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Page 1: Vorlesungsmanuskript zu Analysis II · Vorlesungsmanuskript zu Analysis II Werner Balser Institut für Angewandte Analysis Sommersemester 2009

Vorlesungsmanuskript zu

Analysis II

Werner Balser

Institut für Angewandte Analysis

Sommersemester 2009

Page 2: Vorlesungsmanuskript zu Analysis II · Vorlesungsmanuskript zu Analysis II Werner Balser Institut für Angewandte Analysis Sommersemester 2009

Literaturverzeichnis

[1] T. Apostol, Mathematical Analysis, Addison & Wesley, Reading, 1979.

[2] E. Behrends, Analysis. Vol. 2. A study book. (Analysis. Band 2. Ein Lernbuch.) 2nd revised ed.,Wiesbaden: Vieweg. xiv, 376 p. EUR 24.90 , 2007.

[3] I. N. Bronstein, K. A. Semendjajew, G. Musiol, und H. Mühlig, Taschenbuch der Mathe-matik, Harri Deutsch, Frankfurt am Main, 1995. 80

[4] K. Endl und W. Luh, Analysis II, Aula Verlag, Wiesbaden, 1989.

[5] F. Erwe, Di�erential- und Integralrechnung II, BI Hochschultaschenbücher, Bibliographisches In-stitut, Mannheim, 1973.

[6] H. Grauert und I. Lieb, Di�erential- und Integralrechnung II, Heidelberger Taschenbücher,Springer, Berlin, 196.

[7] H. Heuser, Lehrbuch der Analysis 2, Teubner, Stuttgart, 1992. 60

[8] W. Luh und M. W. 2, Aufgabensammlung Analysis, Aula Verlag, Wiesbaden, 1992.

[9] K. Meyberg und P. Vachenauer, Höhere Mathematik 1, Springer, Berlin, 1999.

[10] , Höhere Mathematik 2, Springer, Berlin, 1999.

[11] W. Walter, Analysis 2, Springer, Berlin, 1992. 52, 63, 64, 84, 85

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Page 3: Vorlesungsmanuskript zu Analysis II · Vorlesungsmanuskript zu Analysis II Werner Balser Institut für Angewandte Analysis Sommersemester 2009

Inhaltsverzeichnis

1 Grundlagen 6

1.1 Ungleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6

1.2 Äquivalenzrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

1.3 Normierte Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

2 Topologie in normierten Räumen 11

2.1 Innere Punkte und o�ene Mengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

2.2 Häufungspunkte, isolierte Punkte, abgeschlossene Mengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

2.3 Abgeschlossene Hülle, o�ener Kern, Rand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

2.4 Beschränkte und kompakte Mengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

2.5 Konvexe und sternförmige Mengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

2.6 Zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

3 Konvergenz in normierten Räumen 19

3.1 Konvergenz und Vollständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

3.2 Folgenkompaktheit, totale Beschränktheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

3.3 Konvergenz und Kompaktheit in mehreren Dimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

4 Stetigkeit 23

4.1 Stetigkeit in normierten Räumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

4.2 Stetigkeit und Zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

4.3 Stetigkeit und Kompaktheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

4.4 Stetigkeit und gleichmäÿige Konvergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

4.5 Stetigkeit von vektorwertigen Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

3

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4.6 Polynome, rationale Funktionen und Potenzreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

5 Di�erenzialrechnung mehrerer Variabler 30

5.1 Richtungsableitungen, partielle Ableitungen, Gradient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

5.2 Vertauschen der Di�erenziationsreihenfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

5.3 Totale Di�erenzierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

5.4 Die Kettenregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

5.5 Der Mittelwertsatz und der Satz von Taylor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

6 Implizite Funktionen, lokale Extrema 40

6.1 Der Banachsche Fixpunktsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

6.2 Das Newton-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

6.3 Implizite Funktionen und Umkehrfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

6.4 Lokale Extrema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

6.5 Extrema unter Nebenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

7 Der Jordan-Inhalt 48

7.1 De�nition des Inhalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

7.2 Charakterisierung der Messbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

7.3 Berechnung von Inhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

7.4 Bewegungsinvarianz des Inhalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

8 Das Riemann-Integral 54

8.1 Die De�nition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

8.2 Eigenschaften des Bereichsintegrals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

8.3 Mittelwertsätze und gliedweise Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

8.4 Der Satz von Fubini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

8.5 Die Substitutionsregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

9 Kurvenintegrale und Stammfunktionen 61

9.1 Kurven, Rekti�zierbarkeit, Wege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

9.2 Kurvenintegrale von Vektorfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

9.3 Wegunabhängigkeit und Stammfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

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9.4 Die Integrabilitätsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

9.5 Kurvenintegrale von skalaren Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

10 Fourierreihen 69

10.1 Orthogonalsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

10.2 Die komplexe Form der Fourierreihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

10.3 Punktweise Konvergenz von Fourierreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

10.4 Die Gröÿenordnung der Fourierkoe�zienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

11 Vektoranalysis und Integralsätze 79

11.1 Krummlinige Koordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

11.2 Der Gauÿsche Integralsatz in der Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

11.3 Vektorprodukt und Flächen im Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

11.4 Der Stokessche Integralsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

11.5 Der Gauÿsche Integralsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

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Kapitel 1

Grundlagen

1.1 Ungleichungen

Die folgenden Ungleichungen spielen in der Mathematik eine zentrale Rolle:

Aufgabe 1.1.1 Seien p, q > 1 mit 1/p+ 1/q = 1, und seien a, b ∈ R+. Zeige: Es ist stets

a1/p b1/q ≤ a

p+

b

q,

und Gleichheit gilt genau dann, wenn a = b ist. Anleitung: Finde das Maximum der Funktion f(x) =x1/p b1/q (x/p+ b/q)−1, für x ≥ 0.

Lemma 1.1.2 (Höldersche Ungleichung) Für p, q > 1 mit 1/p+1/q = 1 sowie a = (a1, . . . , an)T , b =(b1, . . . , bn)T ∈ Kn gilt

n∑k=1

|ak bk| ≤( n∑

k=1

|ak|p)1/p ( n∑

k=1

|bk|q)1/q

.

Das Gleichheitszeichen gilt genau dann, wenn λ, µ ∈ R existieren, welche nicht beide gleich 0 sind, mitλ |ak|p = µ |bk|q für alle k.

Beweis: O. B. d. A. seien A =∑nk=1 |ak|p > 0 und B =

∑nk=1 |bk|q > 0. Aus Aufgabe 1.1.1 folgt dann

|ak|A1/p

|bk|B1/q

≤ |ak|p

pA+|bk|q

q B∀ k = 1, . . . , n,

mit Gleichheit genau für |ak|p/A = |bk|q/B. Durch Summation über k folgt die Behauptung. 2

Aufgabe 1.1.3 Zeige mit der Hölderschen Ungleichung für a1, . . . , an ∈ C und p, q > 1 mit 1/p+1/q = 1

n∑k=1

|ak| ≤ n1/q(

n∑k=1

|ak|p)1/p

,

und gib ein Beispiel, für welches das Gleichheitszeichen gilt.

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Aufgabe 1.1.4 (Höldersche Ungleichung für Integrale) Sei a < b, und seien f, g : [a, b] −→ Kintegrierbar. Sei Z = {x0, . . . , xN} eine Zerlegung von [a, b], und sei ξ = (ξ1, . . . , ξn)T ein zugehörigerZwischenpunktvektor. Zeige mit Hilfe der Hölderschen Ungleichung

N∑k=1

|f(ξk) g(ξk)| (xk − xk−1) ≤

(N∑k=1

|f(ξk)|p(xk − xk−1)

)1/p( N∑k=1

|g(ξk)|q(xk − xk−1)

)1/q

und schlieÿe hieraus mit der De�nition des Integrals auf die Gültigkeit der Ungleichung

∫ b

a

|f(x)g(x)| dx ≤

(∫ b

a

|f(x)|p dx

)1/p (∫ b

a

|g(x)|q dx

)1/q

mit p, q > 1 und 1/p+ 1/q = 1.

Lemma 1.1.5 (Minkowskische Ungleichung) Für a = (a1, . . . , an)T , b = (b1, . . . , bn)T ∈ Kn undp ≥ 1 gilt ( n∑

k=1

|ak + bk|p)1/p

≤( n∑

k=1

|ak|p)1/p

+( n∑

k=1

|bk|p)1/p

.

Beweis: Für p = 1 ist die Behauptung klar wegen der Dreiecksungleichung. Sei jetzt p > 1, und sei o.B. d. A. angenommen, dass A =

∑nk=1 |ak + bk|p > 0. Dann folgt mit der Hölderschen Ungleichung und

1/q = 1− 1/p, also (p− 1) q = p:

n∑k=1

|ak| |ak + bk|p−1 ≤( n∑

k=1

|ak|p)1/p ( n∑

k=1

|ak + bk|(p−1)q)1/q

= A1/q( n∑

k=1

|ak|p)1/p

,

und dasselbe gilt, wenn wir die ak und bk vertauschen. Daraus folgt wegen

A ≤n∑k=1

|ak| |ak + bk|p−1 +

n∑k=1

|bk| |ak + bk|p−1

die Ungleichung

A ≤ A1/q

(( n∑k=1

|ak|p)1/p

+( n∑

k=1

|bk|p)1/p )

,

und Division durch A1/q ergibt die Behauptung. 2

Aufgabe 1.1.6 (Minkowskische Ungleichung für Integrale)Zeige für p ≥ 1 und f, g so, dass die rechtsstehenden Integrale existieren:(∫ b

a

|f(x) + g(x)|pdx

)1/p

(∫ b

a

|f(x)|pdx

)1/p

+

(∫ b

a

|g(x)|pdx

)1/p

.

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1.2 Äquivalenzrelationen

De�nition 1.2.1 Sei X eine beliebige nicht-leere Menge. Eine Relation auf X, also eine TeilmengeR ⊂ X ×X, heiÿt eine Äquivalenzrelation auf X, falls für beliebige x, x1, x2, x3 ∈ X gilt:

(R) (x, x) ∈ R (Re�exivität)

(S) (x1, x2) ∈ R =⇒ (x2, x1) ∈ R (Symmetrie)

(T) (x1, x2) ∈ R und (x2, x3) ∈ R =⇒ (x1, x3) ∈ R (Transitivität)

Statt (x1, x2) ∈ R schreiben wir auch x1 ∼ x2 und sagen in Worten: x1 ist äquivalent zu x2. Für x ∈ Xsei Ax = {x ∈ X : x ∼ x }. Wir nennen ein solches Ax eine Äquivalenzklasse. Ein beliebiges Elementeiner Äquivalenzklasse heiÿt auch ein Repräsentant dieser Äquivalenzklasse.

Proposition 1.2.2 Sei X eine beliebige nicht-leere Menge mit einer Äquivalenzrelation auf X. SeienAx1

und Ax2zwei Äquivalenzklassen mit Ax1

∩Ax26= ∅. Dann gilt bereits Ax1

= Ax2.

Beweis: Sei x ∈ Ax1∩Ax2

. Dann ist x ∼ x1 und x ∼ x2, und aus der Symmetrie und Transitivität folgtdann x1 ∼ x2, also x2 ∈ Ax1

. Sei jetzt x ∈ Ax2, also x2 ∼ x. Dann folgt aber aus der Transitivität, dass

x1 ∼ x, also x ∈ Ax1ist. Somit ist Ax2

⊂ Ax1. Die Umkehrung gilt aber ebenso. 2

Korollar zu Proposition 1.2.2 (Zerlegung in Äquivalenzklassen) Sei X eine beliebige nicht-leereMenge mit einer Äquivalenzrelation auf X. Dann bilden die Äquivalenzklassen eine Zerlegung von X,d. h., X ist die Vereinigung aller Äquivalenzklassen, und je zwei verschiedene Äquivalenzklassen sinddisjunkt.

Beweis: Da jedes x ∈ X in der Äquivalenzklasse Ax liegt, folgt X = ∪x∈X Ax. Dass verschiedeneÄquivalenzklassen disjunkt sind, ist äquivalent zur Proposition. 2

Aufgabe 1.2.3 Sei n ∈ N. Zeige: Auf Z wird durch

p ∼ q ⇐⇒ ∃ m ∈ Z : p− q = nm

eine Äquivalenzrelation de�niert. Formuliere in Worten, wann zwei ganze Zahlen in diesem Sinn äquiv-alent sind, und bestimme die Anzahl der Äquivalenzklassen.

Aufgabe 1.2.4 Seien a < b, und sei p ≥ 1. Zeige: Auf der Menge R[a, b] aller über [a, b] Riemann-integrierbaren Funktionen wird durch

f ∼ g ⇐⇒∫ b

a

|f(x)− g(x)|p dx = 0

eine Äquivalenzrelation de�niert. Zeige weiter, dass die Anzahl der Äquivalenzklassen unendlich ist, unddass jede Äquivalenzklasse überabzählbar ist.

Aufgabe 1.2.5 Zeige mit den Bezeichnungen und Voraussetzungen der vorigen Aufgabe:

f1 ∼ g1 , f2 ∼ g2 =⇒ f1 + f2 ∼ g1 + g2 , f1 f2 ∼ g1 g2 .

Schlieÿe hieraus, dass es sinnvoll ist, von der Summe und dem Produkt zweier Äquivalenzklassen zusprechen.

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1.3 Normierte Räume

De�nition 1.3.1 Sei X ein beliebiger Vektorraum über K. Eine Abbildung

‖ · ‖ : X −→ R , x 7−→ ‖x‖

heiÿt eine Norm auf X, wenn folgendes gilt:

(N1) ∀ x ∈ X : ‖x‖ ≥ 0 ; ‖x‖ = 0 ⇐⇒ x = 0 (Positivität)

(N2) ∀ x ∈ X, ∀ α ∈ K : ‖αx‖ = |α| ‖x‖ (Homogenität)

(N3) ∀ x1, x2 ∈ X : ‖x1 + x2‖ ≤ ‖x1‖+ ‖x2‖ (Dreiecksungleichung)

Der Vektorraum X, zusammen mit einer Norm ‖ · ‖ auf X, heiÿt dann ein normierter Raum, und wirschreiben gelegentlich (X, ‖ · ‖), aber meist kürzer X für einen solchen normierten Raum. Sind auf einemVektorraum X zwei Normen ‖ · ‖1, ‖ · ‖2 gegeben, so nennen wir diese äquivalent, wenn es KonstantenC,K ∈ R+ gibt, für die

∀ x ∈ X : C ‖x‖1 ≤ ‖x‖2 ≤ K ‖x‖1 .

Dies ist eine Äquivalenzrelation auf der Menge aller Normen auf X.

Aufgabe 1.3.2 Zeige, dass die oben de�nierte Äquivalenz von Normen tatsächlich die drei Eigenschafteneiner Äquivalenzrelation besitzt.

Aufgabe 1.3.3 (Kartesische Produkte normierter Räume) Gegeben seien zwei normierte Räume(X1, ‖ · ‖1) und (X2, ‖ · ‖2) über dem gleichen Körper K. Zeige dass die Abbildung

(x1, x2) 7→ ‖x1‖1 + ‖x2‖2

eine Norm auf dem kartesischen Produkt X1 ×X2 ist.

Aufgabe 1.3.4 (Dreiecksungleichung nach unten) Zeige: In einem normierten Raum X gilt∣∣∣ ‖x1‖ − ‖x2‖ ∣∣∣ ≤ ‖x1 − x2‖ ∀ x1, x2 ∈ X .

Beispiel 1.3.5 Für x = (x1, . . . , xn)T ∈ Kn und 1 ≤ p ≤ ∞ sei

‖x‖p =

(|x1|p + . . .+ |xn|p

)1/p(1 ≤ p <∞),

sup {|x1|, . . . , |xn|} (p =∞).

Dadurch ist für jedes feste p eine Norm auf Kn de�niert; für p <∞ ist die Dreiecksungleichung äquivalentzur Minkowskischen Ungleichung. Wir nennen ‖ · ‖p die p-Norm auf Kn und sprechen für p = 2 auch vonder Euklidischen Norm. O�enbar gilt |xk| ≤ ‖x‖p für alle k = 1, . . . , n, und daraus ergeben sich folgendeAbschätzungen:

‖x‖∞ ≤ ‖x‖p ≤ n1/p ‖x‖∞ ∀ p ∈ [1,∞), ∀x ∈ Kn.

Also sind die Normen ‖ · ‖p und ‖ · ‖∞ äquivalent. Daraus ergibt sich aber leicht, dass zwei beliebigep-Normen auf Kn immer äquivalent sind.

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Aufgabe 1.3.6 Zeige: Für alle x ∈ Kn gilt

limp→∞

‖x‖p = ‖x‖∞ .

Beispiel 1.3.7 Sei [a, b] ein abgeschlossenes Intervall, und sei C[a, b] die Menge aller dort stetigen Funk-tionen. Für f ∈ C[a, b] sei

‖f‖p =

( ∫ b

a|f(x)|pdx

)1/p(1 ≤ p <∞),

sup {|f(x)| : a ≤ x ≤ b} (p =∞).

Dies sind ebenfalls Normen auf C[a, b]. Diese Normen sind allerdings nicht äquivalent!

De�nition 1.3.8 Die Norm ‖f‖∞ = sup {|f(x)| : a ≤ x ≤ b} heiÿt die Supremumsnorm der Funktionf . Manchmal nennen wir ‖x‖ = sup {|x1|, . . . , |xn|} auch die Supremumsnorm des Vektors x ∈ Kn.

Aufgabe 1.3.9 Finde eine Funktionenfolge (fn) in C[a, b], für die gilt

‖fn‖∞ = 1 ∀ n ≥ 1, limn→∞

‖fn‖p = 0 ∀ p ∈ [1,∞).

Schlieÿe daraus, dass die p-Norm und die Supremumsnorm auf C[a, b] nicht äquivalent sind.

Aufgabe 1.3.10 Sei R[a, b] die Menge aller auf dem abgeschlossenen Intervall [a, b], a < b, Riemann-integrierbaren Funktionen, und sei ‖f‖p für 1 ≤ p <∞ und f ∈ R[a, b] wie in obigem Beispiel de�niert.Zeige:

1. Auf R[a, b] erfüllt ‖ · ‖p nicht das Axiom (N1), ist also keine Norm.

2. De�niert man eine Äquivalenzrelation auf R[a, b] wie in Aufgabe 1.2.4, so gilt

f ∼ g =⇒ ‖f‖p = ‖g‖p ∀ f, g ∈ R[a, b] .

Das bedeutet, dass die p-Norm von Funktionen innerhalb einer Äquivalenzklasse immer gleich ist.

Also ist es berechtigt, von der Norm einer Äquivalenzklasse zu sprechen. Da es nach Aufgabe 1.2.4 auchSinn macht, Äquivalenzklassen zu addieren und zu multiplizieren, folgt: Die Menge der Äquivalenzklassenin R[a, b] ist ein normierter Raum.

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Kapitel 2

Topologie in normierten Räumen

2.1 Innere Punkte und o�ene Mengen

De�nition 2.1.1 Sei X ein normierter Raum. Für ein r ∈ R+ und x0 ∈ X heiÿt

Ur(x0) = K(x0, r) = {x ∈ X : ‖x− x0‖ < r }

die r-Umgebung von x0 oder die Kugel um x0 mit Radius r. Ein x0 heiÿt innerer Punkt einer TeilmengeA ⊂ X, wenn es ein r > 0 gibt mit Ur(x0) ⊂ A. Die Teilmenge A heiÿt o�en, wenn jeder ihrer Punkteein innerer Punkt ist.

Aufgabe 2.1.2 Skizziere in R2 die Kugel vom Radius r = 1 um den Nullpunkt für die p-Normen mitp = 1, p = 3/2, p = 2 und p = 4.

Lösung: Eine bequeme Lösung der Aufgabe mit MAPLE geschieht mit dem Kommando

> plot([signum(cos(t))*(abs(cos(t)))�(2/p),

signum(sin(t))*(abs(sin(t)))�(2/p),t=0..2*Pi],

scaling=constrained,tickmarks=[1,1]);

und vorheriger Zuweisung der einzelnen Werte für p. Tut man dies, ergeben sich die folgenden vier Bilder:

In Aufgabe 1.3.6 wurde gezeigt, dass der Rand der Kugel für wachsendes p gegen die entsprechendeFigur für den Wert p = ∞ strebt, und diese ist ein achsenparalleles Quadrat der Seitenlänge 2 mit demUrsprung als Mittelpunkt. 2

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Aufgabe 2.1.3 Begründe, warum in R2 mit der euklidischen Norm die Menge O = {(x, y)T : x < 2 y2}o�en ist.

Lösung: Sei (x0, y0)T ∈ O, also 2 y20 −x0 > 0. Für r0 > 0 ist ein Punkt (x, y)T ∈ K((x0, y0)T , r0) immervon der Form (x, y)T = (x0 + r cosφ, y0 + r sinφ)T mit r < r0 und beliebigem φ ∈ R. Die Ungleichungx < 2 y2 ist also äquivalent zu

r(cosφ − 4 y0 sinφ) − 2 r2 sin2 φ < 2 y20 − x0 .

Da die linke Seite höchstens gleich r (1 + 4 |y0|) ist, gilt diese Ungleichung sicher für r < r0 mit

r0 =2 y20 − x01 + 4 |y0|

.

Das war zu zeigen. 2

Behauptung 2.1.4 Kugeln um beliebige Punkte mit beliebigen Radien sind immer o�en.

Beweis: Seien x0 ∈ X, r ∈ R+, und sei x ∈ K(x0, r), also ‖x− x0‖ < r. Sei ρ = r − ‖x− x0‖. Dann istρ > 0 und für x ∈ Uρ(x) folgt mit der Dreiecksungleichung

‖x− x0‖ ≤ ‖x− x‖ + ‖x− x0‖ < ρ + ‖x− x0‖ = r.

Also ist Uρ(x) ⊂ K(x0, r), und somit ist x innerer Punkt von K(x0, r). Daher folgt die Behauptung. 2

Proposition 2.1.5 (Rechenregeln für o�ene Mengen) In jedem normierten Raum X gilt:

(a) Der Gesamtraum X und die leere Menge sind o�en.

(b) Der Durchschnitt endlich vieler o�ener Mengen ist o�en.

(c) Die Vereinigung beliebig vieler o�ener Mengen ist o�en.

Beweis: Aussage (a) folgt sofort mit der De�nition o�ener Mengen. Zu (b): Seien Oj ⊂ X alle o�en,für j = 1, . . . , n. Sei O ihr Durchschnitt, und sei x ∈ O. Dann gibt es Radien rj > 0 mit Urj (x) ⊂ Ojfür alle j = 1, . . . , n. Sei r = min{r1, . . . , rn}. Dann folgt Ur(x) ⊂ Urj (x) ⊂ Oj für alle j = 1, . . . , n, unddeshalb ist Ur(x) ⊂ O. Daher ist x innerer Punkt von O, und da x ∈ O beliebig war, folgt dass O o�enist. Zu (c): Seien Oj ⊂ X o�en, für alle j ∈ J . Sei O die Vereinigung aller Oj , und sei x ∈ O. Dann gibtes ein j = jx ∈ J mit x ∈ Oj , und somit existiert ein r = rj > 0 mit Ur(x) ⊂ Oj . Dann gilt aber erstrecht Ur(x) ⊂ O, und deshalb ist O o�en. 2

Aufgabe 2.1.6 Sei X ein normierter Raum, und seien On = K(0, 1/n) ⊂ X für n ∈ N. Zeige: Alle Onsind o�en, aber ihr Durchschnitt ist es nicht.

De�nition 2.1.7 Sei X ein normierter Raum. Die Familie aller o�enen Teilmengen von X heiÿt aucheine Topologie auf X.

Proposition 2.1.8 Äquivalente Normen auf einem Vektorraum X über K de�nieren die gleiche Topologieauf X.

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Beweis: Seien ‖ · ‖1 und ‖ · ‖2 äquivalente Normen auf X. Sei O ⊂ X o�en bzgl. ‖ · ‖1. Dann gibt es zujedem x0 ∈ O ein r > 0 so, dass alle x ∈ X mit ‖x−x0‖1 < r in O liegen. Nach De�nition der Äquivalenzvon Normen gibt es eine Konstante c > 0 mit ‖x‖1 ≤ c ‖x‖2. Wenn wir also ρ = r/c setzen, so folgt füralle x ∈ X mit ‖x− x0‖2 < ρ, dass

‖x − x0‖1 ≤ c ‖x − x0‖2 < cρ = r.

Demnach ist jedes x ∈ X mit ‖x − x0‖2 < ρ in O, und deshalb ist O o�en bzgl. ‖ · ‖2. Da wir dieNumerierung der beiden Normen vertauschen können, folgt auch die Umkehrung. 2

Nach obiger Proposition ist es im Folgenden unerheblich, welche der p-Normen auf Kn wir betrachten. Wirwollen aber vereinbaren, dass wir immer die euklidische Norm zugrundelegen, wenn nicht ausdrücklichetwas anderes gesagt ist!

Aufgabe 2.1.9 Zeige: Jedes o�ene Intervall ist eine o�ene Teilmenge von R, und jede o�ene Teilmengevon R ist die Vereinigung von höchstens abzählbar vielen o�enen Intervallen.

2.2 Häufungspunkte, isolierte Punkte, abgeschlossene Mengen

De�nition 2.2.1 Sei X ein normierter Raum, und sei B ⊂ X beliebig. Ein Punkt x0 ∈ X heiÿt Häu-fungspunkt von B, wenn

∀ ε > 0 ∃ x ∈ B \ {x0} : ‖x− x0‖ < ε .

Die Menge aller Häufungspunkte von B sei mit B′ bezeichnet. Ein Punkt x0 ∈ B heiÿt ein isolierterPunkt von B, wenn er kein Häufungspunkt von B ist. Eine Teilmenge A ⊂ X heiÿt abgeschlossen, fallsihr Komplement O = X \A o�en ist.

Lemma 2.2.2 Sei X ein normierter Raum, und sei B ⊂ X beliebig. Genau dann ist B abgeschlossen,wenn es alle seine Häufungspunkte enthält.

Beweis: Sei x0 6∈ B ein Häufungspunkt von B. Dann gehört x0 zum Komplement von B, kann aberkein innerer Punkt des Komplementes sein. Also kann B nicht abgeschlossen sein. Sei jetzt B nichtabgeschlossen. Dann gibt es ein x0 6∈ B, welches kein innerer Punkt des Komplementes von B ist. Alsomuss es in jeder Kugel um x0 einen Punkt von B geben, und deshalb ist x0 ein Häufungspunkt von B.

2

Proposition 2.2.3 (Rechenregeln für abgeschlossene Mengen) Gegeben sei ein normierter RaumX. Dann gilt immer:

(a) Der Gesamtraum X und die leere Menge sind abgeschlossen.

(b) Die Vereinigung endlich vieler abgeschlossener Mengen ist abgeschlossen.

(c) Der Durchschnitt beliebig vieler abgeschlossener Mengen ist abgeschlossen.

Beweis: Folgt mit Hilfe der de Morganschen Regeln aus den ensprechenden Regeln für o�ene Mengen.2

Satz 2.2.4 Sei X ein normierter Raum, und sei eine Teilmenge A ⊂ X o�en und abgeschlossen zugleich.Dann ist A = X oder A = ∅.

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Beweis: Sei B = X \A, und seien A und B beide nicht leer. Für x0 ∈ A und x1 ∈ B bilden die Vektoren

x(t) = t x1 + (1− t)x0 , 0 ≤ t ≤ 1,

die Verbindungsstrecke von x0 nach x1. Sei t0 = sup {t ∈ [0, 1] : x(t) ∈ A }. Dann kann x = x(t0) keininnerer Punkt von A, aber auch keiner von B sein. Falls x zu A gehört, ist deshalb A nicht o�en, undsonst muss x ∈ B sein, so dass dann B nicht o�en sein kann. 2

Aufgabe 2.2.5 Finde abgeschlossene Mengen in einem normierten Raum X, deren Vereinigung nichtabgeschlossen ist.

2.3 Abgeschlossene Hülle, o�ener Kern, Rand

De�nition 2.3.1 Sei X ein normierter Raum. Für ein B ⊂ X sei◦

B =⋃

O ⊂ BO o�en

O.

Nach den Rechenregeln für o�ene Mengen ist◦

B o�en, und wenn O eine o�ene Teilmenge von B ist,dann folgt O ⊂

B. Also ist◦

B die gröÿte o�ene Teilmenge von B und wird als der o�ene Kern von Bbezeichnet. Weiter sei

B =⋂

A ⊃ BA abgeschl.

A.

Nach den Rechenregeln für abgeschlossene Mengen ist B abgeschlossen, und wenn A eine abgeschlosseneObermenge von B ist, dann folgt A ⊃ B. Also ist B die kleinste abgeschlossene Obermenge von B undwird als die abgeschlossene Hülle von B bezeichnet. Die Menge ∂B = B \

B heiÿt der Rand von B, undjedes x ∈ ∂B heiÿt ein Randpunkt von B.

Aufgabe 2.3.2 Sei X ein normierter Raum, und sei B ⊂ X. Zeige:

B = B ⇐⇒ B abgeschlossen ,◦

B = B ⇐⇒ B o�en .

Proposition 2.3.3 Sei X normierter Raum, und seien B ⊂ X, C = X \B. Dann gilt:

(a)◦

B ist die Menge aller inneren Punkte von B.

(b) C = X \◦

B ,◦

C = X \B .

(c) ∂C = ∂B = X \ (◦

B ∪◦

C).

(d) B = B ∪ B′ = B ∪ ∂B.

Beweis: Zu (a): Ein innerer Punkt von B ist in einer kleinen Kugel enthalten, die ihrerseits ganz zu B

gehört. Da diese Kugel o�en ist, gehört sie auch zum o�enen Kern von B. Umgekehrt ist◦

B o�en, und

somit ist jedes x ∈◦

B ein innerer Punkt von B. Zu (b): X \◦

B ist eine abgeschlossene Obermenge von C,

und daher gilt C ⊂ X \◦

B. Umgekehrt ist X \C eine o�ene Teilmenge von B, also in◦

B enthalten. Darausfolgt die erste Aussage. Die zweite ergibt sich durch Vertauschen von B und C und Anwenden der de

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Morganschen Regeln. Zu (c): Ein x ∈ ∂B kann nicht zu◦

B, aber auch nicht zu◦

C gehören. Umgekehrt,

ist x 6∈◦

B∪◦

C, so folgt wegen (b), dass x ∈ B sein muss, und dann ist x ∈ ∂B nach De�nition des Randes.Also gilt die rechte Gleichung, und durch Vertauschen von B und C folgt auch die linke. Zu (d): EinHäufungspunkt x von B ist kein innerer Punkt von C, also folgt x ∈ B wegen (b) und (c). Umgekehrt,ist x ∈ B \ B, so ist x kein innerer Punkt von C, und daraus folgt, dass x ein Häufungspunkt von Bsein muss. Also gilt die linke Gleichung. Die rechte folgt, weil einerseits ∂B ⊂ B ist, und andererseits ein

Punkt x ∈ B \B auch in B \◦

B = ∂B sein muss. 2

Aufgabe 2.3.4 Sei X ein normierter Raum. Zeige: Ist B ⊂ X mit ∂B = ∅, so folgt B = X oder B = ∅.Untersuche, ob auch die Umkehrung gilt.

Aufgabe 2.3.5 Sei X normierter Raum, und seien x0 ∈ X und r ∈ R+. Zeige:

K(x0, r) = {x ∈ X : ‖x− x0‖ ≤ r} .

Wir nennen diese Menge auch die abgeschlossene Kugel um x0 vom Radius r.

2.4 Beschränkte und kompakte Mengen

De�nition 2.4.1 Sei X ein normierter Raum, und sei B ⊂ X. Wir nennen B beschränkt, falls einr ∈ R+ existiert, für welches B ⊂ K(0, r) ist. Wir sagen, dass die Mengen {Oα : α ∈ I} eine o�eneÜberdeckung von B bilden, wenn alle Oα o�en sind, und wenn

B ⊂⋃α∈I

Oα .

Wir sagen weiter, dass eine solche o�ene Überdeckung von B eine endliche Teilüberdeckung besitzt, wennes α1, . . . , αn ∈ I gibt mit

B ⊂n⋃j=1

Oαj .

