voicings

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Voicings 1 Voicings V oicing ist die allgemeine Bezeichnung für eine Akkordstruktur bzw. deren Stim- men- und Intervallverteilung. Dieses Kapitel ist ein kurzer Streifzug durch die cha- rakteristischen Sounds des Mainstream-Jazz. Ich möchte euch Voicings vorstellen, wie ihr sie in Klavier- und Gitarrenbegleitungen oder Bläserarrangements finden werdet und mit deren Hilfe ihr selbst einfache, mehrstimmige Sätze oder Melodieharmonisierun- gen entwickeln könnt. Die Akkordsymbolschrift im Jazz bezieht sich vorwiegend auf vierstimmige Grundtypen. Beginnen wir also mit vierstimmigen Standardvoicings. Sie haben sich als vielseitige und stilunabhängige Klangfarben etabliert. Aufgrund ihres leicht verständlichen Aufbaus eig- nen sie sich besonders gut als Einstieg in die fast unüberschaubare Fülle möglicher Akkord- strukturen. Enge Lage (Close Voicings) Ausgehend von der traditionellen Terzschichtung bezeichnet man damit eine Tonanord- nung, bei der alle Akkordtöne – unabhängig von der Umkehrung – so dicht wie möglich beieinander liegen. Zur besseren Unterscheidung von Umkehrungen werden zwei grund- sätzlich verschiedene Bezeichnungssysteme verwendet. Das eine orientiert sich am höch- sten Ton (auch Diskant oder Lead genannt), das andere am tiefsten Ton (dem Bass) des Voicings (z. B. C-7): Weite Lage (Drop Voicings) Es ist aus Gründen der Instrumentierung (Tonumfang der Melodielinie) oder des Klangs (Registrierung der Instrumente) nicht immer sinnvoll oder möglich, Voicings in enger Lage zu verwenden. Schauen wir uns ein gängiges Konstruktionsprinzip an, mit dem sich Akkordstrukturen in weiter Lage herleiten lassen.

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Voicings

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Voicings

V oicing ist die allgemeine Bezeichnung für eine Akkordstruktur bzw. deren Stim-men- und Intervallverteilung. Dieses Kapitel ist ein kurzer Streifzug durch die cha-rak teristischen Sounds des Mainstream-Jazz. Ich möchte euch Voicings vor stel len,

wie ihr sie in Klavier- und Gitarrenbegleitungen oder Blä ser arran ge ments fi n den wer det und mit deren Hilfe ihr selbst einfache, mehrstimmige Sätze oder Melo die har mo ni sie run-gen entwickeln könnt.

Die Akkordsymbolschrift im Jazz bezieht sich vorwiegend auf vierstimmige Grundtypen. Begin nen wir also mit vierstimmigen Standardvoicings. Sie haben sich als vielseitige und stil un ab hängige Klangfarben etabliert. Aufgrund ihres leicht verständlichen Auf baus eig-nen sie sich besonders gut als Einstieg in die fast unüberschaubare Fülle möglicher Akkord-strukturen.

Enge Lage (Close Voicings)

Ausgehend von der traditionellen Terzschichtung bezeichnet man damit eine Ton an ord-nung, bei der alle Akkordtöne – unabhängig von der Umkehrung – so dicht wie möglich bei ein an der liegen. Zur besseren Unterscheidung von Umkehrungen werden zwei grund-sätz lich verschiedene Bezeichnungssysteme verwendet. Das eine orientiert sich am höch-sten Ton (auch Diskant oder Lead genannt), das andere am tiefsten Ton (dem Bass) des Voicings (z. B. C-7):

Weite Lage (Drop Voicings)

Es ist aus Gründen der Instrumentierung (Tonumfang der Melodielinie) oder des Klangs (Registrierung der Instrumente) nicht immer sinnvoll oder möglich, Voicings in enger Lage zu verwenden. Schauen wir uns ein gängiges Konstruktionsprinzip an, mit dem sich Akkordstrukturen in weiter Lage her leiten lassen.

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Die neue Jazzharmonielehre

Drop Two (↓2)Die 2. Stimme eines Close Voicings wird nach unten oktaviert:

Drop Three (↓3)Die 3. Stimme eines Close Voicings wird um eine Oktave nach unten versetzt:

Drop Two + Four (↓2+4)2. und 4. Stimme werden oktaviert:

Voicings

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Es wäre theoretisch auch denkbar, Drop-4- oder Drop-2+3-Voicings zu konstruieren. Beide Möglichkeiten kommen in der Praxis aber nicht vor, weil sie zu unbalancierten Voicings mit einer extrem unregelmäßigen Stimmverteilung führen. Bei Drop 4 wäre die 4. Stimme viel zu weit vom Rest des Voicings entfernt, bei Drop 2+3 würde zwischen der Lead stimme und den Unterstimmen eine zu große Lücke entstehen.

Drop 2, Drop 3 und Drop 2+4 sind zunächst rein mechanische Konstruktionsprinzipien, die sich auf jeden Akkordtyp und jede Umkehrung anwenden lassen.

Tension Substitutes

Jeder Akkordgrundtyp kann natürlich erweitert werden – unabhängig davon, ob es sich um enge oder weite Lage handelt. Sollen die Voicings vierstimmig bleiben, muss man zugunsten von Tensions auf Akkordtöne verzichten. Während Terz und Sep time üblicherweise bei be-hal ten werden (sie defi nieren den Charakter des Akkords), sind Grundton und Quinte fast immer entbehrlich. Sie lassen sich in Abhängigkeit von der Funktion des Akkords und dem dazugehörigen Skalenmaterial durch eine benachbarte Tension ersetzen (sub sti tu ieren) – daher der Begriff Tension Substitutes:

• Grundton durch b9, 9 oder #9 • Quinte durch 11, #11, b13 oder 13 (6)

Manchmal wird bei Moll7- oder Moll7(b5)-Akkorden auch die kleine Terz (b3) durch 11 ersetzt (das Ergebnis ist ein sus4-ähnlicher Klang).

