also sehr groß.

Wie können städtebauliche Aufwer-tungsmaßnahmen mit Bewohneraktivi-täten stärker kombiniert werden?

Das Konzept „Transitraum zu Wohnraum“ be-schäftigt sich mit der Gestaltung des öffent-lichen Raums, welcher auch fernab des Let-teplatzes und der Mittelbruchzeile Potentiale aufweist. Der Straßenraum soll dabei eine pro-minente Rolle einnehmen und über die Funktion des Transitraums hinaus auch als Aufenthalts-raum genutzt werden. Dabei ist es unumgäng-lich, mit den Bewohnern zu sprechen und

deren Wünsche, Ideen und Anregungen in die Planung einzubeziehen. Basierend auf der An-nahme aus der Analyse, dass die Bewohner des Quartiers ein breites Spektrum an Wissen besitzen, baut sich das Konzept nicht als städ-tebauliche Planung unter Einbezug der Öffent-lichkeit auf. Vielmehr sieht das Konzept die Ak-tivierung des endogenen Wissens vor, welches in weiteren Schritten zu einer eigenständigen Gestaltung des Straßenraums durch die Be-wohner führt. Als intermediärer Akteur muss der Planer dabei vor allem koordinieren, mode-rieren und vermitteln. Der Entwurf beinhaltet vier Phasen, welche fließend ineinander übergehen. Den Aus-gangspunkt bildet die Kühleweinstraße, die trotz städtebaulicher Maßnahmen am Lette-platz und der Mittelbruchzeile sowie dem ver-bindenden Charakter noch Potentiale zur Ver-besserung aufweist. Die erste Phase versucht eine neue Wahrnehmung für den Straßen-raum und seine Möglichkeiten herbeizuführen. Dabei werden Blickpunkte mit unterschied-lichen Maßnahmen auf die Besonderheiten wie die bepflanzten Balkone, die Baumvielfalt oder den Platz gelenkt. Darauf aufbauend ist die zweite Phase durch ein höheres Engage-ment der Bewohner gekennzeichnet, die zum Beispiel Seedbombs erhalten, die sie selbst einpflanzen und gießen. Dabei ist es notwen-dig, dass die Bewohner ihr eigenes Wissen anwenden und eventuell auch mit ande-ren Nutzern der Aktion austauschen. In der nächsten Phase werden gemeinsam mit den Bewohnern Ideen und Konzepte entwickelt, die den Straßenraum aufwerten sollen. Die-ser Projekt- bzw. Prozessablauf könnte dann später auch auf andere Straßenzüge im Kiez übertragen werden.

Transitraum zu Wohnraum

Im Zuge der einzelnen Gestaltungsphasen wird der Straßenraum immer mehr zu einem Ort des Austauschs und Miteinanders

Studierende entwickeln Ideen, wie Anwohner Vorgärten, Gehwege und Straßenflächen gestalten können

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S 2.6BÜRGER BILDEN STADTRÄUME SOMMERSCHULE JONAS HÖLZEL HENDRIK PREUSCHE CHARLOTTE O‘HARA

Bewohner informieren und

werden informiert

Letti sammelt Informationen

und verbreitet sie

Kurze Befragungen ergaben, dass im kinder-reichen Lettekiez zwar viele Veranstaltungen stattfinden, Familien aber häufig Events ver-passen, da sie gar nicht oder zu spät von ih-nen erfahren. Außerdem konnten sprachliche Barrieren ausgemacht werden. Der Lettekiez wurde anschließend auf Veranstaltungsorte hin untersucht und in welcher Form diese ihre Ankündigungen in die Bevölkerung trans-portieren. Schnell wurde deutlich, dass über verschiedene Kanäle informiert wird wie zum Beispiel Kiezzeitungen, Internet, Aushänge oder Mundpropaganda.

Wie kann ein nachbarschaftliches Kommunikationssystem entwickelt wer-den, um Bildungsangebote vor Ort ins Bewusstsein der Bewohner zu bringen?

Konzeptionell wird vorgeschlagen, für Eltern und ihre Kinder im Kiez eine interaktive Info-tafel aufzustellen, die über regelmäßige Ver-anstaltungsreihen wie auch unregelmäßige Einzelveranstaltungen im Lettekiez informiert. Dabei soll auf Sprache gänzlich verzichtet und ausschließlich mit Piktogrammen gear-beitet werden, um eine niederschwellige Ver-mittlung zu ermöglichen. Als „Eyecatcher“ sollen sich diese Tafeln auch zu Aufenthalts-räumen erweitern und einen Austausch zwi-schen der Bewohnerschaft fördern. Wenn

Kiezbewohner Initiativen, Workshops, Kurse oder ähnliches organisieren beziehungsweise anbieten, können sie Informationen zu diesen Veranstaltungen über die Infotafeln selbst-ständig verbreiten. Dabei können sie mitei-nander und voneinander lernen, wodurch der Bildungsaspekt im Kiez verstärkt wird. Ein wiederkehrendes Symbol könnte zur Imagebildung beitragen – insbesondere dann, wenn es an Häuserwänden auftaucht und Ver-anstaltungsorte damit gekennzeichnet wer-den. Es würden nicht nur die Aktivitäten und Orte im Kiez sichtbarer, vielmehr würden auch die Wahrnehmung und das Bewusstsein für die eigene Wohnumgebung geschärft. Ein mögliches Symbol könnte der kleine Fuchs „Letti“ sein. Es wurde ausgewählt, da Reineke ein historisch verwendeter Name für einen Fuchs ist und sich der Lettekiez in Reinicken-dorf befindet. Unter dem Titel „FRAG LETTI“ könnte der Fuchs an den drei meistbesuchten Aufenthaltsorten im Kiez sichtbar werden: Schäfersee, Mittelbruchzeile und Letteplatz sind wichtige Quartierstreffpunkte und Orte der Identifikation und damit geeignete Standorte für interaktive Infotafeln. Diese könnten durch Sitzmöglichkeiten ergänzt werden. Wichtige Veranstaltungsorte könnten außerdem mit dem Letti-Sticker im öffentlichen Raum sicht-barer gemacht werden. Letti wäre Ausdruck ei-ner gemeinsamen Identität. Als Symbol würde er die Vernetzung der einzelnen Institutionen im Lettekiez fördern und die Neugier und die Auf-merksamkeit der Bewohner steigern.

Kleiner Fuchs, großes Symbol

Die Konzeptskizze ver anschaulicht, wie durch Infotafeln oder Sticker – beispielsweise mit dem Fuchskopf „Letti“ – Familien auf Veranstal­tungsorte hingewiesen werden können

Ein nachbarschaftliches Kommunikations system kann Kiez-Bewohnern helfen, sich vor Ort zu informieren und zu orientieren

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S 2.7BÜRGER BILDEN STADTRÄUME SOMMERSCHULE BERNADETTE BLOCH LARA GRÜNSCHLAG SVEN MESSERSCHMIDT FRANZISKA ZIBELL

Im Herbst 2014 wurde der ambitionierte Masterplan der Architekten kleyer.koblitz.letzel.freivogel und der Landschaftsarchi-tekten plancontext für einen Schulcampus im Berliner Südosten bewilligt. Der Cam-pus Efeuweg wird den Schulen, Kinder- und Jugendeinrichtungen in der Groß-wohnsiedlung Gropiusstadt ermöglichen, ihre Flächen gemeinsam besser zu nutzen und darüber hinaus der Nachbarschaft und dem Quartier Räume für Bildung, Sport und Freizeit anzubieten. Ziel ist, das, was als „Bildungslandschaft“ zumeist nur eine Metapher bleibt, als erlebbaren Raum zu gestalten: eine schönere und bessere Stadt durch Räume, die Lust machen, zu denken, zu lernen und gemeinsam etwas zu unternehmen. Dieses Projekt ist auf un-gewöhnlichem Weg entstanden – nämlich durch einen gemeinschaftsbasierten Pla-nungsprozess, in welchem die Koopera-tionspartner vielleicht sogar zu Kollabora-teuren geworden sind.

Die Ausgangslage

Der Masterplan baut auf Ergebnissen der kooperativen Planung auf, die unter Lei-tung zweier Fachgebiete des Instituts für Architektur der TU Berlin seit 2011 mit allen Partnern im Rahmen der Akademie einer neuen Gropiusstadt (Stollmann/Bartoli/Heyden 2013 a, b) geleistet wurde, und kann als erfolgreiche Zusammenarbeit von universitärer Lehre, Zivilgesellschaft, Kom-munen und Bestandshaltern gelten. Als wir 2010 vom Bildungsverbund Gropiusstadt angefragt wurden, ihn mit unseren Studie-renden bei der Planung zu unterstützen, war die Ausgangslage definiert: Die Schu-len planten, für einen möglichst konsekuti-ven Bildungsverlauf der Schüler die Bedin-gungen zu verbessern und ihre Gelände für den Ganztagsschulbetrieb attraktiver zu machen. Ihre aneinandergrenzenden Areale, teils in Verwaltung des Bezirks Neu-kölln, teils in Hand des Senats, waren je-doch durch Zäune und Bepflanzung von-einander isoliert und der erschließende Efeuweg eher vernachlässigt als einladend. Uns als Ortsfremde interessierte zum einen der Ort. Wir wollten das Leben und den All-tag in einer der bekanntesten Nachkriegs-siedlungen Berlins besser verstehen. Zum anderen sahen wir die Möglichkeit, in einer Abfolge von Werkstätten einen koopera-tiven Planungsprozess zu leiten, welcher den bisher nur wenig beachteten Stimmen

Jörg Stollmann über einen Schulcampus für die Gropiusstadt in Berlin

Von der Kooperation zur Kollaboration

Die BaumstadtDrei typologische Elemente bilden die „Baumstadt“ des Campus Efeuweg: Der Großsolitär – wie etwa beispielhaft die Unité d’Habitation –, das „Haus am Platz“ – wie etwa das auf das öffentliche „Forum“ ausgerichtete Ensemble des Palazzo degli Uffizi – und der Idealplan der Gropiusstadt als ein von großen Bäumen geprägter Landschaftsraum

Die vom Buschwerk freige­stellten Stämme erlauben einen freien Rund­um­Blick unterhalb der Kronen

Die Tools

Zwischen die vorhandenen Bäume wird ein neues Raster hoch stämmiger Bäume gepflanzt

„Bei Kooperation treffen verschiedene Akteure aufeinander, die zusammenarbeiten und die sich nach der gemeinsamen Tätigkeit wieder in intakte Einheiten auflösen. Kollaboration meint dagegen eine Zusammenarbeit, bei der die Akteure einsehen, dass sie selbst im Prozess verändert werden, und diesen Wandel sogar begrüßen.“ (Terkessidis 2015)

SEITE 68 | 69BÜRGER BILDEN STADTRÄUME EXPERTENBEITRAG E 2.8

Als erster Bauabschnitt ist eine Brückenkon struk tion vorgesehen, die als Verbindungsbauwerk den Campus durchläuft

der Nutzer mehr Gewicht in der Gestaltung der Zukunft geben könnte. Das Projekt fand die Unterstützung des Bezirks, insbe-sondere durch die Bezirksrätin Franziska Giffey sowie den Vorstand der Wohnungs-baugesellschaft degewo, Frank Bielka. Deren inhaltliche und auch finanzielle Rü-ckendeckung gab uns den notwendigen Spielraum, eine große Anzahl Beteiligter in den Prozess einzubinden und entspre-chend zu koordinieren. Der große Nach-teil bestand in der fehlenden Finanzierung zukünftiger Umbaumaßnahmen zu dem Zeitpunkt, als wir die Kooperation star-teten. Dies ist in der Regel die schlechteste Voraussetzung für einen Beteiligungspro-zess. Als wir jedoch vom Bildungsverbund Gropiusstadt beauftragt wurden, waren alle über diese Rahmenbedingungen in-formiert, und die Suche nach Teilfinanzie-rungen wurde Aufgabe aller Partner: etwa siebzig Personen, dreißig Ämter und Insti-tutionen sowie Kinder und Jugendliche.

Der Prozess

Wir begleiteten den Prozess von den er-sten Beteiligungswerkstätten 2011 bis zur Vorbereitung der Ausschreibung des Ma-sterplanes 2014. In diesem Zeitraum von drei Jahren gab es eine große Anzahl von Teilprojekten, deren Darstellung hier den Rahmen sprengen würde. Deswegen soll hier lediglich auf die drei ersten Phasen und deren Ergebnisse eingegangen werden, in welchen die Beteiligten das Grundkonzept für den Campus erarbeiteten. Die erste Phase bestand aus vorberei-tenden Werkstätten zwischen den wis-senschaftlichen Teams der TU Berlin und der Bauhaus-Universität Weimar sowie den Nutzern am Efeuweg. In vorberei-tenden Vier-Augen-Gesprächen hatten wir die Erwartungen der Nutzer diskutiert und protokolliert. Aufgabe der folgenden

Ideen-Werkstatt war es nun, dass alle Be-teiligten in Arbeitsgruppen die Programme und Nutzungen zeichnerisch in einem Plan verorteten. So entstanden drei mögliche Projektszenarien. Entscheidend war, dass wir von diesem Schritt an nicht mehr in in-dividuellen Forderungen und Ansprüchen denken wollten, sondern alle aufforderten, zuerst an das zu denken, was sie als Raum, Zeitressource, Unterhaltsmanagement oder auch Wissen zu geben in der Lage und be-reit waren. Dieser Perspektivenwechsel hat unserer Ansicht nach den Grundstein für die erfolgreiche Kollaboration gelegt. In der zweiten Phase bildeten die Erkennt-nisse der ersten die Grundlage für ein stu-dentisches Entwurfsemester. Die Stu-dierenden sollten die Szenarien kritisch weiterentwickeln und ein städtebauliches Gesamtkonzept entwerfen. Dabei hatten sie völlige akademische Freiheit. Sie konn-ten sich auch den Forderungen der Koope-rationspartner widersetzen, aber mussten regelmäßig ihre Projekte nicht nur ihren Be-treuern, sondern auch dem Team des Cam-pus Efeuweg vorstellen. Drei Werkstätten waren in dieser Phase entscheidend. Die Kartierungswerkstatt fand mit den Kindern und Jugendlichen der Grundschule und der Sekundarschule statt. Sie trugen ihre Orts-kenntnisse bei und zeichneten ihre alltäg-lichen Handlungs- und Aufenthaltsräume, um die Qualitäten des Ortes auch jenseits des reinen Schulbetriebes darzustellen. Ebenso begannen die Schüler in dieser Werkstatt die Entwurfside en der Studieren-den zu kommentieren.

36 Tools und ein Strategieentwicklungsplan

In der Rückkopplungswerkstatt waren alle Erwachsenen, Kinder und Jugendlichen eingebunden. Fünfzehn studentische Pro-jekte wurden anhand von Modellen und

KONZEPTION R. Körby, T. Kurtz (citydidactics), Zentraleinrichtung Wissenschaftliche Weiterbildung und Kooperation (ZEWK), Kooperations- und Beratungsstelle für Umweltfragen (kubus)

JURY V. Faucheur, F. Kyriakopoulos, A. Ruby

PARTNER UND FINANZIERUNGdegewo AG, Bezirksamt Neukölln

KOOPERATIONS-PARTNERQuartiersmanagement Gropiusstadt, Schulen, Jugend- und Sporteinrichtungen des Bildungsverbundes Gropiusstadt koordiniert durch Eduard Heußen

UNTERSTÜTZT DURCH Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt Berlin

Die GrenzgängerDas Gebäude verläuft exakt entlang der vorhandenen Grundstücksgrenzen und wird damit ebenso selbst zur Grenze, wie es über seine Ein­ und Ausgänge den Austausch zwischen den Flächen reguliert und ein neues Nutzungsangebot schafft. Das sechs Meter tiefe, zwei­geschossige Gebäude soll abschnittsweise errichtet werden

Die Tools

Treppen erschließen verschiedene öffentliche wie private Bereiche des Campus

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E 2.8BÜRGER BILDEN STADTRÄUME EXPERTENBEITRAG

Der Zaun des Efeuwegs wird seitlich versetzt, sodass ein acht Meter breiter Streifen entsteht

Plänen vorgestellt und ausführlich in Hin-sicht auf Potentiale, Nutzungskonflikte und Realisierbarkeit diskutiert. Die Ergebnisse der Werkstatt konnten, aber mussten nicht in die studentische Planung einfließen. Viel-mehr diente die Rückkoppelungswerkstatt dazu, untereinander Vertrauen aufzubauen und das Projekt wirklich als etwas Gemein-sames zu begreifen. Die Schlusspräsen-tation der Arbeiten der Studierenden fand im akademischen Rahmen statt. Externe Experten, die bisher mit dem Kooperati-onsprojekt nicht vertraut waren, beurteil-ten die Projekte und diskutierten diese mit Senatsbaudirektorin Regula Lüscher. Vier Projekte wurden von dieser Jury dem Team Campus Efeuweg zur Weiterbearbeitung empfohlen. Die Studierenden jedoch ver-standen ihre Einzelprojekte nur als mög-liche Antworten und waren sich bewusst, dass keines der Projekte unmittelbar als Masterplan realisiert werden würde. Des-wegen schlugen sie vor, aus jedem Projekt Einzelmaßnahmen – 36 Tools – zu extrahie-ren, welche auch mit wenig Aufwand von den Partnern kurzfristig realisiert werden könnten. Diese sollten dann Teil eines über-geordneten Strategieentwicklungsplans werden, der Finanzierungs- und Realisie-rungsmöglichkeiten zusammenführte. Die Projekte und die 36 Tools wurden der Öf-fentlichkeit im Rahmen einer Ausstellung vor Ort im Gemeinschaftshaus der Gropi-usstadt vorgestellt: „Geht nicht gibt’s nicht! Campus Efeuweg – Die Zukunft der Gropi-usstadt mitgestalten.“ In diesem Rahmen fand die große Evaluierungswerkstatt mit allen Beteiligten statt, in welcher die wich-tigsten Bestandteile der räumlichen, pro-grammatischen und finanziellen Thesen des Strategieentwicklungsplans gemein-sam beschlossen wurden. In der dritten Phase des Projektes ar-beiteten die akademischen Teams am

Strategieentwicklungsplan, welcher dann auch die professionelle Ausschreibung des Masterplans vorbereitete. Dessen wesent-liche Bestandteile waren die Aufwertung des öffentlichen Raumes des Efeuwegs, die Gestaltung der gemeinsam genutzten Schulflächen, eine neue Erschließung des Geländes aus Süd-Westen und die langfri-stige Gestaltung eines zentralen Campus Forums auch mit einem öffentlichen, an die Nachbarschaft gerichteten Freizeit- und Bil-dungsangebot. Jede dieser Maßnahmen wurde durch Mittelakquisition und beglei-tende Projekte der Partner gestützt bezie-hunsgweise ergänzt: Anträge auf Quartiers-fondmittel, Wettbewerbe und begleitende Forschungsprojekte der TU Berlin zu Betei-ligung und Stadtentwicklung, insbesondere das Projekt Soko Klima: Stadt gestalten mit Plan. (www.soko-klima.de)Die Zeichnungen und Visualisierungen, die diesen kurzen Bericht bebildern, sol-len einen Eindruck geben von der Vielfalt der gemeinsam entwickelten Räume und Konzepte für den Campus Efeuweg. Diese Zusammenarbeit hat aber nicht nur den Raum entwickelt, sondern auch die Men-schen und Institutionen, die an ihm betei-ligt waren. Offensichtlich waren zu Anfang die Konflikte. Viele hatten die berechtigte Angst, im Prozess etwas zu verlieren: die Schulen an Selbstbestimmung und die be-teiligten Ämter an Entscheidungsmacht. Darüber ließe sich ein weiterer Bericht schreiben. Wesentlich aber war, dass sich alle im Prozess der Zusammenarbeit ver-ändern mussten. Aus einer anfänglichen Kooperation ist über die Schritte der Betei-ligung, die Möglichkeit des Teilens und die Suche nach einer gemeinsamen Identität ehemals unabhängiger Partner ein neues Gemeinsames entstanden, eine Kollabo-ration. Das stellt für uns den besonderen Wert des Projektes Campus Efeuweg dar.

QUELLEN> Stollmann, Jörg / Bartoli, Sandra / Heyden, Mathias (2013a):

Akademie einer neuen Gropiusstadt. Die Gründung – Machen. Berlin.

> Stollmann, Jörg / Bartoli, Sandra / Heyden, Mathias (2013b): Akademie einer neuen Gropiusstadt. Die Gründung – Denken. Berlin.

> Terkessidis, Mark (2015): Kollaboration. Berlin.

