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Gisela Zifonun
Vorlesung: Sprachtypologie und Sprachvergleich
Universität Mannheim Sommersemester 2003 Literatur Es gibt zwei gute englischsprachige Übersichtsarbeiten, die ich empfehlen möchte und auf die
ich mich in vieler Hinsicht, aber nicht ausschließlich, stütze:
Croft, William (1990): Typology and Universals. Cambridge: Cambridge University Press.
(Cambridge Textbooks in Linguistics)
Whaley, Lindsay J. (1997): Introduction to Typology. The Unity and Diversity of Language.
Thousand Oaks/London/New Delhi: Sage.
1. Einführender Teil
Warum eigentlich sprechen wir nicht eine Sprache? Wie Sie wissen, bietet die Bibel uns einen
Mythos an, der die Vielzahl menschlicher Sprachen erklärt: die babylonische Sprachverwir-
rung. Nach 1. Moses 11 war dies die Strafe Gottes für die Hybris des Menschen, die sich in
der Absicht einen himmelhohen Turm zu bauen äußerte. Dort heißt es:
Zum Zitat auf Folie 1
Nicht nur die "Erfinder" dieses Mythos, auch wir mögen uns, mit unserem anders gelagerten
Wissen, mit unserer anders gelagerten Mentalität fragen, warum Menschenstämme, -ethnien, -
gruppen trotz identischer genetischer Ausstattung, trotz gemeinsamen Ursprungs in den Step-
pen Afrikas (wie man heute vermutet), trotz gleicher kognitiver Fähigkeiten zu so unter-
schiedlichen Kommunikationsinstrumenten gelangen. Sicher werden wir keine mythische
Erklärung suchen, sondern eher eine "evolutionäre".
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Dennoch noch einmal zurück zum Mythos: Das Verfügen über eine gemeinsame Sprache er-
scheint dort als gewaltiges Gut, als (bedrohlicher) Vorteil, Sprachverwirrung (schon an der
Bezeichnung ablesbar) als Makel, als Strafe, als Nachteil. Das Thema ‚Sprachverwirrung’, so
führt U. Eco in seinem einschlägigen Buch „Die Suche nach der vollkommenen Sprache“
(1994) aus, „und der Versuch, ihr durch Wiederentdeckung oder Erfindung einer allen Men-
schen gemeinsamen Sprache abzuhelfen, durchzieht die Geschichte aller Kulturen“, nicht nur
die jüdisch-christliche Tradition.
Sehen wir das auch so? Ist Sprachenvielfalt ein Makel, ein Verderben?
(nach: Trabant, Future 2/2000) Und auch in den Zeiten nach dem Mythos wurde immer wie-
der gefragt, ob es denn gut sei oder schlecht, dass die Menschheit verschiedene Sprachen
spricht. Der heilige Stephan, König von Ungarn, schreibt zu Beginn des 11. Jhs., es sei ein
armes und bedauernswertes Land, in dem nur eine Sprache gesprochen werde und in dem nur
eine Sitte herrsche. Dagegen war es Teil des Gedankenguts der französischen Revolution,
dass nur eine gemeinsame Sprache den gleichberechtigten Austausch zumindest in einem
Land, einer Nation hinreichend fördere. Nach Kräften drängten sie und in ihrem Gefolge
auch andere europäische Machthaber die Mehrsprachigkeit in Frankreich zurück. Vielspra-
chigkeit Segen und Fluch, lassen wir es dabei. Unser Thema soll im Folgenden ja weder die
Entstehung der menschlichen Vielsprachigkeit sein, noch die Versuche, diese zu korrigieren
oder zu überwinden. Vielmehr setzen wird als gegeben voraus, dass es eine Vielzahl unter-
schiedlicher Sprachen gibt, und fragen nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden dieser
Sprachen sowie nach den Prinzipien für Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Dies ein erster
Versuch zur Gegenstandsbestimmung, die wir weiter präzisieren werden.
1.1. Beispiele: Verschiedenheit auf verschiedenen Sprachebenen
Um die Verschiedenheit der menschlichen Sprachen anschaulich zu machen, zeige ich Ihnen
einige Beispiele für Sätze aus Sprachen aus ganz verschiedenen Weltecken, die alle dasselbe
bedeuten. Sehr beliebtes Beispiel in diesem Zusammenhang ist das Vaterunser, das in sehr
viele Sprachen übersetzt wurde (Bibelübersetzungen gibt es für 2103 Sprachen). Ich werde
ein anderes Beispiel wählen, nämlich den Satz ‚mir tut der Kopf weh’/’mein Kopf tut weh’
(Lehmann: dir. und indir. Partizipation, S. 64).
Unsere Beispiele [siehe Folie 2] stammen aus folgenden Sprachen:
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Folie 3
Yukatekisch: ist die Mayasprache der Halbinsel Yukatan im Südosten von Mexiko (Maya,
nördliche Amerindsprache)
Bété: wird an der Elfenbeinküste gesprochen (Ost-Kru-Sprache, Niger-Kongo)
[Tamil: wird in Südindien und Sri Lanka gesprochen (drawidische Sprache)]
Türkisch: wird hauptsächlich in der Türkei gesprochen (altaische Sprache)
Samoanisch: wird auf Samoa und in Neuseeland gesprochen (ost-austronesische Sprache)
Vietnamesisch: wird vor allem in Vietnam gesprochen (austroasiatische Sprache)
Schon aus diesen wenigen Beispielen erkennen wir, dass Sprachverschiedenheit sich auf ganz
unterschiedliche Ebenen des Sprachsystems beziehen kann:
Beginnen wir mit dem, was wir nicht sehen können: Unterschiede im Lautsystem. Das Pho-
neminventar von Sprachen ist durchaus unterschiedlich. Schon quantitativ: Im Schnitt liegt
die Anzahl der Phoneme bei 30, die afrikanischen Khoisansprachen haben mit 141 Phonemen
das umfangreichste Inventar überhaupt. In eben diesen Khoisansprachen, die z.B. von den
Buschmännern der Kalahari gesprochen werden, gibt es auch Laute, die in anderen Sprachen
der Welt nicht (oder nicht mehr) vorkommen: sogenannte Schnalzlaute.
(Hörbeispiele im Internet: http://www.zeit.de/2003/14/urlaute)
Etwas Derartiges ist bei unseren Beispielsprachen nicht dabei. Aber doch etwas anderes Exo-
tisches, nämlich Töne oder auch Toneme. Drei der hier genannten Sprachen sind sog. Ton-
sprachen, nämlich Yukatekisch, Bété und Vietnamesisch. In Tonsprachen ist die relative Hö-
he (Yukatekisch) oder die Tonbewegung, also Veränderungen in der Tonhöhe, eines Sonoran-
ten (Vokals) phonologisch distinktiv. Es macht also einen Unterschied, ob ich z.B. ein [a]
ohne Tonhöhenveränderung ausspreche (flach) oder mit steigender Tonkurve, fallender Ton-
kurve usw. Bekannteste Tonsprache ist das Chinesische (in unserer Gruppe nicht vorhanden).
Folie 4a
Dort: /mā/ ‚Mutter’, /má/ ‚Hanf’, /mă/ ‚Pferd’, /mà/ ‚schimpfen’
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Wie man sieht, werden die Töne/Toneme in der Schrift durch eine Art ‚Akzente’ wiedergege-
ben. Wir sehen in B78 drei solche Akzente; das Bété besitzt insgesamt vier distinktive Töne;
einer fehlt hier also. In B81 sehen wir ebenfalls Akzente, das Vietnamesische hat sogar sechs
distinktive Töne.
Gehen wir noch kurz auf Unterschiede im segmentalen Bereich ein. Hier nehmen wir das
Türkische als Beispiel: Das Türkische hat 8 Vokalphoneme, während beim Dt. ca. 14 Vokal-
phoneme (strittiger Punkt) angenommen werden. Greifen wir nur einen hervorstechenden
Punkt heraus: Das Türkische hat in der Reihe der hohen/geschlossenen Vokale [+hoch] fol-
gende Phoneme:
Folie 4b
[-hinten], [-rund]: [i] [-hinten], [+rund]: [y] [+hinten], [-rund]: [¨] fehlt im Deutschen [+hinten], [+rund]: [u]
Kommen wir zum Sichtbaren, das heißt zum Schriftsystem. Was wir hier vorfinden in unse-
ren Beispielen, sind alles Alphabetschriften, auf der Basis des lateinischen Alphabets.
Daneben gibt es ja noch andere Alphabetschriften und ganz andere Schriftsysteme, denken
Sie etwa an das Chinesische. Wie Sie sehen, gibt es aber auch in diesem Rahmen Unterschie-
de. Dies liegt, da Alphabetschriften und Lautsysteme immer (mehr oder weniger eng) zu-
sammenhängen, zum Teil an den unterschiedlichen Lautsystemen. Nehmen wir das Beispiel
des Türkischen. eine Umschrift von B79 in die Lautschrift des IPA ergibt:
Folie 4c
B79 Baş-ım ağr-ıyor.
IPA [baS¨m] [ar¨jor]
Hier sehen wir:
• Für den Laut [¨], den wir im Deutschen nicht kennen, steht ein Buchstabe, den wir nicht
kennen <ı>.
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• Für zwei Laute, die wir im Deutschen sehr wohl kennen, weicht die türkische Schreibung
von der deutschen ab: Zum einen geht es um [S], dafür steht ein Graphem, das wir nicht ken-
nen, nämlich <ş>. Wir schreiben dafür die Buchstabenkombination <sch>. Zum anderen steht
im Türkischen für den Laut [j] der Buchstabe <y>, wir schreiben <j>.
• Eine Besonderheit ist das Graphem <ğ>, das „weiche g“. Lautlich entspricht ihm ein kon-
sonantisches Segment, das in der Standardsprache in der Regel heute nicht (mehr) gesprochen
wird, aber gewisse phonologische Effekte hat.