Zum besseren Verständnis möchte ich in Zukunft folgende Kurzschreibweisen verwenden:

b9/1 9/1 #9/1 11/5 #11/5 b13/5 13/5 11/ b3

Das ist mein eigenes und kein allgemein gebräuchliches Notationssystem. Es zeigt aber auf den ersten Blick, welcher Akkordton durch welche Tension ersetzt wird (b9/1 bedeutet: b9 tritt an die Stelle des Grundtons, b13/5 bedeutet: die b13 ersetzt die Quinte usw.).

Das folgende Beispiel zeigt, wie ein vierstimmiger Grundklang durch den Einsatz ver-schie dener Tension Substitutes variiert werden kann. Ich habe F7 in 3. Umkehrung als Aus-gangs punkt verwendet (das Prinzip ist natürlich auf jeden Akkordtyp und jede Umkeh rung über tragbar). Ihr seht alle Kombinationsmöglichkeiten der Tensions 9 und 13 (dia to nisch) sowie b9, #9, #11 und b13 (alteriert):

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Die neue Jazzharmonielehre

Hier eine typische Voicing-Folge für einen Blues in Bb mit Close Voicings und Tension Substitutes (Vorzeichen beachten!):

Mit einer einfachen Rhythmisierung lässt sich dieses Beispiel gut als Klavierbegleitung nut zen. Hier dieselbe Akkordfolge mit Drop Two Voicings:

Voicings

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Ich habe weitgehend auf enge Stimmführung geachtet. Die jeweiligen Tension Substitutes entsprechen zwar den üblichen Skalenklischees, sind aber so gewählt, dass ihr möglichst viele verschiedene Klangfarben kennen lernt.

Wir sehen, dass die herkömmliche Denkweise – Akkordtöne unten, Erweiterungen oben – bei Close und Drop Voicings nicht immer greift. Durch die Verwendung von Tension Sub stitutes können auch in den unteren Stimmen Erweiterungen liegen. Die Praxis zeigt, dass manche dieser Situationen mit Vorsicht zu behandeln sind. Für traditionelle Voicings haben sich folgende Regeln herauskristallisiert:

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Die neue Jazzharmonielehre

• Eine kleine Sekunde (b2) zwischen Lead und 2. Stimme ist zu vermeiden (es sei denn, man will diesen speziellen Soundeffekt). Der Grund: Die Oberstimme wird nicht mehr als Melo die wahrgenommen – sie wird durch die Dissonanz zugedeckt. In den Unter stim men dage gen stellt eine kleine Sekunde kein Problem dar – die Spannung ist zumindest in enger Lage gut in den Gesamtklang eingebettet.

• Bei Drop Voicings sollte man b9-Beziehungen aus dem Weg gehen. Der Grund: In wei ter Lage sind die einzelnen Töne und ihre Intervallverhältnisse viel exponierter als bei einem Close Voicing. Eine b9 würde mit ihrer extremen Dissonanz recht deutlich aus dem Klang bild herausstechen und den meist konsonanten Charakter dieser Voicings stören. Nach folgend alle theoretisch möglichen Konstellationen, die zu einem dieser Probleme führen können:

oben 1 b3 3 11 b5 5 b13 b7

unten maj7 9 #9 3 11 #11 5 13

Liegt eine der oberen Intervallfunktionen in der Leadstimme, dann ist der jeweils untere

Ton im Voicing zu vermeiden und als conditional (situationsabhängige) Avoid Note zu behan deln, um der b9 aus dem Weg zu gehen (Ausnahme ist der 7(b9)-Akkord). Bedingt durch das Konstruktionsprinzip kommen einige dieser Möglichkeiten bei Close und Drop Voicings nicht vor. Wir werden aber noch andere Voicingtypen besprechen, bei denen jeder der aufgeführten Fälle möglich wäre.

Hier ein paar konkrete Beispiele, um das Prinzip zu verdeutlichen (analysiert die Voicings und achtet auf die Tonverteilung):

Man kann Close und Drop Voicings zu fünfstimmigen Strukturen erweitern, indem man als 5. Ton die Leadstimme eine Oktave tiefer verdoppelt. Man spricht dann von einer Double Lead. Bei Close Voicings führt die Double Lead zu einem Klangkonzept, das als „Shearing“ bekannt geworden ist. Es geht auf den Pianisten George Shearing zurück, der berühmt dafür war, Melodien beidhändig in enger Lage zu harmonisieren (locked hand). Hier sind ein ige Beispiele für Double Lead Voicings:

b9

Voicings

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Aufgabe

Notiert die folgenden Voicings. Leadstimme, Voicingtyp und eventuell zu verwendende Tension Substitutes sind jeweils vorgegeben:

Analysiert die folgenden Voicings (schreibt Voicingtyp und Tension Substitutes unter die Noten):

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Die neue Jazzharmonielehre

Harmonisiert die folgende Phrase in Drop 2:

Low Interval Limits

Ihr habt sicherlich schon bemerkt, dass viele Voicings immer verzerrter und matschiger klin gen, je tiefer sie liegen (versucht es selbst am Klavier, indem ihr z. B. einen einfachen Dur dreiklang chromatisch nach unten verschiebt – ab einem bestimmten Punkt klingt er nicht mehr angenehm). Dahinter steckt die physikalische Tatsache, dass die Obertonreihen der ein zelnen Akkordtöne im unteren Frequenzbereich immer näher zusammenrücken und sich dadurch immer stärker gegenseitig stören.