InstantplanManchmal ist die Welt bereits fast vollkommen, und ein Projekt besteht nur darin, die Arbeit genau dann einzustellen, wenn alles gerade perfekt genug ist. Der „Instantplan“ analysiert die Nutzungsintensität des Campus Efeuweg und der angrenzenden Flächen – es folgt eine akribische Dokumentation der Ausgestaltung der Freiräume. Der Entwurf bietet pragmatische Empfehlungen, die auf unmittelbaren Effekt bei minimalem Aufwand ausgerichtet sind und die Banalität des Ortes in eine Art Hyper­realität verwandeln

Die Tools

Ein Nachbarschaftskiosk schaltet zwischen Kita und öffentlichem Raum und dient als Elterntreff

AKADEMISCHES TEAM> FG für Städtebau und

Urbanisierung TU Berlin: J. Stollmann, S. Bartoli, M. Heyden, A. Kaspar, M. Pape (kubus), F. Kyriakopoulos, H. Guimar, J. Maierski, K. Schömer

> FG für Entwerfen und Baukonstruktion TU Berlin: D. Fioretti, D. Bruns

> FG für Entwerfen und Raumgestaltung, Bauhaus Universität Weimar: J. M. Gutierrez Marquez, K. Bonhag-De Rosa, T. Boettger

> Neunundzwanzig Studierende der Architektur und des Urban Design der TU Berlin und der Bauhaus-Universität Weimar

SEITE 72 | 73BÜRGER BILDEN STADTRÄUME EXPERTENBEITRAG PROF. JÖRG STOLLMANN INSTITUT FÜR ARCHITEKTUR TU BERLIN

E 2.8

Um die Zukunft gestaltbar zu erhalten, kommt es heute darauf an, nicht auf den großen Investor zu warten, auf die Ausnah-mesituation, wie sie beispielsweise eine Inter-nationale Bauausstellung bietet, sondern dort anzusetzen, wo bereits Kräfte vorhanden sind – vor Ort, im alltäglichen Arbeiten. Ge-rade Hochschulen und Studierende – längst nicht nur aus den planenden Berufen – kön-nen zu solchen neuen Wegen in der Stadt-entwicklung einiges beitragen. Vor allem in kleineren und Mittelstädten jenseits der soge-nannten „Kreativmetropolen“ können es sich die stadtgestaltenden Protagonisten und alle anderen, die sich Veränderungen wünschen, nicht erlauben, unter sich zu bleiben oder sich in Szenen zurückzuziehen, denn dazu sind sie zu wenige. Sie müssen mit anderen aus unterschiedlichen Disziplinen, Herkünf-ten, Fachbereichen oder auch Weltanschau-ungen ebenso wie mit Politik und Verwaltung zusammenarbeiten, um ihre Ziele zu errei-chen. Hieraus entstehen neue Ideen, Kräfte und Koalitionen, welche die Lehre in die Pra-xis bringen und Praxis in die Lehre.

Mark Michaeli von der TU München, Lehr-stuhl Sustainable Urbanism, arbeitet regel-mäßig in fallstudienbezogenen Lernallianzen (CbLA) als Instrument des gemeinsamen Lernens und Forschens vor allem in kleine-ren Städten Bayerns. Er beschreibt die Aus-gangssituation so: „Während in den Groß-städten mit ihren strategischen Abteilungen in den Planungs- und Baureferaten Impulse für neue Entwicklungen häufig noch aus der öffentlichen Verwaltung heraus initiiert wer-den können, findet sich im dichten Verwal-tungsalltag kleinerer und mittlerer Städte nur wenig Raum für die unterstützende Bewälti-gung eines Findungs- und Diskussionspro-zesses zur Zukunftsentwicklung der Stadt. Hier nun haben Universitäten und Hochschu-len den Städten und Gemeinden etwas anzu-bieten. Unter Studierenden und jungen Wis-senschaftlern nicht nur im Städtebau finden sich jene, die bereit sind, auch über die nicht alltäglichen Lösungen für die Zukunft nachzu-denken und in produktiver Konfrontation mit einem realen Kontext ihre eigene Kreativität einzusetzen und Verantwortung zu überneh-men. Dass hierbei neben der forscherischen Ambition auch das Interesse an einer praxis-orientierten universitären Ausbildung am kon-kreten Objekt und Fallbeispiel durchscheint, ist kein Zufall.“ (Below/Mark 2015)

Wie das funktionieren kann, zeigt das Beispiel von Dessau-Roßlau

Die in Sachsen-Anhalt gelegene Stadt hat schon lange mit dem demografischen Wan-del zu kämpfen. Dessau-Roßlau findet sich in Bezug auf die Stimmung in der Bevölke-rung und den Altersdurchschnitt regelmäßig auf einem der letzten Plätze im Städteranking wieder. Die Verankerung von jungen Men-schen in der Stadt ist marginal, was sich auch in einem sehr überschaubaren Angebot für diese Bevölkerungsgruppe widerspiegelt.

Sally Below über Hochschulen als Partner der Stadtentwicklung und Kooperations-projekte, die Dessau-Roßlau und Merseburg attraktiver für Studierende machen

Stadt als Campus

Am Standort Dessau verorten sich die Fach-bereiche Design und AFG – Architektur, Fa-cility Management und Geoinformation der Hochschule Anhalt. Hier kümmern sich ins-gesamt 47 Professoren um rund 1 400 Stu-dierende, davon 300 im Bereich Design. Doch pendeln die Studierenden und Profes-soren – ebenso wie die Mitarbeiter des Um-weltbundesamtes – in der Regel aus Berlin oder Leipzig nach Dessau-Roßlau, kaum je-mand lässt sich dort nieder. Außerdem trennt die Bahnlinie den eigentlichen Stadtkern von der Hochschule und dem Bauhaus ab, so-dass die Stadt aus zwei ganz unterschied-lichen Welten besteht. Einen ersten Schritt über die trennende Bahnlinie ist der Fachbe-reich Design der Hochschule gegangen, um auszutesten, was in der Stadt möglich ist.

Vom VorOrt-Laden zum VorOrt-Haus

Durch den hohen Leerstand ist der Leidens-druck auf städtischer Seite hoch. Mit dem Angebot, leer stehende Immobilien in der In-nenstadt für studentische Projekte zu nutzen, kam die Stadt auf die Hochschule zu. Nach einer temporären Intervention hat sich direkt gegenüber dem Rathaus mit einem entwi-ckelten VorOrt-Laden eine offene Plattform für den Dialog zwischen studentischen Sze-nen und engagierten Dessauer Stadtma-chern etabliert. Zunächst gedacht als Zwi-schennutzung, war er von 2012 bis 2015 ein etablierter Raum für Diskussionen, Ausstel-lungen, Konzerte, Lesungen, Coworking, Designmärkte, Workshops und vieles mehr. Samstags traf man sich hier nachbarschaft-lich bei Kaffee und Kuchen. Ein neuer Stand-ort für die Fortführung dieser Arbeit wird der-zeit gesucht.Seit 2012 gibt es auch das VorOrt-Haus, das viele Dessauer noch als Volkshochschule be-ziehunsgweise Pestalozzischule kennen. Es stand zwölf Jahre lang leer und ist jetzt ein

neues Bindeglied zwischen Stadt und Hoch-schule, in der Nähe des Bahnhofs und doch bisher im Abseits gelegen. Aus der Frage he-raus, was den Studierenden fehlt, wurden die Räume des Hauses erobert und qualifiziert. Es entstanden eine Küche, eine Bibliothek, ein Speiseraum mit Bar, ein Designshop, ein Garten, ein Coworking-Space und nicht zu-letzt ein Designbüro. Inzwischen kommen auch Nachbarn dorthin: Eine Gruppe von jungen Müttern nutzt mit ihren Kindern ei-nen Raum zum gemeinsamen Werken, eine jugendliche Percussionband probt dort, und Designstudierende entwickeln Projekte mit einem Trickfilmer, der sich im Haus eine Werkstatt eingerichtet hat. Ein Verein, in dem auch Ladeninhaber aus dem Viertel Mitglied sind, organisiert inzwischen das Geschehen und wird das Gebäude zukünftig mit einem Erbbaupachtvertrag langfristig nutzen.

Lokale Stadtentwicklungs- und Kreativwirtschaftsförderung

Das Prinzip VorOrt funktioniert durch Sicht-barkeit, Performation und Kommunikation. VorOrt ist nie fertig, sondern entwickelt sich mit seinen Nutzern. VorOrt ist deshalb nicht nur der Name, sondern das Programm. Aus Gedankenspielen wurde Wirklichkeit, ein Ne-benjob, eine sinnvolle Aufgabe, eine beruf-liche Perspektive – vor Ort. Ziel ist es, Des-sau-Roßlau als lebens- und liebenswerten Ort für potentielle Studierende und Neubür-ger zu qualifizieren. Inzwischen gibt es eine Kooperationsvereinbarung zwischen Stadt und Hochschule. Diese sieht vor, dass die Vertragspartner auf dem Gebiet der Kreativ-wirtschaftsförderung, der Stadtentwicklung, des Stadtmarketings und der Tourismusför-derung zusammenarbeiten. Alexander Lech, als Student bei VorOrt da-bei und nach Studienabschluss Gründer des BÜROHALLO, das im VorOrt-Haus arbeitet,

Die Pestalozzischule in Dessau wurde nach langem Leerstand zu einem Treffpunkt für Studierende und Anwohner umgebaut

Durch Veranstaltungen wie dieses Gartendinner machen Menschen gemein­schaftlich die Innenstadt von Merseburg attraktiver

SEITE 74 | 75BÜRGER BILDEN STADTRÄUME EXPERTENBEITRAG E 2.9

sagt dazu: „Dieses kleine schnuckelige De-signbüro hab ich jetzt ja auch hier. Ich will hier bleiben, weil das auch meine Region ist, nicht meine Stadt, aber meine Region. Hier kenne ich mich aus. Jetzt hab ich eine Kompetenz durch mein Studium, die sich viel besser ver-binden lässt mit etwas, das man schon kennt, als irgendwo im Blauen nochmal von Null an-zufangen, während hier schon ein Netzwerk vorhanden ist.“ Das Motto des Büros: „Weil wir früher Pioniere sein mussten und heute Pioniere sein wollen.“ (Below/Schmidt 2014)Mittlerweile ist das Modell VorOrt integraler Bestandteil sowohl des Kulturentwicklungs-plans als auch des „Integrierten Stadtent-wicklungskonzepts“. Die Zusammenarbeit zwischen den vielen beteiligten Parteien ist nicht immer einfach. Aber VorOrt hat den Campus dauerhaft in die Stadt hinein erwei-tert, es hat Stadt und Hochschulalltag facet-tenreicher gemacht – und zeigt jeden Tag aufs Neue, was möglich ist, wenn die rich-tigen Kräfte zusammenkommen.

Beispiel: Merseburg

Die Stadt Merseburg und ihre Hochschule lei-den ebenso wie Dessau-Roßlau unter einem enormen Pendelverkehr, hier in Richtung Halle und Leipzig. Schon seit langem werden geeignete Strategien zur Milieuentwicklung und kulturellen Aktivierung der Innenstadt diskutiert. Im Rahmen des Seminars „Kul-turpädagogische Arbeit: Stadtkultur“ entwi-ckelten Studierende der Kultur- und Medien-pädagogik nun verschiedene Konzepte zur Belebung innerstädtischer Gebäude.

Studentisches Wohnen und Kultur als Angebote in der Innenstadt

Eines der Objekte war die ehemalige Dom-Apotheke. Sie war viele Jahre ungenutzt und ist Teil eines Straßenzugs, der stark durch Leerstand belastet ist, obwohl er das Scharnier zwischen touristisch interessanten

Punkten darstellt. Das Konzept für die Wie-derbelebung der ehemaligen Apotheke ver-band die Idee von alternativem Wohnraum mit einem Raum für Kultur. Hauptziel war es, mehr studentisches Leben in der Innenstadt zu verankern und spürbar zu machen. Im An-schluss an eine Testphase konnte mit dem Eigentümer und einem Trägerverein ein Ver-trag geschlossen werden, der dauerhaft stu-dentisches Wohnen und stadtkulturelle Nut-zungen ermöglicht.Das Gebäude erfährt seit 2012 eine Wie-derbelebung durch junge Leute, die in der oberen Etage wohnen, im Erdgeschoss Kul-tur schaffen und Raum für weitere Aktivi-täten zur Verfügung stellen. Die unkonven-tionelle Wohnmöglichkeit und der Charme der alten Apotheke ziehen Studierende in die Innenstadt. Als „Domstraße 2“ wurde das Gebäude fester Anlaufpunkt für Krea-tive, Freidenker und Interessierte und ist als selbst organisiertes Wohn- und Kulturpro-jekt mit „öffentlichem Wohnzimmer“ ein dau-erhafter, lebendiger Bestandteil im Stadtle-ben. Ein vielfältiges Programm richtet sich an verschiedene Adressaten und ist auf die Räume und ihre speziellen Gegebenheiten zugeschnitten, etwa das Format „Hinterhof.Musik“. Ziel ist es, ein breites Publikum zu er-reichen und kulturelle Alternativen anzubie-ten  – von Konzerten über politische Diskus-sionen und Bandauftritten bis hin zu Partys, Reisevorträgen und einer Biografieschreib-werkstatt für Senioren. In der kleinstäd-tischen Umgebung entsteht dadurch eine Nische für Kleinkunst und Kultur, wie sie ge-wöhnlich nur in Großstädten zu finden ist. Einer der wichtigsten Partner ist der Eigentü-mer: Er hatte den ersten Schritt auf die Stadt-verwaltung und auf die Hochschule zu gemacht und seine Immobilie für alternative Nutzungs-konzepte zur Verfügung gestellt. Bei den Bau-arbeiten legte er selbst mit Hand an, er unter-stützte die Studierenden in ihren Vorhaben und

steht nach einer Phase des gemeinsamen Ler-nens, wie eine solche Kooperation funktionie-ren kann, weiterhin mit Rat und Tat zur Seite. Langfristiges Ziel ist es, Stadt und Hochschule noch enger miteinander zu verbinden, mög-lichst mit einer Vernetzung aller Ebenen, vom alltäglichen Leben über das Hochschul- und Stadtmarketing bis zur Kultur.

Unterschiedliche Herangehensweisen – vergleichbare Haltungen

Ein wichtiger Aspekt für den Erfolg dieser Pro-jekte ist, dass sie die Chance hatten, nicht von vornherein auf einen Erfolg festgelegt zu wer-den. Auf dem Prozess lag nicht der Druck, dass alles vorzeig- und abrechenbar ist. Gleichzeitig haben die Akteure nur sehr geringe finanzielle Ressourcen, sind stark aufeinander angewie-sen und benötigen für die Verstetigung Mittel, die nicht leicht zu beschaffen sind.

Doch diese Ansätze zeigen, was geht. Die Zusammenarbeit lässt eine neue Stadt-In-telligenz entstehen. Und sie kann ein neues „Stadt-Gefühl“ kreieren, das auch das Image der Stadt nach außen verändert. Im Idealfall entsteht eine dauerhafte Dynamik, die auch das gängige Nörgeln über Widrigkeiten zu einem Blick auf das Stadtwohl verändert. Das Möglichkeitsfeld zwischen alltäglichem Verwaltungshandeln und verordnetem Aus-nahmezustand ist groß: mit Konzentration auf das Handlungswissen der Verwaltung, den Alltag der Stadtbewohner und die Wünsche und Bedürfnisse von Studierenden. Die sonst getrennten Handlungsansätze Bottom-up und Top-down werden zu zwei Seiten ein und derselben Medaille. Für Politik und Verwal-tung bedeuten solche Projekte in ihrer Stadt neue, nicht immer einfache Wege, aber auch große Chancen.

QUELLEN> Below, Sally / Michaeli, Mark (2015): Auf dem

Weg zur Stadt als Campus. In: aviso Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst in Bayern. Heft 4/2015.

> Below, Sally / Schmidt, Rainer (Hg.) (2014): Auf dem Weg zur Stadt als Campus. Berlin.

Die Alte Apotheke ist zum Teil Kulturtreff geworden, bietet aber auch Wohnraum für Studierende

Wie ein Graben trennt die Bahnlinie Berlin­Leipzig die Dessauer Innenstadt vom Campus. Studierende und andere Akteure arbeiten daran, die Stadt wieder als Ganzes erlebbar zu machen

WEITERE INFORMATIONEN ZU DEN PROJEKTENwww.vorort.design. hs-anhalt.dewww.domstr2.com

SEITE 76 | 77BÜRGER BILDEN STADTRÄUME EXPERTENBEITRAG SALLY BELOW INHABERIN DES BÜROS SBCA, BERLIN STADT ALS CAMPUS E.V.

E 2.9

Die „bildende Stadt“ und der „öffentliche Raum“ sind zwei Dinge, die miteinander zu tun haben. Die bildende Stadt findet im öf-fentlichen Raum statt, so lässt sich diese Verbindung zunächst benennen. Möglicher-weise geht die Beziehung aber auch noch darüber hinaus. Vielleicht, so lässt sich die These von der „bildenden Stadt“ interpre-tieren, bildet der Städtebau den öffentlichen Raum. Dieses „bilden“ lässt sich auf zweier-lei Art deuten. Zum einen, so lautet das all-gemeine städtebauliche Selbstverständnis, bildet Städtebau den öffentlichen Raum im Sinne von „formieren“: Städtebau formt den öffentlichen Raum, davon gehen Städtebauer in aller Regel aus, und diese Sichtweise wird auch mit dem Wort von der bildenden Stadt bedient. Die These scheint aber noch etwas anderes zu behaupten, nämlich dass der Städtebau den öffentlichen Raum im Sinne von „informieren“ bildet, dass er ihn also et-was lehrt, ihn erzieht und ermächtigt. Diese These lohnt meines Erachtens einer etwas eingehenderen Betrachtung und einer Unter-suchung, wie das Verhältnis von Städtebau und öffentlichem Raum überhaupt ausgestal-tet ist. Um sich dieser Beziehung nähern zu können, ist zunächst jedoch noch eine wei-tere Frage anzugehen, und zwar die Frage, was der öffentliche Raum eigentlich ist. Aus

städtebaulicher Perspektive wird beim Nach-denken über den öffentlichen Raum meist auf eine öffentlich zugängliche, umbaute räum-liche Gegebenheit geschlossen, also etwa auf einen öffentlichen Platz in einer Stadt. In anderen Wissensgebieten, zum Beispiel in der politischen Theorie, hat der öffentliche Raum eine etwas andere und weiter gefasste Bedeutung. Aus diesem Grunde möchte ich hier – bei meinem Versuch, der „bildenden Stadt“ auf den Grund zu gehen – einen Blick auf die ideengeschichtliche Grundierung des Konzepts vom öffentlichen Raum werfen. Von der dort erreichten Position aus werde ich dann ein weiteres Mal fragen, was der öffent-liche Raum mit der „bildenden Stadt“ zu tun hat, und auch, wer in der bildenden Stadt ei-gentlich wen bildet.Eine berühmte Ausarbeitung zum öffentlichen Raum findet sich bei Hannah Arendt, deren Denken einen Kreuzungspunkt zwischen po-litischer Philosophie und dem urbanistischen Feld besetzt. Arendts Arbeiten sind in der politischen Theorie und zum Teil auch in den Sozialwissenschaften äußerst einflussreich, während der von ihr zentral gestellte Begriff des öffentlichen Raums ein Schlüsselkon-zept im Urbanismus ist. Arendt entwickelt ihre Theorie des öffentlichen Raums in „The human condition“ (1958) [1960 auf Deutsch als „Vita activa“ veröffentlicht]. Der öffentliche Raum ist für Arendt in erster Linie ein Raum des Dazwischen. Arendt umschreibt diesen Bereich mit dem Bild des Tischs: Das Dazwi-schen besetzt den Zwischenraum „in dem

Nikolai Roskamm über den „öffentlichen Raum“ bei Hannah Arendt und eine Perspektive auf die These von der „bildenden Stadt“

Richtungswechsel

gleichen Sinne, in dem etwa ein Tisch zwi-schen denen steht, die um ihn herum sitzen; wie jedes Zwischen verbindet und trennt die Welt diejenigen, denen sie jeweils gemein-sam ist“ (Arendt 1967, S. 52). Der öffentliche Raum versammelt – wie der Tisch – „Men-schen und verhindert gleichzeitig, daß sie gleichsam über- und ineinander fallen“. Im öffentlichen Raum treffen sich die Menschen, und zugleich generiert er die Kraft, durch die sie erst zueinander gebracht werden. Diese Kraft aber ist keineswegs etwas Baulich-Räum liches, sondern das Öffentliche selbst. Das Öffentliche, und das ist entscheidend, ist für Arendt eine Substanz, die im gemein-samen Handeln entsteht, im Tun und im Sprechen, beim Teilen und Entwickeln von Ideen. Das Wesen des öffentlichen Raums ist in einem Moment des Anfangens und Begin-nens zu finden, im Moment, in dem kollek-tives Handeln entsteht. Dieser Moment ist schwer zu greifen, er ist seiner Natur nach et-was Flüchtiges, das sich schwer verorten und noch schwerer festhalten lässt.Diese Überlegung ist die Prämisse, die das Ereignis und den öffentlichen Raum untrenn-bar miteinander verbindet (vgl. Arendt 1961). Erst im Moment des Ereignisses öffnet sich der spezifische Raum der Öffentlichkeit, ein momentaner und temporärer Raum, ein