Kommen wir zur Ebene der Morphologie:
Greifen wir Türkisch und Vietnamesisch heraus:
Im Türkischen wird für mein (im Deutschen ein selbstständiges Wort), an das Substantiv für
Kopf, ein Suffix angehängt, das Possessoraffix der 1. Ps. An das Verb für schmerz(en) wird
ein Progressivaffix angehängt (vgl. Englisch), das ausdrückt, dass dieser Zustand gerade an-
dauert. Ein Suffix für die Person fehlt. Das besagt, dass es sich um eine 3. Ps. Sg. handelt;
damit wird Person- und Numerus-Kongruenz mit dem Subjekt ausgedrückt, wie im Deut-
schen, aber auf andere Art.
Im Vietnamesischen haben wir keine Affixe. Selbstständige Wörter, freie Morpheme werden
hier aneinander gereiht.
Die Ebene der Syntax wollen wir mal aussparen. Stattdessen wollen wir einen kurzen Blick
auf die semantische Strategie werfen.
Beginnen wir mit dem Deutschen. Da haben wir drei Möglichkeiten:
Folie 5
a) Ich habe Kopfschmerzen.
b) Mein Kopf tut weh.
c) Mir tut der Kopf weh.
Die Sätze a), b) und c) sind nicht ganz synonym. Dieses Faktum klammern wir mal einen
Moment aus.
Fall a) zeigt die Strategie, bei der der Mensch in einer HABEN-Relation zu dem Schmerz an
einem Körperteil steht.
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Fall b) zeigt die Strategie, bei der der einem Menschen zugehörige Körperteil als Verursacher
von Schmerzempfindungen charakterisiert wird. Fall c) zeigt die von Fall b) minimal ver-
schiedene Strategie, bei der der Körperteil so charakterisiert wird, dass er dem Menschen
Schmerzempfindungen verursacht. In allen Beispielen aus den anderen Sprachen wird Strate-
gie b) verfolgt. Das heißt aber nicht, dass grundsätzlich anderes in diesen Sprachen nicht
möglich wäre. Wir können aber festhalten, dass Strategie b), diejenige mit so genanntem „ex-
ternem Possessor“, besonders in Europa verbreitet ist, und hier auch nicht überall gleich, z.B.
kaum an den Rändern Europas, z.B. im Englischen.
Wir haben nun gesehen, dass Sprachen auf ganz unterschiedlichen Ebenen des Sprachsystems
verschieden sein können.
1.2. Morphologische Typologie als Beispielfall
Zur Folie 6
Wir wollen jetzt, auch zunächst beispielhaft, erläutern, was es heißen kann, Sprachtypologie
zu betreiben. Typologie, eine exaktere Definition folgt später, fragt danach, wie man Spra-
chen oder sprachliche Erscheinungen typisieren, klassifizieren kann. Man kann z.B. Sprachen
nach ihrer Morphologie typisieren. Diese Art der typologischen Arbeit spielte vor allem im
18./19. Jahrhundert die bedeutendste Rolle, und ist auch heute noch wesentlich. Sprachen
werden hier nach den Möglichkeiten klassifiziert, wie einzelne lexikalische Konzepte mitein-
ander in Sätzen verbunden werden, um eine Satzbedeutung zu erzeugen. Es geht also m die
Varianz in Ausdruck relationaler Bedeutung. Friedrich von Schlegel legte 1808 ("Über die
Sprache und Weisheit der Indier“) zunächst eine Aufteilung in die zwei Typen der „Sprachen
durch Flexion“ (flektierende, später fusionierende Sprachen) und der „Sprachen durch Affi-
xa“ (agglutinierende Sprachen) vor, die von A.W. Schlegel (1818) um einen dritten Typ der
„isolierenden Sprachen“ und dann durch W. von Humboldt 1836 um den vierten der "einver-
leibenden", inkorporierenden (polysynthetischen) Sprachen, letztlich auch um einen 5. Typ
der introflexiven Sprachen ergänzt wurde. Diese vollständige Fünfer-Gliederung liegt dann
bei dem tschechischen Typologen Skalička (1979; siehe Wurzel) vor.
Zu Beispielen auf Folie 7
Als fusionierend werden z.B. indoeuropäische Sprachen wie Sanskrit, Latein, Griechisch
eingestuft, auch mit gewissen Abstrichen das Deutsche. In einer fusionierenden Sprache sind
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(nach Whaley 1997, S. 134) die Grenzen zwischen den (grammatischen) Morphemen schwer
zu bestimmen. Man kann auch sagen, in fusionierenden Sprachen ist das Verhältnis zwischen
Ausdrucksseite und Inhaltsseite von grammatischen Morphemen/Morphen:
mehr-mehrdeutig: D.h. eine nicht mehr zerlegbare Ausdruckseinheit kann mehrere gramma-
tische Informationen tragen und umgekehrt: eine grammatische Information kann in unter-
schiedlichen Ausdrucksformen erscheinen.
Nehmen wir ein lateinisches Beispiel: Die Wortform horti können wir segmentieren in den
Stamm hort- und das grammatische Morph –i.
hort-i: Garten-Nom.Pl.
hort-i: Garten-Gen.Sg.
Fusioniert zum Ausdruck kommen hier die grammatischen Informationen zu Kasus und Nu-
merus. Ein Ausdruck trägt zwei Informationen, und dies nicht einmal eindeutig. Fragen wir
umgekehrt nach den Realisierungsmöglichkeiten für jede dieser Einzelinformationen, so zeigt
sich, dass auch hier mehrere Möglichkeiten bestehen: Nominativ-Plural-Formen sind z.B.
auch feminae ‚Frauen’ (zu femina), templa ‚Tempel’ (zu templum) usw.
Als agglutinierend gelten z.B. das Ungarische oder das Türkische, aber auch sehr viele Spra-
chen etwa der nativen Bevölkerung Amerikas. In agglutinierenden Sprachen sind die Mor-
phemgrenzen innerhalb von Wörtern leicht erkennbar, einzelne grammatische Morphe sind
leicht isolierbar. Die Beziehung zwischen Ausdrucks- und Inhaltsseite grammatischer Morphe
ist der Tendenz nach:
ein-eindeutig. D.h. eine nicht mehrzerlegbare Ausdruckseinheit trägt eine bestimmte gram-
matische Information und umgekehrt: Eine bestimmte grammatische Information wird regel-
mäßig durch eine bestimmte Ausdruckseinheit kodiert. Ich übernehme ein Beispiel aus Wha-
ley 1997, 133. Es handelt sich um eine uto-aztekische Sprache aus Mexiko, das „Michoacan
Nahautl“.
no-kali ‚mein Haus’ no-pelo ‚mein Hund’
no-kali-mes ‚meine Häuser’ mo-pelo ‚dein Hund’
mo-kali ‚dein Haus’ mo-pelo-mes ‚deine Hunde’
i-kali ‚sein Haus’ i-pelo ‚sein Hund’
Ähnliches können und werden wir auch für das Ungarische oder das Türkische zeigen.
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Eine isolierende Sprache ist z.B. Mandarin, die wichtigste Sprache Chinas sowie viele ande-
re südostasiatische Sprachen (auch das Vietnamesische). In einer idealen isolierenden Sprache
bestehen alle Wörter aus nur einem Morphem, es gilt also idealiter eine:
ein-eindeutige Beziehung zwischen Morphem und Wort. Ein Beispiel aus dem Mandarin
(Whaley 1997, S. 127):
tā zài túshūguăn kàn bào
he at library read newspaper
He’s at the library reading a newspaper.
In einverleibenden, inkorporierenden bzw. polysynthetischen Sprachen wird extremer
Gebrauch von Affixen gemacht. Nicht nur grammatische Informationen wie Kasus, Tempus,
Aspekt usw. werden an einem Stamm zum Ausdruck gebracht, sondern es werden häufig
auch mehrere Stämme zusammen mit grammatischen Morphemen zu einem Wort zusammen-
gebunden, nicht im Sinne von Wortbildung, sondern im Sinne der Konstruktion z.B. einer
Verbalphrase. Ein Beispiel aus der Sprache „Southern Tiwa“ einer in den USA vertretene
indigene Sprache Nordamerikas):
Ti-khwian-mu-ban
1Sg-Hund-seh-Prät
‚Ich sah den Hund.’
In introflexiven Sprachen, wie etwa den semitischen Sprachen (Arabisch, Hebräisch) ge-
schieht Flexion nicht durch Affixe, sondern durch Veränderungen im Wortstamm bzw. der
Wurzel selbst.
Beispiel aus dem ägyptischen Arabischen:
‚schreiben’ Perfektiv: kátab Imperfektiv: yí-ktib (Matthews 1991, S. 138)
‚verstehen’ Perfektiv: fíhim Imperfektiv: yí-fham
Hier wird deutlich, dass die "Wurzel" jeweils aus einer Art "Konsonantenskelett" C-C-C be-
steht: k-t-b bzw- f-h-m. Vokale und Silbenstruktur hingegen wechseln je nach auszudrücken-
der grammatischer Information. Auf der Basis des Skeletts k-t-b kann man z.B. auch Nume-
rus-Morphologie oder lexikalische Morphologie (Wortbildung) betreiben: kitáab ‚Buch’,
kútub ‚Bücher’ usw.
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Ein vergleichbares Phänomen gibt es übrigens auch in der Flexionsmorphologie indoeuropäi-
scher Sprachen. Auch z.B. im Deutschen oder im Englischen, unterscheiden sich bei be-
stimmten Verben, den starken Verben, Präsens-Stamm, Präteritum-Stamm und ggf. Partizipi-
al-Stamm durch die Stammvokale: sing – sang –sung.
Wir stellen bereits an diesem Beispiel fest, dass Sprachen in aller Regel keine reinen Typen
im Sinne der 5 genannten verkörpern, sondern Mischungen. Ihre Einstufung z.B. als fusionie-
rend beim Deutschen richtet sich nach den Typcharakteristika, die überwiegen. Merkmale
anderer Sprachtypen sind damit nicht ausgeschlossen.
Ich habe Ihnen mit diesen 5 Typen eine Klassifikation vorgestellt, die in ihren Wurzeln zu-
rückgeht auf die großen Gründerfiguren der Sprachtypologie und die auch heute noch weit
verbreitet ist. Wenn man sie aber genauer betrachtet, ist sie nicht wirklich konsistent.