Wir nennen die Menge B kompakt, wenn jede o�ene Überdeckung von B eine endliche Teilüberdeckungbesitzt.

Aufgabe 2.4.2 (Durchmesser einer Menge) Sei X ein normierter Raum, und sei B ⊂ X. Wirnennen d = sup {‖x1 − x2‖ : x1, x2 ∈ B} den Durchmesser von B. Zeige: Genau dann ist B beschränkt,wenn sein Durchmesser endlich ist.

Aufgabe 2.4.3 Sei X 6= {0} ein normierter Raum, und seien x0 ∈ X und r ∈ R+. Berechne denDurchmesser d von K(x0, r). Untersuche ob dieser Durchmesser angenommen wird, d. h., ob es x1, x2 ∈K(x0, r) gibt mit d = ‖x1 − x2‖.

Satz 2.4.4 Sei X normierter Raum, und sei B ⊂ X kompakt. Dann ist B abgeschlossen und beschränkt.

Beweis: Die Menge aller Kugeln K(0, n), mit beliebigem n ∈ N, bilden sicher eine o�ene Überdeckungvon B. Da B kompakt ist, muss es eine endliche Teilüberdeckung geben. Da K(0, n) ⊂ K(0, n + 1) ist,bedeutet das die Existenz eines n0 ∈ N mit B ⊂ K(0, n0). Also ist B beschränkt. Sei x0 6∈ B. Die MengenOn = {x ∈ X : ‖x − x0‖ > 1/n }, n ∈ N, sind o�en wegen Aufgabe 2.3.5 und bilden o�enbar eine

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Überdeckung von B. Da B kompakt ist, und da wiederum On ⊂ On+1 ist, gibt es ein n0 ∈ N mit B ⊂ On0.

Daraus folgt, dass K(x0, 1/n0) keinen Punkt von B enthält, und deshalb ist x0 kein Häufungspunkt vonB. Also ist B abgeschlossen. 2

Aufgabe 2.4.5 Zeige: Ist X normierter Raum und K ⊂ X kompakt, so ist jede abgeschlossene Teilmengevon K ebenfalls kompakt. Insbesondere ist die leere Menge kompakt!

Aufgabe 2.4.6 Zeige: In jedem normierten Raum ist der Durchschnitt beliebig vieler kompakter Mengenwieder kompakt.

2.5 Konvexe und sternförmige Mengen

De�nition 2.5.1 Sei X ein beliebiger Vektorraum über K. Eine Teilmenge B ⊂ X heiÿt sternförmigbzgl. eines x0 ∈ B, wenn für jedes x ∈ B die ganze Verbindungsstrecke von x0 nach x zu B gehört. Wirnennen B konvex, wenn es sternförmig bzgl. jedes Punktes x0 ∈ B ist. Also ist B genau dann konvex,wenn mit je zwei Punkten auch deren Verbindungsstrecke zu B gehört.

Aufgabe 2.5.2 Sei X normierter Raum. Zeige: Jede Kugel in X ist konvex.

Behauptung 2.5.3 Durchschnitte beliebig vieler konvexer Mengen sind wieder konvex.

Beweis: Folgt direkt aus der De�nition (auch, falls der Durchschnitt leer sein sollte). 2

De�nition 2.5.4 Sei X ein beliebiger Vektorraum über K, und sei B ⊂ X. Die Menge

Bh =⋂

C ⊃ BC konvex

C

ist nach obiger Behauptung konvex und enthält B. Also ist Bh die kleinste konvexe Obermenge von Bund wird die konvexe Hülle von B genannt.

Aufgabe 2.5.5 Sei X ein beliebiger Vektorraum über K, und sei x0 ∈ X. Zeige: Der Durchschnitt beliebigvieler bzgl. x0 sternförmiger Mengen ist wieder sternförmig bzgl. x0. Benutze dies, um eine sternförmigeHülle bzgl. x0 zu de�nieren.

Aufgabe 2.5.6 Sei X ein beliebiger Vektorraum über K, sei A ⊂ X konvex, und seien x1, . . . , xn ∈ Asowie α1, . . . , αn ∈ R mit αj ≥ 0 für alle j und

∑nj=1 αj = 1. Zeige

c(xj ;αj) :=

n∑j=1

αj xj ∈ A .

Man nennt jede solche Summe auch eine Konvexkombination der Vektoren x1, . . . , xn.

Aufgabe 2.5.7 Sei X ein beliebiger Vektorraum über K, und seien x1, . . . , xn ∈ X gegeben. Zeige:Die Menge aller Konvexkombinationen der x1, . . . , xn ist genau gleich der konvexen Hülle der endlichenMenge {x1, . . . , xn}. Interpretiere diese Menge anschaulich für n ≤ 3.

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2.6 Zusammenhang

De�nition 2.6.1 Sei X ein normierter Raum, und sei B ⊂ X. Wir nennen B unzusammenhängend,falls o�ene Mengen O1, O2 ⊂ X existieren mit

B ⊂ O1 ∪O2 , B ∩O1 ∩O2 = ∅ , B ∩Oj 6= ∅ , 1 ≤ j ≤ 2.

Falls dies nicht so ist, heiÿt B zusammenhängend. Seien x0, . . . , xm ∈ X. Das Tupel aller Verbindungs-strecken von xj−1 nach xj, für j = 1, . . . ,m, heiÿt der Streckenzug oder das Polygon zu den Eckpunktenxj. Wir sagen auch: Der Streckenzug verbindet x0 mit xm in der Menge B, wenn alle Verbindungsstreckenin B liegen. Wir nennen B polygonzusammenhängend, wenn sich je zwei Punkte von B durch ein Polygonin B verbinden lassen.

Aufgabe 2.6.2 Gib ein Beispiel für eine Teilmenge von R2, welche zusammenhängend, aber nicht poly-gonzusammenhängend ist.

Aufgabe 2.6.3 Zeige: Eine o�ene Teilmenge eines normierten Raumes ist genau dann unzusammen-hängend, wenn sie Vereinigung zweier o�ener nichtleerer und disjunkter Mengen ist.

Aufgabe 2.6.4 Zeige: Konvexe und sternförmige Mengen sind immer polygonzusammenhängend.

Lemma 2.6.5 Sei X ein normierter Raum, und sei B ⊂ X polygonzusammenhängend. Dann ist Bzusammenhängend.

Beweis: Seien o�ene Mengen O1, O2 in X mit B ⊂ O1 ∪ O2, B ∩ Oj 6= ∅, für 1 ≤ j ≤ 2, gegeben. Zuzeigen ist dann B ∩O1 ∩O2 6= ∅. Seien x ∈ B ∩O1, x ∈ B ∩O2 gewählt. Dann gibt es einen Streckenzug,der beide Punkte in B verbindet. Seien x0(= x), x1, . . . , xm(= x) seine Eckpunkte, und sei k ∈ {0, . . . ,m}maximal gewählt, so dass xk ∈ B ∩ O1 gilt. Falls k = m ist, ist nichts mehr zu zeigen. Andernfalls seit0 = sup {t ∈ [0, 1] : x(t) = (1−t)xk+t xk+1 ∈ O1}. Da O1 o�en ist, folgt x(t0) 6∈ O1, also x(t0) ∈ O2. DaO2 ebenfalls o�en ist, gilt x(t) ∈ O2 für t < t0, mit t0−t genügend klein. Dann ist aber x(t) ∈ B∩O1∩O2

für wenigstens ein solches t, was zu zeigen war. 2

De�nition 2.6.6 Sei X ein normierter Raum. Eine o�ene und zusammenhängende Teilmenge von Xheiÿt ein Gebiet.

Satz 2.6.7 (Polygonzusammenhang von Gebieten) In einem normierten Raum ist jedes Gebiet Gpolygonzusammenhängend.

Beweis: Wir nennen zwei Punkte in G äquivalent, wenn sie sich durch ein Polygon in G verbinden lassen.Man sieht sofort, dass dies tatsächlich eine Äquivalenzrelation auf G ist, und dass alle Äquivalenzklasseno�en sind. Wenn man annimmt, dass es mehrere Äquivalenzklassen gibt, folgt mit Aufgabe 2.6.3 einWiderspruch zum Zusammenhang von G. 2

Aufgabe 2.6.8 Sei B eine zusammenhängende Teilmenge eines normierten Raumes X, und sei B ⊂C ⊂ B. Zeige: Dann ist auch C zusammenhängend.

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Aufgabe 2.6.9 Zeige: Eine Teilmenge von R ist genau dann zusammenhängend, wenn sie ein Intervallist.

Aufgabe 2.6.10 Zeige: Eine o�ene Teilmenge O eines normierten Raumes X ist Vereinigung von paar-weise disjunkten Gebieten. Jedes solche Gebiet heiÿt auch eine Zusammenhangskomponente von O.

Aufgabe 2.6.11 Zeige: In Rn hat eine o�ene Menge höchstens abzählbar viele Zusammenhangskompo-nenten.

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Kapitel 3

Konvergenz in normierten Räumen

3.1 Konvergenz und Vollständigkeit

De�nition 3.1.1 Sei X ein normierter Raum, und sei (xm)∞m=p eine Folge in X. Wir nennen (xm)beschränkt, wenn ein r ∈ R+ existiert mit ‖xm‖ ≤ r für alle m ≥ p. Wir nennen (xm) Cauchy-Folge,wenn

∀ ε > 0 ∃ N ∈ R+ ∀ m,µ ∈ N : m,µ ≥ N =⇒ ‖xm − xµ‖ < ε .

Weiter heiÿt (xm) konvergent, wenn ein x ∈ X existiert, für welches

∀ ε > 0 ∃ N ∈ R+ ∀ m ∈ N : m ≥ N =⇒ ‖xm − x‖ < ε .

Wenn dem so ist, heiÿt x Grenzwert der Folge. Wir schreiben dann limm→∞

xm = x oder xm −→ x (m →∞). Schlieÿlich heiÿt die Folge (xm) divergent, wenn sie nicht konvergiert.

Die folgenden Ergebnisse beweist man genauso wie die entsprechenden Aussagen aus Analysis I, wobeiman für Vektoren statt | · | jeweils ‖ · ‖ schreiben muss. Beachte allerdings, dass nicht behauptet wird,dass jede Cauchy-Folge konvergiert; dies tri�t im Allgemeinen nicht zu!

Proposition 3.1.2 In jedem normierten Raum X gilt:

(a) Eine konvergente Folge hat nur einen Grenzwert.

(b) Eine konvergente Folge ist Cauchy-Folge.

(c) Eine Cauchy-Folge ist beschränkt.

(d) Wenn eine Cauchy-Folge eine konvergente Teilfolge besitzt, so ist sie selber konvergent.

Satz 3.1.3 (Rechenregeln für Grenzwerte) Sei X normierter Raum, und seien xm, ym ∈ X, αm ∈K, für alle m ∈ N.

(a) Falls die Folgen (xm) und (ym) beide konvergieren, dann ist auch (xm+ym) konvergent, und es gilt

limm→∞

(xm + ym) = limm→∞

xm + limm→∞

ym .

(b) Falls die Folgen (xm) und (αm) beide konvergieren, dann ist auch (αm xm) konvergent, und es gilt

limm→∞

αm xm = limm→∞

αm limm→∞

xm .

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Aufgabe 3.1.4 Beweise Proposition 3.1.2 und die anschlieÿenden Rechenregeln.

Aufgabe 3.1.5 Sei X ein normierter Raum, und sei B ⊂ X. Zeige: Jeder Häufungspunkt von B istGrenzwert einer Folge mit Gliedern in B.

De�nition 3.1.6 Ein normierter Raum X heiÿt vollständig, falls jede Cauchy-Folge konvergiert. Einvollständiger normierter Raum heiÿt auch Banach-Raum. Allgemeiner heiÿt eine Teilmenge B ⊂ Xvollständig, wenn jede Cauchyfolge mit Gliedern in B auch einen Grenzwert in B hat.

Nicht jeder normierte Raum hat diese wichtige Eigenschaft der Vollständigkeit. Wir werden aber inAbschnitt 3.3 zeigen, dass die Räume Kn vollständig sind.

Aufgabe 3.1.7 Zeige: In C[a, b] mit der Supremumsnorm bedeutet Konvergenz einer Folge dasselbe wiedie gleichmäÿige Konvergenz. Schlieÿe aus einem Satz der Analysis I, dass C[a, b] vollständig ist. Zeigeweiter, dass der Teilraum der Polynome nicht vollständig ist.

Aufgabe 3.1.8 Sei X ein normierter Raum, und sei B ⊂ X. Zeige: Genau dann ist B abgeschlossen,wenn für jede konvergente Folge (xn), deren Glieder alle zu B gehören, auch der Grenzwert in B liegt.

Aufgabe 3.1.9 (Intervallschachtelungsprinzip) Sei X vollständiger normierter Raum. Seien Annicht-leere, abgeschlossene und beschränkte Teilmengen von X mit An ⊃ An+1, für alle n ∈ N, undso dass der Durchmesser der An für n → ∞ gegen 0 geht. Zeige: Dann gibt es genau ein x ∈ X mitx ∈ An für alle n ∈ N.

3.2 Folgenkompaktheit, totale Beschränktheit

De�nition 3.2.1 Sei X ein normierter Raum, und sei B ⊂ X. Wir nennen B folgenkompakt, wennjede Folge in B eine konvergente Teilfolge besitzt, deren Grenzwert ebenfalls zu B behört. Wir sagen, dassB total beschränkt ist, wenn gilt

∀ ε > 0 ∃ x1, . . . , xn ∈ B : B ⊂n⋃j=1

K(xj , ε) .

Wir nennen B vollständig, wenn jede Cauchy-Folge mit Gliedern in B einen Grenzwert besitzt, derebenfalls zu B gehört.

Aufgabe 3.2.2 Zeige: Ist X ein normierter Raum, und ist A eine vollständige Teilmenge von X, so istjede abgeschlossene Teilmenge von A ebenfalls vollständig.

Aufgabe 3.2.3 Sei c0 die Menge aller Nullfolgen, versehen mit der Supremumsnorm

‖(xk)‖ = sup {|xk| : k ∈ N } .

Sei B = {x = (xk) ∈ c0 : ‖x‖ ≤ 1 }, also ist B sicherlich beschränkt. Zeige: In B gibt es unendlichviele Elemente xm mit ‖xm − xµ‖ = 2 für m 6= µ. Schlieÿe daraus, dass B nicht total beschränkt ist.

Satz 3.2.4 (Charakterisierung der Kompaktheit) Für jeden normierten Raum X sind die folgen-den Aussagen für eine Teilmenge B ⊂ X äquivalent:

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(a) B ist kompakt.

(b) B ist folgenkompakt.

(c) B ist vollständig und total beschränkt.

Beweis: Zu (a) =⇒ (b): Sei B nicht folgenkompakt. Falls B nicht abgeschlossen ist, kann es wegenSatz 2.4.4 auch nicht kompakt sein, und deshalb sei B als abgeschlossen vorausgesetzt. Dann muss eseine Folge (xm) mit Gliedern aus B geben, welche keine konvergente Teilfolge besitzt. Die Glieder derFolge bilden dann eine unendliche Teilmenge A von B, und aus Aufgabe 3.1.5 folgt, dass A keinenHäufungspunkt hat. Also ist insbesondere A abgeschlossen, und somit O0 = X \A o�en. Ferner muss eszu jedem m ∈ N ein rm > 0 geben, für welches Om = K(xm, rm) keinen weiteren Punkt von A (auÿerxm) mehr enthält, denn andernfalls wäre ja xm ein Häufungspunkt von A. Die Mengen {Om : M ∈ N0}bilden dann eine o�ene Überdeckung von B ohne endliche Teilüberdeckung, und somit kann B nichtkompakt sein. Zu (b) =⇒ (c): Jede Cauchy-Folge aus B muss wegen der Folgenkompaktheit von B einekonvergente Teilfolge besitzen und ist deshalb selber konvergent. Daher muss B vollständig sein. Sei jetztein ε > 0 und ein x1 ∈ B betrachtet. Falls B ∈ K(x1, ε) liegt, brechen wir ab; im anderen Fall wählen wirein x2 ∈ B \K(x1, ε). Allgemein: Sind x1, . . . , xm ∈ B schon gewählt, ist entweder B ⊂ ∪mk=1K(xk, ε),oder wir können xm+1 ∈ B \ ∪mk=1K(xk, ε) wählen. Würde diese Konstruktion niemals abbrechen, soergäbe sich eine Folge (xm) aus B, die keine konvergente Teilfolge enthalten könnte. Das kann aber nichtsein, und somit muss B total beschränkt sein. Zu (c) =⇒ (a): Sei angenommen, dass B vollständigund total beschränkt, aber nicht kompakt ist. Dann gibt es eine o�ene Überdeckung {Oα : α ∈ I} ohneendliche Teilüberdeckung. Zu ε = 1/2 gibt es dann x11, . . . , x1m1

∈ B so, dass B ⊂ ∪m1j=1K(x1j , 1/2) ist.

Für mindestens ein j wird B ∩ K(x1j , 1/2) nicht von endlich vielen Oα überdeckt; o. B. d. A. sei diesfür j = 1 der Fall, und wir setzen B1 = B ∩ K(x11, 1/2). Allgemein: Zu µ ≥ 2 und ε = 2−µ gibt esxµ1, . . . , xµmµ ∈ B so, dass B ⊂ ∪mµj=1K(xµj , 2

−µ) ist, und für Bµ = Bµ−1 ∩K(xµ1, 2−µ) reichen endlich

viel Oα nicht zur Überdeckung aus. Sicherlich kann Bµ nach Konstruktion nicht die leere Menge sein.Also folgt K(xµ1, 2

−µ) ∩K(xµ−1,1, 2−µ+1) 6= ∅ , und deshalb muss gelten:

‖x1µ − x1,µ−1‖ < 2−µ + 2−µ+1 =3

2µ∀ µ ∈ N .

Daher gilt für beliebiges µ, p ∈ N:

‖x1µ − x1,µ+p‖ ≤p+µ∑j=µ+1

‖x1j − x1,j−1‖ ≤p+µ∑j=µ+1

3

2j<

3

2µ.

Daher ist (x1µ) eine Cauchy-Folge aus B und muss deshalb gegen ein x ∈ B konvergieren. Zu diesem xgibt es ein α0 ∈ I und ein ε > 0 mit x ∈ K(x, ε) ⊂ Oα0

. Dann müssen aber alle Bµ für µ ≥ µ0 ebenfallsin Oα0

liegen, was ein Widerspruch zur Konstruktion der Folge ist. 2

Aufgabe 3.2.5 Zeige folgende andere Form des Intervallschachtelungsprinzips: Sind An nicht-leere kom-pakte Teilmengen eines normierten Raumes X mit An ⊃ An+1, für alle n ∈ N, so ist ∩nAn nicht leer.

3.3 Konvergenz und Kompaktheit in mehreren Dimensionen

Die für diese Vorlesung wichtigsten Räume sind Rn oder Cn. Dabei sei n ∈ N immer fest gewählt, und wirstellen uns n ≥ 2 vor, obwohl die gemachten Aussagen auch alle für n = 1 richtig sind. Wenn wir einenVektor x ∈ Kn betrachten, soll immer x = (x1, . . . , xn)T gelten; für Folgen (xm) in Kn sei entsprechendxm = (x

(m)1 , . . . , x

(m)n )T gesetzt. Als Norm auf Kn sei stets die euklidische Norm gewählt, obwohl die

folgenden Aussagen auch für jede andere p-Norm gelten. Der Einfachheit halber schreiben wir nur ‖ · ‖an Stelle von ‖ · ‖2.

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Satz 3.3.1 (Vollständigkeit von Kn)

(a) Eine Folge (xm) aus Kn konvergiert genau dann gegen ein x ∈ Kn, wenn gilt

limm→∞

x(m)k = xk ∀ k = 1, . . . , n.

(b) Der Raum Kn ist vollständig.

Beweis: Zu (a): Gelte limm→∞ xm = x, also per De�nition limm→∞ ‖xm−x‖ = 0. Wegen |x(m)k −xk| ≤

‖xm−x‖ folgt dann also limm→∞ x(m)k = xk, für alle k = 1, . . . , n. Umgekehrt folgt aus limm→∞ x

(m)k = xk

und den Rechenregeln für Grenzwerte, dass limm→∞∑nk=1 |x

(m)k − xk|2 = 0 ist, und aus der Stetigkeit

der Quadratwurzel folgt dann limm→∞ ‖xm − x‖ = 0. Zu (b): Wenn (xm) eine Cauchy-Folge in Kn ist,so ist für jedes k = 1, . . . , n die Folge (x

(m)k )∞m=1 eine Cauchy-Folge in K. Nach dem Cauchy-Kriterium

sind diese Folgen alle konvergent. Wenn wir die Grenzwerte mit xk bezeichnen und daraus einen Vektorx ∈ Kn bilden, folgt mit Teil (a) des Satzes, dass (xm) gegen x konvergiert. 2

In einem allgemeinen normierten Raum ist es nicht leicht zu erkennen, ob eine Teilmenge kompakt ist;in Kn ist dies anders:

Satz 3.3.2 (Satz von Heine-Borel) Eine Teilmenge von Kn ist genau dann kompakt, wenn sie abge-schlossen und beschränkt ist.

Beweis: Wegen Satz 2.4.4 ist die eine Richtung der Aussage in jedem normierten Raum richtig. Seideshalb jetzt B ⊂ Kn abgeschlossen und beschränkt. Mit Satz 3.2.4 ist nur die Folgenkompaktheit vonB zu zeigen. Dazu sei (xm) eine Folge aus B. Dann ist (xm) beschränkt, und wegen |x(m)

k | ≤ ‖xm‖ist auch jede der Folgen (x

(m)k )∞m=1 beschränkt. Nach dem Satz von Bolzano und Weierstraÿ besitzt

(x(m)1 )∞m=1 eine konvergente Teilfolge. Die entsprechende Teilfolge von (x

(m)2 )∞m=1 ist ebenfalls beschränkt

und besitzt wieder eine konvergent Teilfolge, u. s. w. Insgesamt sieht man, dass die Ausgangsfolge (xm)eine Teilfolge besitzt, für die alle Koordinatenfolgen konvergieren. Nach dem vorausgegangenen Satz istdies aber gleichbedeutend mit der Konvergenz der Teilfolge selber. Da B abgeschlossen ist, muss derGrenzwert dieser Teilfolge zu B gehören, und das zeigt die Folgenkompaktheit. 2

Korollar zu Satz 3.3.2 (Satz von Bolzano und Weierstraÿ in Kn) Eine beschränkte Folge in Knbesitzt eine konvergente Teilfolge.

Beweis: Sei (xm) beschränkt, und sei B die abgeschlossene Hülle von {xm : m ∈ N}. Dann ist Babgeschlossen und beschränkt, also kompakt. Mit Satz 3.2.4 ist B auch folgenkompakt, und das ist dieBehauptung. 2

Aufgabe 3.3.3 Zeige, ohne den Satz von Heine-Borel zu benutzen, dass in Kn jede beschränkte Mengeauch total beschränkt ist.

Aufgabe 3.3.4 Sei c0 die Menge aller Nullfolgen mit Gliedern in K, zusammen mit der Supremum-snorm. Finde in c0 eine beschränkte Folge ohne konvergente Teilfolge. Schlieÿe daraus, dass der Satz vonHeine-Borel im Allgemeinen für unendlich-dimensionale normierte Räume falsch ist.

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Kapitel 4

Stetigkeit

4.1 Stetigkeit in normierten Räumen

Im Folgenden seien X1, X2 zwei normierte Räume. Für diese Vorlesung ist es ausreichend, sich X1 = Knund X2 = Km vorzustellen (mit n,m ∈ N), aber die folgenden Begri�e sind auch allgemein sinnvoll.

De�nition 4.1.1 Sei D ⊂ X1 nicht leer, und sei f : D −→ X2. Wir nennen f stetig in einem Punktx0 ∈ D, falls gilt

∀ ε > 0 ∃ δ > 0 ∀ x ∈ D : ‖x− x0‖ < δ =⇒ ‖f(x)− f(x0)‖ < ε. (4.1.1)

Falls f in jedem Punkt von D stetig ist, sagen wir kurz: f ist auf D stetig. Wir sagen, dass f auf D einerLipschitzbedingung genügt, oder Lipschitzstetig ist, falls eine Konstante L ∈ R+ existiert, so dass

‖f(x0) − f(x1)‖ ≤ L ‖x0 − x1‖ ∀ x0, x1 ∈ D .

Jedes solche L heiÿt auch Lipschitzkonstante für f (auf D).

Beispiel 4.1.2 Überraschenderweise ist in unendlich-dimensionalen normierten Räumen nicht jede lin-eare Abbildung von X1 nach X2 stetig; dies wird in der Vorlesung Funktionalanalysis näher besprochen.Auf jedem normierten Raum X ist aber die Abbildung x 7→ ‖x‖ stetig auf dem ganzen Raum X; dies folgtaus der Dreiecksungleichung nach unten. Ausserdem ist die identische Abbildung stetig auf X.

Bemerkung 4.1.3 Die folgenden Aussagen werden genau wie in Analysis I bewiesen:

(a) Falls x0 ein isolierter Punkt von D ist, ist jede auf D de�nierte Funktion in x0 stetig.

(b) Folgenstetigkeit ist äquivalent zur Stetigkeit; d. h., f ist genau dann stetig in x0, wenn für jede Folge(xn) aus D gilt

limn→∞

xn = x0 ∈ D =⇒ limn→∞

f(xn) = f(x0) .

(c) Erfüllt f eine Lipschitzbedingung auf D, so ist f dort stetig.

(d) Sind f : D −→ X2 und g : D −→ X2 stetig in x0 ∈ D, so ist auch g + f dort stetig.

(e) Sind f : D −→ X2 und g : D −→ K stetig in x0 ∈ D, so ist auch g f dort stetig.

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(f) Die Hintereinanderausführung stetiger Funktionen ist stetig. Genauer: Ist auch X3 ein normierterRaum, ist D2 ⊂ X2, und sind f : D −→ D2 stetig in x0 ∈ D sowie g : D2 −→ X3 stetig in f(x0),so ist g ◦ f stetig in x0.

(g) Im Fall X2 = K ist der Kehrwert einer Funktion f dort stetig, wo f selber stetig und von 0verschieden ist.

Proposition 4.1.4 Seien X1, X2 normierte Räume, sei D ⊂ X1 nicht leer, und sei f : D −→ X2. Genaudann ist f stetig auf D, wenn zu jeder o�enen Teilmenge O2 ⊂ X2 eine o�ene Teilmenge O1 ⊂ X1

existiert, für welche f−1(O2) = D ∩O1 ist.

Beweis: Sei f stetig auf D, und sei O2 ⊂ X2 o�en. Zu jedem x0 ∈ f−1(O2) existiert ein ε = εx0> 0 mit

K(f(x0), ε) ⊂ O2. Wegen der Stetigkeit von f gibt es ein δ = δx0> 0 derart, dass für alle x ∈ D∩K(x0, δ)

gilt f(x) ∈ K(f(x0), ε). Sei

O1 =⋃

x0∈f−1(O2)

K(x0, δx0).

Dann ist O1 o�en, und für x ∈ O1 ∩D gibt es ein x0 ∈ f−1(O2) mit x ∈ K(x0, δx0), woraus f(x) ∈ O2

folgt. Umgekehrt sei für ein ε > 0 und ein x0 ∈ D die Menge O2 = K(f(x0), ε) betrachtet. Dazu gibt esnach Voraussetzung eine o�ene Menge O1 ⊂ X1 mit f−1(O2) = D∩O1. Also ist x0 ∈ O1, und es gibt einδ > 0 mit K(x0, δ) ⊂ O1. Deshalb gilt für alle x ∈ D: Wenn ‖x− x0‖ < δ ist, dann ist x ∈ D ∩ O1, unddeshalb folgt f(x) ∈ O2, oder anders ausgedrückt: ‖f(x)− f(x0)‖ < ε, und daher ist f stetig in x0. 2

Aufgabe 4.1.5 Sei A = [αjk] eine (n,m)-Matrix mit Elementen aus K, und sei

‖A‖ =( n∑

j=1

m∑k=1

|αjk|2)1/2

.

Zeige: ‖Ax‖ ≤ ‖A‖ ‖x‖ für alle x ∈ Km, wobei links die euklidische Norm in Kn, und rechts für x dieeuklidische Norm in Km zu nehmen ist. Leite daraus die Stetigkeit von x 7→ Ax auf Km ab.

Aufgabe 4.1.6 Zeige: Ist [a, b] eine abgeschlossenes Intervall in R, und ist X = C[a, b] der Raum derauf [a, b] stetigen Funktionen mit der Supremumsnorm, so erfüllt die Abbildung f 7−→

∫ baf(x) dx auf

C[a, b] eine Lipschitzbedingung und ist deshalb dort stetig.

4.2 Stetigkeit und Zusammenhang

Der folgende Satz entspricht genau dem Zwischenwertsatz aus Analysis I:

Satz 4.2.1 Seien X1, X2 normierte Räume, sei D ⊂ X1 nicht leer, und sei f : D −→ X2 stetig auf D.Ist B eine zusammenhängende Teilmenge von D, so ist f(B) ebenfalls zusammenhängend.

Beweis: Sei f(B) unzusammenhängend. Dann gibt es per De�nition zwei o�ene Mengen O1, O2 ⊂ X2

mitf(B) ⊂ O1 ∪O2 , f(B) ∩O1 ∩O2 = ∅ , f(B) ∩Oj 6= ∅ , (1 ≤ j ≤ 2).

Nach Proposition 4.1.4 gibt es dann zwei o�ene Mengen O1, O2 ⊂ X1 mitD∩Oj = f−1(Oj), für 1 ≤ j ≤ 2.Damit folgt

B ⊂ O1 ∪ O2 , B ∩ O1 ∩ O2 = ∅ , B ∩ Oj 6= ∅ , (1 ≤ j ≤ 2).

Daher ist auch B unzusammenhängend. 2

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Aufgabe 4.2.2 (Zwischenwertsatz) Sei X ein normierter Raum, sei D ⊂ X nicht leer, und sei f :D −→ R stetig auf D. Zeige mit Hilfe von Satz 4.2.1: Ist B eine zusammenhängende Teilmenge vonD, und sind x1, x2 ∈ B mit f(x1) = y1 < f(x2) = y2, so gibt es zu jedem y ∈ (y1, y2) ein x ∈ B mitf(x) = y.

4.3 Stetigkeit und Kompaktheit

De�nition 4.3.1 Seien X1, X2 normierte Räume, sei D ⊂ X1 nicht leer, und sei f : D −→ X2. Wirnennen f auf D gleichmäÿig stetig, falls folgendes gilt:

∀ ε > 0 ∃ δ > 0 ∀ x1, x2 ∈ D : ‖x1 − x2‖ < δ =⇒ ‖f(x1)− f(x2)‖ < ε .

Falls X2 = R ist, de�nieren wir die Begri�e Maximum und Minimum genau wie in Analysis I.

Satz 4.3.2 Seien X1, X2 normierte Räume, sei D ⊂ X1 nicht leer und kompakt, und sei f : D −→ X2

stetig auf D. Dann ist f sogar gleichmäÿig stetig auf D, und f(D) ist kompakt. Ist X2 = R, so nimmt fauf D ein Maximum und ein Minimum an.