Raum, der vom Ereignis her zu denken ist, ein Raum, der den „Geist der Revolution“ at-met (Marchart 2005, S. 148). Diese Öffnung ermöglicht den Zugang zu einem eigenen Be-reich, zu einer eigenen Sphäre, und zwar zu der Sphäre des Politischen. Zu ergründen, was das Politische ist, ist dabei das eigent-liche Ziel von Arendts Denken. Ihre Idee vom öffentlichen Raum, so lässt es sich vielleicht formulieren, ist immer eingebettet in ihr Nach-denken über das Politische. Dieses Poli-tische – stets eng verbunden mit dem Begriff des Öffentlichen – ist für Arendt der Inhalt des öffentlichen Raums, das, was in ihm statt-findet. Und das Politische gründet darauf, dass es keinen linearen, vorhersagbaren und notwendigen Ablauf von Geschichte gibt. Das Politische braucht die Möglichkeit einer Entscheidung für das eine oder das andere. Ohne diese Möglichkeit gibt es kein Politi-sches, ohne diese Möglichkeit verliert der öffentliche Raum seinen Inhalt. Die Essenz des öffentlichen Raums ist das Politische und beide – das Politische wie der öffentliche Raum – sind nur möglich, wenn nicht alles schon feststeht und vorherbestimmt ist. Ein öffentlicher Raum ist bei Arendt nur dann vor-stellbar, wenn in ihm das Politische zuhause ist, und dieses wiederum beruht darauf, dass verschiedene Entscheidungsmöglichkeiten existieren. Öffentlicher Raum ist nur dann vorhanden, wenn Alternativen möglich sind, wenn nichts Absolutes vorgegeben und vor-herbestimmt ist.Der öffentliche Raum, das ist die andere Seite der Medaille, hat in Arendts politischer Theorie aber auch noch eine weitere Eigen-schaft, nämlich eine sedimentierende und stabilisierende Seite (vgl. dazu auch Butler 2011 und Jaegi 2008). Hier kommt der öffent-liche Raum dann auch in seiner um- und gebauten, also in seiner städtebaulichen

SEITE 78 | 79BÜRGER BILDEN STADTRÄUME EXPERTENBEITRAG E 2.10

Ausprägung zur Geltung. Mit dem gebauten öffentlichen Raum wird versucht, Dauerhaf-tigkeit und Robustheit herzustellen, und zwar ursprünglich mit dem Ziel, das Politische zu beschützen. Diese Eigenschaft verdeutlicht Arendt mit ihrer Analyse des öffentlichen Raums in der Antike. Die polis und ihr öffent-licher Raum waren, so schreibt Arendt, eine Bühne des gemeinsamen und freien Austau-sches unter Gleichen – eine Konzeption, die zu massiven Vorwürfen gegen Arendt geführt hat, sie habe die Ungleichen und die vom grie chischen Stadtstaat Ausgeschlossenen vergessen (vgl. Benhabib 1996). An dieser Stelle möchte ich aber etwas anderes, näm-lich den Gedanken der Verräumlichung ver-folgen. Der öffentliche Raum war, so Arendts Analyse, für die Griechen (genauso wie die res publica für die Römer) vor allem eine Ga-rantie gegen die Endlichkeit des Lebens der Einzelnen, er war der Raum, der „gegen alles nur Vergängliche geschützt und dem relativ Dauerhaften vorbehalten“ war (Arendt 1967, S. 55). Die Verräumlichung des öffentlichen Raums erhält in der Theorie von Arendt damit die Aufgabe, das Ephemere zu verstetigen, das Flüchtige einzuhegen; aber nicht, um dieses Unstetige zu bekämpfen (das Flüch-tige zu verfestigen), sondern um es (als Un-stetiges) am Leben zu halten. Die Verräumli-chung – die Einhegung mit Mauern genauso wie die Einhegung durch Institutionen und Gesetze – wird für Arendt damit zu einem Faktor, der verhindert, dass das öffentliche und politische Momentum nicht gleich wieder verpufft.

Zusammengenommen ist der öffentliche Raum bei Arendt doppelt konstituiert: Zum einen entsteht er durch gemeinsames per-formatives und flüchtiges Handeln und bein-haltet das Politische. Zum anderen kann er dauerhaft nur durch eine Verräumlichung be-stehen, die bewirkt, dass das Politische und Öffentliche die Chance bekommen, den Mo-ment zu überdauern. Arendt identifiziert da-mit zwei grundlegend gegenläufige Antriebs-kräfte, die im öffentlichen Raum wirken: das Flüchtige und Performative auf der einen und das Stabilisierende und Verfestigende auf der anderen Seite. Der öffentliche Raum ist gleichsam das Ergebnis von (Ver-)Handlun-gen, wie er auch (zumindest potentiell) diese Handlungen mit Verräumlichungen beschüt-zen kann. Der Moment des Handelns und des Sprechens, so lautet das Argument von Arendt, konnte im antiken Griechenland nur durch den stabilisierenden Schutz der Mau-ern und Gesetze der polis überleben (zumin-dest eine Zeit lang). Das flüchtige Politische ist den verfestigten Verräumlichungen eigent-lich entgegengesetzt, aber es braucht sie, um länger als für nur einen Moment existieren zu können. Arendts öffentlicher Raum verbindet damit gewissermaßen den städtebaulichen Aspekt mit einer politisch-theoretischen Fas-sung. Der öffentliche Raum wird von ihr auch baulich und physisch bestimmt, aber nicht so sehr innerlich (nicht „wesenshaft“), sondern äußerlich, als Unterstützung für eine Versteti-gung seiner Inhalte. Für die anfangs angekündigte Erkundung des Verhältnisses von Städtebau und öffent-lichem Raum und auch für die Frage, wer in der bildenden Stadt eigentlich wen bil-det, bleibt Arendts Konzeption nicht ohne Wirkung. Die Mauern der polis sind aus dieser Perspektive gar nicht das, was den

öffentlichen Raum wirklich errichtet. Zugleich scheint das Städtebauliche von diesem Standpunkt aus generell nicht unbedingt ge-eignet zu sein, die Substanz des öffentlichen Raums – das Öffentliche und das Politische – zu formen (auch nicht im Sinne von „akti-vieren“ oder „initiieren“). Im Gegenteil läuft städtebauliche Aktivität immer Gefahr, den öffentlichen Raum zu schließen (die konsti-tutive Leerstelle zu füllen), etwa indem sie ihn zubaut. Der öffentliche Raum muss aber, folgt man Hannah Arendt, ein unbesetzter ereig-nisoffener Zwischenraum sein, um die Mög-lichkeit zu handeln, erst zu ermöglichen. Was Städtebau versuchen kann, ist demnach we-niger, einen öffentlichen Raum neu zu schaf-fen, als sich zu bemühen, das Öffentliche des Raums zu erkennen und zu beschützen.Städtebau bildet den öffentlichen Raum also vielleicht gar nicht, und zwar in keiner der bei-den Wortbedeutungen von „bilden“: Erstens scheint Städtebau den öffentlichen Raum nicht herzustellen – der öffentliche Raum ent-steht als Moment des Handelns (als Öffentli-ches und Politisches) und nicht durch städ-tebauliche Verräumlichungen. Zweitens kann Städtebau den öffentlichen Raum möglicher-weise auch gar nichts lehren – eher (besten-falls) verhält es sich umgekehrt. Städtebau wird vielmehr vom öffentlichen Raum gebildet

und das wiederum in zweifacher Hinsicht: Städtebau ist nämlich – zumindest dann, wenn er nicht von oben verordnet oder im stillen Kämmerlein entworfen wird – zum ei-nen selbst eine Form von Handeln. Städte-bau entsteht in seiner kollektiven beziehungs-weise demokratischen Ausformung erst im und durch den öffentlichen Raum (aus ihm heraus), der öffentliche Raum formt Städte-bau zu einem potentiell emanzipatorischen Projekt. Zum anderen bildet der öffentliche Raum den Städtebau, indem er ihn (potenti-ell) etwas lehrt. Städtebau hat zum Ziel, in das Städtische einzugreifen und die urbane Rea-lität zu formen, zum Positiven zu verändern. Dazu braucht er aber zunächst Kenntnisse über das, worin er eingreift. Und diese Kennt-nisse finden sich im öffentlichen Raum. Erst wenn Städtebau den öffentlichen Raum als eigenen Lernraum begreift, kann dort über-haupt ein Zugang zu dem gefunden werden, in das eingegriffen werden soll: in die urbane Praxis und Realität. Städtebau lehrt daher weniger den öffentlichen Raum etwas, viel-mehr lernt er in ihm. Was sich zeigt, wenn die politische Theorie von Hannah Arendt und ihr Begriff vom öf-fentlichen Raum befragt wird, ist damit tat-sächlich eine Umkehrung der Wirkrichtung der These von der bildenden Stadt: Der Städ-tebau bildet nicht den öffentlichen Raum, sondern er wird in ihm und von ihm gebil-det. Erst wenn er sich solcherart gebildet hat, wenn er herausgefunden hat, worin das Öffentliche des öffentlichen Raums besteht, erst dann kann Städtebau versuchen, seiner eigentlichen Bestimmung nachzukommen: dieses Öffentliche zu schützen, den Raum offen zu halten, Alternativen zuzulassen und aufzuzeigen.

QUELLEN> Arendt, Hannah (1967): Vita activa. München.> Arendt, Hannah (1961): Between past and future.

Six exercises in political thought. New York.> Benhabib, Sayla (1996): The Reluctant Modernism

of Hannah Arendt. Thousands Oaks.> Butler, Judith (2011): Bodies in alliance and the

politics of the street. 2011. Mary Flexner Lectureship at Bryn Mawr College.

> Jaeggi, Rahel (2008): Wie weiter mit Hannah Arendt? Hamburg.

> Marchart, Oliver (2005): Neu beginnen. Wien.

SEITE 80 | 81BÜRGER BILDEN STADTRÄUME EXPERTENBEITRAG PROF. DR. HABIL. NIKOLAI ROSKAMM FH ERFURT TU WIEN (VISITING PROFESSOR)

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1 Uni Bielefeld (1982): Abenteuerspielplatz. de.wikipedia.org/wiki/

Abenteuerspielplatz#cite_note-11 (04.02.2016).

Anthes, Ralf: Abenteuerspielplätze.

www.spielplatznet.de/k/abenteuerspielplatz (20.12.2015).

2 Schroeder, Joachim (2012): Schulen für schwierige Lebenslagen.

Münster. Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg.

www.kus-projekt.de/ (29.01.2016).

3 Bundesverband der Natur- und Waldkindergärten.

www.bvnw.de/uber-uns/ (29.01.2016).

4 Unfallkasse Nordrhein-Westfalen (Hg.) (2008): Kinder unterwegs im

Straßenverkehr. Düsseldorf.

5 Koch, Karl-Hermann (1998): Der Schulweg ist Teil der Schule! Ein

Plädoyer für seine kindgerechte Gestaltung. In: Die deutsche Schule.

S. 485–501.

6 ADAC-Zentrale (Hg.) (2007): ADACsignale. Ausgabe 25.

7 Schimansky, Sophie (2012): Kinder schaffen den Schulweg alleine.

www.zeit.de/auto/2012-09/verkehrserziehung-schulweg (26.01.2016).

PROZENTSATZ VON ERSTKLÄSSLERN, DIE SELBSTSTÄNDIG ZUR SCHULE GEHEN 7

JEDER 10. SCHÜLER WIRD IM LAUFE DER SCHULZEIT BEI EINEM VERKEHRSUNFALL VERLETZT 6

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GRUNDSCHUL KINDER, DIE IHREN SCHULWEG NICHT MEHR KENNEN, WEIL SIE VON IHREN ELTERN MIT DEM AUTO GEBRACHT UND ABGEHOLT WERDEN 5

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IM STRASSENVERKEHR GETÖTETE KINDER PRO 100.000 EINWOHNER UNTER 15 JAHREN IN DEN JAHREN 1970 UND 2004 IN AUSGEWÄHLTEN EUROPÄISCHEN LÄNDERN 4

SCHULRECHTLICH ANERKANNTE KLASSENZIMMER BEFINDEN SICH Z.  B. IN 2

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GRUNDSCHULKINDER EMPFINDEN IHREN SCHULWEG ALS 6

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ABENTEUERSPIELPLÄTZE BIETEN BETREUTE SPIELANGEBOTE, ABER AUCH SELBST GESTALTBARE ERLEBNISSPIELRÄUME, IN DENEN KINDER BAUEN, TÖPFERN, MALEN, KOCHEN ODER TIERE FÜTTERN KÖNNEN 1

NATUR- UND WALDKINDERGÄRTEN BESTEHEN IN DEUTSCHLAND. HINZU KOMMEN WEITERE KINDERGÄRTEN, DIE „NATUR- ODER WALDORIENTIERT“ ARBEITEN 3

Bildung passiert auch im Vorbeigehen, denn Alltagswege und -orte besitzen das Potential, Lerngelegenheiten anzubieten. Diese entstehen einerseits durch gemein-same Wege und multifunktionale Orte für unterschiedliche Aktivitäten im Stadt-raum. Beispielsweise dort, wo sich Freizeit-sportler neben Berufstätigen bewegen oder dort, wo Pensionäre neben Studenten arbei ten. Der konkrete Eingriff in die Gestal-tung von Straßen, Plätzen und Grün flächen kombiniert Lebenswelten, fordert Nutzer durch Inszenierung auf und provoziert Lernerfahrungen.

Andererseits fördern Einblicke sowie Begeg nungszonen an der Grenze zu privaten Räumen verschiedenartige Beobachtun gen und Begegnungen mit Menschen: an Grundstücksgrenzen wie Zäunen oder Mauern oder an Übergängen wie Erdgeschosszonen oder Gebäude-eingängen. Planer und Gestalter können dort Erfahrungen mit Neuem und Unbe-kanntem fördern, indem sie diese Orte zu-gänglich, lesbar und erlebbar machen.Der öffentliche Raum wird Lehr- und Lernraum zugleich.

ORTE BILDEN ERFAHRUNGENWIE VIELSEITIG GESTALTETE STADTRÄUME LERNERFAHRUNGEN IM ALLTAG FÖRDERN

Am Verbindungskanal (untere orange-farbene Fläche) zwischen Rhein (linke orange-farbene Fläche) und Neckar liegt Mannheim-Jungbusch. Studierende unter-suchten das Gebiet. Ihr Vorschlag: vier Plätze an der Uferkante, die für Anwohner und Bildungseinrichtungen nutzbar sind

Für das selbst organisierte Projekt „Play-ground“ haben sich elf Studierende der Land-schaftsarchitektur und des Städtebaus der Uni-versität Kassel zusammengetan. Ausgehend von aktuellen Erkenntnissen der Soziologie und Pädagogik wollten die Projektteilnehmer Bildung in die Stadtlandschaft übersetzen und sie für jeden zugänglich machen. Dabei stand die Verknüpfung des Ortes mit den kulturellen, gesellschaftlichen und sozialen Gegebenheiten im Vordergrund. Als Planungsgebiet wählte die Gruppe den Mannheimer Jungbusch, ein Stadtteil am Verbindungs kanal zwischen Rhein und Neckar. Verschiedene Bildungseinrich-tungen grenzen hier aneinander, die Popaka-demie Baden-Württemberg, der Musikpark Mannheim, die Grundschule Jungbusch, die Universitäts bibliothek Mannheim und diverse Kindergärten sind dort angesiedelt.

Wie lassen sich im Entwurfsprozess variable, multifunktionale Räumen für die vorhandenen Bildungseinrich-tungen entwickeln?

Das Projekt bot den Teilnehmern die Chance, einem alltäglichen Aspekt mit einem städte-baulichen sowie landschaftsarchitektonischen Entwurf zu begegnen. Nach zahlreichen Inter-views mit Anwohnern und einer anschließen-den Analysephase wollte die Gruppe einen

„Masterplan“ entwerfen, der die bebauten Flächen und die Freiflächen festlegt. Auf unter-schiedlichen Maßstabsebenen stellte sich je-doch heraus, dass Bildung in der Stadt immer als Teil einer „Collage“ zu sehen ist, die sich aus vielen gleichberechtigten Bestandteilen zusammensetzt. Dies bedeutete für das Pro-jekt, dass Bildung stets im Zusammenhang zu denken ist, jedoch in diesem Maßstab keine raumbildende Funktion besitzt.Die Studierenden untersuchten eingehend den Begriff der Bildungslandschaft bzw. der „bildenden Stadt“. Sie analysierten Referenz-beispiele von gebauten Bildungslandschaf-ten und diskutierten Schriften über Bildungs-formen von Pädagogen, Psychologen und Philosophen (Dewey, Rogers, Rancière, Montessori, Bordieu und Hertzberger). Sie betrachteten Gemeinsamkeiten und Unter-schiede der verschiedenen Beispiele und verglichen sie in den Kategorien „Setting“, „Raum“ und „Werkzeug“ miteinander. Das Ergebnis: Die öffentlichen Räume sollten den einzelnen Bildungsinstitutionen nutzbare Flächen und Elemente bieten. Für alle ande-ren Veranstaltungen sollten sie offen stehen, aber auch ohne intensives Bespielen funktio-nieren. Im Entwurf erlauben die vier aus dem Ufer herausragenden Plätze, den Ort aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Un-terschiedliche Höhenniveaus der Plätze ver-stärken neue Sichtbeziehungen. So werden die bestehenden Besonderheiten des Ortes, zum Beispiel die Verbindung der unterschied-lichen Bildungs einrichtungen, neu in Szene gesetzt. Als letzte Funktion schließt der Ent-wurf die westliche Innenstadt räumlich ab und ist somit Auftakt und Grenze zugleich.

Das Entwurfsprojekt Playground

Auch die Nutzung des Campus Rütli in Berlin-Neukölln wurde von der Studierenden-Gruppe im Rahmen des Entwurf-projekts in Mannheim analysiert

Die Modellfotos des Entwurfs am Kanal zeigen, wie z. B. Freitreppen und Räume am Wasser genutzt werden können

> Mannheim

In Mannheim erforschen Studierende, wie sich Bildung in eine Stadtlandschaft am Wasser übersetzen lässt

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L 3.1ORTE BILDEN ERFAHRUNG LEHRVERANSTALTUNG UNIVERSITÄT KASSEL FG STÄDTEBAU

Im Entwurf wird der neue Baublock in unter-schiedliche Gebäude-strukturen transformiert

„Die bildende Stadt“ lautete das Thema des Masterentwurfs der TU Dortmund im Sommer semester 2015. Die Arbeit gliedert sich in zwei Teile: Der erste Teil nähert sich dem Thema allgemein und theoretisch. Um den Bildungsbegriff zu klären, geht die Arbeit in ihrem theoretischen Abschnitt zunächst der Frage nach, wo und wie Bildung in der Stadt und im urbanen Raum stattfindet. Im zweiten, praktischen Teil werden die gewon-nenen Erkenntnisse und die spezifische Defi-nition von Bildung auf das Beispiel der Stadt Maastricht angewandt.

Welche Konzepte und Maßnahmen können dazu beitragen, Bildung stadt-räumlich umzusetzen und zu fördern?

Am Anfang stand die Frage, inwiefern Maas-tricht bereits eine „bildende Stadt“ ist bzw. wie viel Potential sie besitzt, eine „bildende Stadt“ zu werden. Im praktischen Teil der Entwurfsarbeit wurden für ausgewählte Be-trachtungsräume in der Stadt ein Maßnah-menkatalog und ein städtebaulicher Entwurf erstellt.Im Umfeld der Untertunnelung der ver-kehrsreichen Autobahn A2 und der damit verbun-denen Beruhigung und Aufwertung des Quartiers suchte die Entwurfsgruppe ei-nen zentral gelegenen Planungsbereich, der

bereits Potentiale in Form von vorhandenen Bildungseinrichtungen und weiteren sozia-len Infrastrukturen aufwies. Hier bot sich die Möglichkeit, die beiden lange Zeit durch die Autobahn getrennten Quartiere zu verbinden und ein gemeinsames Zentrum zu schaffen. Vorhandene und geplante Frei- und Grün-flächen ließen sich aufwerten und verbinden. Dabei verwendete die Entwurfsgruppe ver-mehrt zeitlich begrenzte Nutzungen und sen-sible Arbeitsschritte, sodass Brachflächen mit temporären Einrichtungen belegt werden

konnten. Alle theoretisch entwickelten Nut-zungsmöglichkeiten eines Maßnahmenkata-loges wurden in den Entwurf eingeflochten. Die Projektgruppe achtete vor allem darauf, öffentliche Räume zu schaffen, in denen der Wissenstransfer zwischen den Bevöl-kerungsschichten und damit die informellen und unterbewussten Lernprozesse angeregt und gefördert werden.Folgende Eigenschaften werden als typisch für eine bildende Stadt angesehen: Sie sollte multifunktionale, öffentliche Räume bieten,

die verschiedene Zielgruppen berücksichti-gen und dabei allen zugänglich sein. Diese Räume sollten einen informellen Wissens-austausch in der Gesellschaft fördern und gleichzeitig das Lernen zu einem sichtbaren Bestandteil des Zusammenlebens in einer Gesellschaft machen. Die „bildende Stadt“ sollte durch eine Verzahnung von Schu-len und außerschulischen Partnern geprägt sein. Zugleich sollten sich die vorhandenen Bildungs einrichtungen, die gemeinsam eine Bildungslandschaft formen, gut vernetzen.