In ihr sind zwei morphologische Parameter vermischt. Ich nenne sie im Anschluss an Ber-
nard Comrie und Lindsay Whaley (S. 128ff) den Synthese-Index und den Fusions-Index
(zur Folie 8). Letztlich geht diese Unterscheidung zurück auf den amerikanischen Linguisten
Edward Sapir ("Language" zuerst veröff. 1921, Ausgabe von 1949, S. 136). Die Differenzie-
rungen bei Sapir sind jedoch äußerst komplex und ich greife auf die Vereinfachung in Whaley
zurück.
Bei dem Parameter der ‘Synthese’ geht es um den Grad an zulässiger morphologischer Kom-
plexität von Wörtern. Dieses Kriterium führte zu der Dichotomie ‘synthetische’ versus ‘analy-
tische’ Sprachen (Sapir unterscheidet hier noch; dies wollen wir mit Whaley vernachlässi-
gen.), ist aber in Wahrheit ein gradientes Phänomen, ein Mehr oder Weniger. In der idealen
isolierenden Sprache sind alle Wörter monomorphemisch. Dieser Parameter spielt in der 5-er-
Klassifikation eine Rolle beim isolierenden und polysynthetischen Typ. Würde man aber nur
diesen Parameter zugrundelegen, so stünden die isolierenden Sprachen (wie Chinesisch, Viet-
namesisch, Thai) allen übrigen gegenüber (die insgesamt synthetisch sind, sich aber im Grad
der Synthese und in anderen Merkmalen noch unterscheiden.
Bei dem Parameter 'Fusion' geht es um die Separierbarkeit der Morpheme im Wort. Er führt
zu der Dichotomie 'agglutinierende' versus 'fusionierende' Sprachen, ist aber ebenso graduell
wie der andere Parameter. Dieser Parameter spielt in der 5-er-Klassifikation eine Rolle bei
den beiden so benannten Typen. Würde man aber nur diesen Parameter zugrundelegen, so
fallen zunächst die isolierenden heraus; sie sind weder fusionierend noch agglutinierend. Die
introflexiven Sprachen wären eher dem fusionierenden Typ zuzuschlagen. Polysynthetische
Sprachen sind (schon aus logischen Gründen) in der Regel agglutinierend.
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2. Eine kurze Geschichte der Sprachtypologie
Wie oben bereits angedeutet, kann man die Anfänge ernsthafter sprachtypologischer Theorie-
bildung mit dem Beginn des 19. Jhs. ansetzen, etwa mit Friedrich Schlegels 1808 veröffent-
lichter Schrift „Über die Sprache und Weisheit der Indier“, die allgemein als erster Schritt zu
der morphologischen Typologie, die wir oben skizziert haben, gewertet wird. Allerdings gibt
es auch hierfür Vorläufer im 17. und 18. Jh. Dabei spielte vor allem die Vorstellung eine Rol-
le, dass ebenso wie einfache Ideen in der Entwicklung des menschlichen Geistes den komple-
xen Ideen vorangingen, strukturell einfache Wörter historisch früher anzusetzen sind als kom-
plexe Wörter. Aus dieser Vorgeschichte der Typologie sind zu nennen etwa: der Philosoph
John Locke, der Abbé Gabriel Girard und vor allem Adam Smith, der als Moralphilosoph und
einer der Gründerväter der Volkswirtschaftslehre bekannt ist, der aber mit seiner Schrift „Dis-
sertation on the origin of languages“ von 1761 das Nachdenken über Sprache ganz nachhaltig
beeinflusst hat. Er hat bereits zwei Sprachtypen (den „uncompounded“ und den „compoun-
ded“ type) unterschieden und damit Schlegels Unterscheidung vorgeprägt. Bereits bei ihm
war die Unterscheidung von Sprachtypen mit einer evolutionären Interpretation verknüpft:
Der „uncompounded type“, worunter der flektierend-fusionierende Typ zu verstehen ist, gilt
als einfach, älter, aber auch also „reiner“ bzw. „purer“. Der „compounded type“, d.h. der ana-
lytische Sprachtyp, bei dem grammatische Relationen mit syntaktischen Mitteln ausgedrückt
werden, gilt als komplex, moderner und weniger rein, d.h. durch Sprachmischung entstanden.
Diese Idee einer Bewertung von Sprachen im Sinne einer Historie von Aufwärtsentwicklung
und (möglicherweise) Verfall sollte die folgende Zeit dominieren. Dabei galt im Zeichen der
damals neu entdeckten vergleichenden Sprachbetrachtung, die die Verwandtschaft der in-
doeuropäischen Sprachen nicht nur aufdeckte, sondern in grandiosen Rekonstruktionen wis-
senschaftlich zu erforschen sich anschickte, allgemein der flektierend-fusionierende Sprach-
typ, der sich in Sanskrit und den klassischen Sprachen verkörpert, als Höhepunkt der Sprach-
entwicklung. Dies kann in vielen Schriften nachgelesen werden. Ich greife hier nur den ein-
flussreichsten und vielleicht bedeutendsten heraus, nämlich Wilhelm von Humboldt: In seiner
Schrift „Über das Entstehen der grammatischen Formen und ihren Einfluss auf die Ideenent-
wicklung“ von 1822 schlug Humboldt vor, dass Sprachen sich von einer puren Referenz auf
Dinge über die Agglutination von Hilfswörtern weiterentwickelten zu echter Flexion wie in
Sanskrit, Griechisch und Latein.
Zum Zitat auf Folie 9: Humboldt, S. 54/55
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Formabbau, wie er mit der Reduktion agglutinierender Affixe zu Flexionsaffixen verbunden
ist, bedeutet in den Augen Humboldts eine Aufwärtsentwicklung des menschlichen Geistes.
In dem Maße, wie der menschliche Geist Freiheit erringt, in dem Maße befreit er sich von
überflüssigen Fesseln der Form, auch der sprachlichen Form. Insofern seien zwar alle Spra-
chen „vollendet“, aber nicht als „vollkommen“. Dem Ideal der vollkommenen Sprache seien,
wie gesagt, die flektierend–fusionierenden Sprachen am meisten angenähert. Verbunden mit
dem im Denken der deutschen Romantik verbreiteten Konzept des „Volksgeistes“, der sich
jeweils in der „inneren Form“ einer Sprache widerspiegle, führte diese zu einer Auffassung
von Sprache, Sprachtyp, Denken und Nation, die in der Folge in sehr anfechtbarer Weise wei-
tergeführt und ausgedeutet werden konnte. Dabei möchte ich, u.a. weil ich darüber nicht ge-
nug weiß, keineswegs andeuten, dass Humboldt selbst in einem negativen Sinne kurzschlüssig
national überhöhte oder gar nationalistische Ideen verfolgte. Vielmehr verwahrte er sich da-
gegen, die Überlegenheit einer Kultur über andere ableiten zu wollen. Dies wäre auch ein ei-
genes Thema. Ich beschränke mich auf eine, aus meiner Sicht interessante Rezeption, die sich
in dem englischsprachigen Typologie-Einführungsbuch von Whaley findet. Dort heißt es:
Zum Zitat auf Folie 10: Whaley S. 21-22.
Der Strukturalismus insgesamt brachte die typologische Forschung im Wesentlichen nur
indirekt voran. Eine Ausnahme bildet die Prager Schule, die an die holistische morphologi-
sche Typologieforschung anzuknüpfen versteht und die den sog. „charakterologischen“ An-
satz von Mathesius brachte und die mit der Typologie von Skalička die primär morphologi-
sche zu einem Höhepunkt und gewissen Abschluss brachte. Skalička bezieht in seinen Arbei-
ten in den 50er und 60er Jahren bereits die Verbindung oder Korrelation mehrerer unter-
schiedlicher morphologischer und syntaktischer Merkmale ein, die jeweils bei einem Sprach-
typ miteinander auftreten bzw. mit großer Wahrscheinlichkeit zusammen auftreten. Er bereitet
damit die Positionen der modernen syntaktischen Typologie im Sinne Greenbergs vor.
Joseph Greenberg kann als Begründer der eigentlichen modernen Typologieforschung be-
trachtet werden. Ich nenne stichwortartig die wichtigsten Verdienste und Neuerungen, die
seine Arbeiten gebracht haben:
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Folie 11
1. Er hat den quantitativen Ansatz (ähnlich wie Skalička) endgültig in der Typologie etab-
liert. So hat er eine Strategie zur Quantifizierung des Grades, in dem eine Sprache einen
morphologischen Typ verkörpert, entwickelt.
2. Er hat die Idee einer repräsentativen Datenbasis in die Typologie eingeführt, also von
„Samples“ von Sprachen, die keine genetische oder areale Verzerrung mit sich bringen,
wenn aus ihnen Aussagen über die Sprachen der Welt abgeleitet werden sollen. Zwar
hat Greenberg nur ein Sample von 30 Sprachen aus verschiedenen Sprachfamilien zug-
rundegelegt, was sich später insgesamt als unzureichend erwies. Aber er hat den wichti-
gen Schritt zu einer soliden Methodologie gemacht.
3. Seine wichtigste theoretische Neuerung war, dass er den im Prager Strukturalismus
schon vertretenen Gedanken, dass bestimmte einzelne Eigenschaften von Sprachen
notwendig miteinander zusammenhängen („korrelieren“), aufgegriffen und zu dem Be-
schreibungsinstrument der „implikativen Universalien“ ausgebaut hat. Dies geschah in
seiner berühmtesten und äußerst einflussreichen Schrift „Some Universals of Grammar
with Particular Reference to the Order of Meaningful Elements“ (1963/1966), wo er 45
solcher implikativer Universalien formulierte. Wir kommen darauf im systematischen
Teil zurück.
4. Er betont die Bedeutung des Sprachwandels für die typologische Analyse. In dieser
Hinsicht scheint er an Gedanken der älteren Typologie anzuknüpfen. Er gibt dieser his-
torischen Sehweise aber eine ganz neue, nicht evaluative Bedeutung: Für ihn sind
Sprachwandelphänomene möglicher Weg zu einer Erklärung sprachlicher Gesetzmä-
ßigkeiten oder Universalien.