Für jedes Intervall gibt es einen unteren Grenzwert – ein so genanntes Low Interval Limit (LIL) – ab dem der Zusammenklang als störend empfunden wird. Dabei handelt es sich nicht um absolute, ein deutig fi xierbare Grenzen, sondern um diffuse, von Musiker zu Musiker unter schied lich erlebte Bereiche, die durch eine Reihe von Faktoren beeinfl usst werden:

• Durch die Hör- und Spielgewohnheiten (ein Bassist, der sich laufend im tiefen Regis-ter bewegt, wird wesentlich sensibler auf dieses Phänomen reagieren als z. B. ein Trompeter, dessen Instrument ihn nie mit LILs in Berührung bringt);

• durch das persönliche Verhältnis zu Dissonanzen (je toleranter unser Ohr mit Span-nun gen umgeht, desto tiefer wird unser persönliches LIL liegen);

• durch die Instrumentierung (für eine homogene Besetzung – z. B. ein Posau nen quar-tett – kann man tiefer schreiben als für einen gemischten Bläsersatz, bei dem die Ein zel stim-men sehr unterschiedliche Klangcharakteristika besitzen).

Dennoch haben sich im Laufe der Zeit Erfahrungswerte herauskristallisiert. Hier sind die LILs für alle Intervalle inner halb der Oktave:

Voicings

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Größere Intervalle werden als Oktavierungen der Grundintervalle behandelt. Überprüft diese Tabelle am Klavier (nicht an einem Keyboard! – das entspricht nicht der Realität, weil es zu sauber gestimmt ist) und bildet euch ein eigenes Urteil. Ihr werdet fest stellen: LILs hängen vom Dissonanzgrad des jeweiligen Intervalls ab – je reiner bzw. span nungs ärmer ein Intervall ist, umso tiefer lässt es sich verwenden (auch hier erkennt man den Einfl uss der Obertonreihe).

Hier sind einige Voicing-Beispiele, die – bezogen auf die obige Tabelle – LIL-Situationen enthalten (beachtet den Bassschlüssel):

Es leuchtet sicher ein, dass man besonders bei Voicings in weiter Lage (z. B. Drop Voicings) auf LILs achten müsst. Close Voicings werden selten so tief verwendet, dass es Schwie rig kei-ten gibt. Ihr seht auch, dass LIL-Probleme nicht nur auf den Abstand der beiden tiefsten Stim men beschränkt sind – manchmal können auch Mittelstimmen betroffen sein. Zudem kommt es immer wieder vor, dass ein Voicing mehrere LIL-Situationen enthält.

Einen wichtigen Punkt gilt es noch zu beachten: Wenn – wie bei vielen Close und Drop Voicings – die tiefste Stimme nicht der Grundton ist, so muss dieser dennoch mit be rück-sich tigt werden, da er ja meist vom Bass gespielt wird. Das folgende Beispiel zeigt, dass ein Voicing einerseits gut funktionieren, andererseits aber ein LIL-Problem aufweisen kann – je nach dem, auf welchen Grundton es sich bezieht:

*)

*) Als G-7/Bb wäre das Voicing in Ordnung (tiefste Stimme und Basslinie spielen jetzt denselben Ton, und die

LIL-Situation wäre damit aufgehoben).

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Die neue Jazzharmonielehre

LILs dürfen nicht dogmatisch gehandhabt werden. Sie sind keine exakten Trennlinien, die keinerlei Spielraum zulassen nach dem Motto „darüber gut, darunter schlecht“. Sie sollen euch zwar für ein Klangproblem sensibilisieren, das besonders beim Schreiben von Blä ser-sätzen oder bei der Begleitung (Klavier, Gitarre) eine Rolle spielt; es gibt jedoch genügend Beispiele, die einen relativ toleranten Umgang mit LILs demonstrieren. Manch mal kann ein „Verstoß“ gegen ein LIL sogar ein wünschenswerter musikalischer Effekt sein.

Spreads

Die bisher besprochenen Voicingtypen werden von „oben nach unten“ konstruiert – die Leadstimme ist der Ausgangspunkt, unter jeden Melodieton wird ein Voicing gehängt. Dagegen baut man Spreads von „unten nach oben“ auf – also der traditionellen Denkweise entsprechend: Akkord töne unten, Tensions oben. Unter Spreads (von „to spread“ = ausbreiten, spreizen) versteht man Voicings in sehr weiter Lage. Sie werden folgendermaßen konstruiert:

• Der Grundton liegt in der tiefsten Stimme (Ausnahme: Umkehrungen).

• Darüber platziert man Terz und Septime in beliebiger Anordnung.

• Zuletzt werden ein oder zwei weitere Töne (Akkordton oder Tension) hinzugefügt, je nachdem, ob das Voicing vier- oder fünfstimmig sein soll.

• Damit der innere Zusammenhalt des Voicings nicht verloren geht, sollte der Abstand zwischen zwei benachbarten Stimmen nicht mehr als eine Septime betragen (Ausnahme: Zwischen der tiefsten Stimme = Grundton und der darüber liegenden Stimme kann der Abstand beliebig groß sein; Grund: Die Obertonreihe des Grundtons füllt die Lücke).