Wissenstransfer im Stadtraum

Je Baufeld entwickeln sich vier Grundstücke, die freistehend sind, sich aber nach außen hin als Block darstellen (links). Der Block bietet öffentliche Nutzungen im Erd-geschoss und darüber private Wohnfläche (unten)

Der Masterplan in Maastricht zeigt eine mögliche Bebauung im Sinne der „bildenden Stadt“

Baufeld

> Maastricht

Angehende Raumplaner der TU Dortmund entwickeln Bildungsentwürfe für Maastricht

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L 3.2ORTE BILDEN ERFAHRUNG LEHRVERANSTALTUNG TU DORTMUND FG STÄDTEBAU, STADTGESTALTUNG UND BAULEITPLANUNG

Objekte im öffentlichen Raum können durch Beleuchtung unterschied-lich inszeniert werden

„Bildung durch Licht“ – Dieses Thema haben Studierende der BTU Cottbus mit dem Fokus auf öffentliche Stadtbeleuchtung unter die Lupe genommen. Ihre These:

Durch den gezielten Einsatz von Licht lässt sich der städtische Raum so gestalten, dass die Nutzer angeregt werden, sich weiterzubilden und neue Informationen anzueignen.

Der Begriff Bildung ist nicht eindeutig defi-niert. Vielmehr umfasst er unterschiedliche Aspekte, die insgesamt als Bildung interpre-tiert werden können. Der emeritierte Erzie-hungswissenschaftler, renommierte Schul- und Bildungsreformer Hartmut von Hentig definiert den Begriff Bildung nach Wilhelm von Humboldt wie folgt: „Bildung ist die An-regung aller Kräfte eines Menschen, damit sich diese über die Aneignung der Welt in

Wechselseitiger Ver-und Beschränkung har-monisch-proportionierlich entfalten und zu einer sich selbst bestimmenden Individualität oder Persönlichkeit führen, die in ihrer Ideali-tät Einzigartigkeit die Menschheit bereichere“ (Laewen/Andres 2010, S. 38).Für das Semesterprojekt klassifizierten und kategorisierten die Studierenden zunächst das Licht. Hierfür stützten sie sich auf die Ein-ordnungen von Köhler und Walz. Diese un-terscheiden zwischen öffentlicher Funktions-beleuchtung, individuellen Beleuchtungen der Bewohner, kommerzieller und gestalte-rischer Beleuchtung, temporärer Sonderbe-leuchtung und definieren auch den Einsatz von „Nicht-Licht“ (vgl. Köhler/Walz 2012). Diese Lichtkategorien wurden im Laufe des Seminars in Vorträgen und Präsentationen dargestellt und analysiert. Während des Seminars entwickelten die Teilnehmer ein

Beleuchtungskonzept für die Stadt Lübbe-nau. Sie präsentierten Vorschläge auf unter-schiedlichen Maßstabsebenen und setzten verschiedene thematische Schwerpunkte. Zwei Gruppen inszenierten einen Straßenzug mit einem Lichtleitsystem. Dabei versuchten sie, Skulpturen durch den gezielten Einsatz von Bodenstrahlern auch nachts erlebbar zu machen. Projektoren vermittelten zusätz-liche Informationen über die Entstehung der Umgebung. Um die Blickbeziehungen im Stadtraum zu betonen, wurde die Eingangs-situation von prägenden Bauwerken mit Bo-denstrahlern prominent inszeniert. Eine andere Gruppe beleuchtete die Ge-schichte und Sagenvielfalt von Lübbenau. Zwei Pfade sollten dem Betrachter durch eine räumliche Abfolge von beleuchteten Informa-tionstafeln, sogenannten „Ankerpunkten“, eine neue Perspektive vermitteln. Andere Studierende befassten sich mit den Unter-schieden zwischen historischer und aktueller Struktur der Altstadt. Auf Infotafeln legten sie ein altes Postkartenmotiv und ein Motiv des aktuellen Zustands übereinander. Das machte die Veränderungen für den Betrach-ter sichtbar. Mit einer Kombination aus Sport und Bildung im Zusammenwirken mit einem Lichtkon-zept wollte eine weitere Studentengruppe die Attraktivität Lübbenaus für seine Bewohner nachhaltig steigern. Neben Sportprojekten sollten temporär beleuchtete Events wie Frei-luftkino oder Eisbahn die Stadt für Anwoh-ner und Touristen aktiv erlebbar machen. Die letzte Gruppe konzentrierte sich auf den Kahnverkehr im Spreewald. Durch zusätz-liche Lichtinszenierungen sollten Besucher auch nachts neue Räume entdecken kön-nen. Zudem sollte die Inszenierung dafür sor-gen, das kulturelle und ökologische Erbe des Spreewaldes „ins rechte Licht zu rücken“.

Licht an!

QUELLEN > Köhler, Dennis / Walz, Manfred (2012): Viel Licht und starker Schatten.

In: Bohn, R. / Wilharm, H. (Hg): Inszenierung der Stadt – Urbanität als Ereignis. Bielefeld. S. 99–127.

> Laewen, Hans-Joachim / Andres, Beate (Hg.) (2010): Forscher, Künstler, Konstrukteure. Werkbuch zum Bildungsauftrag von Kinder tages-einrichtungen. Berlin.

Die gezielte Beleuchtung bestimmter Grünpflanzen im Ufergebiet kann für Besucher ein besonderes Erlebnis darstellen

Die Illumination von Skulpturen im Stadtraum soll Bürger aufmerksam werden lassen

Durch die Beleuchtung von Denkmälern wird an historische Ereignisse oder bedeutende Personen erinnert

In Lübbenau erforschen Studierende den Zusammenhang zwischen Bildung und öffentlicher Beleuchtung

Lübbenau >

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L 3.3ORTE BILDEN ERFAHRUNG LEHRVERANSTALTUNG BTU COTTBUS-SENFTENBERG LEHRSTUHL STADTTECHNIK

Das Bearbeitungsgebiet liegt im Norden des Lettekiez‘, Berlin, und wird im Flächennut-zungsplan der Stadt als Gewerbegebiet defi-niert. Es finden sich hier private Betriebe und Produktionsstätten mittelgroßer und größerer Unternehmen. Ausnahmen bilden einzelne Flächen, auf denen auch andere Nutzungen wie beispielsweise Kleingärten zugelassen sind. Dadurch entsteht ein starker Kontrast zu den Gewerbenutzungen, was sich städte-baulich, sozialräumlich sowie atmosphä-risch äußert. Diese Spannung wird durch den neuen Schulstandort in der Kühnemann-straße intensiviert. Die Privatschule „Quinoa“ nahm 2015 den Betrieb für die Klassenstu-fen 7 bis 10 in den neuen Räumlichkeiten auf. Durch den außergewöhnlichen Standort passieren die Kinder und Jugendlichen auf ihrem täglichen Weg zur Schule zahlreiche

Gewerbeeinrichtungen. Diesem einzigartigen und erlebnisreichen Schulweg galt es sich im Rahmen der Konzeption anzunehmen und ihn in eine informelle Bildungslandschaft zu „verwandeln“.

Welche Potentiale bietet der Schulweg durch ein Gewerbegebiet und wie kann die Mischung aus Gewerbe und Privat-schule künftig genutzt werden?

Die Institution Schule und die gewerbliche Nutzung bilden eine Kombination, welche die Stadtplanung in der Regel zu verhindern sucht und welche dementsprechend selten im städtischen Raum vorzufinden ist. Die un-gewöhnliche Zusammensetzung der Nut-zungen bietet aber ein großes Entwicklungs-potential, um Synergien und Beziehungen zu initiieren. So sind die ansässigen Betriebe

nicht nur potentielle Ausbildungsstätten und Anlaufstellen für Schulpraktika, sondern bie-ten darüber hinaus alltägliche Anreize, sich auf dem Schulweg mit unterschiedlichen Be-rufssparten auseinanderzusetzen. Durch das Sichtbarmachen der Aktivitäten in Gewerbe-einrichtungen wird der ohnehin vorhandene Lernprozess auf dem Weg zur Schule intensi-viert und erweitert.Ausgehend von räumlichen wie auch funk-tionalen Besonderheiten des Schulstand-ortes, sollte die stadträumliche Besonder-heit hervorgehoben und verstärkt werden. Eine Transformation des öffentlichen Raums könnte den Schulweg als Lernort qualifi-zieren. Die ansässigen Betriebe würden vorgelagerte Freiflächen auf dem Fußweg erhalten, die durch unterschiedliche Inter-ventionen bespielt werden könnten. Die als

„Laschen“ ausgebildete Flächen könnten somit als räumliche Erweiterung des jewei-ligen Gewerbebetriebs verstanden werden. Unter Zuhilfenahme der Kreativität und des Engagements der Schüler könnten die Flä-chen gemeinschaftlich gestaltet und ent-wickelt werden. Das Schaffen von inselför-migen Bildungsorten im öffentlichen Raum wäre ein erster Schritt, um die Identität der Straße zu stärken und somit auch die Iden-tifikation der Anlieger mit ihrer „Adresse“. Künftig ist eine bauliche Öffnung und Orien-tierung der anliegenden Gewerbebetriebe zur Straße hin vorstellbar. Das Konzept ist eine Initialzündung für eine Corporate Iden-tity des Straßenzuges. Weitere Konzepti-onen, wie zum Beispiel eine gemeinsame Kantine für Schüler und Angestellte des Ge-werbestandorts, sind denkbar.

Transformiertes Gewerbegebiet

Schulwege von Kindern können sowohl durch Wohn- als auch durch Gewerbegebiete führen und für unterschiedliche Erlebnisse sorgen

Liegt die Schule zwischen Betrieben, kann der Schulweg für Kinder zu einer Wanderung durch informelle Bildungs-landschaften werden

Kleine Freiflächen vor den Betrieben könnten von Schülern kreativ gestaltet und für jedermann nutzbar gemacht werden

Neue Perspektiven auf Unternehmens­standorte zeigen, wie sich ein ungewöhnlicher Schulweg als Lernort entwickeln lässt

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S 3.4ORTE BILDEN ERFAHRUNG SOMMERSCHULE THEKLA EISELE ANTON FISCHER KONSTANTIN PAPE

Jede Stadt, jeder Stadtteil und jedes Quar-tier besitzen Eigenschaften, die sie einzig-artig machen. Im Lettekiez repräsentiert die Herzbäckerei an der Pankower Allee den besonderen Charakter des Quartiers. Viele Bewohner verweilen hier aus unterschied-lichen Gründen. Sie tauschen sich aus und geben Neuigkeiten an ihre Bekannten wei-ter. Die Enge der Bäckerei lässt vermeintliche soziale Barrieren zwischen den Besuchern fallen, stattdessen findet ein offener Aus-tausch statt. Damit sich die positiven Eigen-schaften der Bäckerei, unabhängig von ihren Öffnungszeiten, auf das gesamte Quartier übertragen können, müssen Stadtplaner öf-fentlich zugängliche Orte schaffen.

Wie lassen sich öffentliche Orte an indi-viduelle Lernatmosphären anpassen?

Das Konzept sieht unterschiedliche bau-lich-räumliche Eingriffe vor, die den Fokus auf jeweils ein „Lern-Setting“ setzen: Inter-aktion, Konzentration und Aktivität. Die Ge-staltung der Eingriffe ermöglicht kleinräum-liche Lernangebote, die den Wünschen der Bewohner entsprechen. Die Eingriffe sollen die Wahrnehmung für die eigene Umgebung schärfen und den Aktionsraum der Bewoh-ner erweitern. Darüber hinaus können sie zum Entdecken des eigenen Umfelds anre-gen. Dafür steht symbolisch das Bild einer

blauen Postkarte, die als überdimensionales Stadtmobiliar aufgestellt wird. Sie bringt dem Empfänger einen bestimmten Fokus aus dem Umfeld des Senders nahe und regt dazu an, diese Orte selbst zu besuchen.Ausgehend vom konzeptuellen Ansatz bil-den sich für die drei Lernsettings typische kleinräumliche Aufenthaltspunkte aus, die je nach Akzeptanz und Funktionsfähigkeit am Ort weiterwachsen, angepasst oder op-timiert werden können. Jeder Ort definiert sich über das gleiche Basiselement. Dieses

besteht aus der Vorder- und Rückseite der großformatigen Postkarte sowie aus Sitzgele-genheiten. Die Rückseite der Postkarte dient dazu, eigene Nachrichten zu hinterlassen und anderen zugänglich zu machen. Die „ Zusatz-elemente“ (Add-Ons), wie Spielelemente oder Beete, prägen das jeweilige Setting. Für das Setting „Aktivität” an der Quinoa-Schule zum Beispiel bricht die Postkarte die Grenze zwischen formeller Bildungs-einrichtung und non-formellem öffentlichen Lernort auf und eröffnet den Schülern den

fokussierten Blick auf das umliegende Ge-werbe. Ein Basketballkorb und verschiedene Skate-Elemente gehen auf die Interessen der Schüler ein und ermöglichen ihnen vielfältige Aktivitäten. Durch die Umnutzung der Bra-che als Schulhof, rücken die Schule und ihre Schüler ins Bewusstsein der umliegenden Gewerbetreibenden. Dies bildet die Basis für einen gegenseitigen Austausch. Die visuelle Fokussierung auf die gegenüberliegenden Betriebe lenkt den Blick der Schüler auf po-tentielle Ausbildungsangebote.

Perspektivwechsel Lernort

Der Einsatz von vari-ablem Stadtmobiliar ermöglicht unterschied-liche Nutzungen von Räumen, etwa für Konzentrationsspiele (2. v. l.) oder für Gruppen aktivitäten (3. v. l.)

Die Herzbäckerei (Mitte) repräsentiert viele Facetten des Lettekiez‘ und führt die Bewohner des Quartiers aus ganz verschiedenen Gründen zusammen

Ein Modulsystem zum Verweilen schafft neue Atmosphären im Kiez und unterstützt individuelle Lernsettings

SEITE 92 | 93ORTE BILDEN ERFAHRUNG SOMMERSCHULE SVEN GLOWIK NINA FRANZKOWIAK ALEXANDRA SCHIPP

S 3.5

Die Bepflanzung von Zäunen erschafft eine neue Wahrnehmung von Grenzen

Die Kleingartenkolonie „Pankower Allee“ zeigt beispielhaft, wie Mauern mit Pflanzen begrünt werden können und dadurch eine neue Bedeutung erhalten

Im Lettekiez sind die Gegensätze groß: ganz unterschiedliche Einkünfte, Herkünfte, Re-ligionen und Bildungshintergründe treffen hier aufeinander. Obwohl die Bevölkerung durchmischt und dynamisch ist, gibt es im Kiez Rückzugsorte für Menschen mit be-sonderen Bedürfnissen und Vorstellungen, die im öffentlichen Raum nur schwer einen Platz finden. Suchthilfen, Jugendzentren und Kleingärtner haben sich ihre eigenen Orte in unmittelbarer Nähe zum öffentlichen Raum geschaffen. Die Akzeptanz der lokalen Be-völkerung gegenüber diesen Gruppen bildet eine große Stärke des Lettekiez‘.

Wie können Grenzen mit Bewohnern ge-meinsam gestaltet und nutzbar gemacht werden?

Das Kiezprojekt „GrenzenGestalt|en“ sieht vor, in einem Aktionszeitraum zusammen mit verschiedenen sozialen Gruppen vor Ort gemeinsam über ihre Grenze zur Öffentlich-keit nachzudenken. Dazu wird in Zusammen-arbeit mit dem Quartiersmanagement fol-gender Prozess initiiert:1. Das Konzept wird den Gemeinschaften

vorgestellt und erläutert, alle dürfen daran teilhaben und helfen, es weiterzuentwi-ckeln. Andere Akteure wie Sponsoren und Anwohner werden ebenfalls eingeladen, sich zu beteiligen.

2. In einer Aktionswoche wird den Gemein-schaften ein 1:1-Modell des Moduls zur Verfügung gestellt. Dieses nimmt die bis-herige Stelle ihrer Grenze ein. Das 1:1-Mo-dell wird aus einem Material beschaffen sein, das einfach zu bearbeiten, leistungs-fähig und gleichzeitig auch preiswert ist wie zum Beispiel Holz. Die Gemeinschaf-ten werden nun in einem von Experten (Quartiersmanagement, Architekten etc.) begleiteten Prozess überlegen, wie sie sich mit ihrer Grenze präsentieren und diese künftig nutzen wollen.

3. In einem dritten Schritt wird die Grenze baulich langfristig umgesetzt. Das kon-struktive Material wird für alle Gemein-schaften dasselbe sein, Unterschiede werden in Form der Morphologie der Grenze sowie von additiven Materialien und Funktionen umgesetzt.

Grenzen gestalten

Die Skizzen auf der Makroaufnahme ver deutlichen Flächen und ihre Begrenzungen

Mit Hilfe eines fiktiven Beispiels soll dieser Prozess der Grenzgestaltung anhand der Ge-meinschaft Kleingartenkolonie „Pankower Al-lee“ skizziert werden: Die Kleingartenkolonie möchte verstärkt ihren Sinn für Ordnung und ihre Leidenschaft für die Gärtnerei nach au-ßen tragen. Gleichzeitig ist man jedoch auch auf eine hohe Sicherheit der eigenen Parzellen bedacht. Das äußert sich in einer zurückhal-tenden Öffnung der Grenze. Das Modul bleibt weitgehend verschlossen. Der einzige Zugang befindet sich erneut an der Stelle des alten Tores. Daneben werden jedoch Passanten

und Besuchern allen Alters stellenweise kleine Einblicke auf die dahinterliegenden Gärten und deren Nutzung gewährt. Um die Kleinteiligkeit der Parzellen nach außen zu tragen, werden in die Module kleine Pflanzkörbe eingebaut, die von den jeweiligen Kleingärtnern gestal-tet werden können. Außerdem entschied man sich dafür, im Eingangsbereich mehr Aufent-haltsqualität zu schaffen und eine Hollywood-schaukel in das Modul zu integrieren. Direkt am Tor wird eine neue Infotafel angebracht, die nicht nur die Mitglieder, sondern auch die Be-sucher über Aktuelles informiert.

Einblicke und Ausblicke transformieren Mauern, Wände und Zäune zu Begegnungsorten in der Nachbarschaft

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S 3.6ORTE BILDEN ERFAHRUNG SOMMERSCHULE OLIVER GERBING JESSICA SCHÄFER SUSANNE KRUBER AMADEUS THEIMER

In der Bildungskette von Kindern und Ju-gendlichen nehmen insbesondere die Über-gänge von einer auf die andere Bildungs-einrichtung eine wichtige Rolle für die persönliche Entwicklung ein. Es handelt sich um sensible Orientierungsphasen. Aus der Bildungsperspektive stellt sich deshalb die Frage, was man in diesen Lebensabschnitten für die Entwicklung des Kindes tun kann. Im Untersuchungsraum Lettekiez liegt der Fokus insbesondere auf dem Übergang vom Kin-dergarten zur Grundschule, da diese Einrich-tungen hier stark vertreten sind und zu den Stärken des Quartiers gehören.

Wie sollte ein Schulweg aussehen und welche Funktionen kann er anbieten?