Beweis: Sei ε > 0. Wegen der Stetigkeit von f gibt es zu jedem x ∈ D ein δx > 0 derart, dass für allex ∈ D∩K(x, δx) gilt f(x) ∈ K(f(x), ε/2). Die Menge aller K(x, δx/2) ist eine o�ene Überdeckung von Dund besitzt wegen der Kompaktheit eine endliche Teilüberdeckung. Also existieren x1, . . . , xm ∈ D so, dassD ⊂ ∪mk=1K(xk, δxk/2) ist. Mit 2 δ = min {δx1

, . . . , δxm } gilt dann: Für zwei beliebige Punkte x, x ∈ Dist x ∈ K(xk, δxk/2) für wenigstens ein k ∈ {1, . . . ,m}. Wenn ‖x− x‖ < δ ist, dann folgt x ∈ K(xk, δxk).Daraus folgt mit der Dreiecksungleichung, dass ‖f(x) − f(x)‖ ≤ ‖f(x) − f(xk)‖ + ‖f(xk) − f(x)‖ < εist. Das zeigt die gleichmäÿige Stetigkeit von f auf D. Sei jetzt (ym) eine Folge aus f(D). Dann gibtes für jedes m ∈ N mindestens ein xm ∈ D mit f(xm) = ym. Da D kompakt, also auch folgenkompaktist, muss die Folge (xm) eine konvergente Teilfolge mit einem Grenzwert x ∈ D haben. Wegen derStetigkeit von f konvergiert die entsprechende Teilfolge von (yn) gegen f(x) ∈ f(D). Das zeigt dieFolgenkompaktheit und damit die Kompaktheit von f(D). Für X2 = R folgt: Da f(D) kompakt ist, istdie Menge insbesondere beschränkt und abgeschlossen und muss deshalb ein endliches Supremum haben,welches sogar zur Menge gehört und deshalb ein Maximum ist. Dieses Maximum wird dann natürlich aneiner Stelle x ∈ D angenommen. Genauso schlieÿt man für das Minimum. 2

Satz 4.3.3 (Stetigkeit der Umkehrabbildung) Seien X1, X2 normierte Räume, sei D ⊂ X1 nichtleer und kompakt, und sei f : D −→ X2 stetig und injektiv auf D. Dann ist die Umkehrfunktion aufD = f(D) stetig.

Beweis: Sei (ym) eine Folge aus D, welche gegen ein y ∈ D konvergiert. Seien xm und x die (eindeutigbestimmten) Urbilder dieser Punkte. Zu zeigen ist limm→∞ xm = x. Wenn wir das Gegenteil annehmen,dann existiert ein ε > 0, für welches ‖xm − x‖ ≥ ε für unendlich viele m, d. h. für eine Teilfolge von(xm), gilt. Wegen der Folgenkompaktheit von D enthält diese Teilfolge selbst wieder eine Teilfolge, welchegegen ein x ∈ D konvergiert. Wegen der Stetigkeit von f konvergieren die Bilder dieser Teilfolge, also dieentsprechende Teilfolge von (ym), gegen f(x), und daher gilt f(x) = y, also x = x. Das widerspricht aberder Wahl der Teilfolge. 2

Aufgabe 4.3.4 Finde ein Beispiel für eine stetige Funktion mit nicht-kompaktem De�nitionsbereich aberkompakter Wertemenge.

Aufgabe 4.3.5 Finde ein Beispiel für eine stetige Funktion mit beschränktem De�nitionsbereich aberunbeschränkter Wertemenge.

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4.4 Stetigkeit und gleichmäÿige Konvergenz

De�nition 4.4.1 Seien X1, X2 normierte Räume, sei D ⊂ X1 nicht leer, und seien fm, gk : D −→X2. Dann nennen wir (fm) eine Funktionenfolge auf D, und

∑∞k=1 gk eine Funktionenreihe auf D.

Die Funktionenfolge (fm) heiÿt auf D punktweise konvergent, falls für jedes x ∈ D die Folge (fm(x))konvergent ist. Ist dies der Fall, so heiÿt f : D −→ X2, mit f(x) = limm→∞ fm(x) für alle x ∈ D,die Grenzfunktion der Folge. Analog heiÿt die Funktionenreihe

∑∞k=1 gk auf D punktweise konvergent,

falls für jedes x ∈ D die Reihe∑∞k=1 gk(x) konvergent ist, und die Grenzfunktion f ist dann durch

f(x) =∑∞k=1 gk(x) für alle x ∈ D gegeben. Die Funktionenfolge (fm) heiÿt auf D gleichmäÿig konvergent,

falls sie punktweise gegen die Grenzfunktion f konvergiert, und falls weiter gilt:

∀ ε > 0 ∃ N ∈ R+ ∀ m ∈ N ∀ x ∈ D : m ≥ N =⇒ ‖fm(x)− f(x)‖ < ε .

Analog heiÿt die Funktionenreihe∑∞k=1 gk auf D gleichmäÿig konvergent, falls sie punktweise gegen die

Grenzfunktion f konvergiert, und falls weiter gilt:

∀ ε > 0 ∃ N ∈ R+ ∀ m ∈ N ∀ x ∈ D : m ≥ N =⇒∥∥∥ m∑

k=1

gk(x)− f(x)∥∥∥ < ε .

Die gleichmäÿige Konvergenz der Reihe∑∞k=1 gk ist also äquivalent mit der gleichmäÿigen Konvergenz

der Folge ihrer Partialsummen.

Genau wie in Analysis I zeigt man die folgenden Resultate in jedem vollständigen normierten Raum X:

Satz 4.4.2 (Cauchy-Kriterium für gleichmäÿige Konvergenz) Mit den Bezeichnungen wie in derobigen De�nition gilt: Die Funktionenfolge (fn) ist genau dann auf D gleichmäÿig konvergent, wenn

∀ ε > 0 ∃ N ∈ R+ ∀ m,µ ∈ N ∀ x ∈ D : m,µ ≥ N =⇒ ‖fm(x)− fµ(x)‖ < ε .

Die Funktionenreihe∑∞k=1 gk ist genau dann auf D gleichmäÿig konvergent, wenn

∀ ε > 0 ∃ N ∈ R+ ∀ m, p ∈ N ∀ x ∈ D : m ≥ N =⇒∥∥∥ m+p∑

k=m+1

gk(x)∥∥∥ < ε .

Satz 4.4.3 (Majorantenkriterium für gleichmäÿige Konvergenz) Mit den Bezeichnungen wie inder obigen De�nition gilt: Falls Zahlen ak ∈ R+ existieren, für welche gilt

‖gk(x)‖ ≤ ak ∀ x ∈ D,∞∑k=1

ak < ∞,

dann ist die Funktionenreihe∑∞k=1 gk auf D gleichmäÿig konvergent.

Satz 4.4.4 Mit den Bezeichnungen wie in der obigen De�nition gilt:

(a) Sind alle fn in einem Punkt x0 ∈ D stetig, und ist die Funktionenfolge (fn) auf D gleichmäÿigkonvergent, so ist die Grenzfunktion f ebenfalls stetig in x0.

(b) Sind alle gk in einem Punkt x0 ∈ D stetig, und ist die Funktionenreihe∑∞k=1 gk auf D gleichmäÿig

konvergent, so ist die Grenzfunktion f ebenfalls stetig in x0.

Ein nützliches Ergebnis, welches wir in Analysis I ausgelassen haben, ist der folgende Satz:

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Satz 4.4.5 (Satz von Dini) Sei X ein normierter Raum, sei D ⊂ X kompakt, und seien fm : D −→ Ralle stetig auf D. Weiter seien für alle x ∈ D die Zahlenfolgen (fm(x)) monoton fallende Nullfolgen.Dann ist (fm) auf D gleichmäÿig konvergent.

Beweis: Für ε > 0 sei Dm = {x ∈ D : fm(x) < ε}. Zu x ∈ Dm sei εx = ε−fm(x). Wegen der Stetigkeitvon fm gibt es ein δx > 0 so, dass für alle x ∈ D gilt:

‖x − x‖ < δx =⇒ |fm(x) − fm(x)| < εx .

Sei Om = ∪x∈DmK(x, δx). Dann ist Om o�en und enthält Dm. Umgekehrt, ist x ∈ D ∩ Om, so istx ∈ K(x, δx) für ein x ∈ Dm, und dann folgt |fm(x)| ≤ |fm(x)| + |fm(x) − fm(x)| < |fm(x)| + εx = ε,und deshalb ist x ∈ Dm. Also gilt Dm = D ∩ Om. Da jedes x ∈ D in einem der Dm, also erst recht inOm, liegen muss, bilden die Om eine o�ene Überdeckung von D. Wegen der Kompaktheit von D gibtes ein N ∈ N mit D ⊂ ∪Nm=1Om. Wegen Dm = D ∩ Om folgt daraus D ⊂ ∪Nm=1Dm, und da aus derMonotonievoraussetzung folgt dass Dm ⊂ Dm+1 ist, folgt sogar D ⊂ DN , und dann sogar D ⊂ Dm füralle m ≥ N . Mit der De�nition von Dm folgt dann die Behauptung. 2

Aufgabe 4.4.6 Seien gk(x1, x2) = (xk1 + x2)/k2, für k ∈ N und x1, x2 ∈ R. Finde einen möglichstgroÿen Bereich D, auf dem die Funktionenreihe

∑∞k=1 gk gleichmäÿig konvergiert und untersuche dort

die Stetigkeit der Grenzfunktion.

Aufgabe 4.4.7 Leite die gleichmäÿige Konvergenz der Funktionenfolge (fm), mit fm(x) = xm(1 − x)für x ∈ [0, 1] ⊂ R, aus dem Satz von Dini ab.

4.5 Stetigkeit von vektorwertigen Abbildungen

De�nition 4.5.1 Sei X ein normierter Raum, sei D ⊂ X nicht leer, und sei f : D −→ Km. Dann istjeder Funktionswert f(x) ein Vektor

f(x) = (f1(x), . . . , fm(x))T ∀ x ∈ D.

Wir nennen dann die Funktionen fk : D −→ K auch die Koordinatenfunktionen der vektorwertigenFunktion f und schreiben kurz f = (f1, . . . , fn)T . Ist X = Kn, so nennen wir f , aber auch die fk,Funktionen der n Variablen x1, . . . , xn. Wenn n ≥ 2 ist, sprechen wir auch von Funktionen mehrererVariabler und schreiben statt f(x) auch f(x1, . . . , xn).

Bemerkung 4.5.2 Wenn eine Funktion f wie oben gegeben ist, zeigt man leicht, dass die Stetigkeit vonf an einer Stelle x0 äquivalent zur Stetigkeit jeder der Koordinatenfunktionen an dieser Stelle ist. Beachteallerdings, dass bei Funktionen mehrerer Variabler die Stetigkeit nicht schon dann gesichert ist, wenn dieFunktion stetig in jeder einzelnen Variablen ist! Dies ist gerade Inhalt der folgenden Aufgaben.

Aufgabe 4.5.3 Benutze die Äquivalenz von Stetigkeit und Folgenstetigkeit zusammen mit Satz 1, um zuzeigen, dass die Stetigkeit von f äquivalent zur Stetigkeit der Koordinatenfunktionen ist.

Aufgabe 4.5.4 Für x1, x2 ∈ R sei

f(x1, x2) =

x21 x2x41 + x22

für (x1, x2) 6= (0, 0),

0 für (x1, x2) = (0, 0).

Zeige: Wenn man für x1 oder x2 den Wert 0 einsetzt, wird dieses f eine stetige Funktion der anderenVariablen auf ganz R. Als Funktion von zwei Variablen ist f aber nicht stetig im Nullpunkt.

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4.6 Polynome, rationale Funktionen und Potenzreihen

De�nition 4.6.1 Für x = (x1, . . . , xn)T ∈ Kn und p = (p1, . . . , pn) ∈ Nn0 sei

xp = xp11 · . . . · xpnn .

Jedes solche p heiÿt ein Multi-Index, und die Zahl |p| = p1 + . . . + pn heiÿt Betrag oder Länge von p.Eine Funktion P : Kn −→ K der Form

P (x) = P (x1, . . . , xn) =∑

0≤|p|≤m

ap xp ∀ x ∈ Kn

mit ap ∈ K, heiÿt ein Polynom in n Variablen. Die Zahlen ap heiÿen die Koe�zienten des Polynoms. Fürdie Menge aller Polynome mit Koe�zienten in K schreiben wir wieder K[x]; beachte aber, dass hier x ∈ Knist! Falls alle Koe�zienten ap = 0 sind, ist P (x) = 0 für alle x ∈ Kn, und wir nennen dieses Polynomwieder das Nullpolynom oder die Nullfunktion. Im anderen Fall können wir annehmen, dass ap 6= 0 istfür mindestens ein p mit |p| = m, und dann nennen wir m = degP auch den Grad des Polynoms. DenGrad des Nullpolynoms de�nieren wir wieder als −∞. Beachte aber, dass für n ≥ 2 mehrere Terme in Pmit |p| = degP und ap 6= 0 vorkommen können, so dass dann nicht klar ist, was man unter dem höchstenKoe�zienten von P verstehen soll. Für zwei Polynome p, q ∈ K[x], wobei q nicht das Nullpolynom ist,heiÿt r = p/q eine rationale Funktion in n Variablen. Sie ist überall da de�niert, wo das Nennerpolynomnicht verschwindet. Die Menge aller rationalen Funktionen wird wieder mit K(x) bezeichnet.

Beispiel 4.6.2 Sei A eine quadratische n-reihige Matrix. Dann ist die Abbildung p(x) = xTAx, x ∈ Kn,ein Polynom. Der Grad dieses Polynoms ist gleich 2, auÿer wenn A die Nullmatrix ist. Man spricht auchvon der quadratischen Form mit der Koe�zientenmatrix A. Für a ∈ Kn ist p(x) = aT x ein Polynomvom Grad 1, auÿer wenn a der Nullvektor ist.

De�nition 4.6.3 Ein Ausdruck der Form∑p

ap (z − z0)p , ap ∈ C, z0 = (z(0)1 , . . . , z(0)n )T ∈ Cn (4.6.1)

mit Summation über alle Multi-Indizes p, heiÿt eine Potenzreihe in n Variablen z = (z1, . . . , zn)T . DieZahlen ap heiÿen die Koe�zienten, und z0 heiÿt der Entwicklungspunkt der Potenzreihe.

Beispiel 4.6.4 Für z0 = 0 und ap = 1 für alle p erhalten wir die geometrische Reihe in n Variablen. Esgilt ∑

p

zp =

∞∑p1=0

. . .

∞∑p1=0

zp11 · . . . · zpnn =1

1− z1· . . . · 1

1− zn,

wobei die Reihe für alle z mit ‖z‖∞ = max{|z1|, . . . , |zn|} < 1 absolut konvergiert.

Bemerkung 4.6.5 Die Menge der Multi-Indizes ist abzählbar unendlich, also kann man durch Anord-nung der Terme eine Potenzreihe in mehreren Variablen als normale Reihe schreiben. Allerdings ist klar,dass bei Konvergenzuntersuchungen der richtige Konvergenzbegri� der der absoluten Konvergenz seinmuss, da sonst der Wert der Reihe von der gewählten Anordnung der Terme abhängen kann.

Aufgabe 4.6.6 Zeige die Abzählbarkeit der Menge aller Multi-Indizes.

Für Potenzreihen in mehreren Variablen gibt es nichts, was dem Konvergenzradius bei bewöhnlichenPotenzreihen entspricht. Das Konvergenzverhalten einer solchen Reihe ist nicht leicht zu beschreiben. Esgilt aber folgendes Ergebnis:

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Proposition 4.6.7 (Konvergenz einer Potenzreihe in mehreren Var.)

(a) Sei die Reihe (4.6.1) für ein z = z1 = (z(1)1 , . . . , z

(1)n )T mit z(1)k 6= z

(0)k , 1 ≤ k ≤ n, absolut

konvergent. Dann konvergiert sie absolut für alle z = (z1, . . . , zn)T mit |zk − z(0)k | < |z(1)k − z

(0)k | für

alle k = 1, . . . , n. Die Konvergenz ist gleichmäÿig für

|zk − z(0)k | ≤ rk |z(1)k − z

(0)k | ∀k = 1, . . . , n , (4.6.2)

für beliebige Zahlen 0 < rk < 1, für k = 1, . . . , n.

(b) Ist αk = max {|ap| : |p| = k}, für k ∈ N0, und hat die Potenzreihe∑∞k=0 αk t

k einen Konvergen-zradius R > 0, so konvergiert (4.6.1) absolut für

‖z − z0‖∞ = max {|z1 − z(0)1 |, . . . , |zn − z(0)n |} < R.

Beweis: Zu (a): Aus der Konvergenz für z = z1 folgt die Existenz von K > 0 mit |ap (z1 − z0)p| ≤ Kfür alle Multi-Indizes p. Daher gilt für alle z wie in (4.6.2)

|ap (z − z0)p| ≤ K rp11 · . . . · rpnn ∀ p.

Mit dem Majorantenkriterium folgt die Behauptung. Zu (b): Sei r = ‖z − z0‖∞ < R. Dann folgt|(z − zo)p| ≤ r|p|, also ∑

p

|ap| |(z − z0)p| ≤∞∑k=0

rk∑|p|=k

|ap|.

Die Anzahl der Multi-Indizes vom Betrag k ist nicht gröÿer als (k + 1)n, und deshalb ist die Reihe∑k(k + 1)nαk r

k eine konvergente Majorante. 2

Aufgabe 4.6.8 Zeige: Ist p = ek = (0, . . . , 0, 1, 0, . . . , 0)T , mit der 1 an der k-ten Stelle, der k-te Ba-sisvektor der kanonischen Basis von Kn, so ist xp = xk.

Aufgabe 4.6.9 Zeige: Sind p und q zwei Multi-Indizes, so ist xp+q = xp xq.

Aufgabe 4.6.10 Zeige: Jedes Polynom p ∈ K[x] vom Grade höchstens gleich 2 kann geschrieben werdenals p(x) = xTAx + aT x + b, mit einer quadratischen n-reihigen Matrix A, einem Vektor a ∈ Kn undeiner Zahl b ∈ K.

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Kapitel 5

Di�erenzialrechnung mehrerer

Variabler

Im Folgenden sei immer ein festes nicht leeres Gebiet G ⊂ Rn und eine Funktion f : G −→ R betrachtet.Wir schreiben dann auch f(x) = f(x1, . . . , xn).

5.1 Richtungsableitungen, partielle Ableitungen, Gradient

De�nition 5.1.1 Sei e ein beliebiger Einheitsvektor, d. h., e ∈ Rn und ‖e‖ = 1. Falls für ein x ∈ G derGrenzwert

fe(x) = limt→0

f(x+ t e) − f(x)

t

existiert, heiÿt fe(x) die Ableitung von f an der Stelle x in Richtung von e. Jede solche Ableitung heiÿtauch kurz eine Richtungsableitung von f im Punkt x. Ist e der k-te Basisvektor ek der kanonischenBasis von Rn, so heiÿt diese Richtungsableitung auch k-te partielle Ableitung von f im Punkt x, oderdie Ableitung von f nach der Variablen xk im Punkt x, und wir schreiben auch

fxk(x) =∂f(x)

∂xk= lim

t→0

f(x1, . . . , xk−1, xk + t, xk+1, . . . , xn)− f(x1, . . . , xn)

t

für diese partielle Ableitung. Wenn an einer Stelle x ∈ G alle partiellen Ableitungen existieren, so heiÿtf im Punkt x partiell di�erenzierbar, und der Zeilenvektor

grad f(x) = (fx1(x), . . . , fxn(x))

heiÿt der Gradient von f im Punkt x.

Bemerkung 5.1.2 Die Berechnung einer partiellen Ableitung geschieht wie folgt: Alle Variablen werdenwie Konstante behandelt mit Ausnahme einer, und nach dieser einen Variablen wird nach den Regelnaus Analysis I di�erenziert. Wie man andere Richtungsableitungen, auÿer über die De�nition, berechnet,wird später behandelt. Wichtig ist, dass aus der partiellen Di�erenzierbarkeit, oder sogar aus der Existenzaller Richtungsableitungen, i. A. nicht die Stetigkeit folgt. Dazu siehe das folgende Beispiel:

Beispiel 5.1.3 Wir de�nieren f wie in Aufgabe 4.5.4. Sei e = (cosφ, sinφ)T , für irgend ein φ ∈ R.Dann ist ‖e‖ = 1, und jeder Einheitsvektor in R2 kann so geschrieben werden. Es gilt o�enbar

limt→0

f(t cosφ, t sinφ) − f(0, 0)

t= cos2 φ / sinφ falls sinφ 6= 0 ,

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und der Grenzwert ist gleich 0 falls sinφ = 0 ist. Somit existiert die Ableitung in Richtung von e und hatden angegebenen Wert. Also existieren alle Richtungsableitungen im Punkt x = 0. Insbesondere ist f imNullpunkt partiell di�erenzierbar. In Aufgabe 4.5.4 wurde aber gezeigt, dass f im Nullpunkt nicht stetigist!

Aufgabe 5.1.4 Sei p = (p1, . . . , pn) ein Multi-Index, und sei f(x) = xp. Zeige, dass f in jedem Punktx ∈ Rn partiell di�erenzierbar ist, und dass fxk(x) = pk x

p−ek ist � auch für pk = 0, wenn wir davonabsehen, dass dann p− ek kein Multi-Index mehr ist.

Aufgabe 5.1.5 Sei A = [αjk] eine reelle, nicht notwendigerweise symmetrische (n, n)-Matrix, und seif(x) = xTAx. Zeige, dass f in jedem Punkt x ∈ Rn partiell di�erenzierbar ist, und dass fxk(x) =∑nj=1(αjk +αkj)xj ist. Überlege, wie man auf möglichst einfache Weise den Gradienten von f schreiben

kann.

De�nition 5.1.6 Falls f in jedem Punkt von G partiell di�erenzierbar ist, und falls alle partiellenAbleitungen auf G stetig sind, sagen wir kurz, dass f auf G stetig partiell di�erenzierbar ist. Falls eszu jedem x0 ∈ G einen Radius r > 0 mit K(x0, r) ⊂ G so gibt, dass f auf K(x0, r) einer Lipschitzbedin-gung genügt, so sagen wir dass fauf G lokal eine Lipschitzbedingung erfüllt.

Lemma 5.1.7 Falls f auf G stetig partiell di�erenzierbar ist, dann erfüllt f auf G lokal eine Lipschitzbe-dingung und ist somit dort stetig.

Beweis: Sei x0 ∈ G, und sei r > 0 so, dass K(x0, 2 r) ⊂ G ist. Dann gibt es ein Cx0> 0 mit

|fxk(x)| ≤ Cx0∀ k = 1, . . . , n, ∀ x ∈ K(x0, r).

Für k = 0, . . . , n sei yk = (x1, . . . , xk, x(0)k+1, . . . , x

(0)n )T , also y0 = x0, yn = x, und yk = yk−1+(xk−x(0)k ) ek

für k = 1, . . . , n. Dann gibt es nach dem ersten Mittelwertsatz der Di�erenzialrechnung zu jedem x ∈K(x0, r) ein θk zwischen x(0)k und xk mit

|f(yk)− f(yk−1)| = |xk − x(0)k | |fxk(yk + θk ek)| ≤ |xk − x(0)k |Cx0 .

Daraus folgt

|f(x)− f(x0)| ≤n∑k=1

|f(yk)− f(yk−1)| ≤ Cx0‖x− x0‖1 ≤ Cx0

√n ‖x− x0‖2 ,

wobei die letzte Abschätzung aus Aufgabe 1.1.3 folgt. Dies ist die Lipschitzbedingung auf K(x0, r). 2

Lemma 5.1.8 (Vertauschen von Integral und Ableitung) Sei n = 2, sei f auf G nach x2 partielldi�erenzierbar, und seien f und fx2

auf G stetig. Seien weiter a < b und c < d so, dass [a, b]× [c, d] ⊂ Gist, und sei

g(x) =

∫ b

a

f(t, x) dt ∀ x ∈ [c, d].

Dann ist g auf [c, d] stetig di�erenzierbar, und es gilt

g′(x) =

∫ b

a

fx2(t, x) dt ∀ x ∈ [c, d].

31

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Beweis: Sei x ∈ [c, d], und sei τ 6= 0 so, dass x + τ ∈ [c, d] ist. Nach dem ersten Mittelwertsatz derDi�erenzialrechnung gibt es zu jedem t ∈ [a, b] ein θ zwischen x und x+ τ , so dass

f(t, x+ τ) − f(t, x)

τ= fx2(t, θ) .

Da aus der Stetigkeit von fx2 auf [a, b] × [c, d] die gleichmäÿige Stetigkeit folgt, gibt es zu jedem ε > 0ein δ > 0 so, dass für |τ | < δ und beliebiges t ∈ [a, b] folgt∣∣∣ f(t, x+ τ)− f(t, x)

τ− fx2

(t, x)∣∣∣ = |fx2

(t, θ) − fx2(t, x)| < ε .

Daraus folgt durch Integration über t, dass für alle diese x und τ gilt∣∣∣ g(x+ τ)− g(x)

τ−∫ b

a

fx2(t, x) dt

∣∣∣ < ε(b− a).

Dies ergibt die Behauptung. 2

Bemerkung 5.1.9 Beachte, dass obiges Lemma sinngemäÿ auch dann gilt, wenn die Variable x einVektor ist; in diesem Fall kann man ja alle xj bis auf eines festhalten und nach der verbleibenden Variablenpartiell di�erenzieren.

De�nition 5.1.10 Sei α ∈ N0. Die durch das Integral

Jα(x) =1

π

∫ π

0

cos(x sin t− α t) dt ∀ x ∈ R

de�nierte Funktion heiÿt Besselsche Funktion vom Index α. Mit dem obigen Lemma folgt, dass dieseFunktion beliebig oft di�erenzierbar ist.

Aufgabe 5.1.11 Zeige, dass die Besselfunktion vom Index α ∈ N0 eine Lösung der Di�erenzialgleichung

x2 y′′ + x y′ + (x2 − α2) y = 0

ist. Diese Gleichung heiÿt auch Besselsche Di�erenzialgleichung.

5.2 Vertauschen der Di�erenziationsreihenfolge

De�nition 5.2.1 Wenn f auf G nach xk partiell di�erenzierbar ist, und wenn fxk in einem Punkt xnach xj partiell di�erenzierbar ist, dann heiÿt diese Ableitung auch die zweite partielle Ableitung von fnach xk und xj im Punkt x, und wir schreiben auch hierfür

fxkxj (x) =∂2 f(x)

∂xj ∂xk=

∂2

∂xj ∂xkf(x) .

Entsprechend werden höhere als zweite partielle Ableitungen de�niert. Im Allgemeinen muss man hierauf die Reihenfolge der Di�erenziationen achten!

Beispiel 5.2.2 Für x1, x2 ∈ R sei

f(x1, x2) =

x1 x

32

x21 + x22für (x1, x2) 6= (0, 0),

0 für (x1, x2) = (0, 0).

32

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Dann sind

fx1(x1, x2) =

(x22 − x21)x32(x21 + x22)2

für (x1, x2) 6= (0, 0),

0 für (x1, x2) = (0, 0),

fx2(x1, x2) =

(3x21 + x22)x1 x

22

(x21 + x22)2für (x1, x2) 6= (0, 0),

0 für (x1, x2) = (0, 0).

Daraus ergibt sich fx1x2(0, 0) = 1, fx2x1

(0, 0) = 0.

Lemma 5.2.3 Sei n = 2, J = [a1, a2] × [b1, b2] ⊂ G, mit a1 < a2, b1 < b2. Sei f auf G partielldi�erenzierbar, und seien f und seine beiden Ableitungen auf J stetig. Sei weiter

2 f = f(a2, b2) + f(a1, b1) − f(a1, b2) − f(a2, b1) .

Falls fx1x2auf

J existiert, dann gibt es ein (ξ, η)T ∈◦

J mit

2 f = (a2 − a1) (b2 − b1) fx1x2(ξ, η) .

Eine entsprechende Aussage, aber im Allgemeinen mit anderem (ξ, η), gilt auch für fx2x1 .

Beweis: Wir beweisen nur die erste Aussage; die zweite folgt analog oder durch Vertauschen der Vari-ablen x1 und x2. Sei g(x1) = f(x1, b2)− f(x1, b1), also 2 f = g(a2)− g(a1). Eine Anwendung des erstenMittelwertsatzes der Di�erenzialrechnung ergibt die Existenz von ξ ∈ (a1, a2) mit 2 f = (a2−a1) g′(ξ) =(a2 − a1) (fx1(ξ, b2) − fx1(ξ, b1)). Erneute Anwendung auf h(x2) = fx1(ξ, x2) liefert die Existenz vonη ∈ (b2, b1) mit (fx1

(ξ, b2)− fx1(ξ, b1)) = (b2 − b1) fx1x2

(ξ, η), und daraus folgt die Behauptung. 2

Satz 5.2.4 (Satz von Schwarz) Seien j, k ∈ {1, . . . , n}, mit j 6= k, gegeben. Sei f in G nach xj und xkpartiell di�erenzierbar, und seien f und diese beiden partiellen Ableitungen in G stetig. Ferner existierefxjxk auf ganz G und sei stetig in einem Punkt x0 ∈ G. Dann existiert auch fxkxj im Punkt x0, und esgilt

fxjxk(x0) = fxkxj (x0) .

Beweis: O. B. d. A. sei n = 2 und j = 1, k = 2. Falls fx1x2(x0) 6= 0 sein sollte, können wir zu f(x1, x2)−

c x1 x2 übergehen. Deshalb sei jetzt fx1x2(x0) = 0 angenommen. Wegen der Stetigkeitsvoraussetzung gibt

es zu jedem ε > 0 ein δ > 0 mit |fx1x2(x)| ≤ ε für x = (x1, x2)T ∈ K(x0, δ). Für J ⊂ K(x0, δ) folgt nach

obigem Lemma, dass |2f | ≤ ε (a2 − a1) (b2 − b1) ist. Wegen 2f = (b2 − b1) (fx2(a2, ζ)− fx2(a1, ζ)) folgthieraus ∣∣∣∣fx2

(a2, ζ) − fx2(a1, ζ)

a2 − a1

∣∣∣∣ < ε

für ein ζ ∈ (b1, b2). Für x0 = (x(0)1 , x

(0)2 )T wählen wir jetzt b1 = x

(0)2 , b2 = x

(0)2 + 1/n, mit genügend

groÿem n ∈ N, so dass J ⊂ K(x0, δ) ist. Wenn n→∞ geht, folgt daraus, dass∣∣∣∣∣fx2(a2, x

(0)2 ) − fx2

(a1, x(0)2 )

a2 − a1

∣∣∣∣∣ ≤ ε.

Setzt man nun a1 = x(0)1 und a2 = x

(0)1 + h oder umgekehrt, je nachdem, ob h > 0 ist oder nicht, so

folgt, dass |fx2(x

(0)1 +h, x

(0)2 ) − fx2

(x(0)1 , x

(0)2 )|/|h| ≤ ε, wenn nur h genügend klein ist. Daraus folgt aber

fx2x1(x0) = 0. 2

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Aufgabe 5.2.5 Überprüfe die Behauptungen in Beispiel 5.2.2.

Aufgabe 5.2.6 Berechne alle zweiten partiellen Ableitungen von

f(x1, x2) = x31 cos(x21 + x2).

Aufgabe 5.2.7 Berechne alle zweiten partiellen Ableitungen von f aus Aufgabe 5.1.5.

5.3 Totale Di�erenzierbarkeit

De�nition 5.3.1 Wir nennen f im Punkt x0 ∈ G total di�erenzierbar, wenn es eine lineare Abbildung` : Rn −→ R gibt, sodass für alle genügend kleinen h ∈ Rn, für welche dann insbesondere x0 + h ∈ Gliegt, gilt

f(x0 + h) = f(x0) + `(h) + ‖h‖ r(h), r(h) −→ 0 (h→ 0).

Falls dies für alle x0 ∈ G gilt, heiÿt f kurz auf G total di�erenzierbar, oder einfach auf G di�erenzierbar.

Jede lineare Abbildung ` : Rn −→ R ist nach Resultaten aus der linearen Algebra von der Form `(h) = a hmit einem Zeilenvektor a = (a1, . . . , an), d. h., einer (1, n)-Matrix. Diese Matrix heiÿt dann die Ableitungoder das totale Di�erenzial von f im Punkt x0, und wir schreiben f ′(x0) an Stelle von a. Der Graph vong(x) = f ′(x0) (x − x0) + f(x0) ist eine lineare Mannigfaltigkeit in Rn+1 und heiÿt, etwas ungenau, dieTangentialhyperebene zu f im Punkt x0.

Bemerkung 5.3.2 Man sieht leicht mit obiger De�nition, dass die Summe zweier total di�erenzierbarerFunktionen selbst wieder total di�erenzierbar ist.

Beispiel 5.3.3 Ein Polynom p ∈ R[x] höchstens ersten Grades kann immer geschrieben werden alsp(x) = a x + b, mit einem Zeilenvektor a und einer reellen Zahl b. Beachtet man, dass p(x0 + h) =p(x0) + a h gilt, so folgt direkt aus der De�nition, mit r(h) gleich der Nullfunktion, dass p an jeder Stellevon Rn total di�erenzierbar ist, und dass f ′(x0) = a ist, unabhängig von x0.

