was ist risiko?

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44 RISKNEWS 01/04 Wissenschaftliche Definitionen und Theorien zum Risikobegriff findet man wie Sand am Meer. Jede Disziplin kocht ihr eigenes Süppchen: Der Risikobegriff der Betriebswirtschaft hat nur wenig mit den Definitionen gemein, die in der Rechtswissenschaft, Psychologie, Medizin oder den Ingenieurwissenschaften verwendet werden. Auch die kulturell bedingten Unterschiede sind gravierend: Im Deutschen ist etwa der Begriff „Risiko“ überwiegend negativ besetzt, während das englische „risk“ gleichzeitig negative und positive Abweichungen bezeichnet. Dieser Be- griffswirrwarr verwundert auch nicht, präsentiert sich die moderne Gesellschaft doch als Dickicht von Risiken und Chancen. Was wir bei allen Risikodefinitionen beachten müssen Abstrakt wird Risiko im Allgemeinen als die Möglichkeit einer negativen Abweichung zwi- schen dem tatsächlich erreichten Ergebnis und dem erwarteten Ergebnis definiert. Was diese Definition jedoch konkret bedeutet, bleibt der Interpretation jedes Einzelnen über- lassen: Risiken sind Konstrukte. Unsere Risiko- wahrnehmung ist hochgradig subjektiv, denn diese Konstrukte basieren schlussendlich auf einem komplexen Prozess der Wahrnehmung durch unsere fünf Sinne. Was wir sehen, hören, riechen, tasten und schmecken verdichtet sich zu einem (meist verschwommenen) Bild der Wirklichkeit. Ein raffiniertes biologisches Sys- tem wandelt die winzigen elektrischen Impulse, die von unseren Nervenzellen ausgehen, in Bilder um und gaukelt uns eine Realität vor, die letztlich aber nur eine unter unendlich vielen möglichen ist (vgl. Abb. 1). Wie wir die Eindrücke unserer Sinne letztlich zusammensetzen und ob wir als Ergebnis des Ganzen dann ein großes oder ein kleines oder gar kein Risiko wahrnehmen, wird natürlich in ganz entscheidendem Maße von Moden, Meinungen, Moralvorstellungen, persönlichen Erfahrungen, der Erziehung und zahllosen ande- ren Einflussfaktoren geprägt. Was für den einen ein Risiko ist, braucht für den anderen noch lange keins zu sein! Während in Bad Gastein das radioaktive Edelgas Radon als Heilmittel gilt, warnen die Behörden in den USA vor dem „Killergas“ und empfehlen Schutzmaßnahmen. Das Phänomen ganz unterschiedlicher Risiko- wahrnehmungen und -interpretationen manife- stiert sich unter anderem in der Vielfalt an Definitionen, Abgrenzungen und Umschrei- bungen für den Begriff „Risiko“. Ökonomen, Juristen oder Versicherungskaufleute definieren Risiko anders als Psychologen, Mediziner, Philo- sophen oder Ingenieure. Jede Definition mag für sich genommen richtig sein und ihren Zweck erfüllen. Aber gleichzeitig ist jede Definition auch in gewissem Maße falsch, da sie nur in einem bestimmten Kontext bzw. unter bestimmten Voraussetzungen gilt: Risiko (österr. auch Risken): Wagnis; Gefahr, Verlustmöglichkeit bei einer unsicheren Unter- nehmung – DUDEN, Das Fremdwörterbuch risk (instance of) possibility or chance of meeting danger, suffering loss, injury etc. – Oxford Ad- vanced Learner’s Dictionary of Current English Risiko ist die Abweichung eines Ergebnisses von seinem erwarteten Wert. Für die Einstu- fung eines bestimmten Ereignisses als „Risiko“ kommt es also nicht darauf an, dass es ein „negatives“, „unerfreuliches“ Ereignis ist, son- dern dass es nicht „erwartet“ wurde – gefunden unter: http://www.moneyfruits.at Risiko ist nichts weiter als der Gegensatz zwi- schen Realität und Möglichkeit – J. Markowitz Risiken bezeichnen Noch-Nicht-Ereignisse, die wir uns hier und jetzt vergegenwärtigen müssen, ohne sie bereits wirklich zu kennen. Risiken lauern bösartigerweise in den Seitengängen einer Zukunft, die uns den Blick um die Ecke verweigert. Was ist Risiko?

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Page 1: Was ist Risiko?

44 RISKNEWS 01/04

Wissenschaftliche Definitionen und Theorienzum Risikobegriff findet man wie Sand am Meer.Jede Disziplin kocht ihr eigenes Süppchen: DerRisikobegriff der Betriebswirtschaft hat nurwenig mit den Definitionen gemein, die in derRechtswissenschaft, Psychologie, Medizin oderden Ingenieurwissenschaften verwendet werden.Auch die kulturell bedingten Unterschiede sindgravierend: Im Deutschen ist etwa der Begriff„Risiko“ überwiegend negativ besetzt, währenddas englische „risk“ gleichzeitig negative undpositive Abweichungen bezeichnet. Dieser Be-griffswirrwarr verwundert auch nicht, präsentiertsich die moderne Gesellschaft doch als Dickichtvon Risiken und Chancen.