Im Jahr 1970 gingen ca. 91 Prozent der Grundschulkinder selbstständig zur Schule. Heute legen nur noch 17 Prozent der Erst-klässler ihren Schulweg alleine zurück (vgl. Schimansky 2012). Ein gestalteter Schul-leitpfad bietet Kindern die Möglichkeit, ihren Schulweg selbstständig zu gehen und zu er-kunden. Städtebauliche Interventionen tra-gen dazu bei, den Schulweg für die Schü-ler unterhaltsamer und sicherer zu gestalten

(Orientierung, Sicherheit, Spaß, Lernen). Grundsätzlich entscheiden die Eltern, wie lang der eigenständige Schulweg ihres Kin-des sein soll. In einem bereits vertrauten Um-feld können sie gemeinsam mit ihren Kindern einen komplett selbstständigen Schulweg einüben. An den im gesamten Quartier ver-teilten Treffpunkten („Kiss and Let Discover“) kommen einzelne Grundschulkinder auf dem Schulleitpfad zusammen. Von hier aus kön-nen sie ihren Schulweg zurücklegen und ih-ren Kiez selbstständig oder gemeinsam mit Gleichaltrigen entdecken. Auch für formelle Bildungseinrichtungen können diese Räume zu Bildungslandschaften werden. Im Lettekiez wurden nach diesem Konzept Treffpunkte („Kiss and Let Discover“) so-wie diverse Spiel- und Lernorte vorgeschla-gen (Bambuslabyrinth, Pottwal im Park etc.). Diese sind spielerisch gestaltet und unter-scheiden sich deutlich von den üblichen urbanen Spielplätzen. Unter dem Thema „Natur und Tiere“ wurden vorhandene Freiflä-chen kindgerecht gestaltet und mit entspre-chenden Informationen und sogenannten „Fun Facts“ ausgestattet. Ein stark farbiges Wegenetz führt auf unkonventionelle Weise durch den Lettekiez und verbindet die Treff-punkte mit weiteren Bildungs- und Spielräu-men. Tiere und Gegenstände in realistischen Gräßen (Pottwal-Länge, Vergleich Straußenei mit Hühnerei, diverse Tier-Sprungweiten) ver-deutlichen Größen, Weiten und Maßstäbe. Durch Anfassen, Bespielen und Vergleichen mit der eigenen Körpergröße wird Kindern auf diese Weise unabhängig von der eigenen Lesefähigkeit Wissen vermittelt.

Kidz im Kiez

QUELLEN> Schimansky, Sophie:

Kinder schaffen den Schulweg alleine. www.zeit.de/auto/2012-09/verkehrserziehung-schulweg (22.09.2012).

Der Schulweg wird neu gedacht: Die Grund-schule steht als Knoten-punkt im Zentrum einer vernetzten Bildungs-landschaft und verbin-det unterschied liche Wege mit Treffpunkten und Lernorten

Ein markiertes Wegenetz kann Kinder durch den Stadtraum von einem Lernort zum nächsten führen und Lerngelegen-heiten anbieten

Spielgeräte in Tier-gestalt im Maßstab 1:1 helfen Kindern, Dimensionen besser einzuschätzen

Kletter­Wale, Weitsprung­Frösche und ein sicheres Wegenetz leiten Kinder erlebnisreich zur Schule

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S 3.7ORTE BILDEN ERFAHRUNG SOMMERSCHULE CONNY FIEBIG STEFANIE FRITZE ALEXANDER MELCHER

Aspekte für eine integrierte Betrachtung der Schulentwicklung:> Schulen selbst

(angebotene Schul abschlüsse, Lehrformen und -inhalte, verfügbare Ressourcen)

> Sozial raum im Umfeld der Schule (sozioökonomische Rahmenbedingungen, außerschulische Bildungsangebote)

> Räumliche Kontexte (Verkehr, soziale Infrastruktur, Freiraum, Architektur, Städtebau)

Das Thüringer Schulsystem nach 2011: Die Thüringer Gemeinschafts schule (TGS) ergänzt das vorherige zweigliedrige Schulsystem aus Regel-schule (Mittlere Reife und Hauptschulabschluss) und Gymnasium. Im Modell bietet die TGS drei Schulabschlüsse (Abitur, Mittlere Reife und Hauptschulabschluss) in einem Haus an

Bildung stellt die zentrale Ressource mo-derner Wissensgesellschaften und interna-tional wettbewerbsfähiger Volkswirtschaf-ten dar. Diese These wird ökonomisch und auch bildungspolitisch als eine wesentliche Begründung für die Investitionen in Bildungs-einrichtungen, von der frühkindlichen Förde-rung bis zur Erwachsenenbildung, heran-gezogen (vgl. Million/Heinrich/Coelen 2015, S. 1f). Gleichzeitig zielen bildungspolitische Strategien in Deutschland darauf ab, den Bil-dungsgrad der Bevölkerung insgesamt zu erhöhen. Nicht nur volkswirtschaftlich, son-dern auch individuell lässt sich eine Korrela-tion zwischen Bildungsbiografie und gesell-schaftlicher Integration (zum Beispiel in das Erwerbsleben) beobachten. Im internationa-len Vergleich ist das deutsche Schulsystem allerdings berühmt für seine geringe soziale Durchlässigkeit (vgl. Baur 2013, S. 131). Bil-dungsgerechtigkeit – hier zunächst verstan-den als die Chance, alle Bildungsabschlüsse zu erlangen – scheint also nur in geringem Maße gegeben zu sein.Bildungssoziologisch ist zudem bekannt, dass sozioökonomisch und auch ethnisch

bedingte Bildungsbenachteiligung durch räumliche Effekte verstärkt wird (vgl. Terpoor-ten 2014, S. 188). Da also erhebliche Bezie-hungen zwischen Schulen und ihren räum-lichen Kontexten bestehen, die maßgebliche Auswirkungen auf die Schulkarrieren von Schülern haben, erscheint es zwingend, sich Fragen der Schulentwicklung aus einer Per-spektive zu nähern, die bildungspolitische und räumliche Aspekte integriert betrachtet: Schulen, Sozialraum, räumliche Kontexte.

Bildungsgerechtigkeit zwischen Wachs-tum und Schrumpfung in Thüringen

Faktisch erfolgt die Auseinandersetzung mit den räumlichen Kontexten von Schulstand-orten vor allem im Zuge der sozialen Stadt-erneuerung in (Groß-)Städten (vgl. Böhme/Franke 2015, S. 39) oder als Gegenstand der Regionalplanung im Sinne einer Planung re-gionaler Infrastrukturen (vgl. Libbe/Köhler/Beckmann 2010, S. 296 ff.; vgl. Dittrich-Wes-buer/Hans/Siedentop 2015). Gleichwohl ist aber davon auszugehen, dass räumliche Be-dingungen die Lernerfolge und Bildungskar-rieren von Schülern auch im ländlichen Kon-text beeinflussen. In der Bildungsforschung ist bekannt, dass Schüler auf dem Land in vielfacher Weise benachteiligt sind: Größere räumliche Distanzen erschweren den Zugang zu weiterführenden Schulen. Zusätzlich sind die Zugänge zu informellen Bildungserfah-rungen (kulturelle Angebote, Vielfalt an sozia-len Erfahrungen, außerschulische Angebote) eingeschränkter, die Schulen selbst können nur eine geringere Vielfalt an Lernerfahrungen anbieten. Umso mehr Relevanz gewinnt dies angesichts der Tatsache, dass die Polarität

Barbara Schönig über Zwischenaufnahmen zur Einführung der Gemeinschaftsschule in Thüringen

Fragmentierte Reformen

räumlicher Entwicklungen zwischen Stadt und Land in Deutschland zunimmt. Aus ei-ner Sicht, welche die Fragen der Stadtent-wicklung und der Bildungspolitik integriert betrachtet, ergibt sich folgerichtig die Frage, wie Bildungsgerechtigkeit unter den Bedin-gungen räumlicher Polarisierung zwischen Wachstum und Schrumpfung auch im Ver-gleich von Stadt und Land gewährleistet wer-den kann.

Stadt-Land-Schule in Thüringen

Um dies zu betrachten bietet es sich an, nach Thüringen zu blicken. 2011 wurde unter dem Motto „Länger gemeinsam lernen“ durch die schwarz-rote Koalition die „Gemeinschafts-schule“ eingeführt, die in einem Haus drei Schulabschlüsse anbietet und allen Schülern den gemeinsamen Verbleib an einer Schule von der ersten Klasse bis zu ihrem Schulab-schluss ermöglichen soll. Raumplanerisch soll die Gemeinschaftsschule dabei einen Weg eröffnen, auf die erhebliche Polarisie-rung räumlicher Entwicklungen zu reagieren, Schulwege kurz zu halten und den Zugang insbesondere zum Abitur auch im ländlichen Raum weiterhin hinreichend zu gewährleisten (vgl. Ritter et al. 2014, S. 97). Das Bundesland Thüringen ist von erheblichen räumlichen Po-larisierungen geprägt: Während auf der einen Seite die demografische Entwicklung große Teile des Landes seit 1990 stark schrumpfen ließ, haben sich städtische Räume entlang der mitteldeutschen Verkehrsachsen stabilisiert. Innerhalb dieser großmaßstäblich betrach-tet einheitlich schrumpfenden Gebiete sind die Schrumpfungsdynamiken aber durchaus uneinheitlich und abhängig von spezifischen Standortvorteilen. Die Existenz eines Schul-standortes gilt hierbei stets als ein zentraler Aspekt: Schulen erhöhen die Attraktivität ei-ner Gemeinde als Wohnort und garantieren den Erhalt von Verkehrsinfrastrukturen. Sie

fungieren gerade auf dem Land auch als loka-les Zentrum, das vielfältige Aktivitäten ermög-licht und der lokalen Gemeinschaft Raum für soziale Begegnungen bietet (vgl. Libbe/Köh-ler/Beckmann 2010, S. 312). Aufgrund die-ser Bedingungen sind die Bildungschancen polarisiert: So sind die Chancen, eine Schule mit Hochschulreife-Option zu besuchen, für Schüler in den Städten Thüringens erheblich größer als in den Landkreisen (vgl. Berke-meyer 2013, S. 33f). Zusätzlich zeigt sich, dass gerade in den am stärksten schrumpfenden Räumen (zum Beispiel im Kyffhäuserkreis) die Zahl der Grundschüler, die auf eine Schule mit Hochschulreife-Option (Gymnasium, Ge-meinschaftsschule) wechseln, besonders niedrig ist. Im ländlichen Raum gibt es eine be-grenzte Schulwahlmöglichkeit und die Anzahl an Schulen, in denen das Abitur erreicht wer-den kann, ist in den Landkreisen geringer (vgl. Berkemeyer 2013, S. 33f). In einem forschungsorientierten Studienpro-jekt im Studiengang Urbanistik an der Bau-haus-Universität Weimar wurde im Winterse-mester 2014/2015 die Frage gestellt, ob und inwieweit die Einführung der Gemeinschafts-schule als Reformprojekt in unterschiedlichen räumlichen Kontexten dieser Problematik entgegen wirken kann. Ziel des Projekts war es, herauszufinden, welche Handlungslogi-ken die Umsetzung von Schulreformen lokal bestimmen und wie diese vollzogen werden. Gefragt wurde des Weiteren: > Welche Wechselwirkungen sind zwischen

räumlichen Kontexten und der Umsetzung von Schulreformen oder ihren Wirkungen zu entdecken oder zu erwarten?

> Wie wird die Wirkung von Gemeinschafts-schulen in unterschiedlichen Kontexten durch räumliche Interventionen, päda-gogische Konzepte oder veränderte Schulnetzplanungen aufgefangen oder verbessert?

Eine Bautafel vor dem Schulgebäude klärt alle Schüler und ihre Eltern über Umbau-ten an der Thüringer Gemeinschaftss chule Oldisleben auf

Über eine Bushalte-stelle ist die Thüringer Gemeinschaftsschule Oldisleben für alle Schüler erreichbar

SEITE 98 | 99ORTE BILDEN ERFAHRUNG EXPERTENBEITRAG E 3.8

Typologisch lassen sich die in Fallstudien untersuchten Gemeinschaftsschulen wie folgt unterscheiden: (1) Die soziokulturellen

Clusterer nutzen die Reform und den „institutionellen“ Zwang zur Ausdehnung räumlicher Kooperation, verstehen sich als räumliche Akteure und beziehen sich in ihrem Tun auf das Ideengut der Bildungslandschaft.

(2) Die (demografischen) Wettbewerber nutzen in der Krise den Anlass der Schulreform, um die eigene Daseinsvorsorge zu stabilisieren und sich gegenüber Mitbewerbern zu profilieren oder die (Grund-)Schule im Dorf zu retten.

(3) Schließlich nutzen Schulen mit reform-pädagogischem Konzept die staatlich sanktionierte Reform als Chance, ihre Schule aufzubauen und jenseits infrastruktureller Planungsszenarien vom Experiment zum Regelfall zu werden.

Das Studienprojekt betrachtete eine Auswahl neu gegründeter Gemeinschaftsschulen in schrumpfenden ländlichen Räumen (Aschara, Oldisleben, Rodeberg, Sonneberg), schrumpfenden städtischen Räumen (Eisenach, Suhl) sowie wachsenden städtischen Räumen (Erfurt, Weimar, Jena)

Varianten einer Reform

Von den betrachteten Beispielen haben ledig-lich jene aus Städten das Konzept der Thü-ringer Gemeinschaftsschule (TGS) mit den Klassen 1 bis 12 umgesetzt. Gerade auf dem Land wird das Abitur eher in Kooperation mit Gymnasien angeboten, das heißt die Schü-ler müssen einen Wechsel an eine andere Schule und in den städtischen Kontext vor-nehmen, um die Hochschulreife zu erlangen. Mehrheitlich, aber unabhängig von räum-lichen Bedingungen, wurden Grundschulen in der Umgebung zu Kooperationspartnern gemacht oder sogar im selben Gebäude un-tergebracht. Dies allein aber scheint keine hinreichende Bedingung für eine produktive Zusammenarbeit zu sein. Trotz der Nähe ge-lingt diese Zusammenarbeit oft nur schlep-pend, beispielsweise weil sich das soziale Milieu der Grundschule sozioökonomisch von jenem der vormaligen Regelschule un-terscheidet. Es bleibt daher, auf belastbare Daten zu warten, die ermitteln, inwieweit Übertritte der Grundschüler aus den eher gymnasial orientierten Elternhäusern in die 5. Klasse der Gemeinschaftsschulen tatsäch-lich erfolgen. Zwingend müssen dann die Schulkarrieren an Gemeinschaftsschulen und an ihren kooperierenden Grundschulen beziehungsweise Gymnasien auch vor dem Hintergrund räumlicher Faktoren betrach-tet werden: Welche räumlichen und institu-tionellen Kooperationsmodelle fördern die Integration von Schülern unterschiedlicher soziökonomischer Hintergründe in die Ge-meinschaftsschule? Im städtischen Kontext erweitert die TGS die Auswahl an Schulab-schlüssen. Im ländlichen Raum aber wird zu fragen sein, ob es gelingt, die Schüler nach der 10. Klasse zu einem Wechsel an ein koo-perierendes Gymnasium zu motivieren. Denn hier verlängert die Gemeinschaftsschule den Verbleib aller Schüler im ländlichen

Schulumfeld, das wie erwähnt vielfach durch strukturelle Nachteile hinsichtlich der Bildungs chancen geprägt ist.

Motivationen: Zwischen Wettbewerb und pädagogischer Vision

Letztlich lassen die Fallbeispiele darauf schließen, dass die Motivationen zur Etablie-rung von Gemeinschaftsschulen am einzel-nen Standort vielfältig sind und nicht not-wendig übergeordneten bildungspolitischen oder raumordnungspolitischen Zielen folgen. Vielfach zielen Schulen mit der Etablierung der Gemeinschaftsschule darauf ab, ihre Rolle als zentraler Ort einer lokalen Bildungs-landschaft und als Zentrum lokaler Gemein-schaft wesentlich zu stärken und das Ange-bot schulischer Abschlüsse in der Gemeinde zu erweitern. Gerade in stark schrumpfenden Räumen (Stadt oder Land) ist die Etablierung der Ge-meinschaftsschule aber mindestens indirekt auch das Ergebnis eines Wettbewerbs zwi-schen Schulen oder Gemeinden. Sie erfolgt nicht selten, um Schulkonzepte oder Schul-standorte zu stabilisieren und damit lokale Standortfaktoren zu erhalten. So sicherte sich eine Gemeinde durch die Integration ihrer Grundschule in die neu gegründete Gemein-schaftsschule am Standort der ehemaligen Regelschule den Bestand ihrer Grundschule im Ort und damit einen wesentlichen Faktor für den Verbleib oder Zuzug junger Familien. Die betrachteten (staatlichen) Grundschulen mit reformpädagogischem Ansatz nutzten die Etablierung der Gemeinschaftsschule als Chance, um von einem „Sonderfall“ zur „Nor-malschule“ zu werden und ihr reformpäda-gogisches Konzept auch als Weg zum Abitur auszubauen. Während dies im schrump-fenden städtischen Kontext angesichts sinkender Schülerzahlen als Konkurrenz zum Gymnasium erscheint, lässt es sich im

demographisch wachsenden Raum schlicht als eine Erweiterung der Schullandschaft ver-stehen. Typologisch lassen sich die in Fallstu-dien untersuchten Gemeinschaftsschulen wie folgt unterscheiden: (1) die soziokulturellen Clusterer, (2) die (demografischen) Wettbewer-ber, (3) die reformpädagogischen Entwickler.

Gemeinschaftsschulen und räumliche Polarisierung in Thüringen. Ein Fazit

Schlussfolgerungen erlaubt die Beobach-tung der in Thüringen implementierten Re-form bisher nur ansatzweise, da belastbare Daten zu Schulkarrieren sowie sozioökono-mischen und sozialräumlichen Hintergrün-den der Schulentwicklung noch nicht vor-liegen. Im Wesentlichen lassen sich aber weiterführende Fragen und erste Hypothesen generieren.Die Beispiele zeigen, dass sich die räum-lichen, administrativen und demografischen Rahmenbedingungen an den neu etablierten Gemeinschaftsschulen erheblich unterschei-den und nichtsdestotrotz in hohem Maße be-stimmend sind. Die Frage nach Stabilität von Kooperationen, nach Vernetzungen in loka-len Bildungslandschaften, nach innerschu-lischem Angebot, aber auch nach infrastruk-tureller Anbindung muss folglich auch für die Schulkarrieren und Bildungswege der Schü-ler unterschiedlich gestellt werden. Die Mög-lichkeiten zwischen Stadt und Land sowie schrumpfenden und wachsenden Räumen divergieren also auch an den neu gegründe-ten Gemeinschaftsschulen.Die Etablierung der Gemeinschaftsschule er-folgte in Thüringen offensichtlich unter den Bedingungen eines Wettbewerbs zwischen Schulstandorten und Gemeinden. Staat-liche Reformpolitik fördert diesen Wettbe-werb möglicherweise indirekt. Notwendig wäre es, von Seiten der Infrastruktur- be-ziehungsweise Raumplanung sowie der

Schulnetzplanung diesen Wettbewerb zu antizipieren und über Strategien dezentraler Schulstandorte unter einem Dach nachzu-denken, die gleichzeitig Schulstandorte vor Ort erhalten, also Schulwege sparen und durch die Erhöhung von Schüler- und Lehrer-zahlen eine Ausweitung des schulischen An-gebots ermöglichen.Tatsächlich allerdings scheint die Schulre-form stattdessen auf eine eher innere An-gelegenheit einzelner Schulen reduziert zu werden. Die Bedeutung räumlicher Aspekte wird bei der Implementierung der Reformen im Flächenland kaum reflektiert. Die Umset-zung der Reform und ihr Erfolg scheinen weit-gehend von der Innovationskraft des lokalen Personals (Schule, politische und planende Akteure) abhängig zu sein. Lokale Einzelfall-entscheidungen werden somit zu entschei-denden Variablen bei der Etablierung regi-onaler Strukturen und zum wesentlichen Faktor für den Erfolg eines Reformprojekts im gesamten Bundesland. Gerade angesichts der hohen Bedeutung, die der Gemein-schaftsschule hinsichtlich einer Ausweitung von Bildungsgerechtigkeit im polarisierten räumlichen Gefüge des Landes Thüringen und gegebenenfalls als Modell auch für an-dere Standorte in Deutschland zukommen könnte, ist diese Zufälligkeit und Fragmen-tierung einer bildungs- und infrastruktur-politischen Reform bedrückend. Eine Top-Down-Bildungsreform muss die räumlichen Kontexte ihrer Implementierung und Wirkung berücksichtigen, um Schulen als Stabilisa-toren räumlicher Entwicklung und Garanten von Bildungschancen zu sichern. Anstelle lokaler Wettbewerbslogiken oder schulinter-ner Motivationen müssen standortspezifische und explizit auch räumliche Strategien sowie hierauf bezogene Schulkonzepte zur Grund-lage werden, auf der Bildungsgerechtigkeit gewährleistet werden kann.

Ich danke Arvid Krüger für Anregungen und Kommentare zu diesem Text

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sche und soziale Segregation Schüler/innen mit Migrationshintergrund benachteiligt. Bielefeld.