Hier sind einige fünfstimmige Einzelvoicings sowie ein Beispiel für eine mit Spreads har mo-ni sierte Phrase:

Voicings

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Euch fällt sicher auf, dass einige dieser Voicings auf dem Klavier nur schwer oder gar nicht spielbar sind (außer ihr habt Spinnenfi nger oder benutzt das Pedal und schlagt die Töne nacheinander an). Das ist Absicht – man sollte Voicingkonzepte nicht von den Mög lich-keiten eines einzelnen Instruments abhängig machen. Wenn man sich nur daran orien tiert, was auf dem Klavier machbar ist, dann lernt man viele Sounds, die man z. B. im Rah men eines Bläsersatzes sehr wohl antreffen kann, womöglich gar nicht kennen.

Spreads verfügen (wegen des Grundtons in der tiefsten Stimme) über viel Eigenresonanz und sind daher sehr ausdrucksstarke, stabile, mächtige Klänge. Sie wirken allerdings auch schwer fälliger als kleine, kompakte Voicings. Für schnelle Melodielinien (z.B. Ach tel-passagen) sind sie zu unbeweglich. Sie eignen sich gut für längere Sounds oder um Höhe-punkte zu mar kieren.

Spreads können natürlich auch dreistimmig sein. Ein gutes Beispiel fi ndet ihr in den Takten 13 und 14 von „Stolen Moments“ von Oliver Nelson (siehe pdf-J).

Quartvoicings

An der Schnittstelle zwischen Bebop und Cool Jazz ändert sich die Denk- und Hörweise von einem vorwiegend Changes-orientierten (vertikalen) zu einem mehr skalenbezogenen (hori zontalen) Klangkonzept (siehe dazu auch S. 159 ff). Während die Melodik ihre ersten modalen Gehversuche macht, beginnt sich die Harmonik von traditionellen Akkord struk-tu ren zu lösen.

Frage: Wie begleitet man ein Stück, das sich über längere Strecken auf einen einzigen Akkord oder Modus bezieht? Bei einem Thema wie „So What“ (siehe S. 160), das aus schließ-lich in Dorisch steht (D-7 und Eb-7), könnte man z. B. mit verschiedenen Voicings in enger und weiter Lage (Close und Drop Voicings, Spreads), deren Umkehrungen sowie den für Dorisch typischen Tension Substitutes arbeiten. Eine weitere Variante wäre die Ver wendung von diatonischen Nebenklängen – also nicht nur des Tonikaklangs I-7, son dern auch der Sounds, die auf der II., III., IV. Stufe usw. von Dorisch stehen. All diese Mög lichkeiten lei-ten sich aber ausschließlich von den traditionellen Terzschichtungen ab. Es ist daher nur logisch, dass man irgendwann auch mit anderen Intervallzusammensetzungen zu expe ri-men tieren beginnt – so z. B. mit Quartvoicings.

Ihr Konstruktionsprinzip ist denkbar einfach:

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Die neue Jazzharmonielehre

• Man wählt eine zum Akkordsymbol passende Skala und einen Melodieton (Leadstimme).

• Alle Skalentöne (abzüglich eventueller Avoid Notes) stehen zur Verfügung und werden – wenn möglich – in reinen Quarten unter den Melodieton gesetzt. Eine übermäßige Quarte (#4/b5) fügt sich ebenfalls gut in das Klangbild ein. Die Low Interval Limits gelten natürlich auch für Quartvoicings.

• Um eine Avoid Note zu umgehen, kann man bei vier- oder fünfstimmigen Quart voic-ings notfalls auch eine Terz einbauen. Es muss aber eine große Terz sein – eine kleine Terz erzeugt in Verbindung mit zwei reinen Quarten eine b9 (Beispiel 1). Sie sollte zudem – wenn mög lich – oben liegen, damit die Quarten das Fundament bilden. Liegt die Terz in der Mitte oder gar unten, klingt das Resultat nicht mehr wirklich nach einem Quartvoicing (Bei spiel 2). Schaut euch als Beispiel die Klavierbegleitung von „So What“ auf S. 160 an – die beiden Voicings für D-7 bestehen aus reinen Quarten sowie einer großen Terz zwischen der 1. und 2 Stimme (Beispiel 3):

Quartvoicings haben eine recht eigentümliche Färbung, die sie deutlich von traditionellen Voicingformen abhebt. Auch aus funktionaler Sicht sind sie schwer einzuordnen. Beglei tun-gen, die Quartvoicings enthalten, erzeugen daher den Eindruck eines offenen, schwe benden Klang teppichs.

Quartvoicings kann man auf jeden Akkordtyp bzw. jede Skala anwenden. In der folgenden Dar stellung ist eine G-Durtonleiter mit vierstimmigen Quartvoicings harmonisiert. Als Akkord symbol ist Gmaj7 vorgegeben. Das C (Avoid Note) ist daher zu vermeiden – als Melo dieton sowieso und in den Unterstimmen ebenfalls. Folglich entfallen alle Voicings, die ein C enthalten (sie sind durch ein „X“ markiert). Als mögliche Alternative könnte man statt des C ein C# (= #11) verwenden. Die resultierende Skala ist damit Lydisch und nicht mehr Ionisch. Das wäre aber bei einem Maj7-Akkord nicht ungewöhnlich (die jewei ligen Voicings sind durch ein „L“ gekennzeichnet). Ebenfalls denkbar ist es, eine Terz ein zu-bauen. Alle mit einem * gekennzeichneten Voicings können als Harmonisierung von Gmaj7 verwendet werden:

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Fünfstimmige Quartvoicings für C-7/Dorisch:

Ihr seht bei beiden Akkordreihen, dass einige der Voicings die Akkordsymbole Gmaj7 bzw. C-7 nur unvollständig wiedergeben. Das liegt in der Natur von Quartvoicings. Es ist völlig unerheblich, ob die wichtigen Funktionstöne (Terz und Septime) im Voicing ent-halten sind oder nicht. Es geht nur darum, eine ganz spezielle Inter vall struk tur und die jeweilige Skala zu bedienen.