5. Schließlich markiert Greenberg den Übergang von einer holistischen, also aufs Ganze
einer Sprache abzielenden Typologie zu einer konstruktionsbasierten Typologie. Wäh-
rend vorher also z.B. Aussagen im Vordergrund standen wie: „Das Deutsche ist eine fu-
sionierende Sprache mit starken analytischen Anteilen, während das Englische nur noch
in Resten fusionierend ist“ geht es jetzt um Aussagen wie „Im Deutschen gibt es ein
flektierendes Relativpronomen, im Englischen neben einem (rest-)flektierenden Rela-
tivpronomen eine nicht-flektierbare Relativpartikel.“
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Heute gibt es eine Koexistenz verschiedener Schulen und schulenübergreifende gemeinsame
Anstrengungen:
Folie 12
− nordamerikanische Schule in direkter Nachfolge Greenbergs (Westküste): Comrie, Kee-nan; mit explizit ‘funktional-typologischem’ Ansatz: Givón, Haiman, Hopper/Thompson, Bybee, Croft
− Leningrader Typologengruppe: (seit frühen 60ern): Gründer Alexander A. Xolodovič.
Vertreter: V.P. Nedjalkov, V. Litvinov, Sil’ničkij (Smolensk), E.S. Geniušienè (Vilnius): ‘kollektive Methode der Typologie’
− Kölner UNITYP-Gruppe: Begründer Hansjakob Seiler (um 1972), Vertreter: Seiler,
Christian Lehmann, Günter Brettschneider, Ulrike Mosel: Universalienforschung, kon-zeptuell-deduktiver Ansatz
− EUROTYP-Projekt (Typology of Languages in Europe, gefördert von der ESF, Projekt-
zeitraum 1990-1994): Paradebeispiel einer übergreifenden Forschungsanstrengung. Ge-plante EUROTYP-Veröffentlichungen zu insgesamt neun Bereichen: Diskurspragmatik, Konstituentenordnung (erschienen), Komplementsätze, Aktanz und Valenz (ersch.), Ad-verbialkonstruktionen, Tempus und Aspekt, NP-Struktur (ersch.), Syntax der Klitika (ersch.), Wortprosodische Struktur.
Alle drei hier beispielhaft genannten Schulen sind im weiteren Sinne funktional, sie sind alle
der Vorstellung verpflichtet, Sprache sei in erster Linie ein Instrument der Kommunikation
und der sozialen Interaktion und dieser ihr Zweck bestimme auch ihre Form. Damit finden sie
sich in einem gewissen Gegensatz zur Chomsky-Schule, wo Sprache vor allem unter der bio-
logischen Perspektive eines genetischen Programms gesehen wird. Allerdings, so denke ich,
ist im Augenblick – zumindest in den USA – eine Annäherung zwischen dem Chomsky-
Paradigma und typologischer Interessenrichtung zu beobachten. In der konkreten Theoriebil-
dung und in der Methodologie gibt es durchaus Unterschiede. Die amerikanische Schule -
zumindest in der Darstellung von Croft, auf die ich mich berufe, betrachtet -entsprechend ei-
nem weitverbreiteten neodarwinistischen Wissenschaftstrend - Sprache als ein adaptives evo-
lutionäres Phänomen. Sie werde durch die evolutionären Kräfte der Umwelt geprägt. Die
Aufgabe, Information, Emotion und soziale Rollen sprachlich zu übermitteln, erzwinge ent-
sprechend adaptive Formen der Sprachgestalt. Dabei erhalten dann diejenigen Lösungen den
Vorzug, die einen evolutionären Vorteil bieten, also Lösungen die im Mitteleinsatz ökono-
misch sind oder auch Lösungen, die mit bereits bestehenden kognitiven Verfahren in wesent-
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lichen Punkten übereinstimmen, z.B. deren Struktur abbilden, ikonisch sind. Diese bringen
eine Reduktion von Komplexität, also einen adaptiven Effizienzgewinn.
Die Leningrader Schule zeichnet sich durch eine besonders sorgfältige Methodologie aus. Sie
arbeitet mit empirisch orientierten Experten für einzelne Sprachen oder Sprachgruppen, die
unabhängig von den theoretischen Typologen die Daten erheben und beschreiben. Besonderer
Wert wird auf die Datenerhebung mittels Fragebögen und eine explizit induktive Methodolo-
gie gelegt. Es wird also nicht von zugrundegelegten begrifflichen Kategorien ausgegangen
wie etwa ‘Kausativität’, sondern es werden Manifestationen und Merkmale von übereinzel-
sprachlicher Gültigkeit zusammengetragen, die insgesamt eine komplexes taxonomisches
Raster möglicher Merkmalskombinationen im Skopus einer Kategorie wie Kausativität erge-
ben.
Bekannte Arbeiten:
Nedjalkov (Hg.) (1988): Typology of Resultative Constructions. Amsterdam/Phil. Benjamins.
Geniušienè (1987): The Typology of Reflexives. Berlin etc. Mouton de Gruyter.
Das Kölner UNITYP-Projekt ist am stärksten universal-konzeptuell ausgelegt. Es wird davon
ausgegangen, dass abstrakte konzeptuelle Muster existieren, die in den Sprachen der Welt
instatiiert werden, etwa das Muster der direkten und der indirekten Partizipation, also Teilha-
be an Sachverhalten. Man unterscheidet (1) eine kognitive Ebene der allen Menschen verfüg-
baren Konzepte, (2) eine interlinguale Ebene als eigentlich typologischer Gegenstand, und
(3) eine einzelsprachliche Ebene.
3. Systematischer Teil: Theorie und Methodik
3.1. Die Sprachen der Welt in Übersicht. Wie sind sie eingeteilt?
Ich möchte Ihnen jetzt eine ganz grobe Übersicht darüber geben, wie man die über 6000
Sprachen der Welt genetisch einteilt, also nach gemeinsamer Herkunft oder Abstammung.
Dabei muss ganz klar sein, dass diese genetische Einteilung keine typologische Einteilung ist.
Dazu ein Beispiel:
Deutsch und Englisch sind genetisch nah verwandt. Es sind germanische Sprachen innerhalb
der größeren Gruppe der indoeuropäischen Sprachen. Typologisch sind sie aber (zumindest in
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gewissen Hinsichten) nicht so nah bei einander: Wir haben schon gehört, dass Englisch stär-
ker isolierend als synthetisch ist, während das Deutsche eher zum synthetischen Typ gehört.
Wir halten also fest: Typologische Zusammengehörigkeit ist im Prinzip unabhängig von gene-
tischer Zusammengehörigkeit.
Andererseits wird bei der typologischen Arbeit immer von der genetischen Klassifikation
ausgegangen. D. h. die genetische Klassifikation ist eine Art Input für die typologische Klas-
sifikation.
Die Vorstellung, die hinter einer “genetischen” Klassifikation steckt, ist die, dass Sprachen
untereinander verwandt sein können. Man spricht dann von Sprachfamilie. Was wiederum
heißt, dass sie auf eine gemeinsame “Ursprache“ zurückgehen müssen, so wie Familienmit-
glieder (Blutsverwandte) einen gemeinsamen Vorfahren haben müssen. Diese Ursprachen
sind uns in der Regel nicht überliefert. Vielmehr versucht man, aufgrund von Ähnlichkeiten
zwischen und bekannten Entwicklungen in den verwandten Sprachen eine hypothetische Ur-
sprache (in bestimmten Teilen) zu rekonstruieren. Wie Sie sicher wissen, ist die bekannteste
solche Rekonstruktion die des „Indogermanischen/Indoeuropäischen“, die letztlich auf das
Jahr 1786 zurückgeht, als Sir William Jones, britischer Richter in Kalkutta, die Verwandt-
schaftsbeziehungen zwischen Sanskrit, Lateinisch, Gotisch und Persisch zum ersten Mal klar
erkannte und formulierte. Der Rekonstruktion der Ursprache (Protosprache) mit wissenschaft-
lichen Methoden (u.a. mithilfe so genannter Lautgesetze) ist eine ganze heute noch intensiv
betriebene sprachwiss. Teildisziplin, die Indogermanistik, gewidmet.
Heute ist die Existenz einer ganzen Reihe von Sprachfamilien unbestritten, neben der indoeu-
ropäischen: die afroasiatische (früher: hamito-semitische: semitische Sprachen und weitere
Spr. Nordafrikas), uralische Sprachfamilie (uralisch-yukagirisch: Finnisch, Ungarisch u.a.).
Andere sind stark umstritten. Hier können wir wieder Joseph Greenberg ins Spiel bringen, der
in den 60er Jahren des letzten Jhs. begonnen hat, die Sprachen Afrikas in nur vier Makrofami-
lien zusammenzufassen: Afroasiatisch, Khoi-San, Niger-Kordofanisch/Niger-Kongo und Ni-
lo-Saharanisch. Er hat dabei nicht nur einzelne Wörter miteinander verglichen, sondern einen
Massenvergleich angestellt, also sehr viele Daten und Faktoren berücksichtigt. Greenberg
vertritt dabei sozusagen das Lager der „Vereinheitlicher“, dem das Lager der „Spalter“ zum
Teil heftig widerspricht. Trotzdem haben vor allem durch den Greenberg-Anhänger Merritt
Ruhlen die „Vereinheitlicher“ deutlich an Boden gewonnen:
[Merritt Ruhlen: A Guide to the World’s Languages. Vol 1: Classification.: Lon-
don/Melbourne/Auckland: Edward Arnold: 17 Makrofamilien.]
16
Greenberg hat dann seine Methode auch auf die indigenen Sprachen der beiden Amerika an-
gewandt und dort nur 3 Makrofamilien identifiziert: Eskimo-Aleutisch und Na-Dené (aner-
kannt), Restklasse Amerindisch (umstritten).
In der folgenden Karte sind die genannten Markofamilien angenommen:
Zur Karte auf Folie 13: Spektrum Wissenschaft, S. 8
Es gibt sogar noch den Versuch, Makrofamilien zu Superfamilien zusammenzufassen wie
etwa die so genannte „nostratische“: Indoeuropäisch + Afroasiatisch + andere.
Das folgende Schaubild verdeutlicht, nach welcher Methode Merritt Ruhlen (in einem ande-
ren Werk über den Ursprung der Sprachen) bei dem Versuch der Klassifikation von Sprachen
vorgeht: Er untersucht den Grundwortschatz von Sprachen und lässt den Leser selbst analy-
sieren.