Was wir bei allenRisikodefinitionen beachten müssen

Abstrakt wird Risiko im Allgemeinen als dieMöglichkeit einer negativen Abweichung zwi-schen dem tatsächlich erreichten Ergebnis unddem erwarteten Ergebnis definiert.

Was diese Definition jedoch konkret bedeutet,bleibt der Interpretation jedes Einzelnen über-lassen: Risiken sind Konstrukte. Unsere Risiko-wahrnehmung ist hochgradig subjektiv, denndiese Konstrukte basieren schlussendlich aufeinem komplexen Prozess der Wahrnehmungdurch unsere fünf Sinne. Was wir sehen, hören,riechen, tasten und schmecken verdichtet sichzu einem (meist verschwommenen) Bild derWirklichkeit. Ein raffiniertes biologisches Sys-tem wandelt die winzigen elektrischen Impulse,die von unseren Nervenzellen ausgehen, inBilder um und gaukelt uns eine Realität vor, dieletztlich aber nur eine unter unendlich vielenmöglichen ist (vgl. Abb. 1).

Wie wir die Eindrücke unserer Sinne letztlichzusammensetzen und ob wir als Ergebnis desGanzen dann ein großes oder ein kleines oder

gar kein Risiko wahrnehmen, wird natürlich in ganz entscheidendem Maße von Moden,Meinungen, Moralvorstellungen, persönlichenErfahrungen, der Erziehung und zahllosen ande-ren Einflussfaktoren geprägt. Was für den einenein Risiko ist, braucht für den anderen nochlange keins zu sein! Während in Bad Gasteindas radioaktive Edelgas Radon als Heilmittelgilt, warnen die Behörden in den USA vor dem„Killergas“ und empfehlen Schutzmaßnahmen.

Das Phänomen ganz unterschiedlicher Risiko-wahrnehmungen und -interpretationen manife-stiert sich unter anderem in der Vielfalt an Definitionen, Abgrenzungen und Umschrei-bungen für den Begriff „Risiko“. Ökonomen,Juristen oder Versicherungskaufleute definierenRisiko anders als Psychologen, Mediziner, Philo-sophen oder Ingenieure. Jede Definition mag fürsich genommen richtig sein und ihren Zweckerfüllen. Aber gleichzeitig ist jede Definitionauch in gewissem Maße falsch, da sie nur in einem bestimmten Kontext bzw. unter bestimmten Voraussetzungen gilt:

Risiko (österr. auch Risken): Wagnis; Gefahr,Verlustmöglichkeit bei einer unsicheren Unter-nehmung – DUDEN, Das Fremdwörterbuch

risk (instance of) possibility or chance of meetingdanger, suffering loss, injury etc. – Oxford Ad-vanced Learner’s Dictionary of Current English

Risiko ist die Abweichung eines Ergebnissesvon seinem erwarteten Wert. Für die Einstu-fung eines bestimmten Ereignisses als „Risiko“kommt es also nicht darauf an, dass es ein„negatives“, „unerfreuliches“ Ereignis ist, son-dern dass es nicht „erwartet“ wurde – gefundenunter: http://www.moneyfruits.at

Risiko ist nichts weiter als der Gegensatz zwi-schen Realität und Möglichkeit – J. Markowitz

Risiken bezeichnen Noch-Nicht-Ereignisse, die wir uns hier und jetzt vergegenwärtigen müssen, ohne sie bereits wirklich zu kennen. Risiken lauernbösartigerweise in den Seitengängen einer Zukunft, die uns den Blick um dieEcke verweigert.

Was ist Risiko?

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Abb. 1:Wahrnehmung ist ein Konstrukt: Einstein oder Badenixen?

GUTE FRAGE!

Risiko ist die bedingte Wahrscheinlichkeit, dasseine zu einem bestimmten Zeitpunkt von einerbestimmten Krankheit nicht befallener Persondanach innerhalb einer definierten Zeitspannean ihr erkrankt – J. Weitkamp, gefunden unterhttp://www. zm-online.de

Risiko wird ... als das Informationsdefizit überdie finale Bestimmtheit, d. h. die Ungewissheitüber das Erreichen der gesteckten (geplanten)Ziele definiert – E. Helten

Risiko ist die vornehmste Quelle der Inspiration– Hans Magnus Enzensberger

Risiko ist die Wahrscheinlichkeit der Ereig-nisse, die die Hoffnung, aber auch die Angst derMenschen vor dem Morgen bestimmen – PierreSimon LaPlace