Aufgabe 5.3.4 Für eine n-reihige quadratische Matrix A sei f(x) = xTAx die zugehörige quadratischeForm. Zeige, dass dann für x0, h ∈ Rn gilt

f(x0 + h) = f(x0) + xT0 (A+AT )h + ‖h‖ eT (h)Ah,

mit einem Einheitsvektor e(h), nämlich e(h) = ‖h‖−1h. Leite daraus her, dass f im Punkt x0 totaldi�erenzierbar ist, und dass f ′(x0) = xT0 (A+AT ) ist.

Satz 5.3.5 (Berechnung der Ableitung) Sei f in x0 ∈ G total di�erenzierbar. Dann ist f dort sowohlstetig als auch partiell di�erenzierbar, und es gilt

f ′(x0) = grad f(x0) .

Ferner existiert auch für jeden Einheitsvektor e die Ableitung von f in Richtung von e, und es ist

fe(x0) = grad f(x0) e.

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Beweis: Die Stetigkeit folgt direkt aus der De�nition der totalen Di�erenzierbarkeit. Setzt man dorth = t e mit kleinem t ∈ R ein, so folgt wegen ‖h‖ = |t|

f(x0 + t e) − f(x0)

t= f ′(x0) e± r(t e) −→ f ′(x0) e (t→ 0),

und deshalb existiert die Ableitung von f in Richtung von e und ist gleich f ′(x0) e. Für e = ek folgt, dassf im Punkt x0 nach xk partiell di�erenzierbar ist, und fxk(x0) = f ′(x0) ek. Also ist grad f(x0) = f ′(x0).

2

Bemerkung 5.3.6 Wir haben gezeigt, dass die Richtungsableitung einer total di�erenzierbaren Funk-tion das innere Produkt aus dem Gradienten und dem Einheitsvektor e ist. Dieses innere Produkt ist amgröÿten, wenn e die gleiche Richtung wie der Gradient von f hat. Daraus ergibt sich folgende Interpreta-tion des Gradienten:

Der Gradient einer total di�erenzierbaren Funktion f zeigt in Richtung des stärksten Anstieges derFunktionswerte von f .

Die De�nition der totalen Di�erenzierbarkeit ist nicht leicht zu überprüfen. Der folgende Satz gibt aberein bequemes Kriterium für die Di�erenzierbarkeit auf dem Gebiet G:

Satz 5.3.7 Sei f auf G stetig partiell di�erenzierbar. Dann ist f dort auch total di�erenzierbar, und dieAbleitung f ′ ist dann stetig auf G.

Beweis: Die Stetigkeit von f ′ ist klar auf Grund der De�nition der Ableitung. Sei g(x) = f(x) −grad f(x0) (x − x0). Dann ist g ebenfalls auf G stetig partiell di�erenzierbar, und die totale Di�eren-zierbarkeit von f ist wegen Beispiel 5.3.3 und Bemerkung 5.3.2 äquivalent zu der von g. Es gilt abergrad g(x0) = 0, und deshalb folgt aus der Stetigkeit der partiellen Ableitungen, dass diese in der Nähevon x0 alle klein sind. Also ergibt sich wie im Beweis von Lemma 5.1.7, dass es zu jedem ε > 0 einenRadius r > 0 gibt mit |g(x) − g(x0)| ≤ ε ‖x − x0‖ für alle x ∈ K(x0, r). Deshalb ist für h = x − x0 6= 0und r(h) = ‖h‖−1(g(x0 +h)− g(x0)) klar, dass r(h)→ 0 für h→ 0 gilt. Das aber ist die Behauptung. 2

De�nition 5.3.8 Sei jetzt f = (f1, . . . , fm) : G −→ Rm eine vektorwertige Funktion auf G. Dann nennenwir f in einem Punkt x0 ∈ G oder auf G total oder nach xk partiell di�erenzierbar, wenn dasselbe fürjede der Koordinatenfunktionen fj zutri�t. Wir setzen dann

fxk(x0) =∂f

∂xk(x0) =

(∂f1∂xk

(x0), . . . ,∂fm∂xk

(x0)

)T.

Eine partielle Ableitung ist also jetzt ein Spaltenvektor, und entsprechend ist die Ableitung von f gleichder Matrix

f ′(x0) =∂f

∂x(x0) =

∂f1∂x1

(x0) ∂f1∂x2

(x0) . . . ∂f1∂xn

(x0)

∂f2∂x1

(x0) ∂f2∂x2

(x0) . . . ∂f2∂xn

(x0)

......

. . ....

∂fm∂x1

(x0) ∂fm∂x2

(x0) . . . ∂fm∂xn

(x0)

Man nennt diese Matrix auch Funktionalmatrix oder Jacobi-Matrix von f . Für m = n ist die Funktional-matrix quadratisch, und ihre Determinante heiÿt Funktionaldeterminante. Auÿer für m = 1 ist es nichtüblich, vom Gradienten von f zu sprechen.

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Aufgabe 5.3.9 Zeige, dass Polynome und rationale Funktionen auf ihrem natürlichen De�nitionsbereichüberall total di�erenzierbar sind.

Aufgabe 5.3.10 Zeige, dass a�ne Abbildungen f(x) = Ax+ b, mit einer reellen (m,n)-Matrix A undeinem b ∈ Rm, überall total di�erenzierbar sind, und dass f ′(x) = A ist, für alle x ∈ Rn.

5.4 Die Kettenregel

Satz 5.4.1 (Kettenregel) Seien f : G −→ G1 ⊂ Rm und g : G1 −→ Rp gegeben, und seien f in x0 ∈ Gund g in y0 = f(x0) ∈ G1 total di�erenzierbar. Dann ist ` = g ◦ f in x0 total di�erenzierbar, und es gilt

`′(x0) = g′(f(x0)) f ′(x0) .

Beweis: Aus der De�nition der totalen Di�erenzierbarkeit folgt

f(x0 + h) = f(x0) + f ′(x0)h + ‖h‖ rf (h), rf (h) −→ 0 (h→ 0),

g(y0 + h) = g(y0) + g′(y0)h + ‖h‖ rg(h), rg(h) −→ 0 (h→ 0),

wobei in der ersten (zweiten) Gleichung h ∈ Rn (h ∈ Rm) zu nehmen ist. Daraus folgt

`(x0 + h) = g(y0 + h) = g(y0) + g′(y0) h + ‖h‖ rg(h),

mit h = f ′(x0)h+ ‖h‖ rf (h). Dies ist aber äquivalent zu

`(x0 + h) = `(x0) + g′(f(x0)) f ′(x0)h + ‖h‖ r`(h),

r`(h) = g′(y0) rf (h) +1

‖h‖‖h‖ rg(h).

Da h −→ 0 für h → 0, während ‖h‖−1h beschränkt bleibt, folgt insgesamt r`(h) → 0 für h → 0. Dasergibt die Behauptung. 2

Korollar zu Satz 5.4.1 Sei (a, b) ein o�enes Intervall in R sowie G ⊂ Rn ein Gebiet, seien fk : (a, b)→R für k = 1, . . . , n, mit f(t) = (f1(t), . . . , fn(t))T ∈ G für alle t ∈ (a, b), und sei g : G −→ R. Falls dannalle fk an einer Stelle t0 ∈ (a, b) di�erenzierbar sind, und falls g im Punkt x0 = (f1(t0), . . . , fn(t0))T

total di�erenzierbar ist, dann ist g ◦ f in t0 di�erenzierbar, und es gilt

(g ◦ f)′(t0) = grad g(f(t0)) f ′(t0) =

n∑k=1

gxk(f1(t0), . . . , fn(t0)) f ′k(t0) .

Beweis: Folgt direkt aus der Kettenregel! 2

Als eine Anwendung zeigen wir:

Behauptung 5.4.2 Seien a < b und c < d, sei f(x1, x2) auf (a, b)×(c, d) nach x2 partiell di�erenzierbar,und seien f und fx2

auf (a, b) × (c, d) stetig. Seien weiter g1, g2 : (c, d) −→ (a, b) stetig di�erenzierbar,und sei schlieÿlich

g(x) =

∫ g2(x)

g1(x)

f(t, x) dt ∀ x ∈ (c, d).

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Dann ist g auf (c, d) di�erenzierbar, und

g′(x) = f(g2(x), x) g′2(x) − f(g1(x), x) g′1(x) +

∫ g2(x)

g1(x)

fx2(t, x) dt

für alle x ∈ (c, d).

Beweis: Sei F (ξ, η, ζ) =∫ ηξf(t, ζ) dt, für ξ, η ∈ (a, b), ζ ∈ (c, d). Dann ist F nach allen Variablen partiell

di�erenzierbar, undFξ(ξ, η, ζ) = −f(ξ, ζ), Fη(ξ, η, ζ) = f(η, ζ),

bzw. (wegen Lemma 5.1.8)

Fζ(ξ, η, ζ) =

∫ η

ξ

fx2(t, ζ) dt.

Da alle partiellen Ableitungen stetig sind, ist F auch total di�erenzierbar. Durch Anwendung der Ket-tenregel auf g(x) = F (g1(x), g2(x), x) folgt dann die Behauptung. 2

Aufgabe 5.4.3 Sei G ⊂ R2 ein Gebiet, und sei F = F (x, y) auf G total di�erenzierbar. Sei weiterf(x) eine auf (a, b) di�erenzierbare Funktion, für die (x, f(x))T ∈ G und F (x, f(x)) konstant ist für allex ∈ (a, b). Zeige: Ist Fy(x, y) 6= 0 auf G, so ist

f ′(x) = − Fx(x, f(x))

Fy(x, f(x))∀ x ∈ (a, b) .

Aufgabe 5.4.4 Verallgemeinere obige Aufgabe auf den Fall, dass x ∈ Rn ist.

5.5 Der Mittelwertsatz und der Satz von Taylor

Satz 5.5.1 (Mittelwertsatz) Sei f : G −→ R total di�erenzierbar auf G, und seien a, b ∈ G so, dassdie Verbindungsstrecke von a nach b ganz zu G gehört. Dann gibt es ein ξ auf dieser Verbindungsstreckemit

f(b) − f(a) = f ′(ξ) (b − a) .

Beweis: Setze g(t) = f(t b+ (1− t) a), 0 ≤ t ≤ 1, und wende den ersten Mittelwertsatz der Di�erential-rechnung sowie die Kettenregel an. 2

Bei vektorwertigen Funktionen gilt im Allgemeinen kein Mittelwertsatz. Als Ersatz zeigen wir aber, dassstetig di�erenzierbare Funktionen mit beschränkter Ableitung eine Lipschitzbedingung erfüllen:

Satz 5.5.2 (Lipschitzbedingung für stetig di�erenzierbare Funktionen) Sei G ein konvexes Ge-biet, sei f : G −→ Rm stetig partiell di�erenzierbar auf G, und sei L = sup{‖f ′(x)‖ : x ∈ G} < ∞.Dann gilt

‖f(x1) − f(x2)‖ ≤ L ‖x1 − x2‖ ∀ x1, x2 ∈ G .

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Beweis: Seien x1, x2 ∈ G, und sei g(t) = ‖f(t x2 + (1 − t)x1) − f(x1)‖, für 0 ≤ t ≤ 1. Dieses g iststetig auf [0, 1] und di�erenzierbar in jedem Punkt t mit g(t) > 0. Falls g(1) = 0 ist, ist nichts zu zeigen.Im anderen Fall gibt es ein t0 ∈ [0, 1) mit g(t0) = 0 und g(t) > 0 für alle t ∈ (t0, 1]. Dann ist der ersteMittelwertsatz der Di�erentialrechnung auf g und das Intervall [t0, 1] anwendbar, und wir erhalten dieExistenz eines ξ ∈ (t0, 1) mit

g(1) = g(1) − g(t0) = g′(ξ) (1 − t0) ≤ g′(ξ) .

Man zeigt aber mit der Kettenregel, dass

g′(t) =1

g(t)(fT (x(t)) − fT (x1)) f ′(x(t)) (x2 − x1) ,

mit x(t) = t x2 + (1− t)x1, falls nur g(t) > 0 ist. Daraus folgt aber

‖g′(t)‖ ≤ ‖f ′(x(t))‖ ‖x2 − x1‖ ≤ L ‖x2 − x1‖ ,

und hieraus ergibt sich die Behauptung. 2

Im nächsten Satz benutzen wir folgende Bezeichnungen:

∇ =

(∂

∂x1, . . . ,

∂xn

)bezeichnet den Gradientenoperator, d. h. ∇f = grad f . Für h = (h1, . . . , hn)T ∈ Rn sei

∇h =

n∑k=1

hk∂

∂xk,

d. h.∇h ist ein Di�erentialoperator, den man auf jede partiell di�erenzierbare Funktion f anwenden kann,und (∇h) f =

∑nk=1 hk

∂f∂xk

. Weiter nennen wir eine Funktion (m + 1)-mal stetig partiell di�erenzierbarauf G, wenn auf G alle ihre partiellen Ableitungen bis zur (m+1)-ten Ordnung existieren und stetig sind.Insbesondere kann man dann den Operator ∇h auf jede solche Funktion (m+ 1)-mal anwenden, und wirschreiben dann auch (∇h)k f für die Funktion, die man durch k-maliges Anwenden dieses Operators auff erhält. Wir de�nieren noch (∇h)0 f = f .

Satz 5.5.3 (Der Satz von Taylor) Sei f : G −→ R (m + 1)-mal stetig partiell di�erenzierbar, undseien x und h so, dass die Verbindungsstrecke von x nach x+ h ganz in G liegt. Dann gilt

f(x+ h) =

m∑k=0

(∇h)kf(x)

k!+

∫ 1

0

(1− t)m

m!(∇h)m+1f(x+ t h) dt.

Beweis: Sei g(t) = f(x+ t h), 0 ≤ t ≤ 1. Mit dem Taylorschen Satz aus Analysis 1 folgt dann

g(1) =

m∑k=0

g(k)(0)

k!+

∫ 1

0

(1− t)m

m!g(m+1)(t) dt.

Mit der Kettenregel und vollständiger Induktion zeigt man, dass g(k)(t) = (∇h)kf(x + t h) gilt, fürk = 0, . . . ,m+ 1, und daraus folgt die Behauptung. 2

De�nition 5.5.4 Wir nennen, analog zu den Bezeichnungen aus Analysis 1, die Summe

Pm(h, x) =

m∑k=0

(∇h)kf(x)

k!

das Taylorpolynom der Ordnung m; dieser Ausdruck ist ein Polynom vom Grade ≤ m in den Variablenh1, . . . , hn. Die Di�erenz rm(x, h) = f(x+ h)−Pm(h, x) heiÿt dann auch das Restglied der Ordnung m.

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Aufgabe 5.5.5 Sei, zusätzlich zu den übrigen Voraussetzungen des Mittelwertsatzes, noch angenommen,dass grad f auf G stetig ist. Zeige, dass dann f auf G lokal einer Lipschitzbedingung genügt.

Aufgabe 5.5.6 Sei p = (p1, . . . , pn) ein Multi-Index, und sei

Dp =∂p1

∂xp11· · · ∂

pn

∂xpnn,

d. h., Dpf erhält man aus f durch p1-maliges partielles Di�erenzieren nach x1, p2-maliges Di�eren-zieren nach x2, u. s. w., wobei stillschweigend vorausgesetzt ist, dass die Reihenfolge des Di�erenzierensohne Bedeutung ist, was nach dem Satz von Schwarz sicher gilt, wenn f hinreichend oft stetig partielldi�erenzierbar ist. Zeige:

(∇h)kf(x)

k!=

∑|p|=k

hpDpf(x)

p!,

wenn man p! = (p1!) · · · (pn!) setzt.

39

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Kapitel 6

Implizite Funktionen, lokale Extrema

6.1 Der Banachsche Fixpunktsatz

De�nition 6.1.1 Sei X ein normierter Raum, sei D ⊂ X nicht leer, und sei φ : D −→ X. Wir nennen φeine Kontraktion auf D, falls φ einer Lipschitzbedingung mit einer Lipschitzkonstanten L < 1 genügt. Einsolches L heiÿt dann auch Kontraktionsparameter. Ein x ∈ D heiÿt ein Fixpunkt von φ, falls φ(x) = xist.

Satz 6.1.2 (Banachscher Fixpunktsatz) Sei X ein normierter Raum, sei D ⊂ X vollständig, undsei φ : D −→ D eine Kontraktion auf D. Dann hat φ genau einen Fixpunkt ξ ∈ D. Weiter gilt: Ist L (< 1)ein Kontraktionsparameter von φ, ist x0 ∈ D, und setzt man xm+1 = φ(xm) für m ∈ N0, so folgt

‖xm − ξ‖ ≤ 1

1− L‖xm+1 − xm‖ ≤

Lm

1− L‖x1 − x0‖ ,

und daher gilt limxm = ξ.

Beweis: Es ist auf Grund der De�nition der (xm)

‖xm+1 − xm‖ = ‖φ(xm) − φ(xm−1)‖ ≤ L ‖xm − xm−1‖ ,

und daher folgt mit Induktion über m:

‖xm+1 − xm‖ ≤ Lm ‖x1 − x0‖ ∀ m ∈ N0 .

Für p ∈ N0 ist xm+p+1 − xm =∑m+pk=m (xk+1 − xk), und daraus folgt

‖xm+p+1 − xm‖ ≤m+p∑k=m

‖xk+1 − xk‖ ≤ ‖x1 − x0‖∞∑k=m

Lk =‖x1 − x0‖Lm

1− L.

Da L < 1 ist, folgt hieraus, dass (xm) eine Cauchy-Folge ist, und wegen der Vollständigkeit von D existiertξ = limm→∞ xm ∈ D. Da jede Kontraktion auch stetig ist, folgt hieraus φ(ξ) = limm→∞ φ(xm) =limm→∞ xm+1 = ξ. Also ist ξ ein Fixpunkt von φ. Ist ξ ebenfalls ein Fixpunkt, so gilt ‖ξ − ξ‖ =‖φ(ξ)− φ(ξ)‖ ≤ L ‖ξ − ξ‖, was nur für ‖ξ − ξ‖ = 0 richtig ist. Daher ist also ξ der einzige Fixpunkt vonf . Weiter folgt

‖xm − ξ‖ ≤ ‖xm − xm+1‖ + ‖xm+1 − ξ‖= ‖xm − xm+1‖ + ‖φ(xm)− φ(ξ)‖≤ ‖xm − xm+1‖ + L ‖xm − ξ‖ ,

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woraus folgt(1− L) ‖xm − ξ‖ ≤ ‖xm − xm+1‖ ≤ Lm ‖x1 − x0‖ ∀ m ∈ N0 .

Das ist alles, was noch zu zeigen war. 2

Bemerkung 6.1.3 Der für uns interessanteste Fall des Banachschen Fixpunktsatzes betri�t den RaumX = Rn. Satz 5.5.2 zeigt, dass eine Funktion φ dann eine Kontraktion auf einer konvexen o�enen MengeG ist, wenn sie dort stetig partiell di�erenzierbar und das Supremum der Norm ihrer Ableitung echt kleinerals 1 ist. Ist D = G, und ist φ auf D stetig, so sieht man leicht, dass φ auch auf D eine Kontraktion mitdem gleichen Kontraktionsparameter wie auf G ist. Ausserdem ist D als abgeschlossene Teilmenge einesvollständigen Raumes selber vollständig. Es ist aber oft nicht leicht zu zeigen, dass φ die Menge D in sichabbildet. Deshalb halten wir fest:

Ist D = K(a, r), mit einem a ∈ Rn und r > 0, so ist D abgeschlossen und somit auch vollständig. Istφ : D −→ X eine Kontraktion mit Kontraktionsparameter L, und gilt ‖φ(a)− a‖ ≤ (1−L) r, so folgt fürx ∈ D (also ‖x − a‖ ≤ r), dass ‖φ(x) − a‖ ≤ ‖φ(x) − φ(a)‖ + ‖φ(a) − a‖ ≤ L ‖x − a‖ + (1 − L) r ≤ r.Deshalb folgt φ : D −→ D, so dass der Banachsche Fixpunktsatz anwendbar ist.

In dieser Form lassen sich die Voraussetzungen des Banachschen Fixpunktsatzes meist am leichtestennachprüfen.

Aufgabe 6.1.4 In Analysis 1 wurde kurz das Newton-Verfahren zur Nullstellenberechnung vorgestellt.Zeige: Ist f : (a, b) −→ R zweimal stetig di�erenzierbar auf dem o�enen Intervall (a, b), und ist f(x0) = 0für ein x0 ∈ (a, b), aber f ′(x0) 6= 0, so ist die Funktion φ(x) = x−f(x)/f ′(x) auf einem kleinen Intervallum x0 herum kontrahierend.

Aufgabe 6.1.5 Seien f , x0 und φ wie oben. Zeige die Existenz eines ε > 0 derart, dass φ das Intervall(x0 − ε, x0 + ε) in sich abbildet.

6.2 Das Newton-Verfahren

Wir wollen nun die mehrdimensionale Version des Newton-Verfahrens zur Berechnung von Lösungen nicht-linearer Gleichungssysteme kennenlernen: Dazu sei D ⊂ Rn nicht leer und f = (f1, . . . , fn)T : D −→ Rn.Die Gleichung f(x) = 0 ist o�enbar eine bequeme Schreibweise für das System von n (im Allgemeinennicht linearen) Gleichungen

fj(x1, . . . , xn) = 0 , 1 ≤ j ≤ n, (6.2.1)

in den Unbekannten x1, , . . . , xn. Jede Lösung der Gleichung f(x) = 0 heiÿt dann auch eine Nullstellevon f (in D). Um den Banachschen Fixpunktsatz anwenden zu können, muss man eine andere Funktionφ �nden, deren Fixpunkte gerade die Nullstellen von f sind. Die beim Newton-Verfahren verwendeteSchrittfunktion ist

φ(x) = x − f ′(x)−1f(x) (x ∈ D). (6.2.2)

Dabei muss vorausgesetzt werden, dassD eine o�ene Menge ist, auf welcher f stetig partiell di�erenzierbarist, und dass die Ableitung f ′(x) (welche eine n-reihige quadratische Matrix ist) immer invertierbarist. Wenn f sogar zweimal stetig partiell di�erenzierbar auf D ist, dann ist φ dort wenigstens einmalstetig partiell di�erenzierbar, und aus f(ξ) = 0 folgt φ′(ξ) = 0. Daher ist φ auf einer genügend kleinenKugel um ξ kontrahierend und bildet diese Kugel in sich ab. Aus dem Banachschen Fixpunktsatz folgtdann die lokale Konvergenz des Newton-Verfahrens, d. h. genauer: Ist x0 nahe genug bei ξ, und istxn+1 = φ(xn) = xn−f ′(xn)−1f(xn) für n ∈ N0, so konvergiert (xn) gegen ξ. Allerdings ist die Berechnung

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von f ′(xn)−1 in jedem Iterationsschritt recht aufwendig, und deshalb benutzt man oft das sogenanntevereinfachte Newton-Verfahren mit der Schrittfunktion

φ(x) = x − Af(x) (x ∈ D),

wobei A eine feste quadratische Matrix ist. Natürlich wird man die Matrix A geeignet wählen müssen,damit φ kontrahierend ist. Im Idealfall wäre A = f ′(ξ)−1 zu setzen, denn dann ist φ′(ξ) = 0. Allerdingsist uns ξ ja nicht bekannt, sondern soll ja gerade erst berechnet werden.

Für eine spätere Anwendung formulieren wir eine einfache Folgerung aus Bemerkung 6.1.3:

Lemma 6.2.1 Sei G ein konvexes Gebiet in Rn, sei f : G −→ Rn stetig partiell di�erenzierbar. Sei weiterdie Schrittfunktion φ des vereinfachten Newton-Verfahrens auf einer abgeschlossenen Kugel K(a, r) ⊂ Geine Kontraktion mit Kontraktionsparameter L (< 1), und gelte ‖Af(a)‖ ≤ (1 − L) r. Dann hat f inK(a, r) genau eine Nullstelle ξ.

Aufgabe 6.2.2 Sei D eine o�ene Menge, und sei f : D −→ Rn zweimal stetig partiell di�erenzierbarist. Weiter sei ξ ∈ D so, dass f(ξ) = 0, aber det f ′(ξ) 6= 0 ist. Sei schlieÿlich φ wie in (6.2.2). Zeige, dassdann φ′(ξ) = 0 ist, und folgere hieraus die Existenz eines r > 0, für welches φ die abgeschlossene Kugelum ξ mit Radius r in sich abbildet und dort kontrahierend ist.

Aufgabe 6.2.3 Sei D eine o�ene Menge, und sei f : D −→ Rn stetig partiell di�erenzierbar ist. Weitersei ξ ∈ D so, dass f(ξ) = 0, aber det f ′(ξ) 6= 0 ist, und sei A eine Matrix mit ‖I − Af ′(ξ)‖ < 1. Seischlieÿlich φ die Schrittfunktion des vereinfachten Newtonverfahrens mit obiger Matrix A. Zeige, dassdann ‖φ′(ξ)‖ < 1 ist, und folgere hieraus die Existenz eines r > 0, für welches φ die abgeschlossene Kugelum ξ mit Radius r in sich abbildet und dort kontrahierend ist.

6.3 Implizite Funktionen und Umkehrfunktion

Wir wollen nun das Newton-Verfahren verwenden, um die Lösbarkeit eines allgemeinen nichtlinearenGleichungssystems wie (6.2.1), aber mit weniger Gleichungen als Unbekannten, zu untersuchen. Dazuverwenden wir folgende Bezeichnungen: Für n,m ∈ N sei G ⊂ Rn+m ein Gebiet, und f = (f1, . . . , fm)T :G −→ Rm eine dort de�nierte Funktion. Dann ist eine Nullstelle von f genau die Lösung eines Systemsvon m Gleichungen in n + m Unbekannten. Also liegt die Vermutung nahe, dass man für gewisse derUnbekannten (n an der Zahl) beliebige Werte einsetzen kann und die Gleichungen nach den übrigenm Un-bekannten au�ösen kann. Allerdings können die Gleichungen auch abhängig sein; um dies auszuschlieÿen,de�nieren wir:

De�nition 6.3.1 Mit obigen Bezeichnungen nennen wir die Gleichung f(x) = 0 wohlgestellt, wenn dieMatrix f ′(x) für jedes x ∈ G den Rang m hat.

Nach welchen der Unbekannten man au�ösen kann, ist im Allgemeinen nicht klar. Durch eine geeigneteUmnumerierung der Unbekannten können wir uns aber auf den Fall beschränken, dass wir nach denletzten m Unbekannten au�ösen wollen. Um diese besser von den anderen zu unterscheiden, fassen wireinen Vektor aus Rn+m hier als ein Paar (x, y) mit x = (x1, . . . , xn)T ∈ Rn, y = (y1, . . . , ym)T ∈ Rm auf.Die Aufgabe lautet also, die Gleichungen

fj(x1, . . . , xn, y1, . . . , ym) = 0 , 1 ≤ j ≤ m, (6.3.1)

bei gegebenen Werten für x1, . . . , xn, nach den Unbekannten y1, . . . , ym aufzulösen.

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Falls f partiell di�erenzierbar ist, schreiben wir

∂f

∂x(x, y) = fx(x, y) =

∂f1∂x1

(x, y) . . . ∂f1∂xn

(x, y)...

...∂fm∂x1

(x, y) . . . ∂fm∂xn

(x, y)

,

und analog

∂f

∂y(x, y) = fy(x, y) =

∂f1∂y1

(x, y) . . . ∂f1∂ym

(x, y)

......

∂fm∂y1

(x, y) . . . ∂fm∂ym

(x, y)

.

Beachte, dass fy eine quadratische Matrix ist!

In Vektorschreibweise ist (6.3.1) äquivalent zur Gleichung f(x, y) = 0. Es kann vorkommen, dass dieseGleichung für jedes x unlösbar ist. Wir wollen aber zeigen: Wenn ein x0 existiert, für welches die Gleichunglösbar ist, und wenn eine zusätzliche Bedingung an f erfüllt ist, dann ist die Gleichung für alle x in derNähe von x0 eindeutig nach y au�ösbar. Die Au�ösung ergibt dann eine Funktion y = g(x), welche wireine implizite Funktion nennen wollen.

Satz 6.3.2 (Hauptsatz über implizite Funktionen) Für n,m ∈ N sei G ein Gebiet in Rn+m, undf : G −→ Rm sei stetig partiell di�erenzierbar auf G. Für ein (ξ, η)T ∈ G gelte f(ξ, η) = 0, und dieMatrix

∂f

∂y(x, y) =

∂f1∂y1

(x, y) . . . ∂f1∂ym

(x, y)

......

∂fm∂y1

(x, y) . . . ∂fm∂ym

(x, y)

sei für (x, y) = (ξ, η) invertierbar. Dann gibt es r1, r2 > 0 derart, dass eine eindeutig bestimmte Funktiong : K(ξ, r1) −→ K(η, r2) existiert mit

∀ x ∈ K(ξ, r1) , y ∈ K(η, r2) : f(x, y) = 0 ⇐⇒ y = g(x) .

Weiter gilt: Die Funktion g ist stetig partiell di�erenzierbar auf K(ξ, r1), und

g′(x) = −(∂f

∂y(x, g(x))

)−1∂f

∂x(x, g(x)) ∀ x ∈ K(ξ, r1) . (6.3.2)

Beweis: Wir bezeichnen die inverse Matrix von fy(ξ, η) mit A und setzen φ(x, y) = y−Af(x, y). Dannist φ nach y1, . . . , ym stetig partiell di�erenzierbar, und φy(ξ, η) = 0. Da φy stetig von (x, y) abhängt,existieren r1, r2 > 0 so, dass ‖φy(x, y)‖ ≤ 1/2 ist für ‖x − ξ‖ < r1, ‖y − η‖ < r2. Wenn wir evtl.r1 verkleinern, gilt ‖Af(x, η)‖ ≤ r2/2 für ‖x − ξ‖ < r1 (denn f ist stetig und f(ξ, η) = 0). Wennwir jetzt ein festes x mit ‖x − ξ‖ < r1 betrachten, können wir Lemma 6.2.1 auf die Funktion f(x, ·)(und a = η, L = 1/2) anwenden und erhalten die Existenz eines eindeutig bestimmten y = g(x) mit‖y − η‖ ≤ r2, für welches f(x, y) = 0 ist. Um jetzt noch die Di�erenzierbarkeit von g zu zeigen, seien(x, y) ∈ K(ξ, r1)×K(η, r2) gegeben. Auf jede Komponente fj des Vektors f kann man den Mittelwertsatzanwenden, allerdings wird die entsprechende Zwischenstelle dabei von j abhängen. Genauer heiÿt das: Zu(x, y) und j existiert ein Paar (xj , yj) auf der Verbindungsstrecke von (ξ, η) und (x, y), für welches gilt

fj(x, y) − fj(ξ, η) =∂fj∂x

(xj , yj) (x− ξ) +∂fj∂y

(xj , yj) (y − η).

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Wenn wir diese Gleichungen zu einer Vektorgleichung zusammenfassen und y = g(x) setzen, folgt (wegenf(x, g(x)) = f(ξ, η) = 0)

0 = f(x, g(x)) − f(ξ, η) = B(x) (x− ξ) + C(x) (g(x)− η) ,

mit Matrizen B(x) und C(x), wobei B(x) beschränkt ist, während C(x), jedenfalls für genügend kleineWerte von r1, r2, invertierbar ist und eine beschränkte Inverse hat. Deshalb können wir die Gleichungnach g(x) au�ösen und erhalten (wegen g(ξ) = η)

g(x) = g(ξ) − C(x)−1B(x) (x − ξ) . (6.3.3)

Wegen der Beschränktheit von C(x)−1B(x) folgt jetzt, dass g im Punkt ξ stetig ist. Daraus folgt wiederum,dass C(x) und B(x) beide im Punkt ξ stetig sind, und B(ξ) = fx(ξ, g(ξ)), C(ξ) = fy(ξ, g(ξ)). Dann istaber auch C(x)−1 im Punkt ξ stetig, und hiermit ergibt sich aus (6.3.3), dass g im Punkt ξ partielldi�erenzierbar ist, und dass g′(ξ) = −fy(ξ, g(ξ))−1fx(ξ, g(ξ)) ist. Da wir jetzt aber das Paar (ξ, η) durchjedes andere Paar (x, g(x)) ersetzen können, folgt genauso die Gültigkeit von (6.3.2), und aus dieserGleichung lesen wir die Stetigkeit von g′ ab. 2

Satz 6.3.3 (Existenz und Ableitung der Umkehrfunktion) Sei G ⊂ Rn ein Gebiet, und sei f =(f1, . . . , fn)T : G −→ Rn stetig partiell di�erenzierbar auf G. Sei weiter für ein η ∈ G

det f ′(η) = det

∂f1∂x1

(η) . . . ∂f1∂xn

(η)

......