Zum Schaubild auf Folie 14: Spektrum der Wissenschaft, S. 17
Er kommt so zu einer einzigen hypothetischen Ursprache, für die er 20 Wurzeln annimmt:
KUAN ‚Hund’, TEKU ‚Bein’, TIK ‚Finger’ usw. Viele Sprachwissenschaftler protestieren
heftig: Sie sagen, dass man es sich mit den Ähnlichkeiten nicht zu leicht machen darf. Nach
ihnen darf man Ähnlichkeiten nur dann als Indiz für Verwandtschaft nehmen, wenn sie re-
gelmäßig auftreten. D.h. lat. pes/ped darf man nur dann als verwandt mit dt. Fuß, betrachten,
wenn auch in vielen anderen alten Wörtern, also regelmäßig einem lat. /p/ ein dt. /f/ ent-
spricht, was ja tatsächlich der Fall ist.
Man hat nun, um die Hypothese der Makrofamilien zu stützen, versucht, genetische und
sprachwissenschaftliche, ebenso auch archäologische Befunde zusammenzubringen. Die
Grundidee ist dabei, Sprachverwandtschaften und genetische Verwandtschaften ihrer Spre-
cher zu parallelisieren. Zum Teil können hier tatsächlich Befunde geltend gemacht werden.
So kann man zeigen, dass die Basken, die eine von anderen europäischen Sprachen völlig
verschiedene Sprache sprechen, auch genetisch deutliche Unterschiede gegenüber den übrigen
Europäern aufweisen. Andererseits ist aber eine einfache Parallelisierung sicher völlig falsch.
Der Wechsel von einer Sprache kann z.B. durch Eroberung und Herrschaft in wenigen Gene-
rationen vonstatten gehen. So ist z.B. Frankreich/Gallien in relativ kurzer Zeit romanisiert
worden; die Kelten sind aber nicht ausgerottet worden. Andererseits kann eine gegenüber ih-
rer Umgebung „fremde“ Sprache erhalten bleiben, obwohl keine genetischen Unterschiede bei
der Bevölkerung auszumachen sind, wie etwa bei den Ungarn gegenüber anderen Europäern.
Am bekanntesten für den Versuch einer Korrelation zwischen dem Stammbaum menschlicher
17
Populationen und der genetischen Systematik von Sprachen ist der Biologe Luigi-Luca Caval-
li-Sforza: Er versucht mit der Methode der genetischen Distanz die Entwicklung von Popula-
tionen und ihren Sprachen von den Ursprüngen her nachzuweisen. Er glaubt zeigen zu kön-
nen, dass die Menschheitsgeschichte ihren Ursprung in Afrika nahm, von wo sie zunächst
nach Asien kamen und von dort in mehreren Schüben einerseits nach Europa, andererseits
nach Amerika und in den pazifischen Raum.
Zum Schaubild auf Folie 15: Spektrum der Wissenschaft: Sprachfamilien S. 24/25, geneti-
sche Verwandtschaft
3.2. Gegenstand der Sprachtypologie und des Sprachvergleichs, Definitionen
Nachdem nun eine Abgrenzung gegenüber einer genetischen, historischen Klassifikation von
Sprachen erfolgt ist, wollen wir genauer den Gegenstand der Sprachtypologie bestimmen.
Folie 16a
Nach Whaley, S. 7 ist Sprachtypologie so bestimmt:
(Def) Sprachtypologie ist die Klassifikation von Sprachen oder Komponenten von
Sprachen auf der Basis geteilter formaler Charakteristika.
Croft, S. 1 spricht von zwei möglichen Interpretationen von Sprachtypologie:
(a) Typologische Klassifikation: Klassifikation von Sprachen nach struktu-
rellen Typen. Sprachtypologie besteht in der Definition von Sprachtypen
und einer Klassifikation der Sprachen nach diesen Typen. Nach dieser De-
finition gehört jede Sprache zu einem bestimmten Typ. (holistische Typo-
logie)
(b) Sprachübergreifende Muster: Erforschung von sprachlichen Mustern,
die nur durch den Sprachvergleich aufgedeckt werden können. Wichtigstes
Muster: das implikative Universale.
18
Beispiel für (b): Wenn das Demonstrativum dem Kopf-Substantiv folgt, folgt auch der Rela-
tivsatz dem Kopf-Substantiv. Eine solche Aussage kann nur durch Sprachvergleich zustande
kommen.
In der Bestimmung von Croft werden die beiden bei Whaley durch „oder“ zusammengefass-
ten Aspekte auseinandergenommen: (a) Klassifikation von Sprachen, (b) Klassifikation von
Komponenten/Mustern.
Wir kommen auf die zusammenfassende und insofern allgemeinere Definition von Whaley
zurück.
Whaley führt aus, dass in seiner Def. drei Aussagen verborgen sind, die man wie folgt her-
auspräparieren kann:
Folie 16b:
(zu-Def.1) Sprachtypologie beinhaltet Sprachvergleich.
(zu-Def.2) Ein typologischer Ansatz beinhaltet die Klassifikation von a) Komponen-
ten von Sprachen oder b) von Sprachen selbst.
Whaley demonstriert a) anhand einer Untersuchung der oralen Verschlusslaute wie [p] und
[g]. Erstes sprachvergleichendes Ergebnis ist, dass alle Sprachen mindestens einen solchen
Laut haben. Diese Erkenntnis führe zu einer „ontologischen“ Frage, nämlich der nach dem
„Warum“. Weiterhin könne festgestellt werden, dass etwa 50 verschiedene orale Verschluss-
laute existierten, Sprachen aber nur jeweils einen Teil davon besäßen. Die am weitesten ver-
breiteten seien [p], [t] und [k]. Außerdem gäbe es „gaps“: Verschlusslaute, die man durch
Kontaktierung der unteren Zahnreihe mit der Oberlippe zustandebringen könnte, gäbe es –
obwohl physiologisch möglich – nicht. Nun kurz zur Warum-Frage. Letztendlich gehe es in
der Typologie natürlich um eine Erklärung dafür, warum Sprachen so sind, wie sie sind. Bei
Lauten sei die menschliche Anatomie ein guter Ansatzpunkt für Erklärungen. So seien [p], [t]
und [k] möglicherweise deshalb so verbreitet, weil sie „aerodynamisch effizient“ seien, und
weniger artikulatorischen Aufwand erforderten als bei der Produktion anderer Verschlusslau-
te. Whaley warnt aber auch vor allzu schnellen effizienzorientierten Erklärungen. Wenn Effi-
zienz der einzige leitende Faktor bei der Evolution von Lautsystemen wäre, könne nicht er-
klärt werden, wie und warum überhaupt ineffiziente Laute, die es unbestreitbar gibt, in die
Sprachen kämen und sich dort auch hielten.
19
Nach der entwickelten Vorgabe kann man nun auch Sprachen klassifizieren.
Whaley, S. 11:
Folie 16c
(zu-Def.3): Typologie befasst sich mit der Klassifikation auf der Basis formaler
Merkmale von Sprachen.
Whaley will damit den Gegenstand der Typologie abgrenzen gegenüber anderen Klassifikati-
onsmöglichkeiten: der genetischen (kennen wir bereits) und der arealen. Die Beziehungen
zwischen genetischer und typologischer Klassifikation seien in der Regel klar erkennbar:
„The typological similarity of the two languages (of Spanish and French) is a function of their
genetic association.“ Dagegen sei die Verbindung zwischen arealer und typologischer Klassi-
fikation weniger klar. Es werde noch untersucht, wie stark die Grammatiken von Sprachen
von denen ihrer Umgebungssprachen beeinflussbar seien. Bekanntes Beispiel ist der so ge-
nannte Balkan-Sprachbund (Albanisch, Bulgarisch, Rumänisch). Diese stammen aus ganz
verschiedenen Zweigen des Indoeuropäischen, haben aber viele gemeinsame Züge, z.B. Defi-
nitheitssuffixe.
Folie 17
Albanisch mik-u ‚Freund-der’
Bulgarisch trup-at ‚Körper-der’
Rumänisch om-ul ‚Mann-der’
Diese Strategie ist in keiner der Sprachfamilien sonst verbreitet. Ihr Ursprung bleibt mysteri-
ös.
Schließlich können auch demografische Faktoren zur Klassifikation herangezogen werden;
etwa nach der Anzahl der Sprecher, nach der Homogenität oder nach Mehrsprachigkeit. Dabei
spielt vor allem der Mehrsprachigkeitsfaktor eine große Rolle: Unbestreitbar beeinflussen sich
die Grammatiken von Sprachen wechselseitig, wenn in einer Gesellschaft ein hoher Grad von
Mehrsprachigkeit herrscht.
20
Noch ein Kommentar zu „formale Merkmale“: Das ist etwas problematisch. Vielleicht sollte
man besser sagen: nach innersprachlichen Merkmalen. Denn häufig wird in der Sprachtypo-
logie als Ausgangspunkt der sprachübergreifenden Untersuchung kein im engeren Sinne for-
males Merkmal gewählt, sondern ein semantisches bzw. funktionales. Dies ist das tertium
comparationis, das überhaupt Vergleichbarkeit garantieren soll. Wir kommen darauf zurück.
Abschließend noch eine Folie zur Definition von ‚Sprachtypologie’ von Stromsdör-
fer/Vennemann 1995. Sie greift ganz ähnliche Gesichtspunkte auf wie die beiden bisher erör-
terten.
Zur Folie 18
Wie steht es nun mit Sprachvergleich im Gegensatz zu ‚Sprachtypologie’?