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SEITE 100 | 101ORTE BILDEN ERFAHRUNG EXPERTENBEITRAG PROF. DR.- ING. BARBARA SCHÖNIG PROFESSUR STADTPLANUNG BAUHAUS-UNIVERSITÄT WEIMAR

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Orte sind wirkmächtig. Orte prägen uns. Orte regen uns an und bringen uns manches bei. Diese Haltung bringen die studentischen Ar-beiten, die in diesem Buch unter der Über-schrift „Orte bilden Erfahrung“ präsentiert werden, deutlich zum Ausdruck. Die Studie-renden entwickeln in ihren Entwürfen Ansätze dafür, wie Stadtplaner diese Wirkmacht von Orten nutzen können, um Bildungsprozesse in öffentlichen Räumen zu begünstigen. So ma-chen die Studierenden Schulwege zum lehr-reichen Abenteuer, Grenzen (z. B. Zäune und Mauern) werden bewusst gestaltet, um Neu-gierde zu wecken, Licht wird eingesetzt, um Wahrnehmung zu lenken und vieles mehr.In Anbetracht der studentischen Arbeiten sah ich mich als Betreuerin der Sommerschule mit Fragen konfrontiert, die uns am Fachgebiet seit einiger Zeit umtreiben: Bilden Orte wirklich Erfahrung? Bringt der Raum uns etwas bei? Und wenn ja, was und wie? Müssen Stadtpla-ner dafür eingreifen? Und wie kann man Ant-worten auf diese Fragen finden?Einen Ansatz, um Antworten auf die Fra-gen zu finden, ob Orte Erfahrung bilden, und wenn ja, welche, haben wir im Rahmen des Forschungsprojektes „Hingucker!

Anna Juliane Heinrich über die Erforschung baukultureller Bildung am Beispiel des Projektes „HINGUCKER!“

Bilden Orte Erfahrung?

gebaut und im nächsten Schritt Prototypen angefertigt oder Interventionen durchgeführt. Abschließend werden die Vorstellungen der Jugendlichen in einem „HINGUCKER!“ zu-sammengeführt und im öffentlichen Raum präsentiert.Der „HINGUCKER!“ als Ergebnis kann unter-schiedliche Gestalt annehmen. Das Produkt soll zum „Hingucken“ anregen und auf die Be-dürfnisse von Jugendlichen im Quartier auf-merksam machen. Der „HINGUCKER!“ kann eine Aktion oder eine Installation sein, er kann temporär oder dauerhaft sein. In Berlin be-fassten sich Jugendliche zum Beispiel zwei Jahre in Folge mit der baulich-gestalterischen Veränderung eines öffentlichen Spiel- und Sportplatzes. Im Jahr 2014 wurde „hinge-guckt“ als Nutzer des Platzes aus allen Alters-gruppen bei einer Veranstaltung spielerisch mögliche Nutzungen verhandelten. Im darauf-folgenden Jahr hatten die Jugendlichen die Möglichkeit, einen Teil der Baustelle zu über-nehmen und ein großes Sitzmöbel für den Platz zu bauen. Dieses bleibt als „echter Hin-gucker“ im Kiez verankert.

Begleitforschung guckt hin

Das HINGUCKER!-Projekt bietet spannende Ansatzpunkte, um mehr über baukulturelle Bil-dung und die Frage „Bilden Orte Erfahrung?“ herauszufinden. Daher begleiten wir am Fach-gebiet Städtebau und Siedlungswesen der TU Berlin das Projekt seit 2013 forschend. Damit verfolgen wir drei Ziele: Erstens möchten wir Erkenntnisse aus dem laufenden Projekt für die Weiterentwicklung des „HINGUCKERS!“ nutzbar machen. Zweitens nutzen wir die Laufzeit von fünf Jahren, um unterschiedliche Methoden zur Beforschung baukultureller Bil-dung zu erproben. Drittens werden über die Laufzeit Daten zur anschließenden wissen-schaftlichen Auswertung erhoben. Themen-bereiche, die wir mit der Begleitforschung in

den Blick nehmen, sind unter anderem die Aktivierung und Motivationen Jugendlicher für baukulturelle Bildung sowie Formate und Me-thoden baukultureller Bildung.Um Antworten auf unsere Forschungsfragen zu finden, führen wir bei den HINGUCKER!-Workshops Teilnehmende Beobachtungen durch, interviewen das Team von Jugend Archi-tektur Stadt e. V. und führen Gruppendiskus-sion mit dem Team durch. Dies sind bewährte Forschungsmethoden, mit deren Handhabung wir vertraut sind. Aber als Forschungsteam stellte sich uns die Frage, wie wir die Sicht der Jugendlichen einfangen können. Sollten wir In-terviews führen? Dies schien uns nur begrenzt geeignet, da wir Zweifel am Interesse der Ju-gendlichen an ausführlichen Interviews hatten. Auch die Idee großer Reflexionsrunden mit den Jugendlichen verwarfen wir schnell, da wir nicht derart massiv in die Eigendynamik der Work-shops eingreifen wollten. Die wechselnden Teil-nehmer bei offenen Formaten stellten eine wei-tere Herausforderung dar.

Ein Forschungsbuch um die Sicht Jugendlicher einzufangen

Schlussendlich haben wir uns dazu entschie-den, ein Forschungsbuch zu entwerfen. In-spiriert war diese Idee von dem „ibini Riesen-Buch“, welches von Katja Hausleitner (Initiative >ibini< Baukulturvermittlung) im Juni 2013 bei dem Symposium „Mit Kinderaugen: Kinderge-rechte (Stadt)Wohnräume zwischen Alltag und Visionen” an der TU Graz vorgestellt wurde. Dieses großformatige Buch dient dazu, „Fra-gen rund um das Kindsein im Wohnen“ (www.gat.st/news/ibini-heute-plane-ich) zu erkun-den. In einfachen Grafiken wird beispielsweise abgefragt, ob eltern- und kinderfreie Zonen in einer Wohnung als wichtig eingeschätzt wer-den oder welcher Schlafplatz bevorzugt wird (zum Beispiel Balkon oder Wiese). Die Fragen werden mit Klebepunkten beantwortet.

Begleitforschung zum Jugendbeteiligungs-projekt HINGUCKER! von JAS e. V.“ entwi-ckelt. Um herauszufinden, was Jugendli-che aus Projekten der baukulturellen Bildung mitnehmen, haben wir ein Buch entwickelt, in dem Jugendliche ihre Eindrücke zum Aus-druck bringen sollten. Dieses Forschungs-buch und unsere Erfahrungen damit be-schreibe ich im Weiteren. Zunächst werden hierfür das Praxisprojekt „HINGUCKER!“ so-wie unsere Begleitforschung vorgestellt.

HINGUCKER! Baukulturelle Bildung in der Praxis

„HINGUCKER!“ ist ein Projekt, das Jugend-liche dazu anregen soll, sich aktiv mit dem Quartier, in dem sie leben, auseinanderzu-setzen und sich in dessen Gestaltung einzu-mischen (www.hingucker-jas.de). Dabei wer-den die Heranwachsenden aufgefordert, sich ihre Aufenthaltsorte im öffentlichen Raum anzueignen, sie zu bespielen und ihnen neue Funktionen und Qualitäten zu geben. Von 2013 bis 2017 führt der Verein JAS – Jugend Architektur Stadt e. V., Essen, ein gemein-nütziger Verein zur Förderung der baukultu-rellen Bildung von Kindern und Jugendlichen (www.jugend-architektur-stadt.de), in Berlin, Hamburg und im Ruhrgebiet jeden Sommer HINGUCKER!-Workshops durch. Gefördert wird dies im Rahmen der Initiative „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ des Bun-desministeriums für Bildung und Forschung.Die HINGUCKER!-Workshops beginnen mit einer Erkundung, also dem bewussten Wahr-nehmen und Bewerten der eigenen Umge-bung, zum Beispiel anhand von Fotostreifzü-gen oder Sinneskarten. Im nächsten Schritt werden, basierend auf den Bedürfnissen und Vorstellungen der Jugendlichen, Ideen für die Veränderung von Orten und deren Nutzungen entwickelt und in Experimenten erprobt. Es wird skizziert, collagiert, Modelle werden

In dem „ibini Riesen-Buch“ werden Fragen von den jungen Lesern mittels Klebepunkten beantwortet

SEITE 102 | 103ORTE BILDEN ERFAHRUNG EXPERTENBEITRAG E 3.9

Dies schien uns ein guter Weg, um Jugend-liche nach ihrer Perspektive zu fragen. Wir haben unsere Fragen in Grafiken übersetzt. Schnell erfassbar sollten sie sein. Antworten sollten nur einen Klebepunkt erfordern. Maxi-mal ein paar Notizen sollte man zu Papier brin-gen müssen. In der Praxis wird das Buch im Laufe eines Workshops von Hand zu Hand ge-geben. Was ist der Vorteil eines solchen For-schungsbuches? Unsere Erwartung war, dass das Buch das Interesse der Jugendlichen we-cken würde. Es ist schnell auszufüllen, sodass weder die Jugendlichen das Interesse verlie-ren, noch der Workshop in seinem Ablauf be-einträchtigt wird. Es ist flexibel, sodass es über einen Workshop verteilt immer wieder von Ju-gendlichen ausgefüllt werden kann, die eine Pause machen oder kurz Zeit überbrücken. Das Buch deckt unterschiedliche Themenbe-reiche der Begleitforschung ab. Einer davon behandelt die Frage, was Jugendliche in der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt und de-ren Gestaltung lernen. Wir wollten eine Idee davon bekommen, was die Jugendlichen aus den HINGUCKER!-Workshops mitnehmen. Durch die einfache Erfassbarkeit der Ergeb-nisse mit wenigen Blicken, gibt das Buch dem HINGUCKER!-Team zudem ein kurzfristiges Feedback, sodass Workshop-Konzeptionen bei Bedarf angepasst werden können.

Wie lässt sich nun herausfinden, ob Orte Erfahrungen bilden?

Unsere Tests mit dem Forschungsbuch zei-gen, dass die Jugendlichen Spaß daran ha-ben, mit anderen Teilnehmern in den stum-men Dialog zu treten. Das Buch wird teilweise in Gruppen ausgefüllt, wodurch auch direkte Gespräche über den Workshop entstehen. Allerdings zeigen die Tests auch einige Tücken auf: In vielen der HINGUCKER!-Workshops gestaltete es sich schwierig, Jugendliche zu erreichen. Häufig fühlten sich überwiegend

Kinder bis 13 Jahre angesprochen. Da das Forschungsbuch für eine ältere Zielgruppe konzipiert ist, war der Einsatz teilweise schwie-rig. Während manche Kinder keine Hemmun-gen hatten, das Buch unter Missachtung or-thografischer Feinheiten auszufüllen, ist das geschriebene Wort für andere ein Hemm-nis. Aber auch Jugendliche hatten teilweise Schwierigkeiten, die textlichen Erläuterungen und grafischen Darstellungen zu erfassen. Eine weitere Vereinfachung ist offensichtlich notwendig. Aus Forschersicht ist außerdem zu kritisieren, dass das Buch in dieser Form – der Verständlichkeit und Einfachheit wegen – ge-schlossene und halb-offene Fragen bevor-zugt. Das heißt, wir haben als Forscher an vielen Stellen mögliche Antworten zusammen-gestellt und bieten diese als Auswahlmöglich-keiten an. Bei einigen Fragen wären dage-gen gerade die Antworten auf offene Fragen spannend.Unsere Erfahrungen zeigen, dass es weiterer Ansätze zur Erforschung der Frage bedarf, was die Jugendlichen von Orten erfahren und welche Rolle baukulturelle Bildung hierbei spielen kann. Zwei Ansatzpunkte wurden in unseren Tests deutlich: Zunächst einmal sind die Teilnehmenden Beobachtungen wichtig. Wir konnten sehen, wie Kinder und Jugend-liche unterschiedlichste Dinge erlernten. Der sichere Umgang mit Schere und Kleber, dem Akkuschrauber oder der Laubsäge musste teilweise eingeübt werden. Besonderer Arbeits eifer kam im Umgang mit schwerem Gerät wie der Kreissäge auf – die ausführ-liche Sicherheitsunterweisung schreckte nicht ab. Zwar konnten wir die Übungsprozesse und ihre Erfolge beobachten, doch reflek-tierten die Jugendlichen im Forschungsbuch nur teilweise über ihre neu erworbenen hand-werklichen Fähigkeiten. Der zweite wertvolle Zugang zu Informationen waren Gespräche mit Personen, die die Jugendlichen aus dem

täglichen Umgang kennen. Die HINGUCKER!-Workshops werden häufig in Zusammen arbeit mit Jugendeinrichtungen durchgeführt. Wäh-rend unserer Beobachtungen kamen wir mit den Betreuern vor Ort ins Gespräch. Hierbei wurden unsere Wahrnehmungen der Work-shops teilweise radikal gerade gerückt. Die Betreuer bewerteten den Spaß an Aktivitäten, das Engagement der Jugendlichen, die Kon-zentrationsspanne und ähnliches ganz an-ders – meist deutlich positiver – als wir.Der Ansatz des HINGUCKER!-Projektes zeigt große Nähe zu der oben beschriebenen Hal-tung der Studierenden: Zum einen wird Orten und Räumen sowie deren Nutzung eine hohe Bedeutung zugeschrieben, zum anderen aber auch deren Aneignung und Gestaltung für Bil-dungsprozesse. Allerdings befassen sich die Studierenden in ihren Arbeiten vorwiegend mit ihrer Rolle als angehende Stadtplaner und ihren Einflussmöglichkeiten bei der Schaf-fung von Rahmenbedingungen für Bildungs-prozesse. Das HINGUCKER!-Projekt wiede-rum setzt bei Jugendlichen als Nutzergruppe des öffentlichen Raumes an. Mit dem brei-ten Methodenspektrum der baukulturellen Bildung wird den Jugendlichen Wissen und Handwerkszeug vermittelt, um die Orte, die die Studierenden mit ihren Arbeiten exem-plarisch entworfen haben, lesen, nutzen, sich aneignen, weiterdenken und umgestalten zu können. Außerdem – und dies ist noch wich-tiger – werden die jugendlichen Teilnehmer des HINGUCKER!-Projekts dazu angeregt, dies auch tatsächlich zu tun.Wir sind davon überzeugt, dass ein For-schungs buch wie unseres erste Aufschlüsse darüber geben kann, was Jugendliche aus der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt mitnehmen. Über diese ersten Ideen hinaus bleibt die Frage, welche Erfahrungen Orte bil-den, ein spannendes Forschungsthema, dem wir uns weiterhin widmen.

Die Begleitforschung zum HINGUCKER!-Projekt führen wir am Fachgebiet im Team durch. Ganz herzlich möchte ich mich bei Angela Million und Felix Bentlin bedanken, denn gemeinsam haben wir das Forschungsbuch entworfen. Außerdem danken wir dem JAS-Team für die Mitarbeit an der Begleitforschung

Die Jugendlichen beantworten Fragen im HINGUCKER!-Forschungsbuch durch Einkleben farbiger Punkte

SEITE 104 | 105ORTE BILDEN ERFAHRUNG EXPERTENBEITRAG DIPL-ING. ANNA JULIANE HEINRICH FG STÄDTEBAU UND SIEDLUNGSWESEN TU BERLIN

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… zusammen studieren, dann entstehen neue Denkräume, die mit der programma-tischen Überschrift „Räume bilden“ versehen werden können. Bildungs- und Sozialpolitik ist ein Themen-komplex, der eine immer bedeutendere Rolle für die Entwicklung von Quartieren und Städ-ten einnimmt. Wenngleich gesellschaftliche Veränderungen von jeher die städtische und städtebauliche Entwicklung geprägt haben, scheint in letzter Zeit insbesondere der öffent-liche Raum – geleitet durch ein verändertes Bildungsverständnis und durch zunehmende soziale Ungleichheit – an Bedeutung als non-formalem Bildungs-Setting und als Bühne des Sozialen zu gewinnen. Wie kann man für diese aktuelle Entwicklung Studierende der Archi-tektur und der Sozialpädagogik sensibilisie-ren? Dieser Beitrag thematisiert einen Ansatz für interdisziplinäre Lehrveranstaltungen in den Bereichen Bildung/Soziales und Architektur/Stadtplanung an der Fakultät „Bildung-Archi-tektur-Künste“ der Universität Siegen (zum Kontext siehe Schröteler-v. Brandt 2012).

Christine Loth und Thomas Coelen über die bildende Funktion des öffentlichen Raums

Wenn Sozialpädagogen und Architekten …

Alltag gestalten und bewältigen. Die Stadt ist also „bildend“ auf Basis ihrer Bildungseinrich-tungen – aber sie muss eben auch mehr sein als die Summe und die Wirkungen der Orga-nisationen, wenn das Adverb „bildend“ richtig platziert sein soll. Kurzum: Wir müssen auch den öffentlichen Raum der Stadt auf seine bil-dende Funktion hin analysieren.

Pädagogik und öffentlicher Raum

Das hört sich zunächst einmal befremdlich an und vermutlich werden sich einige fragen: Bildung ist doch das, was im Schulunterricht vermittelt wird oder? Was – bitte schön – hat Bildung mit Straßen, Wegen, Fußgängerzo-nen, Plätzen, Parks etc. zu tun? Nun, histo-risch betrachtet: alles! In der griechischen An-tike gab es Pädagogik nämlich ausschließlich im öffentlichen Raum. Jetzt werden wiede-rum vermutlich einige gedanklich einwen-den: Was war denn mit den Eltern in den hei-mischen oikos (gr.) und den Lehrern in der scholé (gr.)? In den nicht-adeligen Familien werden sich tatsächlich auch die Eltern um die Heranwachsenden gekümmert haben und die Lehrer haben auch sicherlich nicht nur doziert. Die entscheidende „bildende“ Funktion aber hatte die Person des „Kinder-begleiters“, des paidagogos (pais gr. heißt „Kind“, agogos gr. ist eine Form von „beglei-ten“). Der paidagogos – also der Pädagoge – begleitete die Kinder von ihrem Zuhause bis zur Schule (und umgekehrt) und zwar: durch den öffentlichen Raum.Der Pädagoge war also derjenige „gebildete“ Sklave, der den Knaben auf dem Schulweg begleitete und für das richtige Benehmen An-weisungen gab und wohl auch Züchtigungen erteilte (Gewand, Blickrichtung, Körperhal-tung, Schweigen, Tischmanieren) und er trug dem Jüngling die nötigen Schulsachen (falls es dafür nicht einen zusätzlichen Diener gab). Der paidagogos wohnte dem Schulunterricht

bei und betreute anschließend die Schulauf-gaben der Knaben. Die Darstellungen in der Kunst zeigen den paidagogos meist mit dem Gesicht eines Barbaren („Nicht-Griechen“). Als weiteres Zeichen seiner fremdländischen Herkunft trägt er häufig eine kurze Ärmel-tunika und hohe Schnürschuhe. Ein kahler Kopf, ein struppiger Bart, ein Mantel sowie ein langer, oben gekrümmter Stock vervoll-ständigen das Bild.Pädagogik bedeutet also ursprünglich: Me-thodologie der Kinderbegleitung durch den öffentlichen Raum der Stadt. In der Antike hieß das ganz konkret: Der Knabe wurde vom elterlichen oikos durch die polis (gr.) über die agora (gr.) zur scholé begleitet (und zurück), und währenddessen erklärte der Pädagoge dem Kind nicht weniger als die Phänomene des Lebens. Heute gibt es diese Unmittel-barkeit nur noch in Ausnahmen (zum Beispiel als Streetwork), viel häufiger aber abstrakt: als Unterstützung, Förderung, Beratung oder Hilfe in vielfältigen Institutionen und Professi-onen der sogenannten Kinder- und Jugend-hilfe (Kitas, Jugendarbeit, Erziehungshilfen).

Raum für Bildung

Der erste Gedanke, dass Bildung vor allem in Unterrichtsformen vermittelt werde und dies dann reichlich unabhängig vom städ-tischen Kontext vonstattengehe, kann zumin-dest historisch und begrifflich (etymologisch) zerstreut werden. So weit, so gut. Wie aber lässt sich diese Einsicht in Hochschulsemi-naren vermitteln? Wie können angehende Ar-chitekten und Sozialpädagogen mit diesem Komplex in Berührung gebracht werden?Zunächst einmal liegt der Gedanke, Sozial-pädagogik-Studenten und Studierende der Architektur (und Stadtplanung) gemeinsam zu unterrichten, deshalb nahe, weil die These, Raum werde mehrdimensional und relatio-nal konstruiert, dem Lehrkonzept zugrunde

Eine „bildende Stadt“?