Umgekehrt beweist das folgende Beispiel, dass ein einziges Quartvoicing sehr viele ver-schie dene harmonische Situationen ausdrücken kann:

Ein Dummkopf, der alles nachprüft – es handelt sich zudem nur um die wichtigsten Deu tungen. Das Beispiel zeigt aber, dass Quartvoicings sehr vielfältige Interpretationen zulas sen, die mit der herkömmlichen Akkordsymbolschrift nur schwer zu beschreiben sind (diese basiert ja auf Terzschichtungen).

Im folgenden Beispiel hat fast keines der dreistimmigen Quartvoicings einen eindeutigen Bezug zum jeweiligen Akkordsymbol:

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Die neue Jazzharmonielehre

Auch für Quartvoicings gibt es Umkehrungen, die man durch Oktavierung der Außenstimmen erhält:

Aufgabe

Harmonisiert G-7/Dorisch, G7/Mixolydisch und G7/Alteriert nach demselben Muster wie Gmaj7 (Ionisch/Lydisch) oben – diesmal aber mit fünfstimmigen Quartvoicings (Low Inter-val Limits beachten!).

Cluster

Der Begriff Cluster bedeutet soviel wie „Tontraube“. Er beschreibt also eine besonders enge Tonanordnung. Typisch für einen Cluster sind Sekundschichtungen (2/b2). Cluster klin gen daher üblicherweise sehr dicht und dissonant. Man kann den Spannungsgrad aber vari-ieren, indem man die Anzahl der kleinen Sekunden (b2) im Voicing steuert – sie bestimmen in erster Linie die Klangschärfe des Clusters. Das Kon struktionsprinzip:

• Man wählt eine zum Akkordsymbol passende Skala sowie einen Melodieton.

• Das Tonmaterial (abzüglich einer eventuellen Avoid Note) wird in Sekundschritten unter die Leadstimme gehängt. Falls nötig (z. B. um einer Avoid Note aus dem Weg zu gehen) kann auch eine Terz eingebaut werden.

• Anders als bei Close Voicings ist bei einem Cluster eine kleine Sekunde (b2) zwischen 1. und 2. Stimme denkbar (hier fügt sich die starke Dissonanz gut in den spannungsreichen Grund charakter des Sounds ein). Will man aber ein klareres Melodiegefühl, dann sollte eine Terz oder gar eine Quarte zwischen den beiden obersten Töne liegen, damit sich die Lead stimme freier bewegen kann.

• Vier- bis fünfstimmige Cluster sollten mindestens zwei Sekunden enthalten, um den dissonanten Charakter des Voicingtyps zu gewährleisten.

• Das Außenintervall sollte bei einem vierstimmigen Cluster nicht mehr als eine Sexte, bei einem fünfstimmigen nicht mehr als eine Septime betragen, um ihn deutlicher von Close Voicings abzugrenzen.

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Bei einem Cluster hat man – wie auch bei Quartvoicings – nicht immer einen eindeutigen Bezug zum Akkordsymbol. Man bedient zwar die jeweilige Skala, einzelne Bestandteile des Grund akkords können aber fehlen (besonders bei drei- oder vierstimmigen Clustern). Es geht eher um die Strukturierung des Tonmaterials, um einen ganz speziellen Sound und weniger um das korrekte Aussetzen eines bestimmten Akkordsymbols im Sinne der tra-ditioneller Terzschichtungen.

Hier ist ein Beispiel für eine Harmonisierung mit Clustern (auf dem Klavier spielen!). Die Akkordfolge bezieht sich auf die Ballade „Blue In Green“ (siehe pdf-F). Spielt die Basstöne in der linken Hand mit, damit ihr die Sounds besser zuordnen könnt:

Upper Structures, Polychords, Slash Chords, Hybrids

Jetzt wird’s kompliziert! Ich möchte hier noch kurz ein harmonisches Prinzip vorstellen, das den modernen Jazz nachhaltig geprägt hat und inzwischen zum gängigen Klangvokabular gehört, die so genannten Upper Structures. Im modernen Jazz sind sie eines der wichtigsten Mit tel, um auch traditionellen Akkordverbindungen eine etwas ungewöhnlichere Färbung zu ver lei hen. Hier kurze Defi nitionen der verschiedenen international gebräuchlichen Begriffe:

• Upper Structures: Wie der Name schon sagt, bezeichnet dieser Begriff Strukturen, die in erster Linie aus den oberen Bestandteilen eines Akkords – also vorwiegend den Tensions – zusam mengesetzt sind. Dabei wird das verfügbare Tonmaterial einer Skala (abzüglich even tu eller Avoid Notes) so angeordnet, dass Drei- oder Vierklänge entstehen, die nicht dem jeweiligen Akkordsymbol entsprechen. Die resultierenden Strukturen werden in belie-bi ger Umkehrung über den Grundton und/oder die wichtigsten Töne (z. B. 3/7) des eigent-li chen Akkords geschichtet (Akkord über Akkord).