Sprachvergleich ist zunächst ein unspezifischer Terminus. Sprachvergleich kann Bestandteil
unterschiedlicher linguistischer Teildisziplinen und unterschiedlicher theoretischer und me-
thodischer Ansätze sein. Sprachvergleich geschieht selbstverständlich auch im Rahmen typo-
logischer Forschung; dies haben wir gesehen. Sprachvergleich war und ist auch die Basis der
Indogermanistik (historisch-vergleichende Sprachwissenschaft). Im engeren Sinne versteht
man unter ‚Sprachvergleich’ auch die so genannte kontrastive Linguistik bzw. kontrastive
Grammatik. Diese Teildisziplin entstand in den 60er Jahren des vergangenen Jhs. aus dem
Bestreben heraus, eine bessere Grundlage für den Fremdsprachenunterricht zu schaffen. Man
wollte einen systematischen Vergleich zwischen Muttersprache (L1) und zu erlernender
Fremdsprache (L2) anstellen. Die Grundidee war, dass L2 auf der Basis von L1 erlernt wird
und dass deshalb Gemeinsamkeiten das Erlernen erleichtern (positiver Transfer), Unterschie-
de aber das Lernen erschweren (Interferenz). Die hoch gesteckten Erwartungen in eine ver-
besserte Praxis des Fremdsprachenunterrichts haben sich nicht unbedingt erfüllt. Es gab eine
sehr intensive Kontroverse zwischen den Anhängern und den Kritikern dieser Konzeption von
kontrastiver Linguistik. Als Fazit schlägt E. König
König, Ekkehard (1990): Kontrastive Linguistik als Komplement zur Typologie. In: Gnutz-mann, Claus (Hg.) (1990): Kontrastive Linguistik. Frankfurt am Main u.a.: Lang. 117-131. (= Forum Angewandte Linguistik 19)
König, Ekkehard (1996): Kontrastive Grammatik und Typologie. In: Lang, Ewald/Zifonun, Gisela (Hg.) (1996): Deutsch - typologisch. Jahrbuch 1995 des Instituts für Deutsche Sprache. Berlin/New York: de Gruyter. S. 31-54.
vor, die kontrastive Linguistik aus ihrem engen Bezug auf den Fremdsprachenunterricht zu
lösen. Wir kommen gleich darauf zurück. Zunächst noch einige Hinweise zu kontrastiven
Grammatiken, an denen das Deutsche beteiligt ist.
21
Im Bereich der kontrastiven Grammatiken zu Sprachenpaaren, von denen das Deutsche ein
Element ist, verfügt das IDS über eine vergleichsweise reiche Tradition. Am IDS oder in Ko-
operation mit dem IDS wurden kontrastive Grammatiken zu den Sprachenpaaren Deutsch –
Französisch (Zemb 1978), Deutsch – Serbokroatisch (Engel/Mrazović 1986), Deutsch – Spa-
nisch (Cartegena/Gauger 1989), Deutsch – Rumänisch (Engel et al. 1993), Deutsch – Polnisch
(Engel et al. 1999) erarbeitet. Zum Sprachenpaar Englisch – Deutsch liegt mit Hawkins 1986
eine typologisch-vergleichende Grammatik vor. Abraham 1994 und Glinz 1994 konfrontieren
das Deutsche, mit durchaus unterschiedlicher Akzentsetzung, mit mehreren anderen europäi-
schen Sprachen.
Folie 19 Abraham, Werner (1994): Deutsche Syntax im Sprachenvergleich. Grundlegung einer typolo-
gischen Syntax des Deutschen. Tübingen: Narr. (= Studien zur deutschen Grammatik 41)
Glinz, Hans (1994): Grammatiken im Vergleich. Deutsch - Französisch - Englisch - Latein. Tübingen: Niemeyer.
Engel, Ulrich/Mrazović, Pavica (1986): Kontrastive Grammatik Deutsch-Serbokratisch. Mün-chen: Sagner. (= Sagners slavistische Sammlung 10)
Engel, Ulrich/Isbaşescu, Mihai/Stanescu, Speranta/Nicolae, Octavian (1993): Kontrastive Grammatik Deutsch-Rumänisch. Heidelberg: Groos.
Engel, Ulrich et al. (1999): Deutsch-polnische kontrastive Grammatik. 2 Bände. Heidelberg: Julius Groos
Hawkins, John (1986): A Comparative Typology of English and German. Unifying the Con-trasts. London: Croom Helm.
Zemb, Jean-Marie (1978): Vergleichende Grammatik Französisch-Deutsch. Mannheim: Bib-liographisches Institut. (= Duden Sonderreihe vergleichende Grammatiken 1)
Ziel der kontrastiven Linguistik ist nun nach König "ein umfassender Vergleich zweier Spra-
chen", der "grundsätzlich nicht gerichtet ist" (König 1996, 32). Nicht gerichtet sein heißt,
nicht zwischen Ausgangs- und Zielsprache (Übersetzungswissenschaft) unterscheiden, oder
zwischen Erst- und Zweitsprache (Sprachkontaktforschung) oder Mutter- und Fremdsprache
(Fremdsprachenunterricht). Neuere kontrastive Grammatiken wie etwa die dt-polnische fol-
gen in gewisser Weise bereits diesem Prinzip, sie sind als reversible Grammatiken gedacht.
Sie können in die eine oder die andere Richtung benutzt werden.
22
Ein Ziel der allgemeinen Sprachtypologie ist dagegen nach König der systematische Ver-
gleich möglichst "vieler Sprachen entlang weniger Parameter der Variation" (König a.a.O.).
Kontrastive Linguistik und Sprachtypologie stehen somit in einem Verhältnis der Umkehrung
zueinander. Kontrastive Linguistik kann sich aber auch als "Grenzfall der Typologie" (König
1996, S. 32) erweisen, wenn die kontrastiven Merkmale, die die verglichenen Sprachen unter-
scheiden, als Ausdruck unterschiedlicher genereller und einander wechselseitig bedingender
Strukturprinzipien begriffen werden, die jeweils auf unterschiedliche typologische Eigen-
schaften zurückzuführen sind. Einer so verstandenen "komparativen Typologie" ist beispiels-
weise Hawkins 1986 verpflichtet. Darüber hinaus ergänzen beide Disziplinen einander; die
kontrastive Linguistik ist auch "Komplement zur Typologie" (König 1990). Insbesondere ist
es für den kontrastiven Vergleich eine ganz wesentliche Information, wie der ermittelte Kon-
trast hinsichtlich eines Phänomens P zwischen zwei (oder mehr) Sprachen im Hinblick auf
"die Sprachen der Welt" einzuordnen ist: Handelt es sich um einen singulären Kontrast oder
stehen die beiden Sprachen jeweils für eine ganze Klasse mit vergleichbaren Lösungen? Gibt
es weitere Lösungen für P, welche, wieviele usw.?
3.3. Wie geht man vor beim Sprachvergleich? Wie geht der Typologe vor?
Ich will zwei Aspekte betrachten: die heuristische Vorgehensweise und die Datenbasis.
heuristische Vorgehensweise
Beim gerichteten Sprachvergleich in der kontrastiven Grammatik ist die Sache vergleichswei-
se einfacher: Man geht von der Kategorien der Ausgangssprache aus und fragt nach deren
Realisierung in der Zielsprache. Man nimmt also z.B. bei Deutsch als Ausgangssprache das
Passiv des Deutschen als Ausgangspunkt und fragt danach, was dem Passiv z.B. im Polni-
schen entspricht. Dabei wird man feststellen, dass das dt. Passiv im Polnischen nicht immer
durch das Passiv wiedergegeben wird, sondern häufig durch unpersönliche Konstruktionen
oder durch Konstruktionen mit dem Reflexivpronomen.
Als Beispiel ziehe ich die dt-poln. Grammatik von Engel et al. heran. Wir haben bereits ge-
hört, dass diese Grammatik sich als reversible kontrastive Grammatik versteht. Trotzdem
scheint das Dt. als Ausgangssprache die Kategorien vorzugeben. So heißt es im Inhaltsver-
zeichnis zum Passiv:
23
Folie 20
4.8. Passivkomplexe
4.8.1. Allgemeines
4.8.2. Das werden-Passiv und seine polnischen Äquivalente
4.8.3 Das gehören-Passiv und seine polnischen Äquivalente
4.8.4. Das bekommen-Passiv und seine polnischen Äquivalente
4.8.5. Das sein-Passsiv und seine polnischen Äquivalente
4.8.6. Konkurrenzformen zum Passiv
Beim Sprachvergleich allgemein und bei der Sprachtypologie, die nach forma-
len/strukturellen/innersprachlichen Kriterien vorgeht, gibt es aber ein grundsätzliches Prob-
lem:
Wenn Sprachen formal verschieden sind, wie kann man sie vergleichen?
Dabei geht es um die Frage nach dem tertium comparationis. Bei der Suche nach einem terti-
um entsteht eine Art paradoxale Situation:
Folie 21
a. Erkennt man grundsätzlich an, dass Einzelsprachen die Aufgabe der Zuordnung von
Sprachform und Sprachfunktion in je spezifischer Weise lösen, verbietet es sich von vorn-
herein, die Kategorien einer der Vergleichssprachen unbesehen als tertium zu akzeptieren.
b. Versucht man über den Sprachvergleich zu einem "übergreifenden" Kategorieninventar zu
gelangen, so muss zumindest als Basis, die Vergleichbarkeit garantiert, für jeden Untersu-
chungsbereich eine Art "Anfangstertium" gegeben sein. Dabei muss die Klippe umschifft
werden, dass, um den Vergleich durchzuführen, Kategorien benötigt werden, die erst
durch den Vergleich gewonnen werden können.
c. Andererseits kann auch ein deduktiv gewonnenes "übereinzelsprachliches" Begriffsraster
nicht wirklich greifen, weil Kategorien, die zur Sprachbeschreibung taugen sollen, auch
aus der Sprachanalyse gewonnen sein müssen.
24
Die moderne Sprachtypologie in der Nachfolge Greenbergs glaubt, das Dilemma aufbrechen
zu können, wenn semantische oder funktionale Gesichtspunkte als Anfangstertium gewählt
werden.
Dazu ein Zitat aus Croft (1993, S. 11):
Folie 22
The essential problem is that languages vary in their structure to a great extent; indeed, that is what typology
(and more generally, linguistics) aims to study and explain. But the variation in structure makes it difficult if not
impossible to use structural criteria, to identify grammatical categories across languages. Although there is some
similarity in structure ("formal" properties) that may be used for cross-linguistic identification of categories, the
ultimate solution is a semantic one, or to put it more generally, a functional solution.