Die Stadt ist von alters her eine typisch menschliche Siedlungs- und Gesellungs-form und in Städten waren schon immer die wichtigsten Institutionen der Bildung hoch-verdichtet präsent: Städte entstanden oft um Bildungseinrichtungen herum, umgekehrt wurden und werden Bildungseinrichtungen vorwiegend in Städten gegründet. Aber: In-wiefern kann das ehrenvolle Adverb „bildend“ einer ganzen Stadt zugeordnet werden? Wann und unter welchen Umständen ist eine Stadt insgesamt „bildend“ (und nicht nur eine Stadt, in der ein paar Bildungseinrichtungen vorzufinden sind)?Das geht sicherlich nur dann, wenn man Bil-dung als etwas ansieht, das nicht ausschließ-lich in den architektonischen Mauern von Or-ganisationen stattfindet beziehungsweise, wenn die Stadtmenschen nicht nur tempo-räre Nutzer von Bildungseinrichtungen sind, sondern als Bewohnerschaft urban und bil-dend auf ihresgleichen wirken. Wir müssen also durchaus auf die Organisationen und ihre Konzepte (institutionelle Strukturen) schauen, aber auch auf deren Personal und die Adres-saten (Bürger/Heranwachsende). Dabei dür-fen wir nicht vergessen, dass nicht alle Men-schen rund um die Uhr und lebenslang Nutzer von Einrichtungen sind, sondern in der Stadt auch einfach ihren beruflichen und familiären

Der „Kinderbegleiter“ (griechisch „paidagogos“) mit seinem Schüler im öffentlichen Raum

SEITE 106 | 107ORTE BILDEN ERFAHRUNG EXPERTENBEITRAG E 3.10

liegt. Insbesondere zeigt sich in der jüngeren Vergangenheit ein Wandel in der Wahrneh-mung von Stadt, der unser Nachdenken und den Umgang beeinflusst. So fordert Finger-huth in seinem Vorwort der Publikation „Der öffentliche Raum“: „Mehr und mehr werden wir uns der Komplexität und Widersprüch-lichkeit der Stadt bewusst [...]. Wir brauchen mehr als eine Addition von architektonischen Projekten. Wir benötigen eine sorgfältige, kreative und konzeptionelle Betreuung der Transformation der Stadt. Das erfordert an-dere Instrumente, Verfahren und Methoden.“ (Fingerhuth 2009, S. 7).Stadt ist – und damit ist hier die europäische Stadt gemeint – seit jeher per se bildend, un-abhängig von Alter, Geschlecht und Lebens-situation. Stadt ist – hier insbesondere der öf-fentliche Raum – Konfrontation und Forderung zugleich. Öffentlicher Raum ist weitaus mehr als eine geometrische Größe. Öffentlicher Raum ist Austragungsort gesellschaftlicher Entwicklungen und der Ort der historischen Auseinandersetzung zwischen den „Mäch-ten“ in der Stadt – nämlich denjenigen, die die städtischen Räume hervorbringen und prägen und denjenigen, die um ihren Anteil an den städtischen Nutzungen kämpfen (vgl. Schrö-teler-von Brandt 2008, S. 8). So wie die Funk-tion einer Stadt auch immer Auswirkungen auf ihre Form hat, ist sie auch ein Abbild der jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen. Städte sind vielfach komplexe Lebensräume. Sie sind jung und alt, reich und arm, und sie sind Zentren von Netzwerken und Menschen. Städte sind gebaute Realität und Bühne für Aushandlungen. Städte sind noch mehr: Sie sind entgegen dem Leben auf dem Land ge-prägt von Privatheit und Öffentlichkeit zu-gleich. Die Trennung und Vermischung dieser beiden Aspekte ist eines der zentralen Merk-male unserer europäischen Stadt.

umfassende Bildung. Laut Vitruv setzt sich das Wissen eines Architekten aus fabrica (gr.)(Handwerk/Handfertigkeit) und ratiocinatio (gr.) (geistiger Arbeit/wissenschaftlicher Aus-bildung) zusammen. Damit orientiert er sich an den Schulungen der artes liberales (gr.), einem in der Antike entstandenen Kanon von sieben Studienfächern, bei dem die Philoso-phie im Mittelpunkt der Sieben Freien Künste steht, und greift die Forderung Ciceros nach einer umfassenden Bildung auf (vgl. Reber 2015, S 17–29). Die Rolle des Architekten kann so beschrieben werden: Der Architekt in der Antike war ein theoretisch wie praktisch in zahlreichen Fächern ausgebildeter Kultur-mensch (vgl. Hassler 2015, S. 68).

Öffentlicher Raum und institutionelle Bildungseinrichtungen

Stellt man sich vor, es wäre ein Gespräch zwischen einem paidagogos und einem Bau-meister in der Antike zustande gekommen, könnte man vermuten, dass beide, auf der agora stehend, über die Zusammenhänge der Sieben Freien Künste, über die Schönheit der Stadt und über die Phänomene des Le-bens philosophiert hätten. Für einen Zögling, der einem solchen Gespräch gefolgt wäre, wäre der öffentliche Raum in dem Fall Lehr-, Lernraum und Lebenswelt zugleich. Lägen nicht einige Jahrhunderte dazwischen, könnte man vermuten, dass Burckhardt da-mals einer dieser interessierten Zöglinge ge-wesen wäre, denen man auf wundersame Weise die Phänomene des Lebens einfach und verständlich erklärte.Während Planer, egal ob Raum- oder Stadt-planer oder Architekten, sich der Planzeich-nungen, der Räume und der Gebäude als Medien und als „Sprache“ bedienen, sind für die Sozialwissenschaftler Worte, Begriffe und Texte das Medium der Auseinandersetzung (vgl. Alisch 2007, S. 309). Hier greift ein Ansatz

des interdisziplinär angelegten Seminars den Gedanken auf, dass Kommunikation nur dann erfolgreich ist, wenn die Sprache von allen Beteiligten verstanden wird. Beispielsweise benennt Alisch „babylonische Verhältnisse [in der] Inter-Disziplinären Planungssprache“ (vgl. ebd.) und meint, dass viele Gesprächspartner unterschiedlicher Disziplinen oft nur per Zufall über den gleichen Inhalt reden.Warum (und wie) also sollten Sozialpädago-gen und Architekten in interdisziplinär ange-legten Seminaren gemeinsam studieren? Die Antwort liegt auf der Hand: Raumbezogene Ansätze sind immer multiperspektivisch zu betrachten. 1. Architekten sollen sich der Alltagsrele-

vanz ihrer gestalterischen Tätigkeit be-wusst werden und diese im Kontext Stadt reflektieren.

2. Im Tätigkeitsbereich Stadtplanung und Stadtentwicklung wird der Ansatz der so-zialen Stadtentwicklung immer bedeu-tender, da unsere Städte zunehmend von sozialer Ungleichheit geprägt sind. Der Stadtplaner wird immer stärker mit der Aufgabe „Management von Stadt“ konfrontiert.

3. Dass die Soziale Arbeit einen wichtigen Beitrag für die Stadtentwicklung lie-fert, kann alleine am Beispiel der zuneh-menden Integrationsleistung und -heraus-forderungen von Städten belegt werden, die für den Zusammenhalt der urbanen Gesellschaft von großer Bedeutung ist.

4. Stadt und städtische Quartiere sind das Arbeitsfeld für raumbezogene Sozialarbeit.

In der Rolle als Lehrende versuchen wir an-hand geeigneter Methoden und Herange-hensweisen dem gerechtfertigten Anspruch an eine gute (Aus-)Bildung nachzukommen und die Studierenden inhaltlich wie auch me-thodisch zu bilden.

QUELLEN> Alisch, Monika (2007): Empowerment und Governance: Inter-

disziplinäre Gestaltung in der sozialen Stadtentwicklung. In: Baum, D. (Hg.): Die Stadt in der Sozialen Arbeit. Wiesbaden. S. 305–315.

> Fingerhuth, Carl (2009): Vorwort. In: Reicher, C. / Kemme, T. (2009): Der öffentliche Raum. Berlin. S. 7.

> Häußermann, Hartmut / Siebel, Walter (1994): Gemeinde- und Stadtsoziologie. In: Kerber, H. / Schmieder, A.: Spezielle Sozio-logien: Problemfelder, Forschungsbereiche, Anwendungsorien-tierungen. Reinbek bei Hamburg. S. 363–387.

> Hassler, Uta (Hg.) (2015): Der Lehrbuchdiskurs über das Bauen. Institut für Denkmalpflege und Bauforschung an der ETH Zürich.

> Kerber, Harald / Schmieder, Arnold (1994): Spezielle Soziologi-en: Problemfelder, Forschungsbereiche, Anwendungsorientie-rungen. Reinbek bei Hamburg.

> Reicher, Christa / Kemme, Thomas (2009): Der öffentliche Raum. Berlin.

> Reber, Franz (2015): Vitruv – Zehn Bücher über Architektur. Wiesbaden.

> Schröteler-von Brandt, Hildegard (2008): Stadtbau- und Stadt-planungsgeschichte. Stuttgart.

> Schröteler-von Brandt, Hildegard et al. (Hg.) (2012): Raum für Bildung. Ästhetik und Architektur von Lern- und Lebensorten. Bielefeld.

Der Baumeister und der Erzieher

Doch was hat das nun mit Bildung zu tun? Und über welche Formen von Bildung spre-chen wir in diesem Zusammenhang? Zu-nächst einmal kann festgehalten werden, dass der öffentliche Raum weitgehend frei von institutionellen Bildungseinrichtungen ist.Seit der Antike wird unter Bildung in der Archi tekturausbildung etwas verstanden, das neben einem disziplinären Wissen auch ein breites (Allgemein-)Wissen sowie vielfältige technische, soziale und ästhetische Kompe-tenzen umfasst. Diese ganzheitliche Bildung wiederum kann nur dadurch erreicht werden, dass Wissen individuellen Bezug hat und er-fahrbar wird. Diesen Ansatz greift bereits in den 1980er Jahren der Soziologe Lucius Burckhardt mit der von ihm und seiner Frau Annemarie Burckhardt begründeten Spaziergangswis-senschaft auf. Sie verknüpften in besonderer Weise das, was bereits in der Antike von den paidagogos als elementarer Bestandteil von Bildung angewandt wurde. Es gelang ihnen mit diesem Ansatz, eine Methode zur Schu-lung der Wahrnehmung und zur Reflexion sa-lonfähig zu machen. Das große Interesse an gemeinsamen Stadtspaziergängen und die große Resonanz, die derzeit diese Form von Bewegung durch den und die Begegnung mit dem städtischen öffentlichen Raum erfährt, macht deutlich, dass uns eine solche Form der Bildung in und an der Stadt (offenbar) ver-loren gegangen war. Bereits Aristoteles schrieb der Stadt eine hohe moralische Instanz zu und stellte sie als Ganzes über den einzelnen Menschen. In-sofern verwundert es wenig, dass dem Be-ruf des Architekten beziehungsweise des Baumeisters bereits in der Antike eine große Bedeutung beigemessen wurde. So fordert beispielsweise Vitruv im ersten seiner zehn Bücher zur Ausbildung des Architekten eine

SEITE 108 | 109ORTE BILDEN ERFAHRUNG EXPERTENBEITRAG DIPL.- ING. (FH) CHRISTINE LOTH MSC PROF. DR. THOMAS COELEN ZENTRUM BILDUNGSFORSCHUNG (SIZE)UNIVERSITÄT SIEGEN

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Angela Million und Dietrich Henckel über die Frage, welcher Auftrag sich für die Planungspraxis und Stadtentwicklungspolitik zur Gestaltung der bildenden Stadt ergibt

Handlungs- empfehlungen

Lernen findet immer statt – nicht nur in der Schule, sondern auch auf dem Weg dort-hin, Zuhause, in der Freizeit, im Umgang mit Freunden, dem Bekannten und Fremden, dem Fernen und dem Nahen. Daher liegt die Erkenntnis nahe, dass unsere Lebensräume die Aneignung von Wissen und Kompetenzen in der heutigen Wissensgesellschaft beein-flussen – ohne dass wir uns dessen in der Regel bewusst sind. Bauende und planende Professionen setzen sich per Berufsfeld mit der aktuellen und zukünftigen Entwicklungen und der physischen Gestaltung von Lebens-räumen auseinander. Die Stadt mit ihren Kon-texten, Situationen und Orten des Lernens war Ausgangspunkt für angehende Stadt-planer, strategische und physisch-räumliche Interventionen für die „lernende“ und „leh-rende“ Stadt zu entwickeln.In einer erweiterten Vorstellung von Lernen und Bildung erfüllen nicht nur die formellen Bildungseinrichtungen einen Auftrag, son-dern auch die alltägliche Erfahrbarkeit der Stadt. Stadtplanung kann, wenn sie diese implizite Rolle städtischer Gestaltung einbe-zieht, Wesentliches beitragen und Bildungs-prozesse mitgestalten. Lernen ist als Thema

bereits in der aktivierenden Quartiersent-wicklung verankert – das Programm „Soziale Stadt“ zeigt dies. Der Fokus aber liegt noch immer maßgeblich auf Schulen als Impulsge-ber. Die oben beschriebenen vielfältigen Fa-cetten bildungsorientierter Stadtentwicklung werden bisher selten bewusst gelebt und ausgeschöpft. In diesem Sinne sollte es in Stadtentwick-lungsprozessen stärker darum gehen, eine offene Gestaltung, einen umfassenden Ab-bau von Barrieren, das Verständnis von Stadt und die Einbeziehung von Zivilgesellschaft und Wirtschaft zu erreichen. Die Ziele von Bildung und Stadtplanung sollten mit ihren jeweils eigenen Qualitäten nebeneinander-gestellt und Wechselwirkungen in Szenarien und Entwicklungsoptionen durchgespielt werden. Dies erhöht das interdisziplinäre Ver-ständnis und die Kooperationsbereitschaft in Stadtverwaltungen und Stadtpolitik. Einen exzellenten Beitrag hierzu leisten auch die Sommerschulen der Nationalen Stadtent-wicklungspolitik. Was kann die Stadtentwick-lungspolitik und -praxis von den Beiträgen der Studierenden, Lehrenden und Experten mitnehmen?

... spielen lokale Besonderheiten eine große RolleDer lokale Kontext der Nachbarschaft, des Ortsteils, der Gesamtstadt und bisweilen der Region ist ein zwangsläufiger Ausgangspunkt für bildungsorientierte Stadtentwicklung. Dabei wird die Stadt mit ihren vielfältigen Nutzungen und Nutzern als Lernsetting ver-standen. Orte für Bildung finden sich damit auch in Wohngebieten und Gewerbegebie-ten, in Parkanlagen, Geschäftsstraßen und auf Brachflächen. Aber auch auf gesamtstäd-tischer Ebene werden planerisch wichtige Entscheidungen zu Standorten von Bildungs-einrichtungen getroffen, die die Entwicklung von Stadtquartieren beeinflussen.

... werden aktivierende Strategien für alle Bewohner vorgeschlagenStatt einer ausschließlichen Fokussierung des Themas auf Kinder und Jugendliche, steht lebenslanges Lernen im Vordergrund der Strategien. Sie greifen die Begabungen aller Bewohner auf. Für sie sollen Räume und Anlässe entwickelt werden, um ihr Wissen weiterzugeben und selbst Unbekanntes zu erwerben.

... werden Bürger zu Mitgestaltern ihres QuartiersEs geht nicht nur darum, Wissen von Exper-ten zu nutzen oder ganz bestimmte Lernpro-zesse vorzugeben. Bürger sollen ihr Wissen und ihre Kompetenzen frei einbringen kön-nen, Mitsprache und Mitgestaltungsmöglich-keiten haben und ihr Quartier aktiv weiterent-wickeln. Auf diese Weise wird Partizipation zum Lernprozess und werden Lernprozesse zu Partizipation.

Wenn (angehende) Stadtplaner Bildung mitdenken, dann …

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... werden Zäune und Mauern als lebendige Fassaden gestaltet oder gezielt abgebautUngestaltete Zäune und Mauern zum öffent-lichen Raum und zwischen Bildungsinstitu-tionen verschenken Bildungsgelegenheiten. Als Fassaden verstanden können sie gezielte Ein- und Ausblicke in das städtische Leben bieten – in die Kleingartenanlage, in den Ge-werbebetrieb oder in das Schulleben. Gleich-zeitig eröffnet der gezielte Abbau von Zäunen und Mauern rund um die Bildungsinstituti-onen Gelegenheiten für gesellschaftlichen Austausch, vielfältigere Nutzungen bisher monofunktionaler Orte und ein Zusammen-wachsen von Bildungseinrichtungen und Nachbarschaften.

… vernetzen sich private und öffentliche Akteure, um neue Bildungschancen zu erschließenDie räumliche Nähe von formellen Bildungs-institutionen, privaten Einrichtungen und Un-ternehmen bietet das Potential für wertvolle Synergien. Eine entsprechende bauliche Ge-staltung und Öffnung – im Sinne eines Schau-fensters – schafft die Möglichkeit, die eigenen Tätigkeiten zu vermitteln. Kommunikation wird durch gemeinsam genutzte Infrastrukturen wie Kantinen geschaffen und fachlicher Aus-tausch durch Praktika oder Führungen initiiert.

... ist die Entwicklung und Gestaltung des öffentlichen Raums zentral Der öffentliche Raum – Straßen, Wege, Plätze – bietet informelle Lern-Settings. Er ist zugleich Bindeglied zwischen Bildungseinrich-tungen und der Bevölkerung. Wenn öffentliche Räume als Bildungsräume verstanden wer-den, ist die sensible Balance zwischen ange-legter Gestaltung und individueller Nutzbar-keit sowie weiterer Aneignungsmöglichkeiten auszuloten.

... sind Bildungs-einrichtungen als zentrale Stadtbausteine zu gestaltenSchulen, Kindergärten, Volkshochschulen, Jugendzentren und andere Bildungseinrich-tungen sind wichtige Stadtbausteine, welche die Städte, Gemeinden und Nachbarschaf-ten prägen. Zunehmend werden diese Bil-dungsbauten auch durch die Nachbarschaft genutzt. Bildungseinrichtungen werden mul-tifunktionaler gedacht und nehmen Angebote und Dienstleistungen für die Nachbarschaft auf, werden zu individuellen Freizeit- und Lernräumen wie auch zu nachbarschaftlichen Versammlungsorten.

... bedarf es weiterer Konzepte, Pläne, Bilder und Diskussionen zur lehrenden und lernenden StadtDas Bild der „lehrenden“ und „lernenden“ Stadt ist im Detail noch nicht gezeichnet. Es gibt noch eine Reihe von Punkten, die inter-disziplinär zwischen Stadtplanern, Stadtge-staltern sowie Akteuren der Bildung diskutiert und Wege für die Umsetzung in Verwaltung und Politik gefunden werden müssen. Zu-künftige Stadtplaner wollen und sollen die Stadt als Lernort verstehen. Sie haben einen Beitrag als Experten zu leisten, sehen sich aber immer auch als lernende Planer in einer bildenden Stadt.

... wird eine hohe städtebauliche und architektoni-sche Qualität von Bildungsbauten als notwendig erachtetPädagogische Architektur ist heute kein Fremdwort mehr. Vielerorts werden bereits exzellente Schulneubauten und -moderni-sierungen unter frühzeitiger und begleitender Beteiligung von Lehrern, Schülern und Eltern und bisweilen der gesamten Nachbarschaft realisiert. Hier gibt es eine Praxis, welche die Messlatte für die Planung und Gestaltung in ganz Deutschland sein sollte. Gleichzeitig müssen zeitgenössische Campusarchitek-turen, die sich zum Beispiel an Technologie-parks orientieren, kritisch hinterfragt werden.

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PROF. DR.- ING. ANGELA MILLION PROF. DR. DIETRICH HENCKEL INSTITUT FÜR STADT- UND REGIONALPLANUNG, TU BERLIN

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Das Video zum Projekthttps://youtu.be/zAEmqRUSJYo

VERLAG

TEMPUS CORPORATE –Ein Unternehmen des ZEIT VerlagsBüro Berlin:Askanischer Platz 310963 BerlinBüro Hamburg:Helmut-Schmidt-HausBuceriusstraße, Eingang Speersort 120095 Hamburgwww.tempuscorporate.zeitverlag.deGeschäftsführungUlrike TeschkeJan HawerkampProjektleitungAndreas LorekKonzept und GestaltungKai KullenTextchefRoman HeflikRedaktionelle MitarbeitViviana FreyerFenja MensKatrin WeidenHerstellungDirk Woschei, DIE ZEITDruckGrafisches Centrum Cuno, Calbe

© 2016Million, Bentlin, HeinrichFachgebiet Städtebau und Siedlungswesen ISR – TU Berlin

ISBN (Publikation): 978-3-945627-07-5ISBN (Online-PDF): 978-3-945627-08-2

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved.Printed in Germany

IMPRESSUM

HERAUSGEBER

Angela Million Felix Bentlin Anna Juliane HeinrichFachgebiet Städtebau und Siedlungswesen ISR – TU Berlin

ProjektbearbeitungAngela Million Felix Bentlin Jürgen Höfler Anna Juliane HeinrichFachgebiet Städtebau und Siedlungswesen ISR – TU BerlinUnter Mitarbeit vonDietrich Henckel Susanne Thomaier Sandra May Fachgebiet Stadt- und Regionalökonomie ISR – TU Berlin

Redaktion und KonzeptionTU BerlinInstitut für Stadt- und Regionalplanung (ISR)Prof. Dr.-Ing. Angela MillionFachgebiet Städtebau und SiedlungswesenHardenbergstr. 40A10623 Berlinwww.tu-berlin.deVerantwortlich Felix BentlinMitarbeit Jürgen Höfler

Fotos und IllustrationenGetty Images/The Science Picture Company (Cover), BMUB/Harald Franzen (S. 5), Felix Grimm (S. 10–19), Theda von Kalben (S. 42), Matthias Friedel (S. 43), Martin Kunze (S. 43), SI Stuttgart (S. 44/45, S. 46/47, S. 48/49, S. 50/51), Archiv VorOrt-Projekt (S. 74), Archiv Domstraße 2 e.V. (S. 74, S. 77), Brigitte Hartwig (S. 77), Fotolia / Dejan Jovanovic (S. 82), Icons designed by Freepik / Bentlin / Höfler / Kullen (S. 82/83, S. 110–113), Barbara Schönig (S. 98/99), Angela Million (S. 102/103), Felix Bentlin (S. 104/105), Malte von Tiesenhausen (S. 106)

Die Abbildungen erscheinen mit freundlicher Genehmigung der Rechteinhaber.