• Polychords / Bitonale Akkorde: Unter diesem Begriffe versteht man harmonische Strukturen, die aus einer Kombination von mehreren Klängen mit unterschiedlichem Grundton bestehen (Akkord über Akkord). Man spricht daher von Polychords (poly = viel, chord = Akkord). Da bei diesem harmonischen Konzept in den meisten Fällen zwei

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Die neue Jazzharmonielehre

Akkorde zu einem Gesamt klang verbunden werden, spricht man auch von bitonalen Strukturen (bi = zwei). Upper Structures sind zwangsläufi g Polychords. Während sich aber Upper Structures aus der Skala des Grundakkords ableiten, können bei Polychords beliebige Akkordtypen miteinander kombiniert werden, ohne dass zwischen beiden Klängen eine tonale oder funktionale Beziehung bestehen muss.

• Slash Chords: Dieser Begriff bezeichnet pauschal alle Strukturen, bei denen ein Drei- oder Vierklang über einem Basston angeordnet ist, der nicht zum Akkord selber gehört. Die ser Basston wird wie bei Umkehrungen durch einen Schrägstrich (= „slash“) abgetrennt notiert.

• Hybrids: Dieser vorwiegend in den USA verwendete Begriff bezeichnet Klänge, die zwar aus Akkordgrundtypen abgeleitet sind, denen aber die Terz und damit die eindeutige Dur/Moll-Zuordnung fehlt. Hybrids werden üblicherweise als Slash Chords notiert.

Obwohl es sich scheinbar um unterschiedliche Voicingformen handelt, so verfolgen all diese Begriffe im Prinzip denselben Grundgedanken: Sie bezeichnen Klänge, die ein Gefühl der harmonischen Mehrdeutigkeit auslösen. Dabei können traditionelle Akkordsymbole auf eine andere Art und Weise strukturiert werden, es können aber auch gänzlich neue Sounds entstehen.

Eine kurze Bemerkung zur Symbolschrift. Dummerweise werden sowohl der einzelne Ton als auch der Durdreiklang mit einem Großbuchstaben bezeichnet. Um Nota tionschaos zu verhindern, werden Upper Structures – anders als Umkehrungen oder Slash Chords – durch einen Horizontalstrich von ihrem Grundklang abgetrennt:

Hier ist jeweils ein Beispiel für die verschiedenen Konzepte:

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Der Begriff „Slash Chords“ wird grundsätzlich auf jede Situation angewendet, bei der ein Drei- oder Vierklang über einen Basston gelegt wird. Es ist daher wichtig, konventionelle Umkeh run gen von ungewöhnlicheren Klängen unterscheiden zu können. Bei Umkeh run-gen liegt immer ein Akkordton im Bass, während bei anderen Klängen der Bass ton nichts mit der darü ber angeordneten Struktur zu tun hat und sich meist mit ihr reibt. Schauen wir uns zwei Beispiele im Vergleich an (auf dem Klavier spielen):

Hier seht ihr elementare Dreiklangsumkehrungen in traditioneller Stimmführung. Das folgende Beispiel zeigt dieselben Dreiklänge, deren Wirkung aber durch die Verwendung von ungewöhnlichen Basstönen stark verfremdet wird:

Wer genau hinhört, erkennt, dass auch die Basslinie einem eigenen tonalen Konzept folgt: Sie ist eindeutig in Ab-Dur zu hören (mit einem chromatischen Zwischenschritt). Das Bei spiel zeigt also ein poly-tonales Aufeinandertreffen von G-Dur (Akkorde) und Ab-Dur (Bass linie). Solche Spielchen sind im modernen Jazz sehr beliebt.

Upper Structure Triads

Upper Structures sind Voicingtypen, die aus dem Vokabular des modernen Jazz nicht mehr wegzudenken sind. Viele Komponisten und Arrangeure schreiben fast nur noch mit die-sem Symbolsystem. Grundsätzlich kann jeder Akkordtyp mit jedem anderen Akkord oder Basston kombiniert werden – die Zahl der möglichen Klänge ist fast unendlich. Ich möchte

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Die neue Jazzharmonielehre

mich daher auf so genannte Upper Structure Triads (UST) beschränken, bei denen Dur- und Molldreiklänge (seltener übermäßige oder verminderte Akkorde) über einen Grund-klang geschichtet werden.

Tasten wir die wichtigsten Akkordtypen und die dazugehörigen Skalenvarianten nach mög li chen Upper Structures ab. Damit das gewünschte Gefühl der Mehrschichtigkeit ent steht, muss eine Upper Structure mindestens eine Tension enthalten (je mehr, desto besser; umso deutlicher hebt sich der Klang vom Akkordgrundtyp ab). In der folgenden Über sicht sind alle Dreiklänge aufgelistet, die sich für ein bestimmtes Akkordsymbol aus der dazugehörigen Skala ableiten lassen (auch hier entfallen jene Dreiklänge, die eine Avoid Note enthalten). Die mit einem * markierten Akkorde eignen sich besonders gut als USTs (Ver set zungs zei chen gelten immer nur für den jeweiligen Ton):

Da in Äolisch und Dorisch die 6. Stufe Avoid Note ist (b6 bei Äolisch und 6 bei Dorisch), haben beide Skalen dieselben USTs (Ausnahme: Wenn Dorisch nicht im funktionalen Kon text verwendet wird, dann ist 6 keine Avoid Note). Bei Alteriert und HM5 habe ich alle Dreiklänge so notiert, dass sie auch als solche erkennbar sind – daher die vielen enhar-monischen Verwechslungen.