Etwas konkreter wird das nochmals ausgeführt in folgender Passage aus einer sehr wichtigen
typologischen Arbeit:
Keenan, Edward L./Comrie, Bernard (1977): Noun Phrase Accessibility and Universal
Grammar. In: Linguistic Inquiry, S. 63-99.
Zitat Croft S. 12 oben.
Daraus ist nach Croft folgende Standard-Forschungsstrategie abzuleiten:
Folie 23:
1. Bestimme die spezifische semantisch(-pragmatisch)e Struktur oder den Situationstyp,
den du untersuchen willst.
2. Untersuche die morphosyntaktische Konstruktion oder die Konstruktionen, die ge-
braucht werden, um diesen Situationstyp auszudrücken.
3. Suche nach Abhängigkeiten zwischen den Konstruktionen, die für diese Situation ge-
braucht werden, und anderen sprachlichen Faktoren (anderen strukturellen Merkma-
len, anderen externen Funktionen, die durch die fragliche Konstruktion ausgedrückt
werden, oder beidem).
25
Am Beispiel einer sprachübergreifenden Identifikation des „Subjekts“. Man wird feststellen,
dass sprachübergreifend das Subjekt strukturell auf verschiedene Weise ausgedrückt wird:
z.B. durch Kasusmarkierung oder Markierungen durch Adpositionen, durch Kongruenz am
Verb (wie im Dt.: Das finite Verb stimmt in Person und Numerus mit dem Subjekt überein.)
oder durch Wortstellung, oder auch durch mehrere Mittel in Kombination. Aber woher weiß
man das? Nur, weil man eine heuristische Definition zugrunde legt, die die externe Funktion
einschließt, wozu ein Begriff wie „Agens einer Aktion“ oder „Satztopik“ oder ähnliches ge-
hört.
Im Prinzip klingt das nun relativ klar. Im Einzelnen aber ist es sehr schwierig, wirklich gute
tertia ausfindig zu machen.
Datenbasis
Man kann annehmen, es wäre das beste, bei einer typologischen Untersuchung alle Sprachen
der Welt heranzuziehen. Das geht natürlich nicht, zum einen aus praktischen Gründen. Zum
anderen ist ja gar nicht ganz klar, was nun wirklich alles als Sprache zählt. Croft erwähnt das
Schwäbische. Oder denken wir an das Schweizerdeutsche. Rein strukturell könnte Schwä-
bisch oder Schweizerdeutsch auch als eigene Sprache gelten, wären da nicht soziolinguisti-
sche, gesellschaftliche und historische Faktoren, die dagegen sprechen. Außerdem wandeln
sich Sprachen, neue bilden sich heraus (Sprachdynamik!).
Man ist also gezwungen, sich mit so genannten samples zu begnügen. Wir haben schon ge-
hört, dass Greenberg zunächst ein sample von 30 Sprachen benutzte. Ein solches sample
kann nicht repräsentativ sein. Es hat notwendigerweise eine Unausgewogenheit zugunsten
einer genetischen oder arealen Gruppe. In Greenbergs sample waren fast ein Drittel der Spra-
chen indoeuropäisch und fast ein Viertel wurde in Afrika gesprochen. Deshalb sind einige
seiner Ergebnisse suspekt.
Für die Erstellung repräsentativer samples gibt es drei Vorschläge:
26
Folie 24
1. Jede Sprachfamilie soll nach Maßgabe der Anzahl ihrer Mitglieder, also der in ihr
versammelten Einzelsprachen, im sample repräsentiert werden.
z.B. wenn ein sample 10% aller Sprachen erfassen soll, dann sollen 10% der be-
kannten indoeuropäischen Sprachen, 10% der Nili-Kardofan-Sprachen vertreten
sein usw.
Problem: Größe der Sprachfamilien hängt oft von historischen und gesellschaftli-
chen Gegebenheiten ab.
2. Es soll ein sample von (genetisch und areal) unabhängigen Sprachen erstellt wer-
den. Auf diese Weise wurde von den Typologen Bybee und Perkins ein sample von
50 Sprachen zusammengestellt. Hier spielt die Größe einer Sprachfamilie keine
Rolle. Jeweils nur 1 Mitglied wird aufgenommen.
Problem hier: Möglicherweise ist es unmöglich, ein sample von 50 areal unabhän-
gigen Sprachen zu erstellen, weil „linguistic areas“ oft sehr ausgedehnt sein kön-
nen.
3. Matthew Dryer schlägt eine sehr umfangreiche Datenbasis von 625 Sprachen vor.
Diese werden in genera gruppiert (≈ Sprachfamilien) und dann zu 6 großen Arealen
zusammengefasst. Um behaupten zu können, dass ein bestimmtes Muster statistisch
signifikant ist, muss es in den genera aller 6 Areale vorhanden sein.
Beispiel Greenbergs Universale 18:
Wenn eine Sprache das Demonstrativum nach dem Substantiv platziert, platziert sie
auch das Adjektiv danach.
Ergebnis nach dieser Methode bestätigt: Das Universale ist statistisch valid.
27
Folie 25
Whaley S. 40:
Afr Eura A-NG NAm SAm Total
NDem
und NAdj
28 14 8 8 5 63
NDem
und AdjN
1 2 0 1 0 4
Kritik: Gruppierung in genera ist oft problematisch. Außerdem ist es unheimlich
schwer, ein solch großes sample zusammenzustellen.
Wie werden nun Daten überhaupt aquiriert? Der Forscher kennt ja die meisten der untersuch-
ten Sprachen seines samples nicht. Er zieht also Grammatiken, Handbücher usw. heran. Das
Problem dabei ist, dass viele Details so nicht erschlossen werden können. Die zweite Quelle
sind Fragebögen. Dies ist allerdings eine sehr aufwändige, z.-T. auch kostspielige Methode,
die allerdings viel detailliertere Informationen liefern kann als Handbücher und Grammatiken.
3.4. Universalien
In der Typologie strebt man nach Aussagen über fundamentale Eigenschaften von Sprachen;
also Aussagen die möglichst für alle Sprachen gelten sollen. Man spricht hier von Universa-
lien. Es gibt verschiedene Typen von Universalien:
28
Folie 26
Typen von Universalien Universalien
absolute nicht-absolute (statistische)
Beispiele (nach Whaley, S. 32):
absolute Universalien:
- Alle Sprachen haben Konsonanten und Vokale.
- Alle Sprachen unterscheiden zwischen Nomina und Verben.
- Alle Sprachen verfügen über Mittel, um Fragen zu formulieren.
nicht-absolute Universalien:
- Die meisten Sprachen haben den Vokal [i] wie in dem englischen Wort feet.
- Die meisten Sprachen haben Adjektive.
- Sprachen bedienen sich gewöhnlich ansteigender Intonation, um ja/nein-Fragen zu
signalisieren.
Folie 27a
Universalien
uneingeschränkte implikative
Uneingeschränkte Universalien klassifizieren Sprachen nach nur einem Parameter:
Beispiele, siehe oben. Außerdem
Folie 27b
uneingeschränktes nicht-absolutes Universale (Greenbergs Universale 1): Folie 27
• In Aussagesätzen mit nominalem Subjekt und Objekt ist die dominante Reihenfolge fast
immer eine, in der das Subjekt dem Objekt vorangeht.
29
Später wurde gezeigt, dass dieses Universale für ca. 95% der Sprachen gilt.
Implikative Universalien sprechen über mindestens zwei strukturelle Merkmale oder Parame-
ter. Sie halten fest, dass es eine Abhängigkeit zwischen diesen gibt. Damit wird festgehalten,
dass es eine Beschränkung für die logisch möglichen Sprachtypen gibt.
Wir greifen eines der Wortstellungs-Universalien auf (diesmal nicht von Greenberg selbst,
sondern von Hawkins), das wir schon kennen und das als implikatives Universale formuliert
ist:
Folie 27c
Implikatives Universale (Hawkins 1983)
(Hawkins, John (1983): Word order universals. New York: Academic Press.)
• Wenn das Demonstrativum dem Kopf-Substantiv folgt, folgt auch der Relativsatz dem
Kopf-Substantiv.
Man erkennt leicht, dass jedes der strukturellen Merkmale (Parameter) hier zwei Werte hat:
NDem bzw. DemN; NRel bzw. RelN. Es ergibt sich:
Folie 27d
NDem NRel möglich
DemN NRel möglich
NDem RelN unmöglich
DemN RelN möglich
tetrachorische Tafel:
NDem DemN
NRel x x
RelN – x
30
Folie 28
allgemeine Form eines einfachen implikativen Universales: Folie 28
∀L (P(L) → Q(L))
'Für alle Sprachen gilt: Wenn eine Sprache L das strukturelle Merkmal P hat,
dann hat sie auch das strukturelle Merkmal Q'
Beispiel:
∀L (NDem(L) → NRel(L))
Implikative Universalien haben die logische Form eines Konditionals (einer wenn-dann-
Beziehung, logische Implikation). Wahrheitstafel:
NDem(L) NRel(L) (NDem(L) → NRel(L))
W W W
F W W
W F F
F F W
Typisch für ein implikatives Universale, ist somit, dass von den vier möglichen Konstellatio-
nen (Wahrheitswerten) nur eine nicht belegt ist.
Es gibt auch sozusagen eine Verstärkung dieser Beziehung. In der Logik nennt man sie Bi-
konditional (oder auch logische Äquivalenz).
Folie 29
Beispiel (Greenbergs Universale 2):
• In Sprachen mit Präpositionen folgt der Genitiv fast immer dem Kopf-Substantiv nach,
während er in Sprachen mit Postpositionen fast immer vorausgeht.
tetrachorische Tafel:
Präp Post
NGen x –
GenN – x
31
Wahrheitstafel:
Präp(L) NGen(L) Präp(L)↔NGen(L)
W W W
W F F
F W F
F F W
An der tetrachorischen Tafel für ein implikatives Universale (1 Leerstelle) kann man zwei
Eigenschaften ablesen (so schon Greenberg)
Folie 30
Dominanz: Dominant ist der Wert des strukturellen Merkmals, der mit beiden Werten des
anderen strukturellen Merkmals kombiniert werden kann. Rezessiv ist derjenige Wert, der
nur mit einem der beiden Werte des anderen Merkmals kombiniert werden kann.