Geschlechtsspezi-fische Formulierung Im Sinne einer besseren Lesbarkeit wurde auf geschlechtsspezifische Formulierungen verzichtet. Selbstverständlich bezie-hen sich alle gewählten personenbezogenen Bezeichnungen auf alle Geschlechtsformen.

FÖRDERER

Vodafone Stiftung Deutschlandgemeinnützige GmbHFerdinand-Braun-Platz 140549 DüsseldorfBüro Berlin:Pariser Platz 6a10117 Berlinwww.vodafone-stiftung.deVerantwortlich Dr. Mark SpeichProjektleitungSebastian GallanderMitarbeitAlice Steinbrück

Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR)im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR)Deichmanns Aue 31–3753179 Bonnwww.bbsr.bund.de

Bundesministerium für Umwelt, Natur-schutz, Bau und Reaktorischerheit (BMUB)Stresemannstraße 128 10117 Berlinwww.nationale-stadt-entwicklungspolitik.dewww.bmub.bund.de

PARTNER

Rheinisch-West-fälische Technische Hochschule AachenKlaus Selle Daniela Karow-Kluge Gisela SchmittTechnische Universität BerlinAngela Million Felix Bentlin Anna Juliane Heinrich Jürgen Höfler Zuzana TabackovaBrandenburgische Technische Universität Cottbus-SenftenbergMatthias Koziol Sophia Klauke Cornelia Siebke Alexandra GrünbaumTechnische Universität DortmundChrista Reicher Päivi KataikkoFachhochschule ErfurtNikolai Roskamm Stefan AndresHafenCity Universität HamburgMichael Koch Amelie Rost Timothy Pape Universität KasselCyrus Zahiri Universität SiegenThomas Coelen, Christine LothUniversität StuttgartJohann Jessen Britta HüttenhainBauhaus-Universität WeimarBarbara Schönig Arvid Krüger

Quartiersmanagement LetteplatzSare Özer Ute Funk Norma Ehlers

Quinoa-SchuleFiona Brunk Philipp Zwehl

Lernen findet immer und überall statt – nicht nur in der Schule, sondern auch auf dem Weg dorthin, Zuhause, im Umgang mit Freunden, in Begegnungen mit Bekanntem wie mit Fremdem. Unsere Lebensräume beeinflussen die Aneignung von Wissen, ohne dass wir uns dessen in der Regel bewusst sind. Die Stadt mit ihren Räumen des Lernens war Ausgangspunkt für angehende Stadtplaner, Interventionen für die lernende und lehrende Stadt zu entwickeln. Neben den studentischen Konzepten eröffnen zudem Experten aus Forschung und Praxis weitere Perspektiven auf eine bildende Stadt.

... spielen lokale Besonderheiten eine große RolleDer lokale Kontext der Nachbarschaft, des Ortsteils, der Gesamtstadt und bisweilen der Region ist ein zwangsläufiger Ausgangspunkt für bildungsorientierte Stadtentwicklung. Dabei wird die Stadt mit ihren vielfältigen Nutzungen und Nutzern als Lernsetting ver-standen. Orte für Bildung finden sich damit auch in Wohngebieten und Gewerbegebie-ten, in Parkanlagen, Geschäftsstraßen und auf Brachflächen. Aber auch auf gesamt- städtischer Ebene werden planerisch wichtige Entscheidungen zu Standorten von Bildungseinrichtungen getroffen, die die Entwicklung von Stadtquartieren beeinflussen.

Pädagogische Architektur ist heute kein Fremdwort mehr. Vielerorts werden bereits exzellente Schulneubauten und -moderni-sierungen unter frühzeitiger und begleitender Beteiligung von Lehrern, Schülern und Eltern und bisweilen der gesamten Nachbarschaft realisiert. Hier gibt es eine Praxis, welche die Messlatte für die Planung und Gestaltung in ganz Deutschland sein sollte. Gleichzeitig müssen zeitgenössische Campusarchitek-turen, die sich zum Beispiel an Technologie-parks orientieren, kritisch hinterfragt werden.

… vernetzen sich private und öffent­liche Akteure, um neue Bildungschan­cen zu erschließenDie räumliche Nähe von formellen Bildungsinstitu-tionen, privaten Einrichtungen und Unternehmen bietet das Potential für wertvolle Synergien. Eine ent-sprechende bauliche Gestaltung und Öffnung – im Sinne eines Schaufensters – schafft die Möglichkeit, die eigenen Tätigkeiten zu vermitteln. Kommunika-tion wird durch gemeinsam genutzte Infrastrukturen wie Kantinen geschaffen und fachlicher Austausch durch Praktika oder Führungen initiiert.

... werden aktivie­rende Strategien für alle Bewohner vorgeschlagenStatt einer ausschließlichen Fokussierung des Themas auf Kinder und Jugendliche, steht lebenslanges Lernen im Vordergrund der Strategien. Sie greifen die Begabungen aller Bewohner auf. Für sie sollen Räume und Anlässe entwickelt werden, um ihr Wissen weiterzugeben und selbst Unbekanntes zu erwerben.

... ist die Entwicklung und Gestaltung des öffentlichen Raums zentral Der öffentliche Raum – Straßen, Wege, Plätze – bietet informelle Lern-Settings. Er ist zugleich Bindeglied zwischen Bildungseinrich-tungen und der Bevölkerung. Wenn öffent-liche Räume als Bildungsräume verstanden werden, ist die sensible Balance zwischen angelegter Gestaltung und individueller Nutzbarkeit sowie weiterer Aneignungs- möglichkeiten auszuloten.

... werden Bürger zu Mitgestaltern ihres QuartiersEs geht nicht nur darum, Wissen von Experten zu nutzen oder ganz bestimmte Lernprozesse vorzugeben. Bürger sollen ihr Wissen und ihre Kompetenzen frei einbringen können, Mitsprache und Mitgestaltungs-möglichkeiten haben und ihr Quartier aktiv weiterentwickeln. Auf diese Weise wird Partizipation zum Lernprozess und werden Lernprozesse zu Partizipation.

... werden Zäune und Mauern als lebendige Fassaden gestaltet oder gezielt abgebautUngestaltete Zäune und Mauern zum öffent-lichen Raum und zwischen Bildungsinstitu-tionen verschenken Bildungsgelegenheiten. Als Fassaden verstanden können sie gezielte Ein- und Ausblicke in das städtische Leben bieten – in die Kleingartenanlage, in den Gewerbebetrieb oder in das Schulleben. Gleichzeitig eröffnet der gezielte Abbau von Zäunen und Mauern rund um die Bildungs-institutionen Gelegenheiten für gesellschaft-lichen Austausch, vielfältigere Nutzungen bisher monofunktionaler Orte und ein Zusam-menwachsen von Bildungseinrichtungen und Nachbarschaften.

... bedarf es wei­terer Konzepte, Pläne, Bilder und Diskussionen zur lehrenden und lernenden StadtDas Bild der „lehrenden“ und „lernenden“ Stadt ist im Detail noch nicht gezeichnet. Es gibt noch eine Reihe von Punkten, die inter-disziplinär zwischen Stadtplanern, Stadtge-staltern sowie Akteuren der Bildung diskutiert und Wege für die Umsetzung in Verwaltung und Politik gefunden werden müssen. Zukünftige Stadtplaner wollen und sollen die Stadt als Lernort verstehen. Sie haben einen Beitrag als Experten zu leisten, sehen sich aber immer auch als lernende Planer in einer bildenden Stadt.

... sind Bildungs­einrichtungen als zentrale Stadtbau­ steine zu gestaltenSchulen, Kindergärten, Volkshochschulen, Jugend- zentren und andere Bildungseinrichtungen sind wichtige Stadtbausteine, welche die Städte, Gemeinden und Nachbarschaften prägen. Zunehmend werden diese Bildungsbauten auch durch die Nachbarschaft genutzt. Bildungseinrichtungen werden multifunktionaler gedacht und nehmen Angebote und Dienstleistungen für die Nachbarschaft auf, werden zu individuellen Freizeit- und Lernräumen wie auch zu nachbarschaftlichen Versammlungsorten.

Lernen findet immer und überall statt – nicht nur in der Schule, sondern auch auf dem Weg dorthin, Zuhause, im Umgang mit Freunden, in Begegnungen mit Bekanntem wie mit Fremdem. Unsere Lebensräume beeinflussen die Aneignung von Wissen, ohne dass wir uns dessen in der Regel bewusst sind. Die Stadt mit ihren Räumen des Lernens war Ausgangspunkt für angehende Stadtplaner, Interventionen für die lernende und lehrende Stadt zu entwickeln. Neben den studentischen Konzepten eröffnen zudem Experten aus Forschung und Praxis weitere Perspektiven auf eine bildende Stadt.

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Wenn Stadt Bildung mit­ denkt, dann ...

2016

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DIE BILDENDE STADT HERAUSGEBER ANGELA MILLION FELIX BENTLIN ANNA JULIANE HEINRICH IN KOOPERATION MIT DER VODAFONE STIFTUNG DEUTSCHLAND

Das Video zum Projekthttps://youtu.be/zAEmqRUSJYo

... wird eine hohe städtebauliche und architekto­ nische Qualität von Bildungsbauten als notwendig erachtet

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PROZENTSATZ VON ERSTKLÄSSLERN, DIE SELBSTSTÄNDIG ZUR SCHULE GEHEN 7

JEDER 10. SCHÜLER WIRD IM LAUFE DER SCHULZEIT BEI EINEM VERKEHRSUNFALL VERLETZT 6

33 %

GRUNDSCHUL KINDER, DIE IHREN SCHULWEG NICHT MEHR KENNEN, WEIL SIE VON IHREN ELTERN MIT DEM AUTO GEBRACHT UND ABGEHOLT WERDEN 5

1970

200017 %

91 %

IM STRASSENVERKEHR GETÖTETE KINDER PRO 100.000 EINWOHNER UNTER 15 JAHREN IN DEN JAHREN 1970 UND 2004 IN AUSGEWÄHLTEN EUROPÄISCHEN LÄNDERN 4

SCHULRECHTLICH ANERKANNTE KLASSENZIMMER BEFINDEN SICH Z.  B. IN 2

… WOHNWAGEN… SEGELSCHIFFEN

GRUNDSCHULKINDER EMPFINDEN IHREN SCHULWEG ALS 6

28 % … UNGEFÄHRLICH

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3,4

… SCHULGEBÄUDEN

7222015

2161983

ABENTEUERSPIELPLÄTZE BIETEN BETREUTE SPIELANGEBOTE, ABER AUCH SELBST GESTALTBARE ERLEBNISSPIELRÄUME, IN DENEN KINDER BAUEN, TÖPFERN, MALEN, KOCHEN ODER TIERE FÜTTERN KÖNNEN 1

1 500 NATUR- UND WALDKINDERGÄRTEN BESTEHEN IN DEUTSCHLAND. HINZU KOMMEN WEITERE KINDERGÄRTEN, DIE „NATUR- ODER WALDORIENTIERT“ ARBEITEN 3

Bildung passiert auch im Vorbeigehen, denn Alltagswege und -orte besitzen das Potential, Lerngelegenheiten anzubieten. Diese entstehen einerseits durch gemein-same Wege und multifunktionale Orte für unterschiedliche Aktivitäten im Stadtraum. Beispielsweise dort, wo sich Freizeitsport-ler neben Berufstätigen bewegen oder dort, wo Pensionäre neben Studenten arbeiten. Der konkrete Eingriff in die Gestaltung von Straßen, Plätzen und Grünflächen kombiniert Lebenswelten, fordert Nutzer durch Inszenierung auf und provoziert Lernerfahrungen.

Andererseits fördern Einblicke sowie Be-gegnungszonen an der Grenze zu privaten Räumen verschiedenartige Beobach-tungen und Begegnungen mit Menschen: an Grundstücksgrenzen wie Zäunen oder Mauern oder an Übergängen wie Erd- geschosszonen oder Gebäudeeingängen. Planer und Gestalter können dort Erfah-rungen mit Neuem und Unbekanntem fördern, indem sie diese Orte zugänglich, lesbar und erlebbar machen. Der öffentliche Raum wird Lehr- und Lernraum zugleich.

ORTE BILDEN ERFAHRUNGENWIE VIELSEITIG GESTALTETE STADTRÄUME LERNERFAHRUNGEN IM ALLTAG FÖRDERN

1 Statista: de.statista.com/statistik/daten/studie/30301/umfrage/belegungen-der-volkshochschulkurse-im-jahr-seit-1962/ (29.01.2016)

2 Statistisches Bundesamt: www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/BildungForschungKultur/Bildungsstand/Tabellen/Bildungsabschluss.html (29.1.2016)

3 Grauel, Ralf / Klanten, Robert / Schwochow, Jan (2012): Deutschland gestalten. Berlin.

4 Bundesstiftung Baukultur (Hg.) (2015): Baukulturbericht Gebaute Lebensträume der Zukunft – Fokus Stadt.

5 Lücking-Michel, Claudia (2009): Partizipation von Kindern und Jugendlichen – Zwischen Anspruch und Wirklichkeit. www.bundesanzeiger-verlag.de (28.01.2016)

IM JAHR 2004 HABEN LEDIGLICH 14 % DER KINDER UND JUGENDLICHEN HÄU-FIG BEI PARTIZIPATIONSANGEBOTEN IN KOMMUNEN MITGEWIRKT, WÄHREND 60 % ANGABEN, NIE ODER SELTEN MITGEWIRKT ZU HABEN. JEDE/R VIERTE (26 %) WIRKT MANCHMAL AM WOHNORT MIT WIE ZUM BEISPIEL AN WOHNUMFELDVERBESSERUN-GEN ODER SPIELPLATZGESTALTUNGEN 5

14 %

MITWIRKEN

DIE NETZWERKKARTE DER AKTEURE DER BAUKULTUR ZEIGT, DASS DIE GEBAUTE UMWELT ZU EINEM THEMA VON ÖFFENTLICHEM INTERESSE BUNDES WEIT HERAN GE - WACHSEN IST 4

ZAHL DER KURSTEILNEHMER 1

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2008

ZAHL DER DEUTSCHEN, DIE

FÜR IHR KIND DAS GYMNASIUM ALS

WEITERFÜHRENDE SCHULART WÄHLEN

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GYMNASIUM | HAUPTSCHULE

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ZAHL DER DEUTSCHEN, DIE FÜR IHR KIND DIE HAUPTSCHULE ALS WEITERFÜHRENDE SCHULART WÄHLEN WÜRDEN 3

ZAHL DER ABSCHLÜSSE VON DEUTSCHEN SCHULABGÄNGERN 2

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Bürger sind Experten ihrer Stadt und vor allem ihres Quartiers. Aus ihrem Alltag heraus kennen sie dessen Stärken und Schwächen und wissen, wo Handlungs-bedarf besteht. Gepaart mit individuellen Kompetenzen wird dieses Know-how sichtbar und in die Nachbarschaft getra-gen, wenn Bürger ihre Stadt mitgestalten oder ihren Bedürfnissen dort Ausdruck verleihen. Kleine und kostengünstige Mit-machprojekte wie Musikveranstaltungen, Gärtnern oder Picknick auf Pkw-Stellplät-zen können Straßen und Plätze beleben.

Bürgerorientierte Planung geht vor Ort, for-dert auf zum Gespräch, macht Lokalwissen nutzbar und aktiviert bestehende Kom-petenzen für Stadtentwicklung. Dadurch werden Bürger zu aktiven Stadtgestaltern. Gleichzeitig wird der öffentliche Raum aber auch zu einem Ort von Konfrontati-onen, Konflikten und Kompromissen, die moderiert werden müssen. Der Vorteil solcher Prozesse: Stadtplaner und Bewoh-ner erweitern ihren Horizont und lernen voneinander.

BÜRGER BILDEN STADTRÄUMEWIE AKTIVE BEWOHNER UND STADTPLANER MIT- UND VONEINANDER LERNEN

Schulen sind ein Kristallisationspunkt für gesellschaftliche Veränderungen in Stadt und Land. Sie sind häufig Ausgangspunkt für Stadtumbau oder Stadterweiterung, weil sie allerorts kulturelle, soziale und ökonomische Werte vereinen. Für die einzelne pädagogische Architektur finden sich vielzählige konzeptionelle Ansätze und praktische Beispiele.

Als offener Treffpunkt können sie unter-schiedliche Akteure von der regionalen bis zur lokalen Maßstabsebene vernetzen. Darüber hinaus gibt es Konzepte, die auf-zeigen, wie sich Schulen in der Region und dem Quartier als Orte der Zusammenarbeit und Integration aufstellen können. Zum einen dort, wo sich Nachbarn eines Quar-tiers treffen, kennenlernen und dadurch zur sozialen Stabilität und dem Zusammenhalt im Quartier beitragen. Zum anderen dort, wo heutzutage nicht mehr nur Kinder und Jugendliche aus der Nachbarschaft lernen, sondern wo sich im Sinne eines lebens- langen Lernens Angebote für alle Nachbarn finden: egal ob Pensionär in einer Siedlung, Einzelhändler in einer Geschäftsstraße oder Unternehmer an einem Gewerbestand-ort. So werden Schulen zum Imagefaktor, Impulsgeber und Lebensraum für ihre Umgebung.

1 Wüstenrot Stiftung (Hg.) (2004): Schulen in Deutschland. Neubau und Revitalisierung. Stuttgart.

2 Zentralstelle für Normungsfragen und Wirtschaftlichkeit im Bildungswesen (1999): Typenschulbauten in den neuen Ländern. Berlin.

3 Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft / Urbane Räume (Hg.) (2012): Schulen planen und bauen. Berlin.

DIE LEBENSZYKLUSBETRACHTUNG VON SCHULGEBÄUDEN SPIELT BEIM PLANEN UND BAUEN EINE WESENTLICHE ROLLE – DENN DIE HERSTELLUNGSKOSTEN BETRAGEN DURCHSCHNITTLICH 17 %, BETRIEBSKOSTEN HINGEGEN 80 % DER GESAMTEN INVESTITIONSKOSTEN 1

SCHULEN BILDEN NACHBAR SCHAFTENWIE SICH SCHULEN ALS NEUARTIGE ORTE DES ZUSAMMENLEBENS UND –LERNENS ERFINDEN

DURCHSCHNITTLICHE AUFENTHALTSDAUER EINES SCHÜLERS IN SCHULEN 3

10.000 – 15.000 Stunden

80 % DER SCHULEN HABEN EINE UNBEFRIEDIGENDE LUFTQUALITÄT 1

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BAUJAHR VON SCHULGEBÄUDEN IN DEUTSCHLAND IN GESCHÄTZTEN PROZENT 2

BIS 1869 1899 1918 1945 1965 1985

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20102000

HERSTELLUNGSKOSTEN

BETRIEBSKOSTEN

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Die bildende Stadt

1 Uni Bielefeld (1982): Abenteuerspielplatz. de.wikipedia.org/wiki/Abenteuerspielplatz#cite_note-11 (04.02.2016). Anthes, Ralf: Abenteuerspielplätze.

www.spielplatznet.de/k/abenteuerspielplatz/ (20.12.2015).

2 Schroeder, Joachim (2012): Schulen für schwierige Lebenslagen. Münster. Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg. kus-projekt.de/ (29.01.2016).

3 Bundesverband der Natur- und Waldkindergärten. bvnw.de/uber-uns/ (29.01.2016).

4 Unfallkasse Nordrhein-Westfalen (Hg.) (2008): Kinder unterwegs im Straßenverkehr. Düsseldorf.

5 Koch, Karl-Hermann (1998): Der Schulweg ist Teil der Schule! Ein Pladoyer für seine kindgerechte Gestaltung. In: Die deutsche Schule. S. 485–501.

6 ADAC-Zentrale (Hg.) (2007): ADACsignale. Ausgabe 25.

7 Schimansky, Sophie (2012): Kinder schaffen den Schulweg alleine. www.zeit.de/auto/2012-09/verkehrserziehung-schulweg (26.01.2016).

6 bis 8 Stunden

DER UNTERRICHT SPIELT SICH IN RELATIV KLEINEN ZEITFENSTERN AB. NACHMITTAGS, AN WOCHENENDEN UND IN DEN FERIEN AUCH GANZTAGS SIND DIE GEBÄUDE IN DER REGEL UNGENUTZT 1

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