∂fn∂x1

(η) . . . ∂fn∂xn

(η)

6= 0 .

Dann gibt es Gebiete G1, G2 mit η ∈ G1 ⊂ G, f(η) ∈ G2 ⊂ Rn derart, dass f : G1 −→ G2 bijektiv unddet f ′(x) 6= 0 für alle x ∈ G1 ist. Die Umkehrfunktion ist dann auf G2 di�erenzierbar, und es gilt

∂f−1

∂x(x) =

(f ′(f−1(x))

)−1 ∀ x ∈ G2 .

Beweis: Eine Anwendung des Hauptsatzes über implizite Funktionen auf f(x, y) = f(y)−x und ξ = f(η)liefert die Existenz von r1, r2 > 0, so dass

∀ x ∈ K(ξ, r1) ∃1 y ∈ K(η, r2) : x = f(y) .

Aus Proposition 4.1.4 folgt, dass die Urbildmenge von K(ξ, r1) eine o�ene Teilmenge O ⊂ G ist, undwir setzen G1 = O ∩ K(η, r2). Dann ist f : G1 −→ G2 = K(ξ, r1) bijektiv. Aus dem oben schonangewandten Hauptsatz folgt aber auch die stetige partielle Di�erenzierbarkeit der Umkehrfunktion (alsoauch deren Stetigkeit), und da G2 zusammenhängend ist, folgt mit Satz 4.2.1 der Zusammenhang vonG1. Die behauptete Aussage über die Ableitung von f−1 folgt dann aus (6.3.2). 2

De�nition 6.3.4 Sei G ⊂ Rn ein Gebiet, und sei f : G −→ Rn. Wir nennen f lokal umkehrbar oderlokal injektiv, wenn es zu jedem x ∈ G ein r > 0 gibt, für welches die Restriktion von f auf K(x, r)injektiv ist. Falls f auf G injektiv ist, nennen wir f manchmal auch global umkehrbar.

Der obige Satz zeigt, dass eine stetig partiell di�erenzierbare Funktion, deren Funktionaldeterminantenie verschwindet, lokal umkehrbar ist. In Aufgabe 6.3.6 wird ein Beispiel dafür gegeben, dass ein solchesf nicht global umkehrbar sein muss.

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Aufgabe 6.3.5 Finde eine einfache Funktion f : Rn+m −→ Rm, für welche die Gleichung f(x, y) = 0für jedes x ∈ Rn unlösbar ist.

Aufgabe 6.3.6 Sei (r, φ)T 7→ f(r, φ) = (r cosφ, r sinφ)T , für r ∈ R+, φ ∈ R. Zeige: Es ist det f ′(r, φ) 6=0 für alle diese r, φ. Also ist die Abbildung f lokal umkehrbar. Untersuche f auf globale Umkehrbarkeit!

6.4 Lokale Extrema

De�nition 6.4.1 Sei G ⊂ Rn ein Gebiet, und sei f : G −→ R. Ein ξ ∈ G heiÿt lokales Maximum(Minimum) von f , falls ein r > 0 existiert, für welches

∀ x ∈ G ∩K(ξ, r) : f(x) ≤ f(ξ)(f(x) ≥ f(ξ)

).

In beiden Fällen nennen wir ξ dann auch lokales Extremum von f .

Satz 6.4.2 Sei G ⊂ Rn ein Gebiet, und habe f : G −→ R in einem Punkt ξ ∈ G ein lokales Extremum.Falls dann für einen Einheitsvektor e die Richtungsableitung fe(ξ) existiert, folgt fe(ξ) = 0. Insbesonderefolgt grad f(ξ) = 0, falls f im Punkt ξ partiell di�erenzierbar ist.

Beweis: Die Funktion g(t) = f(x + t e) ist für kleine |t| de�niert und hat im Nullpunkt ein lokalesExtremum. Also folgt g′(0) = fe(x) = 0. 2

De�nition 6.4.3 Sei G ⊂ Rn ein Gebiet, und sei f : G −→ R. Falls f in ξ ∈ G partiell di�erenzierbarist, und falls grad f(ξ) = 0 ist, heiÿt ξ ein kritischer oder stationärer Punkt von f . Falls f in ξ zweimalpartiell di�erenzierbar ist, heiÿt die quadratische Matrix

Hf (ξ) =

∂2f∂x2

1(ξ) ∂2f

∂x1∂x2(ξ) . . . ∂2f

∂x1∂xn(ξ)

......

...

∂2f∂xn∂x1

(ξ) ∂2f∂xn∂x2

(ξ) . . . ∂2f∂x2n

(ξ)

die Hesse-Matrix von f im Punkt ξ. Falls f auf G zweimal stetig partiell di�erenzierbar ist, ist Hf nachdem Satz von Schwarz symmetrisch.

Satz 6.4.4 Sei G ⊂ Rn ein Gebiet, sei f : G −→ R zweimal stetig partiell di�erenzierbar auf G, und seiξ ∈ G ein kritischer Punkt von f . Dann gilt:

(a) Falls Hf (ξ) positiv de�nit ist, ist ξ ein lokales Minimum von f .

(b) Falls Hf (ξ) negativ de�nit ist, ist ξ ein lokales Maximum von f .

(c) Falls Hf (ξ) inde�nit ist, ist ξ kein lokales Extremum von f .

Beweis: Aus dem Satz von Taylor (mit m = 1) folgt für genügend kleine h ∈ Rn \ {0}

f(ξ + h) = f(ξ) + hT(∫ 1

0

(1− t)Hf (ξ + t h) dt

)h . (6.4.1)

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FallsHf (ξ) positiv de�nit ist, ist xTHf (ξ)x > 0 für alle x ∈ Rn\{0}. Die Funktion g(t, e) = eTHf (ξ+t h) eist stetig auf der Menge [0, 1]×{e ∈ Rn : ‖e‖ = 1}. Diese Menge ist kompakt, und deshalb nimmt g dort einMinimum an, welches positiv sein muss, wenn nur ‖h‖ klein genug ist. Wenn wir jetzt e = ‖h‖−1h setzen,folgt hTHf (ξ+t h)h > 0 für alle t ∈ [0, 1], und daher ergibt sich aus (6.4.1), dass f(ξ+t h) > f(ξ) ist. Alsogilt (a). Der Beweis von (b) ergibt sich aus (a), angewandt auf −f . Zu (c): Aus der Inde�nitheit folgt dieExistenz von Einheitsvektoren e± mit eT+Hf (ξ) e+ > 0, eT−Hf (ξ) e− < 0. Analog wie im Beweis von (a)schlieÿt man daraus, dass für h± = λ e± und alle t ∈ [0, 1] gilt hT+Hf (ξ+t h+)h+ > 0, hT−Hf (ξ+t h−)h− <0, jedenfalls wenn ‖h±‖ klein genug ist. Daraus folgt die Behauptung. 2

Aufgabe 6.4.5 Sei G ⊂ Rn ein Gebiet, und seien g, h : G −→ R partiell di�erenzierbar sowie h(x) 6=0 für alle x ∈ G. Zeige: Genau dann ist x ∈ G kritischer Punkt von f = g/h, wenn grad g(x) =f(x) grad h(x) gilt.

Aufgabe 6.4.6 Sei A eine n-reihige symmetrische Matrix, und sei f(x) = ‖x‖−2 xT Ax. Zeige: Diestationären Punkte von f sind genau die Eigenvektoren von A. Man nennt dieses f auch den Raleigh-Quotienten.

6.5 Extrema unter Nebenbedingungen

De�nition 6.5.1 Sei G ⊂ Rn ein Gebiet, und seien f : G −→ R, g : G −→ Rm, mit 1 ≤ m ≤ n − 1,und sei ξ ∈ G mit g(ξ) = 0 gegeben. Dann heiÿt ξ ein lokales Maximum (Minimum) von f unter derNebenbedingung g(x) = 0, falls ein r > 0 existiert mit

∀ x ∈ G ∩K(ξ, r) ∩ {x ∈ G : g(x) = 0} : f(x) ≤ f(ξ)(f(x) ≥ f(ξ)

).

Wieder sprechen wir in beiden Fällen auch von einem lokalen Extremum unter der Nebenbedingung g(x) =0.

Satz 6.5.2 (Lagrangesche Multiplikatorregel) Sei G ein beliebiges Gebiet in Rn, und seien f :G −→ R, g = (g1, . . . , gm)T : G −→ Rm, mit 1 ≤ m ≤ n − 1, beide stetig partiell di�erenzierbarauf G. Sei weiter ξ ein lokales Extremum von f unter der Nebenbedingung g(x) = 0, und habe g′(ξ) denRang m. Dann gibt es ein λ0 = (λ

(0)1 , . . . , λ

(0)m )T ∈ Rm derart, dass die Funktion h, de�niert durch

h(x, λ) = f(x) + λT g(x) ∀ λ ∈ Rn, x ∈ G,

einen kritischen Punkt bei (ξ, λ0) hat; d. h. also, dass die Gleichungen

∂f

∂xj(ξ) +

m∑k=1

λ(0)k

∂gk∂xj

(ξ) = 0, 1 ≤ j ≤ n,

gk(ξ) = 0, 1 ≤ k ≤ n,

gelten müssen.

Beweis: Da der Rang von g′(ξ) gleich m ist, existiert mindestens eine m-reihige Untermatrix mit nicht-verschwindender Determinante. Für den Beweis können wir o. B. d. A. annehmen, dass diese aus denletzten m Spalten von g′(ξ) besteht. Dann folgt aus dem Hauptsatz über implizite Funktionen, dass dieGleichung g(x) = 0 in der Nähe von ξ nach den letzten m Variablen eindeutig aufgelöst werden kann.Das heiÿt genauer: Ist p = n −m, und ist x = (x1, . . . , xp)

T , ξ = (ξ1, . . . , ξp)T , so gibt es ein r > 0 und

eine auf K(ξ, r) stetig partiell di�erenzierbare Funktion k(x) derart, dass g(x) = 0 (für x nahe bei ξ)

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genau dann gilt, wenn x = (x, k(x))T ist. O�enbar hat dann f(x, k(x)) als Funktion von x im Punkt ξein lokales Extremum im üblichen Sinne, und daher muss gelten

∂f

∂xj(ξ) +

n∑ν=p+1

∂f

∂xν(ξ)

∂kν∂xj

(ξ) = 0, 1 ≤ j ≤ p.

Durch Di�erenzieren von g(x) = g(x, k(x)) = 0 erhält man weiter die Gleichungen

∂gµ∂xj

(ξ) +

n∑ν=p+1

∂gµ∂xν

(ξ)∂kν∂xj

(ξ) = 0, 1 ≤ µ ≤ m, 1 ≤ j ≤ p.

Wenn man x = (xp+1, . . . , xn)T setzt, kann man diese Beziehungen wie folgt schreiben:

fx(ξ) + fx(ξ) kx(ξ) = 0, gx(ξ) + gx(ξ) kx(ξ) = 0.

Dabei ist gx(ξ) eine invertierbare Matrix, so dass wir die zweite Gleichung nach kx(ξ) au�ösen und in dieerste einsetzen können. Dies ergibt

fx(ξ) − fx(ξ) (gx(ξ))−1 gx(ξ) = 0 .

Mit λ0 = −fx(ξ) (gx(ξ))−1 erhält man jetzt fx(ξ) + λ0 gx(ξ) = 0, und auch fx(ξ) + λ0 gx(ξ) = 0. Das istaber die Behauptung. 2

Aufgabe 6.5.3 Zeige: Die Funktion f(x, y) = x+ y nimmt auf der Menge {(x, y)T ∈ R2 : x2 + y2 = 1 }ein Maximum und ein Minimum an, und bestimme diese Punkte mit der Lagrangeschen Multiplikatorregel.

Aufgabe 6.5.4 Finde dasjenige Rechteck vom Umfang 1, dessen Flächeninhalt maximal ist. Gibt es aucheines mit minimalem Flächeninhalt?

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Kapitel 7

Der Jordan-Inhalt

7.1 De�nition des Inhalts

De�nition 7.1.1 Seien a = (a1, . . . , an)T , b = (b1, . . . , bn)T ∈ Rn so, dass ak ≤ bk für alle k = 1, . . . , ngilt. Dann heiÿt die Menge

I = [a, b] = {x = (x1, . . . , xn)T : ak ≤ xk ≤ bk ∀ k = 1, . . . , n}

ein n-dimensinales abgeschlossenes Intervall oder einfach ein Intervall. Wenn ` = bk−ak von k unabhängigist, nennen wir I auch einen Würfel, und ` heiÿt seine Kantenlänge. O�enbar ist I = I1 × . . . × In fürIk = [ak, bk]. Analog kann man auch o�ene und halbo�ene Intervalle in Rn de�nieren, wir wollen dasaber hier nicht tun. Für ein solches Intervall I bezeichnen wir die Zahl

|I| =

n∏k=1

(bk − ak)

als n-dimensionalen Inhalt oder Volumen von I. Auch die leere Menge wollen wir als Intervall au�assenund ihr den Inhalt 0 zuordnen. Für ein α ∈ R und k ∈ {1, . . . , n} heiÿt die Menge der Punkte x ∈ Rnmit xk = α eine achsenparallele Hyperebene. Wir sagen: Eine solche achsenparallele Hyperebene zerlegtein beliebiges M ⊂ Rn in zwei Teilmengen

M1 = {x ∈M : xk ≤ α}, M2 = {x ∈M : xk ≥ α},

welche im Allgemeinen nicht disjunkt sein werden, und von denen eine auch leer sein kann. Ist M = I einIntervall, so sind auch die beiden Teile Intervalle I1, I2, und man prüft mit der De�nition des Inhaltesnach, dass |I| = |I1| + |I2| gilt. Zwei Intervalle I1 und I2 heiÿen fremd, wenn sie keine inneren Punktegemeinsam haben. Eine Vereinigung von endlich vielen Intervallen heiÿt eine Intervallsumme. Jede solcheIntervallsumme S ist auch Vereinigung von paarweise fremden Intervallen I1, . . . , IN , und in diesem Fallnennen wir I1, . . . , IN auch Zerlegung von S und de�nieren den Inhalt von S als

|S| =

N∑k=1

|Ik| .

Eine Intervallsumme besitzt immer unendlich viele verschiedene Zerlegungen. Es ist nicht ganz leicht zuüberprüfen, aber jedenfalls richtig, dass die Zahl |S| hierbei nicht von der gewählten Zerlegung abhängt.Auÿerdem gilt: Sind S1 und S2 Intervallsummen mit S1 ⊂ S2, so ist |S1| ≤ |S2|. Sei jetzt M ⊂ Rnbeschränkt und nicht leer. Dann bezeichnen wir das Supremum der Inhalte aller Intervallsummen S ⊂Mals den inneren Inhalt |M |i von M . Analog heiÿt das In�mum der Inhalte aller Intervallsummen S ⊃M

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der äuÿere Inhalt |M |a von M . Falls der äuÿere und der innere Inhalt gleich sind, heiÿt M Jordan-messbar, und |M |a = |M |i heiÿt (Jordan-) Inhalt von M . Aus der De�nition folgt sofort, dass jedeIntervallsumme Jordan-messbar ist, und dass ihr Jordan-Inhalt gleich dem vorher de�nierten Inhalt ist.

Bemerkung 7.1.2 In den Fällen n = 2 und n = 3 ist es üblich und anschaulich, statt vom Inhalt einerMenge M von deren Flächeninhalt bzw. Volumen zu sprechen. Aus der De�nition ergeben sich folgendeeinfache Eigenschaften des Inhaltsbegri�es, deren Beweise wir hier auslassen:

(a) Für jede beschränkte Menge M ⊂ Rn ist 0 ≤ |M |i ≤ |M |a <∞.

(b) Für beschränkte Mengen M1 ⊂ M2 ⊂ Rn ist |M1|i ≤ |M2|i, |M1|a ≤ |M2|a, also im Falle derJordan-Messbarkeit auch |M1| ≤ |M2|; man spricht deshalb auch von der Monotonie des Inhaltes.

(c) Für beschränkte Mengen M1,M2 ⊂ Rn gilt

|M1 ∪M2|a ≤ |M1|a + |M2|a ;

man nennt diese Tatsache auch die Subadditivität des äuÿeren Inhaltes.

(d) Für beschränkte Mengen M1,M2 ⊂ Rn mit◦

M1 ∩◦

M2 = ∅ gilt

|M1 ∪M2|i ≥ |M1|i + |M2|i .

Aufgabe 7.1.3 Berechne den äuÿeren und inneren Inhalt der Menge

M = {x = (x1, . . . , xn)T : xk ∈ Q, 0 ≤ xk ≤ 1 ∀ k = 1, . . . , n},

und zeige, dass sie nicht Jordan-messbar ist.

Aufgabe 7.1.4 Man nennt eine Menge M ⊂ Rn eine Lebesguesche Nullmenge, falls es zu jedem ε > 0abzählbar viele Intervalle Ik gibt, so dass gilt

M ⊂∞⋃k=1

Ik ,

∞∑k=1

|Ik| ≤ ε.

Zeige: Die Menge M aus der vorigen Aufgabe ist eine Lebesguesche Nullmenge.

Aufgabe 7.1.5 Zeige: Die Vereinigung abzählbar vieler Lebesguescher Nullmengen ist wieder eine Lebes-guesche Nullmenge.

Aufgabe 7.1.6 Finde ein Beispiel dafür, dass der innere Inhalt nicht subadditiv ist.

7.2 Charakterisierung der Messbarkeit

De�nition 7.2.1 Eine beschränkte Menge M ⊂ Rn heiÿt (Jordan-) Nullmenge, falls |M |a = 0 ist. Esfolgt dann, dass auch |M |i = 0 ist, und deshalb ist jede Nullmenge auch Jordan-messbar und |M | = 0.

Aufgabe 7.2.2 Zeige: Die Menge der Glieder einer beliebigen konvergenten Folge in Rn ist eine Null-menge.

Satz 7.2.3 Eine beschränkte Menge M ⊂ Rn ist genau dann Jordan-messbar, wenn ihr Rand ∂M eineNullmenge ist.

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Beweis: Für k ∈ N zerlegt die Menge aller achsenparallelen Hyperebenen der Form xj = pj/2k, pj ∈ Z,

den Raum Rn in Würfel der Kantenlänge 2−k. Wir setzen Mk,i gleich der Vereinigung aller der Würfel,welche ganz zum Inneren von M gehören, und Mk,a gleich der Vereinigung aller der Würfel, welchewenigstens einen Punkt von M enthalten. Dann ist die Vereinigung der Würfel, welche zu Mk,a abernicht zu Mk,i gehören, eine Obermenge des Randes von M . Auÿerdem zeigt man mit der De�nition vonäuÿerem und innerem Inhalt, dass gilt

|M |i = limk→∞

|Mk,i| , |M |a = limk→∞

|Mk,a| .

Damit folgt aber |M |i + |∂M |a = |M |a. Dies ergibt die Behauptung. 2

Satz 7.2.4 (Eigenschaften des Inhalts) Für Jordan-messbare M1,M2 ⊂ Rn gilt:

(a) M1 ∪M2, M1 ∩M2 und M1 \M2 sind ebenfalls Jordan-messbar.

(b) |M1 ∪M2| ≤ |M1|+ |M2|, und Gleichheit gilt genau dann, wenn die Mengen keine inneren Punktegemeinsam haben.

(c) Falls M1 ⊂M2 gilt, folgt |M2 \M1| = |M2| − |M1|.

(d) Ist B ⊂ Rn−1 beschränkt, und ist f : B −→ R gleichmäÿig stetig auf B, so ist der Graph von feine Nullmenge.

Beweis: Zu (a): Ist M eine der Mengen M1 ∪M2, M1 ∩M1, M1 \M2, so gilt in jedem Fall ∂M ⊂(∂M1) ∪ (∂M2). Daher folgt die Behauptung mit dem vorigen Satz und der Subadditivität des äuÿerenInhaltes. Zu (b): Die Ungleichung folgt aus der Subadditivität des äuÿeren Inhalts und der De�nitionder Jordan-Messbarkeit. Die Aussage über die Gleichheit ergibt sich aus Bemerkung 7.1.2 (d). Zu (c):Folgt aus (b) wegen M2 = M1 ∪ (M2 \M1). Zu (d): Sei I ein Intervall in Rn−1, welches B enthält. SeiI = I1∪ . . .∪ IN eine Zerlegung von I, und seien mj bzw. Mj das In�mum bzw. Supremum von f auf derMenge Ij ∩B, falls diese nicht leer ist, bzw. mj = Mj = 0 sonst. Dann ist der Graph von f enthalten inder Vereinigung der n-dimensionalen Intervalle Ij × [mj ,Mj ]. Wegen der gleichmäÿigen Stetigkeit kannman zu jedem ε > 0 eine Zerlegung von I so �nden, dass Mj −mj < ε ist, für alle j = 1, . . . , N , unddann folgt, dass der äuÿere Inhalt des Graphen von f kleiner als ε c ist, wobei c der (n− 1)-dimensionaleInhalt von I ist. Daraus folgt die Behauptung. 2

Beispiel 7.2.5 De�niere die Menge B durch die Ungleichungen

a1 ≤ x1 ≤ b1 ,

a2(x1) ≤ x2 ≤ b2(x1) ,

......

...

an(x1, . . . , xn−1) ≤ xn ≤ bn(x1, . . . , xn−1) .

Dabei seien a1, b1 Konstante und die übrigen aj , bj stetige Funktionen in den angegebenen Variablen aufden Bereichen, welche durch die vorhergehenden Ungleichungen beschrieben werden. Weiter gelte nocha1 ≤ b1, sowie für alle j = 2, . . . , n und alle Werte der Variablen aj(x1, . . . , xj−1) ≤ bj(x1, . . . , xj−1).Randpunkte dieser Menge sind dann gerade diejenigen x ∈ B, für welche für mindestens eine der Ko-ordinaten xj ein Gleichheitszeichen gilt. Nach Teil (d) des vorangegangenen Satzes ist der Rand von Beine Nullmenge, und deshalb ist B Jordan-messbar.

Lemma 7.2.6 (Bereichsapproximation) Seien alle Ck, Dk Jordan-messbare Teilmengen von Rn, undsei M so, dass Ck ⊂M ⊂ Dk für k ∈ N ist. Falls gilt

limk→∞

|Dk \ Ck| = 0,

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dann ist auch M Jordan-messbar, und

|M | = limk→∞

|Ck| = limk→∞

|Dk| .

Beweis: Aus der Monotonie des äuÿeren und inneren Inhaltes und der Messbarkeit der Ck, Dk folgt|Ck| ≤ |M |i ≤ |M |a ≤ |Dk| für alle k ∈ N. Wegen Dk = Ck ∪ (Dk \Ck) folgt |Dk| = |Ck|+ |Dk \Ck|, unddaher gilt die Behauptung. 2

Aufgabe 7.2.7 Zeige: Jede Jordan-Nullmenge ist auch Lebesgue-Nullmenge, aber die Umkehrung giltnicht.

Aufgabe 7.2.8 Zeige: Jede beschränkte Teilmenge einer achsenparallelen Hyperebene ist eine Nullmenge.

Aufgabe 7.2.9 Zeige: Jede o�ene Kugel in Rn ist Jordan-messbar.

Aufgabe 7.2.10 Zeige: Ist M Jordan-messbar, so sind es auch M und◦

M , und alle drei haben denselbenInhalt. Schlieÿe daraus, dass auch jede Menge C mit

M ⊂ C ⊂M Jordan-meÿbar ist, und dass |C| = |M |ist.

Aufgabe 7.2.11 Finde ein Beispiel dafür, dass die Vereinigung abzählbar vieler Jordan-Nullmengennicht in jedem Fall eine Jordan-Nullmenge sein muss.

7.3 Berechnung von Inhalten

Bisher können wir nur wenige Inhalte wirklich berechnen. Dies wollen wir jetzt ändern. Dazu zeigen wirzunächst:

Proposition 7.3.1 (Produktregel für den Jordan-Inhalt)Seien n,m ∈ N, und seien M1 ⊂ Rn, M2 ⊂ Rm Jordan-messbar. Dann ist M1 ×M2 ebenfalls Jordan-messbar, und es gilt

|M1 ×M2| = |M1| |M2| ,

wobei das Symbol | · | jeweils für den Inhalt im entsprechenden Raum steht.

Beweis: Wenn M1 und M2 Intervalle sind, ist das kartesische Produkt ebenfalls ein Intervall, unddie Behauptung gilt per De�nition. Als nächstes kann man die Behauptung auch für Intervallsummenveri�zieren, und damit erhält man die Gültigkeit im Allgemeinen mittels des Lemmas über die Bereich-sapproximation. 2

De�nition 7.3.2 Für M ⊂ Rn und t ∈ R sei

M(t) = {(x2, . . . , xn)T : (t, x2, . . . , xn)T ∈M} ⊂ Rn−1 .

Im wesentlichen ist M(t) also der Durchschnitt von M mit der achsenparallelen Hyperebene x1 = t,allerdings projiziert nach Rn−1. Falls M beschränkt ist, ist M(t) = ∅ für alle t auÿerhalb eines kompaktenIntervalls, und jede der Mengen M(t) ist eine beschränkte Teilmenge von Rn−1.

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Wir wollen jetzt die Berechnung des Inhalts einer Menge in Rn auf die von Mengen in Rn+1, gefolgt vonder Berechnung eines Integrales zurückführen:

Satz 7.3.3 (Satz von Fubini für Inhalte) Sei M ⊂ Rn Jordan-messbar, und seien α, β ∈ R so, dassM(t) = ∅ ist für alle t 6∈ [α, β]. Dann sind |M(t)|i und |M(t)|a beide über [α, β] integrierbar, und es gilt

|M | =

∫ β

α

|M(t)|i dt =

∫ β

α

|M(t)|a dt .

Beweis: WennM gleich einem Intervall I ist, dann istM(t) ebenfalls ein Intervall (in Rn−1) oder die leereMenge, und man überprüft leicht, dass die Behauptung richtig ist. Daraus folgt dann mit der Additivitätvon Inhalt und Integral die Gültigkeit für Intervallsummen. Sei jetzt S eine solche Intervallsumme. WennS ⊂ M ist, folgt S(t) ⊂ M(t), und demnach |S(t)|i ≤ |M(t)|i ≤ |M(t)|a, für alle t ∈ R. Wenn man derEinfachheit halber im Folgenden statt dem Ober- (Unter-) Integral nur ein Integralzeichen schreibt, folgtdann

|S| =

∫ β

α

|S(t)|i dt ≤∫ β

α

|M(t)|i ≤∫ β

α

|M(t)|a dt,

und deshalb folgt |M |i ≤∫ βα|M(t)|i dt ≤

∫ βα|M(t)|a. Analog folgt aber auch aus M ⊂ S, dass M(t) ⊂

S(t), also |M(t)|i ≤ |M(t)|a ≤ |S(t)|a für alle t ∈ R. Wenn [c, d] ein Intervall ist, für welches S(t) = ∅ istfür t 6∈ [c, d], so gilt (ebenfalls sowohl für das Ober- als auch das Unterintegral)∫ β

α

|M(t)|i dt ≤∫ β

α

|M(t)|a dt =

∫ d

c

|M(t)|a dt ≤∫ d

c

|S(t)|a dt = |S| ,

und hieraus folgt∫ βα|M(t)|i dt ≤

∫ βα|M(t)|a dt ≤ |M |a. Wegen |M |i = |M |a = |M | gilt also die Behaup-

tung. 2

Bemerkung 7.3.4 In obigem Satz haben wir M(t) als Schnitt von M mit der achsenparallelen Hyper-ebene x1 = t de�niert. Es ist nicht schwer zu sehen, dass ein analoger Satz gilt, wenn man M(t) mittelseines Schnittes mit der Hyperebene xj = t, für irgend ein j ∈ {1, . . . , n}, de�niert. Weiter sei betont, dassdie Mengen M(t) im Allgemeinen keine Jordan-messbaren Teilmengen von Rn−1 sein müssen.

Aufgabe 7.3.5 Sei B ⊂ R2 beschrieben durch die Ungleichungen

a ≤ x1 ≤ b, f(x1) ≤ x2 ≤ g(x1),

mit Konstanten a ≤ b und stetigen Funktionen f, g : [a, b] −→ R, sowie f(x1) ≤ g(x1) für alle x1 ∈ [a, b].Zeige die Jordan-messbarkeit von B und berechne seinen Inhalt. Benutze dies, um den Flächeninhalt einesKreises zu berechnen.

Aufgabe 7.3.6 Verallgemeinere die vorausgegangene Aufgabe auf drei Dimensionen, und benutze dies,um den Inhalt, also hier das Volumen, einer Kugel in R3 zu berechnen.

Aufgabe 7.3.7 Berechne den Inhalt von Mengen B wie in Beispiel 7.2.5.

7.4 Bewegungsinvarianz des Inhalts

Der folgende Satz soll hier nicht bewiesen werden. Sein Beweis kann in dem Buch von W. Walter [11]nachgelesen werden.

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Satz 7.4.1 Sei A eine quadratische n-reihige reelle Matrix, und sei b ∈ Rn. Sei ferner M ⊂ Rn Jordan-messbar, und sei Mf das Bild von M unter der a�nen Abbildung f(x) = Ax+ b. Dann ist Mf ebenfallsJordan-messbar, und es gilt

|Mf | = |detA| |M | .

De�nition 7.4.2 Eine a�ne Abbildung f(x) = Ax + b, mit A, b wie im vorausgegangenen Satz, heiÿteine Bewegung, falls |detA| = 1 ist.

Aus dem obigen Satz folgt unmittelbar, dass eine Bewegung den Jordan-Inhalt von Mengen nicht verän-dert. Man spricht deshalb auch von der Bewegungsinvarianz des Jordan-Inhalts.

Aufgabe 7.4.3 Seien a1, . . . , an ∈ Rn die Spalten einer n-reihigen Matrix quadratischen A, und sei

M = M(A) = {λ1 a1 + . . .+ λn an : 0 ≤ λj ≤ 1 ∀ j = 1, . . . , n} .

Skizziere M(A) für n = 2 und n = 3.

Aufgabe 7.4.4 Berechne den Jordan-Inhalt von M(A), für eine beliebige quadratische Matrix A.

Aufgabe 7.4.5 Seien a, b, c ∈ R+. Berechne den Jordan-Inhalt des Ellipsoids

M = {(x, y, z) ∈ R3 : (x/a)2 + (y/b)2 + (z/c)2 ≤ 1 } .

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Kapitel 8

Das Riemann-Integral

8.1 Die De�nition

Im Folgenden sei immer B ⊂ Rn Jordan-messbar und nicht leer, und f : B −→ R sei auf B beschränkt.

De�nition 8.1.1 Wir nennen Z = {B1, . . . , BN} Zerlegung von B, wenn alle Bk Jordan-messbar undpaarweise fremd sind, und wenn B = ∪Nk=1Bk gilt. Als Feinheit von Z bezeichnen wir das Maximumder Durchmesser der Bk. Eine Folge (Zn) von Zerlegungen von B heiÿt zulässig, wenn die Feinheit vonZn für n → ∞ gegen 0 geht. Eine Zerlegung Z1 = {B(1)

1 , . . . , B(1)N } heiÿt feiner als, oder Verfeinerung

von Z2 = {B(2)1 , . . . , B

(2)M }, falls es zu jedem k = 1, . . . , N ein j ∈ {1, . . . ,M} gibt mit B(1)

k ⊂ B(2)j .