Risiko ist der verborgene Gott der modernenGesellschaft: Man sucht es, man meidet es, manfürchtet es und weiß nie, wer wann zum Sünderwird – Dirk Baecker

Risk is the sugar and salt of life – Gordon C. A.Dickson

Risk is defined as the product: Risk = (Value) x(Vulnerability) x (Hazard) – UNESCO 1972

Risiken bezeichnen Noch-Nicht-Ereignisse, diewir uns hier und jetzt vergegenwärtigen müssen,ohne sie jetzt bereits wirklich kennen zu können.– Theodor M. Bardmann

Risiko [von älter italien. Ris(i)co, eigtl. Klippe(die zu umschiffen ist)] das, -s/-s und …ken,österr. meist Risken, Wagnis, die Möglichkeit,dass eine Handlung oder Aktivität einen körperl.oder materiellen Schaden oder Verlust zur Folgehat oder mit anderen Nachteilen verbunden ist,im Unterschied zur Gefahr, die eher eine un-mittelbare Bedrohung bezeichnet. Von R. sprichtman nur, wenn die Folgen ungewiss sind. Einsicherer Verlust ist kein Risiko. Risiko ist i. d. R.mit einer menschl. Handlung verbunden, oft,aber nicht zwingend im Sinne eines bewussteingegangenen, „kalkulierten“ Risikos. Dies führtzum entscheidungsorientierten R.-Begriff, daalle menschl. Tätigkeiten (z. B. das Wirtschaftenin Unternehmen, in Haushalten, der Bau undBetrieb techn. Großprojekte oder die Teilnahmeam Straßenverkehr) auf Entscheidungen beruhen,die auch dann getroffen werden müssen, wenn

nicht alle relevanten Informationen bekannt sind.[…] – Der Brockhaus in 24 Bänden, Bd.18

Doch auch abseits aller wissenschaftlichenDefinitionen und Haarspaltereien pflegen wirselbst zu denjenigen Risiken, die wir als solchewahrnehmen, noch ein höchst ambivalentesVerhältnis: Risiken wollen wir einerseits haben(etwa beim Bungee-Jumping), andererseits los-werden (etwa durch den Abschluss einer Un-fallversicherung), gleichzeitig maximieren (etwadurch die Besteigung des Everest in 24 Stun-den) und minimieren (etwa durch den Kaufeiner Sauerstoffmaske). Ohne das Eingehen vonRisiken werden wir keinerlei Aussicht auf ver-lockende Chancen haben (z. B. auf dem Gipfeldes Everest zu stehen), allerdings nur zum Preisvon potenziellen Schäden (Erfrierungen oder Tod).

Auch Amos Tversky und Daniel Kahneman(Wirtschaftsnobelpreisträger 2002) erkannten,dass menschliches Verhalten häufig keiner ra-tionalistisch-objektivistischen Risikobetrach-tung folgt und näherten sich diesem Themadaher von der psychologischen Seite. Als ersteshaben sich von dem ausschließlich rational entscheidenden „homo oeconomicus“ aus demÖkonomie-Lehrbuch verabschiedet. Beispiels-weise sind Menschen – insbesondere in Risiko-situationen – häufig unfähig, ihre Lage vollstän-dig zu analysieren. Daher picken sie sich singu-läre Informationen aus dem Gesamtzusammen-hang heraus, auf die sie dann ihre Handlungenstützen. Besondere Aufmerksamkeit widmen dieMenschen dabei neuen Informationen, die imAllgemeinen auch noch stark überbewertet werden. Dies erklärt u. a. das oft übertriebeneAuf und Ab an den (Aktien-)Märkten, das unterrationalen Gesichtspunkten nicht angemessenist. Langfristige Entwicklungen und Früh-warnindikatoren werden dagegen häufig nicht erkannt oder ignoriert. Erinnert sei hier an Barings, BCCI, Enron, Flowtex, Infomatec,KirchMedia, Tyco, Worldcom und viele andereUnternehmensskelette.

Insgesamt lässt sich also fest halten, dass es –wie bei so vielen existenziellen Problemen unse-res Lebens – auch auf die Frage „Was ist Risiko“nur eine Antwort geben kann: Es kommt immerdarauf an! Sicher ist nur eins: Leben ist Risiko.Was wir tun, ist riskant. Was wir nicht tun, aberauch. Und – so die paradoxe Quintessenz – dengrößten Risiken werden wir dann begegnen,wenn wir alle Risiken vermeiden. <fr/re>

Quellenverzeichnis: Kleinwellfonder: Der Risikodiskurs, Zur gesellschaftlichen Inszenierung von Risiko, Opladen 1995. / Bayerische Rück: Risiko ist einKonstrukt, Wahrnehmungen zur Risikowahrnehmung, München 1993.

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