Dominant sind im Beispiel DemN und NRel. Rezessiv sind: NDem und RelN. Dominante
Werte sind diejenigen, die präferiert/vorzugsweise vorkommen.
Harmonie: Harmonisch ist der Wert eines Parameters mit einem Wert des anderen P.s, wenn
er nur mit diesem Wert des anderen P. vorkommt, und nicht mit dem anderen Wert. RelN ist
harmonisch mit DemN, NDem ist harmonisch mit NRel. Harmonie ist immer bezüglich der
rezessiven Werte definiert.
Mithilfe von Dominanz und Harmonie können die Wortstellungsuniversalien, die Greenberg
und Hawkins formulieren, in eine Ordnung gebracht werden:
Zur Folie 31: Croft, S.56
Dieses Schaubild zeigt (in der linken Spalte) das Dominanz-Muster, und außerdem zwei
Harmonie-Muster, das erste das OV-Muster, das zweite das VO-Muster. Wir kommen ggf.
noch darauf zurück, wenn wir uns mit dem Dt. und anderen europäischen Sprachen befassen.
Implikative Universalien sagen etwas über die Möglichkeiten und Grenzen der Sprachvaria-
tion, während uneingeschränkte Universalien etwas über die Einheitlichkeit/Uniformität von
Sprachen sagen. Implikative Unversalien beschreiben Abhängigkeiten zwischen mindestens
zwei unabhängigen Parametern.
32
allgemeine Form eines komplexen implikativen Universales:
∀L (P1 * ... *Pn) → (Q1 * ... *Qm)
mit '*' für beliebige aussagenlogische Verknüpfungen und Pi, Qi (1 ≤ i ≤ n, m) für be-
liebige strukturelle Merkmale bzw. implikative Universalien
Beispiel:
∀L (SOV(L) → (AN(L) →GN(L)))
'Für alle Sprachen gilt: Wenn eine Sprache L 'Subjekt-Objekt-Verb' als dominante Stellungs-
folge hat, dann geht, wenn das attributive Adjektiv dem Nomen vorausgeht, auch der attribu-
tive Genitiv dem Nomen voraus' (Hawkins 1983, S. 64).
Mithilfe komplexer implikativer Universalien können Zusammenhänge zwischen unterschied-
lichen strukturellen Merkmalen hergestellt werden. Solche Zusammenhänge können sich auf
eine grammatische Domäne beziehen (wie hier die Wortstellung), sie können aber auch auf
unterschiedliche grammatische Domänen beziehen, wie etwa Wortstellung und Kasusmarkie-
rung usw. In manchen Fällen haben solche Zusammenhänge, wie bereits angedeutet, nicht den
abgesicherten Status logischer Implikationen, sondern eher den von statistischen Wahrschein-
lichkeiten. Etwa wenn es um einen Zusammenhang zwischen Grundform- und Stammform-
flexion geht. Sprachen mit Grundformflexion neigen zu Agglutination, Sprachen mit Stamm-
flexion neigen zu Fusion.
In anderen Fällen hingegen können implikative Beziehungen zwischen Kategorien auch die
komplexe Form sog. "implicational maps" annehmen. Ich erläutere dies im Anschluss an
Haspelmath 1997 an den Indefinitpronomina. Bei Indefinitpronomina kann man eine Reihe
unterschiedlicher Verwendungen beobachten, z. B. die spezifische Referenz gegenüber der
unspezifischen, die Verwendung in sog. negativen Polaritätskontexten usw. Es gibt jedoch
universal gültige Beschränkungen für die Verteilung von Klassen von Indefinita auf die ein-
zelnen semantischen Typen, die in Haspelmath 1997, S. 4/59 ff. durch folgende Implikations-
Struktur ("implicational map") erfasst werden (zur Folie 32).
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Folie 33
Typen indefiniter Referenz
[1] spezifisch, Referent ist dem Sprecher bekannt
Somebody called while you were away: guess who!
Bei spezifischer indefiniter Referenz setzt der Sprecher die Existenz und Identifizierbarkeit des Referenten voraus; in Fall [1] ist die Identität des Referenten dem Sprecher auch bekannt.
[2] spezifisch, Referent ist dem Sprecher nicht bekannt
I heard something, but I couldn' t tell what kind of sound it was.
Das als existent und identifizierbar vorausgesetzte Referenzobjekt ist dem Sprecher nicht be-kannt.
[3] nicht-spezifisch, Irrealis-Kontext
Please try somewhere else. He wants to marry someone nice.
Fälle [3] - [9]: Die Existenz und Identifizierbarkeit eines Referenten wird nicht vorausgesetzt.
[4] Entscheidungsfrage
Did anybody tell you anything about it?
[5] Konditionalsatz (Antezedens)
If you see anything, tell me immediately.
[6] indirekte Negation
I don't think that anybody knows the answer.
[7] direkte Negation
Nobody knows the answer.
[8] Vergleichsstandard
In Freiburg the weather is nicer than anywhere in Germany.
[9] Zufallswahl
Anybody can solve this simple problem.
Die Implikationsstruktur formuliert implikative Universalien über die Indefinitpronomina in
Form einer geometrischen Figur: Sie besagt, dass ein Indefinitpronomen, das die Funktionen a
und b, z.B. Funktion [1] und Funktion [4], hat, auch alle Funktionen, die in der Struktur zwi-
schen a und b liegen, haben muss, also im Beispiel die Funktionen [2] und [3]. Indefinitpro-
nomina einer bestimmten Gruppe ("Serie", vgl. unten) decken demzufolge immer einen zu-
sammenhängenden Bereich der Implikationsstruktur ab, nicht etwa inkohärente Bereiche. So
deckt die morphologisch manifesteste deutsche Indefinitserie, die irgend-Serie, den kohären-
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ten Bereich der Funktionen [2] bis [8] ab, die englische any-Serie den kohärenten Bereich der
Funktionen [4] bis [9] usw.
3.5. Markiertheit Das Konzept der Markiertheit stammt aus der Prager Schule (Trubetzkoy schon in 30er Jah-
ren: Phonologie Jakobson: Morphosyntax). Sowohl generative als auch typologische Ansätze
bauen in ganz unterschiedlicher Weise darauf auf. Bei dem typologischen Konzept handelt es
sich um eine paarweise asymmetrische Beziehung zwischen Kategorien, die in paradigmati-
scher Beziehung zueinander stehen (Kategorien zu einer Kategorisierung). Allgemein kann
man sagen: Die unmarkierte Kategorie ist die allgemeine, die markierte Kategorie die beson-
dere. Diese Asymmetrie verbindet Markiertheit mit den Universalien (vgl. Dominanz versus
Rezessivität) und auch mit den Hierarchien.
Folie 34
Beispiel die Numeruskategorien Singular und Plural. Formulierung als implikatives U-
niversale:
• Wenn in einer Sprache der Singular durch (mindestens) ein spezifisches Morphem ausge-
drückt wird, wird auch der Plural durch (mindestens) ein spezifisches Morphem ausgedrückt.
(Version a)
oder:
• Wenn in einer Sprache der Plural durch das Nicht-Vorhandensein eines spezifischen Mor-
phems ausgedrückt wird, wird auch der Singular durch das Nicht-Vorhandensein eines spezi-
fischen Morphems ausgedrückt. (Version b)
Resultat: Plural ist die markierte Kategorie zur Kategorisierung Numerus, Singular ist
die unmarkierte.
tetrachorische Tafel:
Singularmorphem nicht vorhanden
Singularmorphem vorhan-den
Pluralmorphem vorhanden x (Englisch) x (Litauisch)
Pluralmorphem nicht vor-handen
x (Mandarin) –
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Generelle Formulierung der Markiertheitsverhältnisse grammatischer Kategorien durch ein
implikatives Universale:
• Wenn die markierte Kategorie durch das Nicht-Vorhandensein eines Morphems ausge-
drückt wird, wird auch die unmarkierte Kategorie so ausgedrückt.
Folie 35
Kriterien für Markiertheit (nach Croft 1990, zurückgehend auf Greenberg):
• strukturelles Kriterium: Die markierte Kategorie einer grammatischen Kategorisierung wird durch mindestens ebenso viele Morpheme ausgedrückt wie die unmarkierte.
Singular unmarkierte Numeruskategorie, Plural markierte, Aktiv unmarkierte Genus-verbi-Kategorie, Passiv markierte
• Flexionsverhalten: Wenn die markierte Kategorie eine bestimmte Anzahl unterschiedlicher Formen in einem Flexionsparadigma hat, hat die unmarkierte mindestens ebenso viele.
Plural der Personalpronomina 3. Person häufig (in germanischen und slavischen Sprachen) keine Genusunterscheidung, weniger Formen, also Plural markierter
• distributionelles Verhalten: Wenn die markierte Kategorie in einer bestimmten Anzahl un-terschiedlicher grammatischer Kontexte (Konstruktionstypen) vorkommt, kommt die unmarkierte in mindestens eben diesen Kontexten vor.
Präsens unmarkiert, Futur markiert; maskuline Personenbezeichnungen unmarkiert, movierte Feminina markiert
• sprachübergreifendes Verhalten: Wenn die markierte Kategorie in einer bestimmten An-zahl unterschiedlicher Sprachtypen vorkommt, kommt die unmarkierte Kategorie in mindestens eben diesen Sprachtypen vor.
Plural gegenüber Dual unmarkiert
• Frequenz (sprachvergleichend und textbezogen): Die unmarkierte Kategorie kommt mindes-tens ebenso häufig vor wie die markierte.
sprachvergleichend: Die unmarkierte Kategorie kommt in mindestens ebenso vielen
Sprachen (in einem gegebenen sample) vor wie die markierte.
DemN ist dominant, d.h. unmarkiert gegenüber NDem. Dem N ist insgesamt (auch in
sehr großen samples) häufiger als Ndem.
textbezogen: Die unmarkierte Kategorie kommt mindestens ebenso häufig in einem ge-
gebenen Textkorpus vor wie die markierte.
Welches Textkorpus: informeller Stil, am besten mündliche Erzählungen: Passiv ein-
deutig seltener als Aktiv.