Wenn Z1 = {B(1)1 , . . . , B

(1)N } und Z2 = {B(2)

1 , . . . , B(2)M } beliebig gegeben sind, dann heiÿt die Zerlegung

Z1 +Z2, welche aus allen B(1)k ∩B

(2)j , 1 ≤ k ≤ N , 1 ≤ j ≤M , besteht, die gemeinsame Verfeinerung oder

Überlagerung von Z1 und Z2. Zu einer Zerlegung Z = {B1, . . . , BN} setzen wir mk = inf{f(x) : x ∈ Bk},Mk = sup{f(x) : x ∈ Bk}, und nennen U(Z) =

∑Nk=1mk |Bk| bzw. O(Z) =

∑Nk=1Mk |Bk| die zu Z

gehörige Untersumme bzw. Obersumme von Z. Für beliebige Zwischenpunkte ξk ∈ Bk heiÿt S(Z, ξ) =∑Nk=1 f(ξk) |Bk| auch die zu Z und dem Zwischenpunktvektor ξ = (ξ1, . . . , ξN )T gehörige Riemannsumme

von f . O�enbar gilt immer U(Z) ≤ S(Z, ξ) ≤ O(Z).

Um Ober- und Unterintegral de�nieren zu können, zeigen wir:

Lemma 8.1.2 Für beliebige Zerlegungen Zj von B gilt stets U(Z1) ≤ O(Z2).

Beweis: Es ist leicht zu sehen, dass bei Verfeinerung einer Zerlegung die zugehörigen Obersummen(Untersummen) nicht gröÿer (nicht kleiner) werden können. Deshalb gilt für die Überlagerung Z1 + Z2:

U(Z1) ≤ U(Z1 + Z2) ≤ O(Z1 + Z2) ≤ O(Z2).

Darum gilt die Behauptung. 2

De�nition 8.1.3 Wir nennen

I∗ = _∫B

f(x) dx = sup {U(Z)} , I∗ =_∫B

f(x) dx = inf {O(Z)} ,

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wobei das Supremum bzw. In�mum jeweils über alle Zerlegungen von B gebildet wird, das Unter- bzw.Oberintegral von f über den Bereich B. O�enbar ist I∗ ≤ I∗, und wir nennen f über B integrierbar, wennI∗ = I∗ gilt. Der gemeinsame Wert von Unter- und Oberintegral wird dann mit

∫Bf(x) dx bezeichnet und

heiÿt das Bereichsintegral oder einfach das Integral von f über B.

Beispiel 8.1.4 Ist f konstant, also f(x) ≡ c, so ist f über B integrierbar, und∫Bf(x) dx = c |B|. Wenn

f(x) ≥ 0 ist für x ∈ B, dann ist das Ober- bzw. Unterintegral von f über B gleich dem äuÿeren bzw.inneren Inhalt der (n+ 1)-dimensionalen Menge Mf,B = {(x, y)T : x ∈ B, 0 ≤ y ≤ f(x)}. Also existiertdas Integral von f über B genau dann, wenn Mf,B Jordan-messbar ist, und dann ist∫

B

f(x) dx = |Mf,B | .

Dies alles folgt unmittelbar aus der De�nition des Bereichsintegrals.

Aufgabe 8.1.5 Gib für |B| > 0 ein Beispiel einer nicht über B integrierbaren Funktion f .

Aufgabe 8.1.6 (Integration von Ungleichungen) Zeige: Sind die Funktionen f und g über B inte-grierbar, und gilt f(x) ≤ g(x) für x ∈ B, so folgt

∫Bf(x) dx ≤

∫Bg(x) dx.

8.2 Eigenschaften des Bereichsintegrals

Wir geben jetzt einige Resultate an, deren Beweise entweder direkt aus der entsprechenden De�nitionfolgen oder weitgehend analog zu denen im eindimensionalen Fall und deshalb hier ausgelassen sind:

Proposition 8.2.1

(a) (Fundamentalabschätzung) Für m = inf { f(x) : x ∈ B }, M = sup { f(x) : x ∈ B } gilt

m |B| ≤ _∫B

f(x) dx ≤_∫B

f(x) dx ≤ M |B| .

Falls f über B integrierbar ist, gilt insbesondere∣∣∣∣ ∫B

f(x) dx

∣∣∣∣ ≤ |B| sup { |f(x)| : x ∈ B } .

(b) (Linearität des Integrals) Sind f und g über B integrierbar, und sind α, β ∈ R, so ist auchα f + β g über B integrierbar, und es gilt∫

B

(α f(x) + β g(x)) dx = α

∫B

f(x) dx + β

∫B

g(x) dx .

Korollar zu Proposition 8.2.1 (Integrale über Nullmengen) Ist B eine Jordansche Nullmenge, soist jede auf B beschränkte Funktion auch über B integrierbar, und es ist

∫Bf(x) dx = 0.

Satz 8.2.2

(a) Für jede zulässige Zerlegungsfolge (Zn) konvergieren die Folgen (U(Zn)) und (O(Zn)), und es gilt

_∫B

f(x) dx = limn→∞

U(Zn),_∫B

f(x) dx = limn→∞

O(Zn).

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(b) Die Funktion f ist genau dann integrierbar über B, wenn für jede zulässige Folge von Zerlegungenvon B und jede Wahl von Zwischenpunktvektoren die zugehörigen Riemannsummen einen Grenzwerthaben. Ist dies so, dann ist dieser Grenzwert gleich

∫Bf(x) dx, also unabhängig von der Wahl der

Zerlegungsfolge und der Zwischenpunktvektoren.

Proposition 8.2.3 (Riemannsches Integrabilitätskriterium) Die Funktion f ist genau dann überB integrierbar, wenn es zu jedem ε > 0 eine Zerlegung Z von B gibt mit O(Z)− U(Z) < ε.

Mit diesem Kriterium können wir nun folgende wichtige Resultate beweisen:

Satz 8.2.4 (Additivität des Integrals) Seien A1, A2 Jordan-messbar und fremd, und sei B = A1∪A2.Dann gilt

_∫B

f(x) dx = _∫A1

f(x) dx + _∫A2

f(x) dx ,

_∫B

f(x) dx =_∫A1

f(x) dx +_∫A2

f(x) dx .

Insbesondere ist f über B integrierbar genau dann, wenn es sowohl über A1 als auch über A2 integrierbarist, und dann gilt ∫

B

f(x) dx =

∫A1

f(x) dx +

∫A2

f(x) dx ,

Beweis: Für zulässige Zerlegungsfolgen Zn,j von Aj , für 1 ≤ j ≤ 2, ist Zn = Zn,1 ∪ Zn,2 eine zulässigeZerlegungsfolge von B. Mit Satz 8.2.2 folgen dann die ersten beiden Aussagen. Aus diesen ergibt sichdann direkt die Integrierbarkeit von f über B unter Annahme der Integrierbarkeit über A1 und A2.Umgekehrt sei jetzt f über B integrierbar. Dann gibt es nach dem Riemannschen Integrabilitätskriteriumeine Zerlegung Z = {B1, . . . , BN} von B mit O(Z)− U(Z) < ε. Für Zj = {B1 ∩Aj , . . . , BN ∩Aj} folgtdann O(Zj)− U(Zj) ≤ O(Z)− U(Z), und hieraus folgt die Integrierbarkeit über Aj , für 1 ≤ j ≤ 2. 2

Satz 8.2.5 Ist f auf B beschränkt, und gibt es eine Jordansche Nullmenge N ⊂ B, für welche f aufB \N stetig ist, so ist f über B integrierbar.

Beweis: Sei zunächst angenommen, dass f gleichmäÿig stetig auf B ist. Sei ε > 0, und sei δ > 0 derart,dass |f(x1)− f(x2)| < ε ist für alle x1, x2 ∈ B mit ‖x1 − x2‖ < δ. Sei Z = {B1, . . . , BN} eine Zerlegungvon B, deren Feinheit kleiner als δ ist. Dann folgt O(Z) − U(Z) < ε |B|, und deshalb ist f über Bintegrierbar.

Im allgemeinen Fall sei A = B \N . Sei S eine Intervallsumme, welche ganz in A liegt. Dann ist f auf Sstetig, und da S kompakt ist, folgt gleichmäÿige Stetigkeit, also Integrierbarkeit, von f über S. Aus derAdditivität des Integrals folgt dann, dass

_∫B

f(x) dx − _∫S

f(x) dx = _∫B\S

f(x) dx

und genauso für die Oberintegrale. Daher ist wegen der Integrierbarkeit von f über S und der Funda-mentalabschätzung

0 ≤_∫B

f(x) dx − _∫B

f(x) dx =_∫B\S

f(x) dx − _∫B\S

f(x) dx

≤∣∣∣ _∫B\S

f(x) dx∣∣∣ +

∣∣∣ _∫B\S

f(x) dx∣∣∣ ≤ 2M |B \ S| ,

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mit M = supx∈B |f(x)|. Wegen |B \ S| = |B| − |S| = |A| − |S| und weil man S so wählen kann, dass|A| − |S| beliebig klein wird, folgt die Behauptung. 2

Satz 8.2.6 Sind f und g über B integrierbar, so gilt dasselbe auch für f g.

Beweis: Da integrierbare Funktionen beschränkt sein müssen, gibt es ein K ∈ R mit |f(x)|, |g(x)| ≤ Kfür alle x ∈ B. Also gilt

|f(x) g(x)− f(y) g(y)| ≤ |f(x)| |g(x)− g(y)|+ |g(y)| |f(x)− f(y)|≤ K (|g(x)− g(y)|+ |f(x)− f(y)|) .

Ist Z eine beliebige Zerlegung, und stehen Uf , Of , bzw. Ug, Og, bzw. Ufg, Ofg für die zugehörigen Unter-und Obersummen von f , bzw. g, bzw. f g, so folgt hieraus

Ofg − Ufg ≤ K (Of − Uf +Og − Ug).

Daraus folgt die Behauptung mit dem Riemannschen Kriterium. 2

Lemma 8.2.7 Sei f : B −→ A, mit A ⊂ R, über B integrierbar, und gelte für g : A → R eineLipschitzbedingung auf A. Dann ist g ◦ f über B integrierbar.

Beweis: Wird genauso bewiesen wie das entsprechende Lemma in Analysis 1. 2

Proposition 8.2.8 (Dreiecksungleichung für Integrale) Ist f über B integrierbar, dann gilt das-selbe auch für |f |, und es gilt ∣∣∣∣∫

B

f(x) dx

∣∣∣∣ ≤ ∫B

|f(x)| dx.

Beweis: Für g(x) = |x| folgt aus dem obigen Lemma die Integrierbarkeit von |f |, und die Ungleichungfolgt aus der Dreiecksungleichung für die Riemannsummen. 2

Aufgabe 8.2.9 Sei f über B integrierbar, sei N ⊂ B eine Jordansche Nullmenge, und sei g auf Bbeschränkt und g(x) = f(x) für x ∈ B\N . Zeige, dass auch g über B integrierbar ist und dass

∫Bf(x) dx =∫

Bg(x) dx ist.

Aufgabe 8.2.10 Sei f über B integrierbar. Zeige die Integrierbarkeit von f+ und f−, mit

f+(x) = max{f(x), 0}, f−(x) = max{−f(x), 0} ∀ x ∈ B .

8.3 Mittelwertsätze und gliedweise Integration

De�nition 8.3.1 Sei f über B integrierbar, und sei |B| > 0. Die Zahl

µ =1

|B|

∫B

f(x) dx

heiÿt der Mittelwert von f über B.

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Satz 8.3.2 (Mittelwertsatz der Integralrechnung) Sei f über B integrierbar, sei |B| > 0, und seiµ der Mittelwert von f über B. Dann ist

m = inf{f(x) : x ∈ B} ≤ µ ≤ sup{f(x) : X ∈ B} = M.

Beweis: Es ist m ≤ f(x) ≤M für alle x ∈ B, und durch Integration folgt die Behauptung. 2

Satz 8.3.3 (Erweiterter Mittelwertsatz der Integralrechnung) Seien g und f g über B integrier-bar, und sei g(x) ≥ 0 für alle x ∈ B. Dann existiert ein µ ∈ [m,M ], mit m, M wie im vorigen Satz, sodass ∫

B

f(x) g(x) dx = µ

∫B

g(x) dx .

Beweis: Es gilt

m

∫B

g(x) dx ≤∫B

f(x) g(x) dx ≤M∫B

g(x) dx ,

und daraus folgt die Behauptung. 2

Satz 8.3.4 (Gliedweise Integration) Gegeben seien fn, gk : B −→ R für alle n, k ∈ N. Dann gilt

(a) Sind alle fn über B integrierbar, und ist die Funktionenfolge (fn) auf B gleichmäÿig konvergent, soist auch die Grenzfunktion f über B integrierbar, und es gilt∫

B

f(x) dx = limn→∞

∫B

fn(x) dx.

(b) Sind alle gk über B integrierbar, und ist die Funktionenreihe∑∞k=1 gk auf B gleichmäÿig konvergent,

so ist auch die Grenzfunktion f über B integrierbar, und es gilt∫B

f(x) dx =

∞∑k=1

∫B

gk(x) dx.

Beweis: Zu (a): O. B. d. A. sei |B| > 0. Zu ε > 0 gibt es nach De�nition der gleichmäÿigen Konvergenzein n ∈ N mit |f(x) − fn(x)| ≤ ε/|B| für alle x ∈ B. Daraus folgt für jede Zerlegung Z von B für dieObersummen Of (Z), Ofn(Z) und Untersummen Uf (Z), Ufn(Z) von f bzw. fn, dass

|Uf (Z)− Ufn(Z)| ≤ ε , |Of (Z)−Ofn(Z)| ≤ ε .

Nach dem Riemannschen Integrabilitätskriterium existiert eine Zerlegung Z mit Ofn(Z) − Ufn(Z) < ε,und daher folgt

Of (Z)− Uf (Z) = Of (Z)−Ofn(Z) +Ofn(Z)− Uf (Z) +Ofn(Z)− Ufn(Z)

< 3 ε .

Daraus folgt die Integrierbarkeit von f mit dem Riemannschen Integrabilitätskriterium. Die behaupteteGleichung folgt sofort wegen∣∣∣∣∫

B

(f(x) − fn(x)) dx

∣∣∣∣ ≤ |B| maxx∈B|f(x) − fn(x)|

aus der gleichmäÿigen Konvergenz. Der Teil (b) kann wie üblich mit fn =∑nk=1 gk auf (a) zurückgeführt

werden. 2

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Aufgabe 8.3.5 Gib eine Formulierung des Mittelwertsatzes, welche auch für |B| = 0 richtig bleibt.

Aufgabe 8.3.6 Diskutiere, unter welchen Voraussetzungen über B ein x0 ∈ B existiert, für das µ =f(x0) ist.

8.4 Der Satz von Fubini

In diesem Abschnitt seien wieder B ⊂ Rn Jordan-messbar und nicht leer, und f : B −→ R sei auf Bbeschränkt. Weiter sei ein j ∈ {1, . . . , n} fest gewählt.

De�nition 8.4.1 Für ein x = (x1, . . . , xn)T ∈ Rn setzen wir

y = (x1, . . . , xj−1, xj+1, . . . , xn)T

und identi�zieren x mit dem Paar (xj , y). Statt f(x) schreiben wir dann auch f(xj , y). Weiter nennenwir die Menge

B(xj) = {y : x = (xj , y) ∈M} ⊂ Rn−1

einen Schnitt von B. O�enbar ist ein Schnitt B(xj) für beliebiges xj ∈ R eine beschränkte Teilmengevon Rn−1, und es gibt ein Intervall [α, β] so, dass B(xj) = ∅ ist für xj 6∈ [α, β]. Wir nennen die Jordan-messbare Menge B einen zulässigen Bereich, wenn alle Schnitte B(xj) Jordan-messbare Teilmengen vonRn−1 sind.

Beispiel 8.4.2 Die in Beispiel 7.2.5 betrachtete Menge B ist ein zulässiger Bereich für den Fall j = 1,denn dann sind alle nicht-leeren Schnitte Jordan-messbare Teilmengen in Rn−1, weil sie wieder durch dieentsprechenden Ungleichungen, aber mit einem festen Wert für x1, beschrieben sind.

Satz 8.4.3 (Satz von Fubini) Sei B ein zulässiger Bereich in obigem Sinn, und sei f über B inte-grierbar. Seien ferner α, β ∈ R so, dass B(xj) = ∅ für xj 6∈ [α, β]. Dann gilt∫

B

f(x) dx =

∫ β

α

(_∫B(xj)

f(xj , y) dy

)dxj =

∫ β

α

(_∫B(xj)

f(xj , y) dy

)dxj .

Beweis: Falls f(x) ≥ 0 ist, ist∫Bf(x) dx gleich dem Inhalt der in Beispiel 8.1.4 de�nierten MengeMf,B ,

und das Unter- bzw. Oberintegral von f(xj , y) über B(xj) ist gleich dem inneren bzw. äuÿeren Inhalt desentsprechenden Schnittes von Mf,B mit derjenigen Hyperebene, bei der wir xj festhalten. Deshalb folgtdie Behauptung in diesem Fall aus Satz 7.3.3. Auÿerdem sieht man leicht, dass die Behauptung ebenfallsgilt, wenn f konstant ist. Den allgemeinen Fall erhält man dann durch Betrachten von f(x) + c mit einerhinreichend groÿen Konstanten c ∈ R. 2

Aufgabe 8.4.4 Berechne das Integral∫Bf(x) dx, wenn B ⊂ R2 die Einheitskreisscheibe und f(x1, x2) =

x2 sinx1 ist.

Aufgabe 8.4.5 Sei B wie in Beispiel 7.2.5, und sei f stetig und beschränkt auf B. Zeige:∫B

f(x) dx =

∫ b1

a1

(∫ b2(x1)

a2(x1)

. . .(∫ bn(x1,...,xn−1)

an(x1,...,xn−1)

f(x1, . . . , xn) dxn

). . . dx2

)dx1 .

Der rechtsstehende Ausdruck heiÿt auch ein n-fach iteriertes Integral.

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8.5 Die Substitutionsregel

Der folgende Satz soll hier nicht bewiesen werden; der Beweis kann im Buch von H. Heuser [7, Abschnitt205] nachgelesen werden.

Satz 8.5.1 Sei O ⊂ Rn o�en, und sei g : O −→ Rn stetig partiell di�erenzierbar. Sei weiter B ⊂ Okompakt, N ⊂ B eine Jordan-Nullmenge, und sei g auf O\N injektiv, und det g′(q) > 0 oder det g′(q) < 0für alle q ∈ O \N . Dann ist g(B) ebenfalls Jordan-messbar, und für jede auf g(B) stetige Funktion f gilt∫

g(B)

f(x) dx =

∫B

f(g(q))∣∣det g′(q)

∣∣ dq.(Ohne Beweis)

Aufgabe 8.5.2 Zeige: Für r > 0 und x0 ∈ Rn gilt |K(x0, r)| = rn |K(0, 1)|.

Aufgabe 8.5.3 Finde die Beziehung zwischen den Inhalten der Kugeln vom Radius r = 1 von Dimensionn und n+ 1.

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Kapitel 9

Kurvenintegrale und Stammfunktionen

9.1 Kurven, Rekti�zierbarkeit, Wege

De�nition 9.1.1 Sei I = [a, b] ⊂ R ein abgeschlossenes Intervall mit a < b. Eine stetige Abbildungx : I −→ Rn, t 7→ x(t), heiÿt Parameterdarstellung einer Kurve in Rn. Das Intervall I heiÿt auch dasParameterintervall der Darstellung. Der Punkt x(a) heiÿt Anfangspunkt, der Punkt x(b) heiÿt Endpunktder Kurve, und wir sagen manchmal auch, dass die Kurve die Punkte x(a) und x(b) verbindet, odersprechen von einer Kurve von x(a) nach x(b). Falls x(a) = x(b) ist, sprechen wir von einer geschlossenenKurve. Falls aus t1 ≤ t2 und x(t1) = x(t2) folgt, dass t1 = t2 oder t1 = a und t2 = b ist, dann heiÿtdie Kurve doppelpunktfrei. Zwei Parameterdarstellungen x1 : I1 −→ Rn und x2 : I2 −→ Rn heiÿenäquivalent, wenn es eine stetige, surjektive und streng monoton wachsende Funktion φ : I1 −→ I2 gibt,für welche x1 = x2 ◦ φ gilt. Dies ist eine Äquivalenzrelation auf der Menge aller Parameterdarstellungenvon Kurven, und jede Äquivalenzklasse heiÿt eine Kurve in Rn. Ist x : I −→ Rn Parameterdarstellungeiner Kurve γ, so heiÿt die Menge γ∗ = {x(t) : a ≤ t ≤ b} auch der Träger von γ. Beachte, dassäquivalente Parameterdarstellungen den gleichen Träger haben, so dass es berechtigt ist, vom Träger derKurve zu sprechen. Kurven, deren Träger nur aus einem Punkt besteht, heiÿen auch Einpunktkurven.

Beispiel 9.1.2 Alle Strecken und Polygone sind spezielle Kurven. Die Parameterdarstellung x(t) =(cos t, sin t)T , 0 ≤ t ≤ π, beschreibt die obere Hälfte des Einheitskreises, also des Kreises um denNullpunkt mit Radius r = 1, in R2. Da φ(t) = − cos t auf [0, π] stetig und streng monoton wachsendist, ist x(t) = (−t,

√1− t2 )T , t ∈ [−1, 1], eine äquivalente Darstellung.

Aufgabe 9.1.3 Zeige: Zu jeder Parameterdarstellung einer Kurve gibt es eine äquivalente Darstellungmit Parameterintervall [0, 1].

De�nition 9.1.4 Sei x : [a, b] −→ Rn Parameterdarstellung einer Kurve γ. Für eine Zerlegung Z ={a = t0 < t1 < . . . < tN = b} von [a, b] sei

`(x,Z) =

N∑k=1

‖x(tk) − x(tk−1)‖ .

Falls das Supremum `(γ) = supZ `(x,Z), genommen über alle Zerlegungen Z von [a, b], endlich ist, heiÿtdie Kurve γ rekti�zierbar oder von endlicher Länge. Wie die gewählte Bezeichnung schon andeutet, hängtzwar `(x,Z) von der gewählten Parameterdarstellung ab, aber `(γ) ist für äquivalente Parameterdarstel-lungen immer gleich und heiÿt die Länge der Kurve γ. Die Kurve γ heiÿt stetig di�erenzierbar, wenn sie

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eine Parameterdarstellung x : [a, b] −→ Rn besitzt, welche auf [a, b] stetig di�erenzierbar ist. Gilt zusätzlichnoch x′(t) 6= 0 für alle t ∈ [a, b], so nennen wir γ auch glatte Kurve und x glatte Parameterdarstellungvon γ.

Bemerkung 9.1.5 Sei x = (x1, . . . , xn)T : [a, b] −→ Rn Parameterdarstellung einer Kurve γ. Wegen

|xj(tk) − xj(tk−1)| ≤ ‖x(tk) − x(tk−1)‖≤√n max{|xν(tk) − xν(tk−1)| : 1 ≤ ν ≤ n}

folgt, dass γ genau dann rekti�zierbar ist, wenn alle xj auf [a, b] von beschränkter Variation sind,1 undes gilt die Ungleichung

max{V ba (xν) : 1 ≤ ν ≤ n} ≤ `(γ) ≤√n max{V ba (xν) : 1 ≤ ν ≤ n} .

Beispiel 9.1.6 Setzt man t sin(1/t) = 0 für t = 0, so ist

x(t) =

(t sin(1/t)

t

), ∀ t ∈ [0, 2/π]

Parameterdarstellung einer Kurve in R2. Die Punkte

t0 = 0, tk =1

π (N − k + 1/2), 1 ≤ k ≤ N,

bilden eine Zerlegung Z von [0, 2/π], und wegen sin(1/tk) = (−1)n−k folgt

`(x,Z) ≥N∑k=1

|tk sin(1/tk) − tk−1 sin(1/tk−1)| ≥N∑k=1

(tk + tk−1).

Die rechte Seite ist gröÿer als (2/π)∑Nk=2 1/k, und dies geht gegen ∞ für N →∞. Daher ist diese Kurve

nicht rekti�zierbar.

Proposition 9.1.7 Jede stetig di�erenzierbare Kurve γ ist rekti�zierbar. Genauer: Ist x : [a, b] −→ Rneine stetig di�erenzierbare Parameterdarstellung von γ, so gilt

`(γ) =

∫ b

a

‖x′(t)‖ dt . (9.1.1)

Beweis: Sei Z = {a = t0 < t1 < . . . < tN = b} eine Zerlegung von [a, b] und sei τ = (τ1, . . . , τn)T einzugehöriger Zwischenpunktvektor. Dann ist also S(Z, τ) =

∑Nk=1 ‖x′(τk)‖ (tk − tk−1) die entsprechende

Riemannsumme für das Integral in (9.1.1). Wenn man auf jede Komponente von x(t) = (x1(t), . . . , xn(t))T

den ersten Mittelwertsatz aus Analysis 1 anwendet, �ndet man

‖x(tk) − x(tk−1)‖2 ≤ (tk − tk−1)2n∑j=1

[x′j(θkj)]2 ,

mit geeigneten Werten θkj ∈ (tk−1, tk). Sei jetzt ein ε > 0 betrachtet. Da die x′k auf [a, b] gleichmäÿigstetig ist, folgt: Wenn die Zerlegung Z nur genügend fein ist, dann ist∣∣∣∣∣ ‖x′(τk)‖ −

√√√√ n∑j=1

[x′j(θkj)]2

∣∣∣∣∣ < ε ∀ k = 1, . . . , N .

Also ist |`(x,Z) − S(Z, τ)| ≤ (b − a) ε. Hieraus und aus der De�nition der Kurvenlänge sowie desRiemann-Integrals folgt die Behauptung. 2

1Für die De�nition dieses Begri�es wird auf die Literatur verwiesen

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De�nition 9.1.8 Seien γ1 und γ2 Kurven mit Parameterdarstellungen xj : [0, 1] −→ Rn, und sei derEndpunkt x1(1) von γ1 gleich dem Anfangspunkt x2(0) von γ2. Dann ist

x(t) =

{x1(2 t) (0 ≤ t ≤ 1/2),

x2(2 t− 1) (1/2 ≤ t ≤ 1),

Parameterdarstellung einer neuen Kurve, welche wir mit γ1+γ2 bezeichnen und die Summe von γ1 und γ2nennen wollen. Umgekehrt, ist γ eine Kurve mit Parameterdarstellung x : [a, b] −→ Rn, so sind für irgendein c ∈ (a, b) die Restriktionen von x auf die beiden Intervalle [a, c] und [c, b] Parameterdarstellungen vonKurven γ1 und γ2, und es gilt γ = γ1 + γ2. Wir sagen dann auch: γ1 und γ2 bilden eine Zerlegung von γ.Eine Kurve γ heiÿt stückweise stetig di�erenzierbar oder kürzer ein Weg, wenn γ in endlich viele stetigdi�erenzierbare Teilkurven zerlegt werden kann. Entsprechend de�nieren wir stückweise glatte Kurven.Es ist wichtig zu beachten, dass die Begri�e Kurven und Wege in der Literatur unterschiedlich de�niertwerden! Ist γ eine Kurve mit Parameterdarstellung x : [0, 1] −→ Rn, so bezeichnen wir die Kurve mit derParameterdarstellung x(1− t), 0 ≤ t ≤ 1, mit −γ.

Bemerkung 9.1.9 Aus der De�nition der Länge von Kurven folgt unmittelbar, dass `(γ1+γ2) = `(γ1)+`(γ2) ist, falls γ1 + γ2 de�niert ist. Daher folgt, dass Wege immer endliche Länge haben, und dass dieGleichung (9.1.1) auch für Wege gilt, wenn man davon absieht, dass der Integrand an endlich vielenPunkten unde�niert sein kann.

Aufgabe 9.1.10 Zeige: Äquivalente Parameterdarstellungen haben den gleichen Träger, aber Parame-terdarstellungen von Kurven mit gleichem Träger müssen nicht unbedingt äquivalent sein.

Aufgabe 9.1.11 Zeige: Einpunktkurven sind stetig di�erenzierbar, aber nicht glatt.

Aufgabe 9.1.12 Zeige: Eine glatte Kurve besitzt immer auch eine Parameterdarstellung, welche nichtan allen Stellen di�erenzierbar ist.

Aufgabe 9.1.13 Berechne die Länge des Kreisbogens γs gegeben durch die Parameterdarstellung x(t) =(r cos t, r sin t)T , 0 ≤ t ≤ s.

9.2 Kurvenintegrale von Vektorfunktionen

In diesem Abschnitt betrachten wir eine Kurve γ mit Träger γ∗ ⊂ Rn und eine Funktion f : γ∗ −→ Rn.

De�nition 9.2.1 Sei x : [a, b] −→ Rn Parameterdarstellung der Kurve γ. Für eine beliebige ZerlegungZ = {a = t0 < t1 < . . . < tN = b} von [a, b] und beliebigen Zwischenpunktvektor ξ = (ξ1, . . . , ξN )T heiÿtdie Zahl

N∑k=1

fT (x(ξk)) (x(tk) − x(tk−1))

die zugehörige Riemannsumme. Wir sagen dann,2, dass das Kurvenintegral

I =

∫γ

fT (x) dx =

∫γ

( n∑j=1

fj(x) dxj

)2Vergleiche dies mit der De�nition des Riemann-Stieltjes-Integrals � siehe hierzu etwa das Buch von Walter [11].

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existiert, wenn es zu jedem ε > 0 eine Zerlegung Zε gibt, so dass für jede Verfeinerung Z von Zε undjeden zu Z gehörigen Zwischenpunktvektor ξ gilt

∣∣∣I − N∑k=1

fT (x(ξk)) (x(tk) − x(tk−1))∣∣∣ < ε.

Wir sehen aus der De�nition: Falls die Riemann-Stieltjes-Integrale∫ bafj(x(t)) dxj(t) alle existieren, dann

existiert auch das Kurvenintegral, und es gilt∫γ

fT (x) dx =

n∑j=1

∫ b

a

fj(x(t)) dxj(t) . (9.2.1)

Beachte aber, dass die Existenz des Kurvenintegrals nicht unbedingt die der einzelnen Riemann-Stieltjes-Integrale impliziert. Um das hier eingeführte Kurvenintegral von dem später folgenden Kurvenintegraleiner skalarwertigen Funktion zu unterscheiden, sprechen wir auch vom Kurvenintegral einer Vektor-funktion.

Satz 9.2.2 (Existenz und Berechnung von Kurvenintegralen) Sei γ eine rekti�zierbare Kurve,und sei f auf dem Träger γ∗ stetig. Dann existiert das Kurvenintegral von f entlang γ, und es gilt (9.2.1).Falls γ sogar eine stetig di�erenzierbare Parameterdarstellung x : [a, b] −→ Rn besitzt, dann gilt∫

γ

fT (x) dx =

∫ b

a

fT (x(t))x′(t) dt . (9.2.2)

Beweis: Folgt aus dem entsprechenden Satz über Riemann-Stieljes- Integrale � siehe hierzu etwa dasBuch von Walter [11]. 2

Satz 9.2.3 (Rechenregeln) Für beliebige Kurven gelten folgende Aussagen, wobei in (a), (b) und (d)aus der Existenz des Kurvenintegrals/der Kurvenintegrale auf der rechten Seite die Existenz der linkenSeite folgt, während in (c) die Existenz der Integrale rechts äquivalent zur Existenz des links stehendenKurvenintegrals ist:

(a) ∀ α ∈ R :

∫γ

α fT (x) dx = α

∫γ

fT (x) dx.

(b)∫γ

(f(x) + g(x))T dx =

∫γ

fT (x) dx +

∫γ

gT (x) dx.

(c)∫γ1+γ2

fT (x) dx =

∫γ1

fT (x) dx +

∫γ2

fT (x) dx.

(d)∫−γ

fT (x) dx = −∫γ

fT (x) dx.

(e)∣∣∣ ∫γ

fT (x) dx∣∣∣ ≤ `(γ) sup{ ‖f(x)‖ : x ∈ γ∗}.

Beweis: Alle Behauptungen zeigt man unmittelbar mit der De�nition; für Einzelheiten siehe z. B. dieangegebene Literatur. 2

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Aufgabe 9.2.4 Berechne das Kurvenintegral folgender Vektorfunktionen entlang des positiv orientiertenEinheitskreises, d. h., für die Kurve mit der Parameterdarstellung wie in Aufgabe 9.1.13, mit s = 2π:

f(x1, x2) = (2x1 x2, x21)T , f(x1, x2) =

(− x2x21 + x22

,x1

x21 + x22

)T.

Aufgabe 9.2.5 Sei γ ein doppelpunktfreier Weg. De�niere eine Vektorfunktion f : γ∗ −→ Rn so, dassdas Kurvenintegral von f entlang γ gerade die Kurvenlänge `(γ) ergibt.

9.3 Wegunabhängigkeit und Stammfunktionen

In diesem Abschnitt sei immer G ⊂ Rn ein Gebiet, und f = (f1, . . . , fn)T : G −→ Rn eine Funktion. Wirkönnen uns f als ein Vektorfeld veranschaulichen: Jedem x ∈ G ist ein Vektor f(x) zugeordnet, der z. B.die (Anziehungs-) Kraft angibt, welche auf einen im Punkt x be�ndlichen Körper der Masse 1 einwirkt,oder die Geschwindigkeit, mit der sich ein im Punkt x be�ndliches Flüssigkeitsteilchen weiterbewegt. Imersten Fall spricht man auch von einem Kraftfeld, im zweiten von einem Geschwindigkeitsfeld. Bei derInterpretation als Kraftfeld hat das Kurvenintegral physikalisch die Bedeutung der Arbeit, welche beieiner Verschiebung eines Körpers mit Masse 1 entlang der Kurve γ gewonnen wird.

De�nition 9.3.1 Falls eine partiell di�erenzierbare Funktion F : G −→ R existiert, für welche fT (x) =grad F (x) für alle x ∈ G ist, dann nennen wir F eine Stammfunktion von f (auf G), und in diesem Fallheiÿt f auch ein Gradientenfeld oder konservatives Feld, und −F heiÿt dann auch potenzielle Energiedes Feldes. Falls f auf G stetig ist, und falls für jeden geschlossenen Weg γ mit Träger in G gilt∫

γ

fT (x) dx = 0 ,

dann sagen wir: Das Kurvenintegral über f ist in G wegunabhängig.

Bemerkung 9.3.2 Wenn γ1, γ2 zwei Wege in G mit demselben Anfangs- und Endpunkt sind, ist γ =γ1 + (−γ2) ein geschlossener Weg, und nach den Rechenregeln für Kurvenintegrale gilt∫

γ

f(x)T dx =

∫γ1

f(x)T dx −∫γ2

f(x)T dx .

Daraus liest man ab, dass die Wegunabhängigkeit des Kurvenintegrals äquivalent ist dazu, dass das Kur-venintegral über einen beliebigen Weg in G nicht von dessen Verlauf, sondern höchstens von seinemAnfangs- und Endpunkt abhängt.

Satz 9.3.3 Das Kurvenintegral über ein stetiges Vektorfeld f : G −→ Rn ist genau dann wegunabhängig,wenn es ein Gradientenfeld ist. Ist dies der Fall, und ist F eine Stammfunktion von f , so gilt für jedenin G gelegenen Weg γ mit Anfangs- bzw. Endpunkt x0 bzw. x1, dass∫

γ

fT (x) dx = F (x1) − F (x0) . (9.3.1)

Beweis: Sei das Kurvenintegral wegunabhängig. Für festes x0 ∈ G und einen Weg γ(x) in G mitAnfangspunkt x0 und irgend einem Endpunkt x ∈ G hängt das Kurvenintegral über f nur von x ab, undwir setzen

F (x) =

∫γ(x)

f(y)T dy ∀ x ∈ G . (9.3.2)

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Beachte, dass G o�en und zusammenhängend ist, und deshalb existiert nach Satz 2.6.7 für jedes x ∈ Gimmer ein Polygon (also ein ganz spezieller Weg), das x0 und x verbindet. Für genügend kleine h ∈ R\{0}und ein k ∈ {1, . . . , n} ist dann

F (x+ h ek) − F (x)

h− fk(x) =

1

h

∫γ(x,h)

(f(y)− f(x))T dy ,

wobei γ(x, h) die Verbindungsstrecke von x nach x+ h ek ist. Aus der Abschätzung in Satz 9.2.2 (e) undder Stetigkeit von f folgt, dass die rechte Seite dieser Gleichung für h → 0 gegen 0 geht, und deshalbist F nach xk partiell di�erenzierbar, und Fxk = f . Mit anderen Worten: f ist ein Gradientenfeld, unddie oben de�nierte Funktion F ist eine Stammfunktion. Umgekehrt, sei F Stammfunktion zu f . Ein Wegγ in G mit Anfangspunkt x0 und Endpunkt x1 ist per De�nition die Summe von endlich vielen stetigdi�erenzierbaren Kurven γ1,. . . ,γN , und somit gilt∫

γ

fT (x) dx =

N∑j=1

∫γj

fT (x) dx .

Wenn xj : [0, 1] −→ Rn eine stetig di�erenzierbare Parameterdarstellung von γj ist, dann folgt aus (9.2.2)und dem ersten Hauptsatz, dass∫

γj

fT (x) dx =

∫ 1

0

f(xj(t))T x′j(t) dt = F (xj(1)) − F (xj(0))

für alle j = 1, . . . , N . Da γ = γ1 + . . . + γN ist, muss xj(0) = xj−1(1) sein, und x1(0) = x0 sowiexN (1) = x1. Deshalb folgt∫

γ

fT (x) dx =

N∑j=1

(F (xj(1)) − F (xj(0)

)= F (x1) − F (x0) .

Das impliziert (9.3.1) und insbesondere auch die Wegunabhängigkeit des Kurvenintegrals über f in G.2

Beispiel 9.3.4 Die Funktion k(x) = −c ‖x‖−3 x, für x 6= 0 und geeignetes c > 0, beschreibt das Schw-erkraftfeld der Erde, oder genauer, das eines beliebigen Massepunktes im Nullpunkt. Es ist ein Gradien-tenfeld, denn die Funktion U(x) = c ‖x‖−1 ist Stammfunktion.

Aufgabe 9.3.5 Zeige dass das Vektorfeld f(x1, x2) = (2x1 ex2 , x21 ex2)T in ganz R2 eine Stammfunktion

hat.

Aufgabe 9.3.6 Zeige, dass f(x) = (x1, x1 x2, x3)T , x = (x1, x2, x3)T ∈ R3, kein Gradientenfeld ist.

9.4 Die Integrabilitätsbedingungen

In einer Dimension hat jede stetige Funktion auch eine Stammfunktion. Dies ist nicht so für n ≥ 2:

Satz 9.4.1 (Die Integrabilitätsbedingungen) Sei f = (f1, . . . , fn)T ein Gradientenfeld in G, undsei n ≥ 2. Falls dann f in G stetig partiell di�erenzierbar ist, gilt für alle x ∈ G:

∂fk∂xj

(x) =∂fj∂xk

(x) , 1 ≤ j, k ≤ n (j 6= k).

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Beweis: Nach Voraussetzung hat f eine Stammfunktion F , und wegen

∂2F

∂xk∂xj(x) =

∂fj∂xk

(x) , 1 ≤ j, k ≤ n,

folgt die Behauptung aus dem Satz von Schwarz über die Vertauschbarkeit der Di�erenziationsreihenfolgebei zweiten partiellen Ableitungen. 2

Beispiel 9.4.2 Sei G = R2 \ {0}, und

f(x) = f(x1, x2) =(− x2x21 + x22

,x1

x21 + x22

)T.

Dann kann man leicht überprüfen, dass die Integrabilitätsbedingungen gelten. Für den Einheitskreis γ mitder Parameterdarstellung x(t) = (cos t, sin t)T , 0 ≤ t ≤ 2π, ist aber∫

γ

f(x)T dx =

∫ 2π

0

(sin2 t+ cos2 t) dt = 2π.

Also ist das Kurvenintegral über f in G nicht wegunabhängig, und deshalb kann f in G keine Stammfunk-tion haben. Dies zeigt, dass die Integrabilitätsbedingungen im Allgemeinen nicht hinreichend sind für dieExistenz einer Stammfunktion.

Satz 9.4.3 Sei G sternförmig bezüglich eines Punktes x0 ∈ G, und erfülle f die Integrabilitätsbedingungenin G. Dann ist f ein Gradientenfeld.

Beweis: Wir de�nieren F (x) als das Kurvenintegral über f entlang der Verbindungsstrecke von x0 nachx, also

F (x) =

∫ 1

0

f(t x+ (1− t)x0)T (x− x0) dt .

Aus Lemma 5.1.8 folgt, dass F nach allen Variablen partiell di�erenzierbar ist, und dass man die partielleAbleitung nach xj durch Di�erenzieren unter dem Integral erhält (vergleiche auch die an das Lemmaanschlieÿende Bemerkung). Auf diese Weise folgt

Fxj (x) =

∫ 1

0

t fxj (t x+ (1− t)x0)T (x− x0) dt +

∫ 1

0

f(t x+ (1− t)x0)T ej dt .

Die Integrabilitätsbedingungen bedeuten genau, dass die Ableitung f ′(x) eine symmetrische Matrix ist.Wenn man dies ausnutzt, sieht man, dass

t fxj (t x+ (1− t)x0)T (x− x0) = td

dtf(t x+ (1− t)x0)T ej

=d

dtt f(t x+ (1− t)x0)T ej − f(t x+ (1− t)x0)T ej .

gilt. Daraus folgt aber Fxj (x) = fj(x), was zu beweisen war. 2

Bemerkung 9.4.4 Der obige Satz gilt allgemeiner auch in sogenannten einfach zusammenhängendenGebieten; darauf wird hier nicht näher eingegangen.

Aufgabe 9.4.5 Überprüfe die Integrabilitätsbedingungen für das Vektorfeld in obigem Beispiel.

67

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9.5 Kurvenintegrale von skalaren Funktionen

De�nition 9.5.1 Sei x : [a, b] −→ Rn Parameterdarstellung einer rekti�zierbaren Kurve γ der Länge`(γ). Für t ∈ [a, b] ist die Restriktion von x auf das Intervall [a, t] wieder Parameterdarstellung einerKurve γt, deren Länge höchstens gleich ` ist. Wir nennen die Funktion s : [a, b] −→ [0, `], t 7→ s(t) = `(γt),die Bogenlänge der Kurve γ. Falls x stückweise stetig di�erenzierbar ist, dann ist

s(t) =

∫ t

a

‖x′(u)‖ du , ∀ t ∈ [a, b],

und dann folgt s′(t) = ‖x′(t)‖ auÿer an endlich vielen Stellen t ∈ [a, b]. Sei f : γ∗ −→ R. Wenn dasRiemann-Stieltjes-Intgral ∫

γ

f(x) ds =

∫ b

a

f(x(t)) ds(t)

existiert, heiÿt es das Kurvenintegral der skalaren Funktion f . Für stückweise stetig di�erenzierbares xist also ∫

γ

f(x) ds =

∫ b

a

f(x(t)) s′(t) dt =

∫ b

a

f(x(t)) ‖x′(t)‖ dt .

Eine Interpretation dieses Kurvenintegrals ist wie folgt: Wenn wir uns die Kurve γ als ein sehr dünnesDrahtstück denken, und wenn f(x) das Gewicht des Drahts pro Längeneinheit an der Stelle x bedeutet,dann ist das Kurvenintegral gerade das Gesamtgewicht des Drahtes.

Aufgabe 9.5.2 Mit den Bezeichungen wie in der De�nition sei x : [c, d] −→ Rn eine zu x äquivalenteParameterdarstellung derselben Kurve γ. Nach De�nition gibt es also eine streng monoton wachsendeund surjektive Funktion φ : [c, d] −→ [a, b] mit x(t) = x(φ(t)) für alle t ∈ [c, d]. Ist s die zur neuenParameterdarstellung x gehörige Bogenlänge, so sieht man aus der De�nition, dass s(t) = s(φ(t)) für allet ∈ [c, d] gilt. Zeige durch Vergleich der entsprechenden Riemann-Stieltjes-Summen, dass∫ d

c

f(x(t)) ds(t) =

∫ b

a

f(x(t)) ds(t)

gilt. Das bedeutet also, dass das hier de�nierte Kurvenintegral von der gewählten Parameterdarstellungunabhängig ist.

Aufgabe 9.5.3 Zeige: Jede glatte Kurve γ mit Länge ` besitzt eine Parameterdarstellung x : [0, `] −→Rn, für die die Ableitung der zugehörigen Bogenlänge konstant gleich 1 ist.

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Kapitel 10

Fourierreihen

10.1 Orthogonalsysteme

De�nition 10.1.1 Ein Vektorraum X über K heiÿt ein Prä-Hilbert-Raum, wenn eine Abbildung 〈 · , · 〉 :X × X −→ K gegeben ist, welche die Axiome eines inneren Produktes oder Skalarproduktes erfüllt; d.h., wenn gilt:

(S1) ∀ x ∈ X : 〈x, x〉 ≥ 0 ; 〈x, x〉 = 0 ⇐⇒ x = 0.

(S2) ∀ x1, x2 ∈ X : 〈x1, x2〉 = 〈x2, x1〉.

(S3) ∀ x, x1, x2 ∈ X : 〈x, x1 + x2〉 = 〈x, x1〉 + 〈x, x2〉.

(S4) ∀ x1, x2 ∈ X, λ ∈ K : 〈x1, λ x2〉 = λ 〈x1, x2〉.

Im Falle von K = R nennt man einen Prä-Hilbert-Raum auch euklidischen Raum, im anderen Fall aucheinen unitären Raum. Auf einem Prä-Hilbert-Raum X de�nieren wir

∀ x ∈ X : ‖x‖ =√〈x, x〉 .

Die Cauchy-Schwarzsche Ungleichung aus der Linearen Algebra besagt, dass dann |〈x1, x2〉| ≤ ‖x1‖ ‖x2‖für alle x1, x2 ∈ X gilt. Damit zeigt man leicht, dass die Abbildung x 7→ ‖x‖ die Eigenschaften einerNorm auf X besitzt. Ein Prä-Hilbert-Raum, welcher im Sinne von Abschnitt 3.1 vollständig ist, heiÿt einHilbert-Raum.

Aufgabe 10.1.2 Sei X ein Prä-Hilbertraum. Zeige mit der Cauchy-Schwarzschen Ungleichung, dassfolgendes richtig ist:

∀x, y, xn, yn ∈ X : limn→∞

‖xn − x‖ = 0 , ‖yn − y‖ = 0 =⇒ limn→∞

〈xn, yn〉 = 〈x, y〉 .

Dies bedeutet, dass die Abbildung (x, y) 7→ 〈x, y〉 von X ×X → K stetig ist. Wiederhole Aufgabe 1.3.3,um zu sehen dass X ×X ein normierter Raum ist.

Beispiel 10.1.3 Auf dem Raum C[a, b] der auf [a, b] stetigen komplexwertigen Funktionen, mit a < b,wird durch die Festsetzung

∀ f, g ∈ C[a, b] : 〈f, g〉 =

∫ b

a

f(t) g(t) dt

ein inneres Produkt de�niert. Dadurch wird C[a, b] ein Prä-Hilbert-Raum, aber kein Hilbert-Raum.

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De�nition 10.1.4 Eine Familie (xj)j∈J aus einem Prä-Hilbert-Raum X heiÿt ein Orthogonalsystem,falls kein xj gleich dem Nullvektor ist, und falls gilt

∀ j, k ∈ J , j 6= k : 〈xj , xk〉 = 0 .

Man zeigt leicht, dass ein Orthogonalsystem immer linear unabhängig ist. Wenn zusätzlich noch alleVektoren xj normiert sind, d. h. wenn ‖xj‖ = 1 ist für alle j ∈ J , dann sprechen wir auch von einemOrthonormalsystem.

Aufgabe 10.1.5 Zeige mit Hilfe des Schmidtschen Orthogonalisierungsverfahrens, dass es in jedem un-endlichdimensionalen Prä-Hilbert-Raum ein abzählbar unendliches Orthonormalsystem gibt.

Satz 10.1.6 (Beste Approximation, orthogonale Projektion) Sei (x1, . . . , xn) ein Orthogonalsys-tem in einem Prä-Hilbert-Raum X, und sei x ∈ X. Dann gilt:

(a) Für α1, . . . , αn ∈ K ist ‖x −∑nk=1 αk xk‖ genau dann minimal, wenn

αk =〈xk, x〉〈xk, xk〉

=〈xk, x〉‖xk‖2

∀ k = 1, . . . , n . (10.1.1)

(b) Es gilt

0 ≤∥∥∥x − n∑

k=1

〈xk, x〉‖xk‖2

xk

∥∥∥2 = ‖x‖2 −n∑k=1

|〈xk, x〉|2

〈xk, xk〉. (10.1.2)

Beweis: Mit den Axiomen des inneren Produktes folgt

0 ≤∥∥∥x − n∑

k=1

αk xk

∥∥∥2= ‖x‖2 −

n∑k=1

αk 〈xk, x〉 −n∑k=1

αk 〈x, xk〉 +

n∑j,k=1

αj αk 〈xj , xk〉

= ‖x‖2 −n∑k=1

|〈xk, x〉|2

〈xk, xk〉+

n∑k=1

∣∣∣∣αk − 〈xk, x〉〈xk, xk〉

∣∣∣∣2 ‖xk‖2 .Daraus folgt (a). Wenn man dann αk wie in (10.1.1) einsetzt, erhält man auch die Ungleichung (10.1.2).

2

Im Folgenden sei jetzt X ein unendlich-dimensionaler Prä-Hilbert-Raum über K, und (xk)∞k=0 sei einbeliebiges, aber fest gewähltes abzählbar unendliches Orthogonalsystem in X.

De�nition 10.1.7 Für beliebige αk ∈ K heiÿt eine Reihe der Form

∞∑k=0

αk xk

eine Orthogonalreihe mit Koe�zienten αk. Wir nennen die Reihe konvergent, wenn es ein x ∈ X gibt,für welches die Partialsummen sn =

∑nk=0 αk xk gegen x konvergieren, also wenn

limn→∞

‖x − sn‖ = 0 .

Die Reihe heiÿt Cauchy-Reihe, wenn die Folge der Partialsummen eine Cauchy-Folge ist.

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Für ein x ∈ X heiÿen die Zahlen

〈xk, x〉〈xk, xk〉

=〈xk, x〉‖xk‖2

(k ≥ 0) (10.1.3)

die allgemeinen Fourier-Koe�zienten des Vektors x bezüglich des gegebenen Orthogonalsystems (xk)∞k=0.Die Reihe

∞∑k=0

〈xk, x〉‖xk‖2

xk (10.1.4)

heiÿt dann auch die allgemeine Fourier-Reihe des Vektors x.

Proposition 10.1.8 Eine Orthogonalreihe∑∞k=0 αk xk ist genau dann eine Cauchy-Reihe, wenn

∞∑k=0

|αk|2 ‖xk‖2 < ∞ .

Beweis: Mit den Regeln für ein inneres Produkt folgt für beliebiges m, p ∈ N0:∥∥∥ m+p∑k=m

αk xk

∥∥∥2 =

m+p∑k=m

|αk|2 ‖xk‖2 ,

woraus die Behauptung folgt. 2

Satz 10.1.9 (Normkonvergenz von Orthogonalreihen)

(a) Falls eine Orthogonalreihe∑∞k=0 αk xk gegen einen Vektor x ∈ X konvergiert, dann sind die

Koe�zienten αk genau die allgemeinen Fourier-Koe�zienten von x; d. h., es gilt

αk =〈xk, x〉‖xk‖2

(k ≥ 0) .

(b) Falls die allgemeine Fourier-Reihe (10.1.4) eines Vektors x ∈ X gegen einen Vektor x ∈ X kon-vergiert, dann folgt

〈x , xk〉 − 〈x , xk〉 = 〈x− x , xk〉 = 0 ∀ k ∈ N0

d. h., die Vektoren x und x haben die gleichen allgemeinen Fourier-Koef�zienten, oder andersausgedrückt: die Di�erenz x− x ist zu allen xk orthogonal.

Beweis: Zu (a): Aus x = limn→∞∑nk=0 αk xk folgt mit Hilfe der Stetigkeit des Skalarproduktes (ver-

gl. Aufgabe 10.1.2) und der Orthogonalität der xk:

〈xj , x〉 = limn→∞

⟨xj ,

n∑k=0

αk xk⟩

= αj ‖xj‖2 .

Zu (b): Wenn man in der obigen Gleichung für αk die Fourier-Koe�zienten von x einsetzt und dann xdurch x ersetzt, so folgt die Behauptung. 2

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De�nition 10.1.10 Wir nennen das Orthogonalsystem (xk) maximal, wenn die lineare Hülle LH(xk)in X dicht liegt; d. h., wenn LH(xk) = X ist. Wir sagen weiter, dass (xk) vollständig ist, wenn aus〈x , xk〉 = 0 für alle k ∈ N0 folgt, dass x = 0 ist. Das bedeutet also, dass die Fourierreihe eines Vektorsx bei einem maximalen Orthogonalsystem, wenn überhaupt, nur gegen x konvergieren kann.

Satz 10.1.11 (Normkonvergenz der Fourierreihe)

(a) Für jedes x ∈ X gilt die Besselsche Ungleichung

∞∑k=0

|〈xk, x〉|2

‖xk‖2≤ ‖x‖2 . (10.1.5)

(b) Genau dann konvergiert die Fourierreihe eines x ∈ X gegen x, wenn die Parsevalsche Gleichung

∞∑k=0

|〈xk, x〉|2

‖xk‖2= ‖x‖2 (10.1.6)

gilt, d. h. also, wenn in der Besselschen Ungleichung das Gleichheitszeichen eintritt.

(c) Wenn (xk) maximal ist, gilt (10.1.6) für alle x ∈ X, und (xk) ist auch vollständig.

(d) Wenn X ein Hilbert-Raum und (xk) ein vollständiges Orthogonalsystem ist, dann ist (xk) auchmaximal.

Beweis: Aus (10.1.2) folgen für n→∞ sofort (a) und (b). Falls (xk) maximal ist, gibt es per De�nitionzu jedem ε > 0 eine Linearkombination x =

∑nk=0 αk xk, mit n = n(ε), für welche ‖x− x‖ < ε ist. Nach

Satz 10.1.6 gilt dies erst recht, wenn wir αk als die allgemeinen Fourier-Koe�zienten von x wählen. Daherfolgt (c). Die allgemeine Fourierreihe von x ist wegen der Besselschen Ungleichung und Proposition 10.1.8ein Cauchy-Reihe, konvergiert also gegen ein x ∈ X, falls X ein Hilbert-Raum ist. Nach Satz 10.1.9 istx− x zu allen xk orthogonal, und daraus folgt x = x wegen der Vollständigkeit. Also gilt (d). 2

Beispiel 10.1.12 Wir setzen X gleich der Menge aller Linearkombinationen über C der Folgen x(k) =

(x(k)n )∞n=0, mit

x(0)n =1

n+ 1, x(k)n = δnk =

{1 (n = k)0 (n 6= k)

∀ k ≥ 1, n ≥ 0 .

Es folgt, dass für jedes x = (xn) ∈ X entweder nur endlich viele Glieder xn 6= 0 sind, oder dass giltxn = 1/n für alle n ≥ n0. Als inneres Produkt zweier Folgen x = (xn), y = (yn) setzen wir

〈x, y〉 =

∞∑n=0

xn yn .

Beachte, dass die Reihe für x, y ∈ X immer absolut konvergent ist, denn entweder sind nur endlichviele ihrer Glieder von 0 verschieden, oder es gilt xn yn = 1/n2 für alle n ≥ n0. Die (x(k))∞k=1 sindein Orthogonalsystem in X, und aus 〈x, x(k)〉 = 0 für k ≥ 1 folgt, dass alle Glieder xn der Folge xverschwinden müssen, ausser evtl. dem Anfangsglied x0. Nach De�nition von X kann dies aber nurgelten, wenn x die Nullfolge ist. Das bedeutet, dass das Orthogonalsystem vollständig ist. Es ist aber nichtmaximal, denn ist x eine beliebige Linearkombination der x(k), k ≥ 1, so beginnt die Folge x mit 0, unddeshalb ist ‖x(0) − x‖ ≥ 1.

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Beispiel 10.1.13 In C[a, b], a < b, mit dem üblichen inneren Produkt kann man mit Hilfe des Schmidt-schen Orthogonalisierungsverfahrens zu der Familie aller Monome (tk)∞k=0 ein äquivalentes Orthogonal-system (pk)∞k=0 konstruieren. Dabei ist jedes pk ein Polynom vom Grade k. Die Menge aller Polynomeist dicht in C[a, b], d. h., in jeder Kugel um jeden beliebigen Vektor liegt immer ein Polynom. Dies fol-gt aus dem sogenannten Weierstraÿschen Approximationssatzes, der in dieser Vorlesung nicht behandeltwurde. Daraus wiederum ergibt sich, dass (pk) ein maximales Orthogonalsystem ist. Orthogonalsystemevon Polynomen sind in verschiedenen Anwendungen wichtig. Wenn z. B. [a, b] = [−1, 1] ist, erhält mandas Orthogonalsystem der Legendre-Polynome

pk(t) =1

2k k!

dk

dtk(t2 − 1)k , k ∈ N0 .

Für den Rest dieses Kapitels ist das Orthogonalsystem der trigonometrischen Funktionen wichtig: Wirsetzen

f0(t) ≡ 1 , f2k−1(t) = sin(k t) , f2k(t) = cos(k t) , ∀ k ∈ N .

Diese Funktionen bilden auf jedem Intervall der Länge 2π ein Orthogonalsystem, welches wir das trigo-nometrische System nennen wollen. Wir setzen weiter für eine auf dem Intervall [−π, π] integrierbareFunktion f

ak =1

π

∫ π

−πf(t) cos(k t) dt ∀k ∈ N0 , (10.1.7)

bk =1

π

∫ π

−πf(t) sin(k t) dt ∀k ∈ N , (10.1.8)

und nennen diese Zahlen auch die Fourierkoe�zienten der Funktion f . Die Reihe

a02

+

∞∑k=1

(ak cos(k t) + bk sin(k t)) (10.1.9)

heiÿt die Fourierreihe der Funktion f . Beachte, dass diese Reihe nichts anderes ist als die Orthogonalreihevon f bezüglich des trigonometrischen Systems. Siehe dazu auch untenstehende Aufgaben.

Aufgabe 10.1.14 Zeige die Orthogonalität des oben eingeführten trigonometrischen Systems (fk)∞k=0

auf dem Intervall [−π, π]. Berechne die Normen der Funktionen fk und vergleiche die Formeln (10.1.7)und (10.1.8) mit (10.1.3).

Aufgabe 10.1.15 Zeige, dass die folgenden Funktionen f die angegebenen Fourierkoe�zienten haben:

1. f(t) ≡ 1 =⇒ a0 = 2, ak = bk = 0 für alle k ∈ N.

2. f(t) = t =⇒ ak = 0 für alle k ∈ N0, bk = 1/(2k) für alle k ∈ N.

3. f(t) = |t| =⇒ a0 = π, ak = 2k2π [(−1)k − 1], bk = 0 für alle k ∈ N.

Was kann man zur Konvergenz der jeweiligen Fourierreihe sagen?

Aufgabe 10.1.16 Zeige: Wenn f eine gerade bzw. ungerade Funktion ist, dann verschwinden alle bkbzw. alle ak. Man sagt dann: Die Fourierreihe ist eine Cosinus- bzw. eine Sinusreihe.

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10.2 Die komplexe Form der Fourierreihe

De�nition 10.2.1 Für k ∈ Z setzen wir

fk(x) = ei k x = (ei x)k = cos(k x) + i sin(k x) .

Dann folgt für j 6= k:∫ π

−πfj(x) fk(x) dx =

∫ π

−πei (k−j) x dx =

ei (k−j)

i (k − j)

∣∣∣∣π−π

= 0 .

Also sind die Funktionen fk ein Orthogonalsystem, und man rechnet aus, dass ‖fk‖2 = 2π, für alle k ∈ Z.Für eine über [−π, π] integrierbare Funktion f setzen wir

ck =〈fk, f〉

2π=

1

∫ π

−πe−i k x f(x) dx ∀ k ∈ Z

und nennen die Reihe∞∑

k=−∞

ck fk(x) =

∞∑k=−∞

ck ei k x

die komplexe Form der Fourierreihe von f .

Bemerkung 10.2.2 Wegen e−i k x = cos(k x)− i sin(k x) folgt, dass c0 = a0/2 und

ck =ak − i bk

2, c−k =

ak + i bk2

∀ k ∈ N .

Daraus folgt sofort, dass

a0 = 2 c0 , ak = ck + c−k , bk = i (ck − c−k) ∀ k ∈ N .

Falls f eine Funktion mit reellen Werten ist, was normalerweise der Fall ist, dann sind ak und bk reelleZahlen, und

ak = 2 Re ck = 2 Re c−k , bk = −2 Im ck = 2 Im c−k ∀ k ∈ N .

10.3 Punktweise Konvergenz von Fourierreihen

Im Folgenden betrachten wir immer Funktionen f : R −→ R, welche 2π-periodisch sind, d. h., für welchef(x+2π) = f(x) gilt für alle x ∈ R. Weiter sei f über das Intervall [−π, π] Riemann-integrierbar. Beachte,dass aus diesen Voraussetzungen für jedes k ∈ N die Integrierbarkeit der Funktionen f(t) cos(k t) undf(t) sin(k t) über jedes abgeschlossene Intervall [a, b] folgt. Insbesondere existieren immer die Fourierkoef-�zienten ak, bk der Funktion f . Ob die Fourierreihe von f punktweise konvergiert, ist dabei im allgemeinennicht gesichert und soll im Folgenden genauer untersucht werden. Wir zeigen jetzt, dass die Glieder derFourierreihe jedenfalls eine Nullfolge bilden. Es gilt sogar allgemeiner:

Proposition 10.3.1 Für beliebiges a < b und f wie oben gilt immer

limk→∞

∫ b

a

f(t) cos(k t) dt = 0 , limk→∞

∫ b

a

f(t) sin(k t) dt = 0 .

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Beweis: Für ein Intervall der Länge 2π folgt die Behauptung aus der Besselschen Ungleichung; beachteallerdings folgende Feinheit: Die Menge aller Funktionen f mit den oben angegebenen Eigenschaften istzwar ein Vektorraum, aber da die Funktionen nicht stetig sein müssen, ist das innere Produkt auf diesemRaum nicht positiv de�nit, d. h., das Axiom (S1) ist verletzt. Setzt man aber f ∼ g wenn ‖f −g‖ = 0 ist,so wird die Menge der Äquivalenzklassen in natürlicher Weise zu einem Prä-Hilbert-Raum. Siehe dazuauch die Aufgaben 1.2.4 und 1.2.5 sowie Aufgabe 2; dies und weitere Einzelheiten werden in Maÿtheorieund/oder der Vorlesung Funktionalanalysis genauer besprochen. Da ein allgemeines Intervall in endlichviele Intervalle einer Länge ≤ 2π zerlegt werden kann, ist jetzt noch der Fall b − a < 2π zu behandeln.In dieser Situation setzen wir

g(t) =

{f(t) (a ≤ t ≤ b)

0 (b < t ≤ a+ 2π)

Diese Funktion kann auf eindeutige Weise zu einer 2π-periodischen Funktion auf R fortgesetzt werden,und die Fourierkoe�zienten von g stimmen mit den Integralen in der Behauptung überein. Aus derBesselschen Ungleichung, angewandt auf g, folgt deshalb die Behauptung. 2

De�nition 10.3.2 Wir setzen

sn(t) =a02

+

n∑k=1

(ak cos(k t) + bk sin(k t)) ,

Dn(t) =1

2+

n∑k=1

cos(k t) =sin(2n+ 1) t2

2 sin t2

,

wobei der rechts stehende Quotient für t = 0 als der entprechende Grenzwert zu interpretieren und dieGleichheit der beiden Darstellungen durch Induktion zu zeigen ist. Die Funktion Dn(t) heiÿt der Dirichlet-Kern; seine Bedeutung ergibt sich aus der folgenden Behauptung.

Aufgabe 10.3.3 Berechne∫ π0Dn(t) dt.

Behauptung 10.3.4 Es gilt die folgende Integraldarstellung für die Partialsummen der Fourierreihe vonf :

sn(t) =1

π

∫ π

0

[f(t+ τ) + f(t− τ)] Dn(τ )dτ ∀ t ∈ R .

Beweis: Unter Benutzung von (10.1.7) und (10.1.8) sowie der Additionstheoreme für die trigonometri-schen Funktionen folgt

sn(t) =1

π

∫ π

−πf(τ)

[1

2+

n∑k=1

cos(k τ) cos(k t) + sin(k τ) sin(k t)

]dτ

=1

π

∫ π

−πf(τ)

[1

2+

n∑k=1

cos(k (τ − t)

]dτ

=1

π

∫ π

−πf(τ + t)Dn(τ) dτ ,

wobei für die letzte Gleichung eine Substitution τ → τ + t sowie die Periodizität von f benutzt wurde.Wenn man das Integrationsintervall noch in zwei Teilintervalle zerlegt und eine weitere Substitution fürdas eine Teilintegral durchführt, so ergibt sich die Behauptung. 2

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Proposition 10.3.5 Genau dann existiert s(t) = limn→∞ sn(t) für ein t ∈ R, wenn∫ π

0

[f(t+ τ) + f(t− τ) − 2 s(t)] Dn(τ )dτ −→ 0 (n→∞) .

Beweis: Folgt aus der obenstehenden Behauptung und der Tatsache, dass∫ π0Dn(t) dt = π/2 ist; ver-

gleiche hierzu auch Aufgabe 10.3.3. 2

Satz 10.3.6 (Riemannscher Lokalisationssatz)Genau dann existiert s(t) = limn→∞ sn(t) für ein t ∈ R, wenn es ein δ > 0 gibt, für welches∫ δ

0

[f(t+ τ) + f(t− τ) − 2 s(t)] Dn(τ )dτ −→ 0 (n→∞) .

Dies bedeutet, dass das Konvergenzverhalten der Fourierreihe an der Stelle t nur von den Werten vonf in der Nähe von t abhängt, obwohl bei der Berechnung der Koe�zienten alle Werte von f auf demIntervall [−π, π] eingehen.

Beweis: Sei t festgehalten, und sei g(τ) = f(t+ τ) + f(t− τ) − 2 s(t) gesetzt. Dann ist∫ π

δ

g(τ)Dn(τ )dτ =

∫ π

δ

g(τ)

2 sin(τ/2)[cos(τ/2) sin(n τ) + sin(τ/2) cos(nτ)] dτ .

Aus Proposition 10.3.1, angewandt auf die Funktion f(τ) = g(τ)/ sin(τ/2) für δ ≤ τ ≤ π, bzw. f(τ) = 0für 0 ≤ τ < δ, folgt

∫ πδg(τ)Dn(τ )dτ → 0 für n → ∞. Daraus folgt mit Hilfe von Proposition 10.3.5 die

Behauptung. 2

Satz 10.3.7 (Dirichletsche Regel) Falls f auf einem abgeschlossenen Intervall [a, b] von beschränkterVariation ist, dann gilt

limn→∞

sn(t) =f(t+) + f(t−)

2∀ t ∈ [a, b] .

Insbesondere konvergiert die Fourierreihe gegen f(t) an jeder in [a, b] gelegenen Stetigkeitsstelle von f .

Satz 10.3.8 Ist f auf [−π, π] stückweise stetig di�erenzierbar, so konvergiert die Fourierreihe gleich-mäÿig gegen f .

Wir geben noch eine Reihe von Beispielen:

Beispiel 10.3.9 Für f(t) = t, −π < t < π, f(±π) = 0 folgt mit der Dirichletschen Regel, dass

f(t) = 2

∞∑k=1

(−1)k+1 sin(k t)

k∀ t ∈ [−π, π] .

Für t = π/2 folgt (wegen sin(k π/2) = (−1)j für k = 2 j + 1 bzw. = 0 für k = 2 j)

π

4=

∞∑j=0

(−1)j

2 j + 1.

76

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Beispiel 10.3.10 Für f(t) = |t|, −π < t < π, folgt

f(t) =π

2− 4

π

∞∑k=1

cos(2 k − 1)t

(2 k − 1)2∀ t ∈ (−π, π] .

Für t = 0 folgt hierausπ2

8=

∞∑k=1

1

(2 k − 1)2.

Beispiel 10.3.11 Es gilt

| sin t| =4

π

(1

2−

∞∑k=1

cos(2 k t)

(2 k − 1)(2 k + 1)

)∀ t ∈ [−π, π] .

Für t = π/2 folgt hierausπ

4=

1

2+

∞∑k=1

(−1)k

(2 k − 1)(2 k + 1).

Beispiel 10.3.12 Es gilt

π2

12− t2

4=

∞∑k=1

(−1)kcos(k t)

k2∀ t ∈ [−π, π] .

Für t = 0 folgt hierausπ2

12=

∞∑k=1

(−1)k

k2.

Beispiel 10.3.13 Es gilt für alle α 6= 0 (reell)

cosh(α t) =sinh(απ)

π

(1

α+

∞∑k=1

(−1)k2α cos(k t)

α2 + k2

)∀ t ∈ [−π, π] .

Für t = π folgt hieraus die sogenannte Partialbruchzerlegung des hyperbolischen Cotangens

π coth(απ) =1

α+

∞∑k=1

α2 + k2.

Aufgabe 10.3.14 Bestätige die in den obigen Beispielen angegebenen Fourierreihen.

10.4 Die Gröÿenordnung der Fourierkoe�zienten

Bisher wissen wir nur, dass die Fourierkoe�zienten immer Nullfolgen sind, aber nicht, mit welcherGeschwindigkeit sie gegen 0 konvergieren. Jetzt wollen wir einige Resultate in dieser Richtung kennenlernen.

Satz 10.4.1 Ist f auf [−π, π] von beschränkter Variation, so sind die Folgen (nan) und (n bn) beidebeschränkt.

77

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Beweis: Aus Analysis 1 wissen wir, dass eine Funktion von beschränkter Variation als Di�erenz vonmonoton wachsenden Funktionen geschrieben werden kann. Wir können deshalb o. B. d. A. annehmen,dass f monoton ist. Nach dem zweiten Mittelwertsatz der integralrechnung gibt es dann zu jedem n ∈ Nein ξ = ξn ∈ (−π, π) mit

π an = f(−π)

∫ ξ

−πcos(nx) dx + f(π)

∫ π

ξ

cos(nx) dx .

Wenn man diese beiden Integrale ausrechnet und berücksichtigt, dass die trigonometrischen Funktionenbeschränkt sind, folgt die Behauptung. 2

Allgemeiner gilt folgender Satz:

Satz 10.4.2 Für ein m ∈ N sei f m-mal di�erenzierbar auf [−π, π], und f (m) sei dort von beschränkterVariation. Weiter gelte

f (k)(−π) = f (k)(π) ∀ k = 0, . . . ,m− 1 .

Dann sind die Folgen (nm+1 an) und (nm+1 bn) beide beschränkt.

Beweis: Folgt durch partielle Integration aus dem vorherigen Satz. 2

Aufgabe 10.4.3 Finde die Gröÿenordnung der Fourierkoe�zienten der Funktion f(x) = x2; d. h., �ndeheraus, für welches m die Folgen (nm+1 an) und (nm+1 bn) beide beschränkt sind.

78

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Kapitel 11

Vektoranalysis und Integralsätze

11.1 Krummlinige Koordinaten

Im Folgenden seien O1, O2 o�ene Mengen in R3, und

q(x) =

q1(x1, x2, x3)q2(x1, x2, x3)q3(x1, x2, x3)

sei eine bijektive Abbildung von O1 auf O2. Für die Umkehrabbildung schreiben wir dann x(q) =(x1(q1, q2, q3), x2(q1, q2, q3), x3(q1, q2, q3))T . Wir setzen weiter voraus, dass alle später vorkommendenpartiellen Ableitungen dieser Funktionen existieren und stetig sein sollen. Wir interpretieren die Wertevon q1(x), q2(x), q3(x) als krummlinige Koordinaten des Punktes x ∈ R3. Manchmal betrachten wir inBeispielen auch o�ene Teilmengen O1, O2 ∈ R2 und eine entsprechende bijektive Abbildung q(x) =(q1(x1, x2), q2(x1, x2))T . Alle nachfolgenden Begri�e und Gleichungen sind dann entsprechend zu modi-�zieren.

De�nition 11.1.1 Wir setzen für j, k, ` = 1, 2, 3

εqk =∂

∂ qkx , εqjqk =

∂2

∂ qj∂ qkx = εqkqj , gk = ‖εqk‖ ,

und, unter der zusätzlichen Annahme von gk 6= 0,

eqk =1

gkεqk , Γ`jk =

1

g2`〈εqjqk , εq`〉 .

Die Zahlen Γ`jk heiÿen auch Christo�el-Symbole.

Hält man z. B. die Werte von q2 und q3 fest, so beschreibt x als Funktion von q1 eine Kurve in R3, undεq1 ist ein Tangentenvektor an die Kurve. Der Vektor eq1 ist dann ein entsprechender Einheitsvektor.Entsprechendes gilt für alle drei Vektoren εqj bzw. eqj .

De�nition 11.1.2 Ein System von krummlinigen Koordinaten heiÿt orthogonal, wenn die drei Vektorene1, e2, e3 immer ein Orthonormalsystem bilden.

79

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Aufgabe 11.1.3 Zeige für orthogonale krummlinige Koordinaten die Gleichung

εqjqk =

3∑`=1

Γ`jk εq` , 1 ≤ j, k ≤ 3 .

Proposition 11.1.4 Für orthogonale krummlinige Koordinaten gilt immer

g2` Γ`jk = − g2k Γkj` , 1 ≤ j, k, ` ≤ 3 .

Beweis: Bei orthogonalen Koordinaten gilt immer 0 = 〈εqk , εq`〉. Durch Ableiten nach qj folgt hieraus

0 = 〈εqkqj , εq`〉 + 〈εqk , εq`qj 〉 .

Daraus folgt die Behauptung. 2

Beispiel 11.1.5 (Polarkoordinaten in R2) Wir schreiben q1 = r, q2 = φ und de�nieren x(r, φ) =(r cosφ, r sinφ)T . Diese Abbildung ist bijektiv von O2 = (0,∞) × (−π, π) nach O1 = R2 \ {x1 ≤ 0}. Esfolgt

εr =

(cosφsinφ

), g1 = 1 , εφ =

(−r sinφr cosφ

), g2 = r ,

er =

(cosφsinφ

), eφ =

(− sinφ

cosφ

),

εrr = 0 , εrφ = εφr =

(− sinφ

cosφ

), εφφ =

(−r cosφ−r sinφ

).

Beispiel 11.1.6 (Kugelkoordinaten in R2)Wir schreiben jetzt q1 = r, q2 = θ, q3 = φ, und x(r, θ, φ) =(r cosφ sin θ, r sinφ sin θ, r cos θ)T . Es folgt

εr =

cosφ sin θsinφ sin θ

cos θ

, εθ =

r cosφ cos θr sinφ cos θ−r sin θ

, εφ =

−r sinφ sin θr cosφ sin θ

0

.Diese Vektoren sind orthogonal, also sind Kugelkoordinaten orthogonale Koordinaten in R3.

Es gibt viele weitere krummlinige Koordinatensysteme, die in manchen Anwendungen wichtig sind; siehehierzu auch Formelsammlungen wie z. B. [3].

De�nition 11.1.7 Gegeben seien krummlinige Koordinaten q = (q1, q2, q3)T . Eine stetige Funktion q(t),a ≤ t ≤ b, heiÿt Parameterdarstellung einer Kurve in den krummlinigen Koordinaten. Die eigentlicheKurve in R3 hat dann natürlich die Parameterdarstellung x(q(t)).

Falls die Parameterdarstellung der Kurve entsprechend oft di�erenzierbar ist, haben die Ableitungen

v(t) =d

dtx(q(t)) , b(t) =

d

dtv(t) =

d2

dt2x(q(t))

die Bedeutung von Geschwindigkeit bzw. Beschleunigung der Bewegung eines Punktes, der sich zur Zeitt im Punkt x(q(t)) aufhält. Es ist üblich, Ableitungen nach der Zeit durch einen Punkt statt mit einemStrich zu kennzeichnen, und deshalb schreiben wir hier x und x für die erste und zweite Ableitung von xnach der Zeit t.

80

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Behauptung 11.1.8 In orthogonalen krummlinigen Koordinaten gelten folgende Darstellungen

v =

3∑j=1

qj εqj , b =

3∑`=1

[q` +

3∑j,k=1

Γ`jk qj qk

]εq` .

für Geschwindigkeit und Beschleunigung.

Beweis: Wende die Kettenregel und Aufgabe 11.1.3 an! 2

De�nition 11.1.9 Gegeben seien krummlinige Koordinaten q = (q1, q2, q3)T . Eine Funktion u(x), de�-niert auf O1, kann in der Form u(x(q)) auch als Funktion der Variablen q aufgefasst werden. Ihr Def-initionsbereich ist dann natürlich gleich O2, d. h. streng genommen haben wir dann eine andere Funk-tion. Für die folgenden Überlegungen ist es aber praktisch, für diese neue Funktion einfach wieder u zuschreiben.

Für eine skalare Funktion u, welche entsprechend oft partiell di�erenzierbar ist, betrachten wir im Fol-genden die Ausdrücke

grad u = (ux1 , ux2 , ux3) , ∆u =

3∑k=1

∂2u

∂x2k.

Der linke Ausdruck ist natürlich der wohlbekannte Gradient von u, während der zweite Ausdruck alsLaplaceoperator, angewandt auf die Funktion u, bezeichnet wird. Für eine vektorwertige Funktion v =(v1, v2, v3)T mit entsprechenden Di�erenzierbarkeitseigenschaften setzen wir noch

div v =

3∑j=1

∂vj∂xj

, rot v =

∂v3∂x2

− ∂v2∂x3

∂v1∂x3

− ∂v3∂x1

∂v2∂x1

− ∂v1∂x2

.

Hier nennt man den ersten Ausdruck auch die Divergenz, den zweiten die Rotation von v. Allgemein fasstman Ausdrücke, die Ableitungen einer Funktion enthalten, auch oft als das Ergebnis der Anwendung einesDi�erentialoperators auf diese Funktion auf.

Für krummlinige Koordinaten besteht oft die Aufgabe darin, die oben eingeführten Ausdrücke so umzu-schreiben, dass statt der Ableitungen nach den ursprünglichen Variablen xj die partiellen Ableitungennach den neuen Veränderlichen qk auftreten. Bei orthogonalen Koordinaten gelten dabei die Gleichungen

grad u =

3∑j=1

1

gj

∂u

∂qjeTqj , ∆u =

1

g1g2g3

3∑k=1

∂qk

(g1g2g3gk

∂u

∂qk

).

Für die Umrechnung von Divergenz und Rotation wird auf die Literatur verwiesen.

Verwendet man die Abbildung x = x(q) zur Substitution eines Bereichsintegrals wie in Abschnitt 8.5, sogilt

|detx′(q)| = g1 g2 g3.

Man sagt deshalb auch, dass das Volumenelement in krummlinigen Koordinaten gegeben ist als

dx1 dx2 dx3 = g1 g2 g3 dq1 dq2 dq2 .

Dies ist aber mehr als Merkregel zu verstehen!

Aufgabe 11.1.10 Berechne Divergenz, Rotation, Laplaceoperator und Volumenelement in Polar- undKugelkoordinaten.

81

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11.2 Der Gauÿsche Integralsatz in der Ebene

Im Folgenden werden Punkte aus R2 immer mit (x, y)T bezeichnet.

De�nition 11.2.1 Ein B ⊂ R2 heiÿt ein Normalbereich bezüglich y, wenn es ein Intervall [a, b] sowiezwei auf [a, b] stetige Funktionen α, β gibt, sodass

α(x) < β(x) ∀ x ∈ (a, b) ,

B = {(x, y)T : α(x) ≤ y ≤ β(x) , a ≤ x ≤ b } .

Sinngemäÿ wird ein Normalbereich bezüglich x de�niert.

Ein solcher Normalbereich B bezüglich y ist immer messbar. Als Randkurve von B bezeichnet man dieKurve γ = γ1 + γ4 + γ3 + γ4 mit den vier Teilkurven

γ1 :

(x1(t)y1(t)

)=

(t

α(t)

), a ≤ t ≤ b ,

γ2 :

(x2(t)y2(t)

)=

(bt

), α(b) ≤ t ≤ β(b) ,

γ3 :

(x3(t)y3(t)

)=

(−t

β(−t)

), −b ≤ t ≤ −a ,

γ4 :

(x4(t)y4(t)

)=

(a−t

), −β(a) ≤ t ≤ −α(a) .

Dabei haben wir die Orientierung der Randkurve γ so gewählt, dass der Bereich B beim Durchlaufenimmer links liegt. Man spricht dann auch von einer positiv orientierten Randkurve.

Sei B Normalbereich bezüglich y mit stückweise glatter Randkurve, und sei f : B −→ R so, dass diepartielle Ableitung fy auf B existiert und f sowie fy auf B stetig sind. Wir setzen

∫γf(x, y) dx gleich dem

Kurvenintegral des Vektorfeldes (f(x, y), 0)T über die Randkurve γ. Es folgt dann durch Betrachtung dervier Teile des Randes γ, dass

−∫γ

f(x, y) dx =

∫ b

a

(f(x, β(x)) − f(x, α(x))

)dx =

∫B

fy(x, y) d(x, y) .

Wenn B auch Normalbereich bezüglich x ist, und wenn fx existiert und auf B stetig ist, so folgt analog∫γ

f(x, y) dy =

∫B

fx(x, y) d(x, y) .

Daher gilt der folgende Satz:

Satz 11.2.2 (Gauÿscher Integralsatz in der Ebene) Sei B ein Normalbereich bezüglich x und y,und sei die Randkurve γ von B positiv orientiert und stückweise glatt. Sei ferner G ein Gebiet welchesB umfasst, und seien f, g : G −→ R so, dass fx und gy existieren, und dass f, g, fx, gy auf G stetig sind.Dann gilt ∫

B

(fx(x, y) − gy(x, y)

)d(x, y) =

∫γ

(f(x, y) dy + g(x, y) dx

).

82

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Beispiel 11.2.3 Setzt man f(x, y) = x/2, g(x, y) = −y/2, so folgt aus dem obigen Satz

|B| =1

2

∫γ

(x dy − y dx

).

Also kann man den Flächeninhalt von B durch ein Kurvenintegral berechnen. Ist B etwa die Kreisscheibeum (0, 0) mit Radius r > 0, also x(t) = r cos t, y(t) = r sin t, 0 ≤ t ≤ 2π, so folgt

|B| =1

2

∫ 2π

0

(x(t) y′(t) − y(t)x′(t)

)dt =

r2

2

∫ 2π

0

(cos2 t + sin2 t

)dt ,

also |B| = r2 π.

11.3 Vektorprodukt und Flächen im Raum

De�nition 11.3.1 Für a = (a1, a2, a3)T , b = (b1, b2, b3)T ∈ R3 sei das Vektorprodukt oder Kreuzpro-dukt oder äuÿere Produkt de�niert als

a× b =

a2 b3 − a3 b2a3 b1 − a1 b3a1 b2 − a2 b1

.

Sind e1, e2, e3 die drei kanonischen Basisvektoren in R3, so gilt die Merkregel

a× b = det

e1 e2 e3a1 a2 a3b1 b2 b3

.

Beachte aber, dass rechts genau genommen keine Determinante steht, da die erste Zeile der MatrixVektoren enthält.

Man beweist leicht folgende Rechenregeln für das Vektorprodukt:

• a× b = −b× a.

• a× a = 0.

• (λ a)× b = a× (λ b) = λ (a× b) ∀ λ ∈ R.

• a× (b+ c) = a× b+ a× c.

• aT (b× c) = det

a1 a2 a3b1 b2 b3c1 c2 c3

.

Aus der letzten Regel folgt, dass a × b zu a und b orthogonal ist. Weiter gilt folgende Produktregel fürdie Di�erenziation eines Vektorproduktes:

Sind a(t), b(t) glatte Parameterdarstellungen von Kurven in R3, so ist

d

dt

(a(t)× b(t)

)=

da(t)

dt× b(t) + a(t)× db(t)

dt.

Hier muss aber unbedingt auf die Reihenfolge der Faktoren geachtet werden.

83

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De�nition 11.3.2 Sei G ⊂ R2 ein zweidimensionales Gebiet, und sei x : G −→ R3 stetig auf G. Füreine kompakte Teilmenge K ⊂ G von G heiÿt die Restriktion von x auf K Parameterdarstellung einerFläche F in R3. Wir wollen meistens x(s, t) für einen Punkt der Fläche schreiben. Ist x in G nach beidenVariablen partiell di�erenzierbar, so heiÿt der Vektor

n(s, t) =∂x(s, t)

∂s× ∂x(s, t)

∂t(s, t)T ∈ K

der Normalenvektor der Fläche im Punkt x(s, t). Falls x auf G stetig partiell di�erenzierbar und derNormalenvektor nie der Nullvektor ist, heiÿt die Fläche glatt. Die Zahl ‖n(s, t)‖ gibt dann ungefähran, um wieviel gröÿer ein kleines Stück der Fläche um den Punkt x(s, t) herum im Vergleich zu einementsprechenden Stück von B um den Punkt (s, t)T herum ist. Ist f eine auf dem Träger der Fläche Fde�nierte Funktion mit Werten in R, so de�nieren wir das Integral von f über die Fläche F durch∫

F

f(x) dσ =

∫K

f(x(s, t)) ‖n(s, t)‖ d(s, t) .

Wenn f(x) ≡ 1 ist, dann ist das Flächenintegral gerade gleich dem Flächeninhalt von F . Allgemeinerkann man f(x) als die Dichte einer auf F verteilten Masse ansehen, und in diesem Fall ist das Integralgleich der Gesamtmasse.

11.4 Der Stokessche Integralsatz

De�nition 11.4.1 Ist F eine Fläche in R3 mit einer Parameterdarstellung x : K −→ R3, und ist derRand von K eine Kurve γK mit Parameterdarstellung (s(τ), t(τ))T , a ≤ τ ≤ b, so heiÿt die Kurve γFmit Parameterdarstellung x(s(τ), t(τ)), a ≤ τ ≤ b, die Randkurve von F . Wir nennen γF genau dannpositiv orientiert, wenn γK positv orientiert ist. Ist n(s, t) der Normalenvektor auf einer glatten FlächeF , so sei ν(s, t) = ‖n(s, t)‖−1n(s, t) der zugehörige normierte Normalenvektor.

Satz 11.4.2 (Stokesscher Integralsatz) Mit den oben eingeführten Bezeichnungen gilt, unter genü-gend starken Voraussetzungen an die Fläche F und das Vektorfeld f , die Gleichung∫

F

νT rot f dσ =

∫γF

fT (x) dx .

Für die genauen Voraussetzungen und einen Beweis des Satzes, siehe etwaW. Walter [11, Abschnitt 8.12].

11.5 Der Gauÿsche Integralsatz

De�nition 11.5.1 Eine Fläche mit Parameterdarstellung x : K −→ R3 heiÿt doppelpunktfrei, falls Kein Normalbereich ist und die Parameterdarstellung x im Inneren von K injektiv ist. Wir sagen, dass einBereich B ⊂ R3 einen glatten Rand hat, wenn wir den Rand ∂B als eine glatte doppelpunktfreie Flächeschreiben können. Wir nennen den Rand positiv orientiert, falls der normierte Normalenvektor ν immerins Äuÿere von B zeigt.

Satz 11.5.2 (Gauÿscher Integralsatz in R3)Mit den oben eingeführten Bezeichnungen gilt, unter genügend starken Voraussetzungen an den BereichB und das Vektorfeld f , die Gleichung∫

B

div f(x) dx =

∫∂B

fT (x) ν dσ ,

wobei der Rand ∂B positiv orientiert sei.

84

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Ein Beweis kann ebenfalls in W. Walter [11, Abschnitt 8.6] nachgelesen werden.

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Index

abgeschlossene Hülle, 14abgeschlossene Menge, 13Ableitung, 34

der Umkehrfunktion, 44partielle, 30höherer Ordnung, 32

Richtungs-, 30a�ne Abbildung, 36Anfangspunkt

einer Kurve, 61Äquivalenzklasse, 8Äquivalenzrelation, 8äquivalente Parameterdarst., 61

B′, 13Banachscher Fixpunktsatz, 40Bananch-Raum, 20Bereichsapproximation, 50Bereichsintegral, 55beschränkte

Folge, 19Menge, 15

Besselsche Di�erenzialgleichung, 32Besselsche Funktion, 32Besselsche Ungleichung, 72beste Approxomation, 70Betrag

eines Multi-Index, 28

c0, 20Cauchy-Folge, 19Cauchy-Kriterium

für gleichmäÿige Konverg., 26Christo�el-Symbole, 79

Di�erentialoperator, 81Di�erenzialgleichung

Besselsche, 32di�erenzierbar, 34, 35

partiell, 30stetig partiell, 31

Dirichlet-Kern, 75Divergenz, 19, 81doppelpunktfrei, 61Dreiecksungleichung, 9

für Integrale, 57

nach unten, 9Durchmesser, 15

Einpunktkurven, 61Endpunkt

einer Kurve, 61Entwicklungspunkt, 28euklidische Norm, 9euklidischer Vektorraum, 69

Feinheit einer Zerlegung, 54Fixpunkt, 40Fläche

glatte, 84Parameterdarstellung, 84positiv orientierte, 84Rand einer, 84

Flächeninhalt, 49Berechnungals Kurvenintegral, 83

Folgebeschränkte, 19Cauchy-, 19divergente, 19konvergente, 19

Folgenkompaktheit, 20Fourierkoe�zienten, 73

allgemeine, 71Fourierreihe, 73

allgemeine, 71komplexe Form, 74

fremde Intervalle, 48Fundamentalabschätzung, 55Funktion

Besselsche, 32mehrerer Variabler, 27

Funktionalmatrix/determinante, 35Funktionenfolge, 26Funktionenreihe, 26

Gebiet, 17geometrische Reihe

in n Variablen, 28geschlossene Kurve, 61glatte Kurve, 62gleichmäÿige

86

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Konvergenz, 26Stetigkeit, 25

gliedweise Integration, 58Grad, 28Gradient, 30

geometrische Interpret., 35Gradientenfeld, 65Grenzwert

einer Folge, 19

Häufungspunkt, 13Hauptsatz über implizite Fkt., 43Hilbert-Raum, 69

Prä-, 69Höldersche Ungleichung, 6

für Integrale, 7Hyperebene, 48

implizite Funktionen, 43Inhalt, 48

äuÿerer/innerer, 49Monotonie, 49von kartesischen Produkten, 51

innerer Punkt, 11Integral, 55

Unter-/Ober-, 55Integralsatz

Gauÿscher, 85in der Ebene, 82

Stokesscher, 84Intervall in Rn, 48Intervallschachtelungsprinzip, 20Intervallsumme, 48isolierter Punkt, 13

Jacobi-Matrix, 35Jordan-messbar, 49Jordan-Nullmenge, 49

K(x0, r), 11Kantenlänge, 48Kettenregel, 36Koe�zienten

einer Potenzreihe, 28eines Polynoms, 28

kompakt, 15komplexe Form

der Fourierreihe, 74konservativ, 65Kontraktion, 40

-sparameter, 40Konvergenz, 19

gleichmäÿige, 26punktweise, 26

konvex, 16

konvexe Hülle, 16Konvexkombination, 16Koordinatenfunktionen, 27kritischer Punkt, 45krummlinige Koordinaten, 79

orthogonale, 79Kugel, 11

abgeschlossene, 15Kurven, 61

Anfangs- und Endpunkt, 61doppelpunktfreie, 61geschlossene, 61glatte, 62Parameterdarstellung, 61rekti�zierbare, 61stückweise glatte, 63stetig di�erenzierbare, 62Summe von, 63

Kurvenintegraleiner Vektorfunktion, 64Wegunabhängigkeit, 65

Längeeines Multi-Index, 28

Lagrangesche Multiplikatorregel, 46Länge einer Kurve, 61Lebesguesche Nullmenge, 49Legendre-Polynome, 73Lipschitzbedingung, 23

für stetig di�'bare Fkt., 37lokal, 31

Lipschitzkonstante, 23lokal umkehrbar, 44lokales Min./Max./Extremum, 45

unter Nebenbedingungen, 46

Majorantenkriteriumfür gleichmäÿige Konverg., 26

Maximum, 25Menge

abgeschlossene, 13beschränkte, 15kompakte, 15konvexe, 16o�ene, 11sternförmige, 16zusammenhängende, 17

Minimum, 25Minkowskische Ungleichung, 7Minkowskische Ungleichung

für Integrale, 7Mittelwert

einer Funktion, 57Mittelwertsatz, 37

der Integralrechnung, 58

87

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erweiterter, 58Monotonie des Inhalts, 49Multi-Index, 28Multiplikatorregel, 46

Newton-Verfahren, 41Schrittfunktion, 41vereinfachtes, 42

Norm, 9p-, 9euklidische, 9

Normalbereich, 82Normalenvektor, 84

normierter, 84normierter Raum, 9Nullfunktion, 28Nullmenge, 49

Lebesguesche, 49Nullpolynom, 28Nullstelle, 41

Oberintegral, 55Obersumme, 54o�ene Überdeckung, 15o�ene Menge, 11o�ener Kern, 14Orthogonale Projektion, 70Orthogonalreihe, 70

Normkonvergenz, 71Orthogonalsystem, 70

der trigonometrischen F., 73maximales, 72vollständiges, 72von Polynomen, 73

Orthonormalsystem, 70

Parameterdarstellungeiner Kurve, 61

Parsevalsche Gleichung, 72partiell di�erenzierbar, 30, 35partielle Ableitung, 30

höherer Ordnung, 32p-Norm, 9Polygon, 17polygonzusammenhängend, 17Polynom, 28potenzielle Energie, 65Prä-Hilbert-Raum, 69Punkte

Häufungs-, 13innere, 11isolierte, 13

quadratische Form, 28

Raleigh-Quotient, 46

Rand, 14Raum

Banach-, 20euklidischer, 69Hilbert-, 69normierter, 9Prä-Hilbert, 69unitärer, 69

Rechenregelnfür abgeschlossene Mengen, 13für Grenzwerte, 19für o�ene Mengen, 12

Re�exivität, 8rekti�zierbar, 61Repräsentant, 8Richtungsableitung, 30Riemann

Integrabilitätskriterium, 56Rotation, 81

Satzüber implizite Funktionen, 43Fixpunkts. von Banach, 40von Bolzano u. Weierstraÿ, 22von Dini, 27von Fubini, 59für Inhalte, 52

von Heine-Borel, 22von Schwarz, 33von Taylor, 38

Schnitt, 59Schrittfunktion, 41Skalarprodukt, 69Stammfunktion, 65stationärer Punkt, 45sternförmig, 16stetig partiell di�erenzierbar, 31Stetigkeit

auf einer Menge, 23der Umkehrabbildung, 25gleichmäÿige, 25in einem Punkt, 23

Streckenzug, 17stückweise glatt, 63Subadditivität, 49Summe von Kurven, 63Supremumsnorm, 10Symmetrie, 8

Tangentialhyperebene, 34Taylorscher Satz, 38Teilüberdeckung, 15Topologie, 12Totale Beschränktheit, 20totale Di�erenzierbarkeit, 34

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Page 89: Vorlesungsmanuskript zu Analysis II · Vorlesungsmanuskript zu Analysis II Werner Balser Institut für Angewandte Analysis Sommersemester 2009

totales Di�ernzial, 34Transitivität, 8trigonometrisches System, 73

Ur(x0), 11Überdeckung, 15Umgebung, 11Umkehrfunktion, 44Ungleichung

Besselsche, 72Höldersche, 6für Integrale, 7

Minkowskische, 7für Integrale, 7

unitärer Vektorraum, 69Unterintegral, 55Untersumme, 54unzusammenhängend, 17

Vektorfeld, 65Vektorprodukt, 83Verbindungsstrecke, 14Vollständigkeit, 20

einer Teilmenge, 20Volumen, 48, 49

Würfel, 48Weg, 63Wegunabhängigkeit, 65

Zerlegung, 54einer Menge, 8von Kurven, 63

zulässiger Bereich, 59zusammenhängend, 17Zusammenhangskomponente, 18Zwischenwertsatz, 24, 25

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