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Die Skala HTGT könnt ihr auf S. 153 nachschlagen – sie enthält sehr viele interessante UST-Möglichkeiten. Aus der Ganztonleiter lassen sich – der symmetrischen Struktur wegen – nur übermäßige Dreiklänge ableiten, die sich alle als USTs für Dominanten eignen (keine Avoid Note). Sus4(b9)-Akkorde könnt ihr in Verbindung mit HM5 abtasten (hier geht es um die Avoid Note, die nicht mehr 4, sondern 3 ist).

Aufgabe

Untersucht auch Lokrisch, Harmonisch Moll, HM5 und Mixo(#11) auf die darin ent hal te-nen USTs.

UST-Voicings müssen mindestens fünfstimmig sein, damit der Grundakkord zu sei nem Recht kommt. Das Fundament sollte aus Grundton und Terz (1/3, 1/b3) bzw. Terz und Sep-time (3/maj7, 3/b7, b3/b7 etc.) in beliebiger Anordnung bestehen. Die Ton kom bi na tionen 1/5, 1/7 oder 5/7 eignen sich weniger gut, weil sie den Akkordcharakter nicht klar genug defi nieren (fehlende Terz) oder zu wenig Grundklang enthalten. Die 5 lässt man, beson ders bei alte rierten Dominanten, ohnehin besser weg, weil sie mit einer #11 oder b13 in der UST in Konfl ikt geraten würde. Bei sechs oder noch mehr Stimmen ist der Grundakkord meist vollständig. Dadurch kommt es häufi g zu Tonverdopplungen zwischen UST und Grund-akkord.

Hier eine mit USTs harmonisierte Akkordfolge:

Obwohl die Akkordfolge an sich recht konventionell ist, erhält sie durch die USTs einen viel farbigeren Charakter. Wichtig ist, UST und Grundakkord räumlich so von ein ander zu trennen, dass sie (wie im Notenbild) als eigenständige Strukturen erkenn bar bleiben. Ein Pianist wird z. B. den Grundakkord mit der linken und die UST mit der rech ten Hand spielen, ein Arrangeur legt zum Beispiel den einen Akkord in die Posaunen, den anderen in die Trom pe ten. Grundsätzlich sollte mindestens eine Quarte zwischen beiden Ebenen lie gen, damit die Mehrschichtigkeit des Gesamtklangs gewährleistet ist.

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Die neue Jazzharmonielehre

Dreiklang über Bass

Wenn man die Entwicklung der Upper Structures historisch verfolgt, kann man fest stel len, dass sie sich emanzipiert haben und inzwischen unabhängig vom Grundakkord ver wen det werden. Schauen wir uns daher an, welche Strukturen entstehen, wenn man alle chro ma-tisch möglichen Dur- und Molldreiklänge mit demselben Basston kombiniert. Eini ge der resul tierenden Sounds werden euch vertraut sein, andere dagegen sind ver mut lich nur schwer ein zuordnen. Ich habe in den folgenden beiden Tabellen die jeweils wich tigs ten Skalen- oder Akkordassoziationen zusammengefasst. Sie sollen euch den Zugang zu den teil weise recht sperrigen und ungewöhnlichen Sounds erleichtern.

Ihr werdet sehen, dass die Interpretationsmöglichkeiten von der Betrachtungsweise abhän gen. Es stellt sich nämlich die Frage, worauf sich der Gesamtklang bezieht: auf den Bass ton oder den Grundton der Upper Structure? Grundsätzlich neige ich dazu, den Bass ton als Bezugspunkt aufzufassen, weil das Ohr am stärksten auf das Fundament eines Sounds – also den tiefsten Ton – reagiert. Bei Umkehrungen der grundlegenden Drei- oder Vier klän gen wird man allerdings eher den Grundton der Upper Structure als Bezugspunkt wahr neh men.

Durdreiklang / Basston

G / G G-Durdreiklang in Grundstellung

Ab / G Phrygisch, HM5, G7(sus4/b9), Abmaj7 mit Septime im Bass

A / G Lydisch oder Mixo(#11), A7 mit Septime im Bass (Sekundakkord)

Bb / G G-7 (vierstimmige Grundstellung)

B / G Lydisch(#5), Gmaj7(#5)

C / G C-Durdreiklang in 2. Umkehrung

C# / G Alteriert, HTGT, G7(b9/#11) ohne Terz

D / G Gmaj9 (Ionisch/Lydisch) oder G-maj9 (HM/MM) ohne Terz

Eb / G Eb-Durdreiklang in 1. Umkehrung

E / G HTGT, G13(b9) ohne Septime

F / G Mixolydisch, G9(sus4), Dorisch/Äolisch, G-11 ohne Terz

F# / G GTHT, G°7 mit Tension

Spielt die verschiedenen Sounds auf dem Klavier und entscheidet selbst, ob diese Asso-zia tionen für euch nachvollziehbar sind. Es kann durchaus sein, dass ihr noch weitere Inter-pre ta tionen fi ndet. Entscheidend ist, dass ihr ein Gespür für diese Klänge entwickelt, damit ihr sie auch im Zusammenhang wieder erkennt. In der obigen Tabelle sind die Slash Chords

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der Übersicht halber chromatisch aufgelistet. Man kann sie aber auch anders gruppieren, indem man sie z. B. ihrem Spannungsgrad entsprechend sortiert. Es gibt natürlich noch andere Ordnungskriterien. Ich habe aber festgestellt, dass die meisten Musi ker auf diesen Aspekt besonders stark reagieren. Die folgende Aufstellung führt von den kon sonantesten zu den dissonantesten Farben:

1) G/G, C/G, Eb/G (Dreiklänge)

2) Bb/G (Moll7-Vierklang)

3) A/G, D/G, F/G (Umkehrung eines Vierklangs, Hybrid, Sus4)

4) B/G, F#/G (Slash Chords)

5) Ab/G, C#/G, E/G (Slash Chords)

Während die Kategorien 1) und 2) nur „basic sounds“ enthalten, fi nden wir in Kate go rie 3) Klänge, die zwar verhältnismäßig konsonant sind, die aber nicht mehr zu den Grund-akkorden zählen und schon allein deswegen eine recht eigene Ausstrahlung haben. Ab Kate go rie 4) haben wir es mit ungewöhnlicheren Farben zu tun, die sich nur noch schwer in das herkömmliche Akkordsystem einfügen oder mit der traditionellen Sym bol schrift beschrei ben lassen. Der Unterschied zwischen den Kategorien 4) und 5) liegt in ihrer Inter-vall struktur. B/G und F#/G enthalten jeweils eine große Septime, während die letzten drei Sounds wegen der b9 den höchsten Spannungsgrad haben:

Das Notenbeispiel zeigt, dass die Dreiklänge in beliebiger Umkehrung über dem Basston geschich tet werden können. In der Praxis fi ndet man allerdings am häufi gsten die 2. Umkeh-rung. Das mag – wieder einmal – an der Obertonreihe liegen. Die Obertöne 3 – 8 bilden die drei Umkehrungen eines Durdreiklangs: 2. Umkehrung (3/4/5), Grundstellung (4/5/6), 1. Umkehrung (5/6/8). Es wäre also denkbar, dass die 2. Umkehrung als besonders stimmig, satt, fett, fundamental und in sich ruhend empfunden wird, weil sie in der Obertonreihe am tiefsten liegt (das ist aber nur eine Vermutung).

Gerade die ungewöhnlicheren Slash Chords werden gerne als Substitutionen für her-kömm liche Sounds verwendet, um das Klangbild interessanter zu gestalten. Die Klänge aus Kategorie 4) fi ndet man häufi g anstelle von Maj7- oder Moll7-Akkorden. So kön nen B/G oder F#/G an die Stelle von Gmaj7 treten (beide Sounds enthalten große Terz und/oder große Septime), F#/G kann G-7 bzw. G-maj7 ersetzen. Die Sounds der Kategorie 5) hört

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Die neue Jazzharmonielehre

man wegen ihres hohen Spannungsgrades häufi g als Ersatz für Dominanten. Hier sind einige Harmonisierungen für eine II-V-I-Verbindung (G-Dur bzw. G-Moll):

Schauen wir uns an, welche Konzepte hinter den einzelnen Beispielen stecken:1) Gmaj7 wird durch B/G = Gmaj7(#5) ersetzt. Der Sound enthält sowohl die große

Terz als auch die große Septime und kann damit problemlos als Tonikaklang verwendet werden.

2) Gmaj7 wird durch F#/G ersetzt (enthält die große Septime). Die kleine Terz stört dabei nicht – man könnte den Sound auch als Gmaj7(#9/#11) ohne Terz interpretieren. Wich tig ist vielmehr, dass F#/G als relativ stabiler Tonikaklang empfunden wird.

3) G-7 bzw. G-maj7 wird durch F#/G ersetzt. Der Slash Chord enthält die kleine Terz und die große Septime. Die #4 (C#) stört nicht, weil der Klang zwar ungewöhnlich wirkt, aber in sich ruht und keinen sehr starken Aufl ösungsdrang besitzt.

4) Hier wird jeder Akkord durch einen Slash Chord ersetzt. G/A klingt zwar wie ein A9(sus4), weil die Mollterz fehlt – der Sound ist einem Mollklang aber sehr ähnlich. Ab/D ent spricht einer alterierten Dominante ohne Terz. A/G muss als G6(#11) gehört werden,

Voicings

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dem ebenfalls die Terz fehlt. Alle drei Slash Chords sind daher Hybrids. Dass die Tonika nun nicht mehr Ionisch sondern Lydisch ist, verleiht der Klangfolge zusätzliche Span nung. Das Beispiel zeigt schön, wie man durch geschickte Wahl der Dreiklänge zu interessanten Stimmführungen kommt. Während die Basslinie im Quintfall abwärts ver läuft, bewegen sich die Dreiklänge in Gegenbewegung chromatisch aufwärts.

5) Hier wird D7 durch eine Dreiklangsfolge ersetzt. Jeder der Dreiklänge lässt sich aus einer Dominantskala herleiten: B/D aus D7-HTGT, Bb/D aus D7-Alteriert und Ab/D aus Alteriert oder HTGT. A-7 wird bewusst als C/A notiert, damit die konsequent chromatisch abwärts verlaufende Dreiklangsreihe deutlich erkennbar wird. G/Eb ist eine kleine Spielerei, die zeigt, wie vieldeutig Slash Chords genutzt werden können. Obwohl ein Eb im Bass liegt, reicht der G-Durdreiklang aus, um weiterhin ein deutliches Tonikagefühl hervorzurufen. Der Sound lässt sich zudem als Gmaj7(#5) in Umkehrung analysieren.

6) Dieses Beispiel zeigt, wie weit man das Spiel mit Slash Chords treiben kann, ohne die traditionelle Basis zu verlassen. Das Klangbild wirkt gleichermaßen seltsam und vertraut. Wie ist das möglich? Auch hier geht es um eine II-V-I-Verbindung in G-Dur, wie man an der Basslinie unschwer erkennen kann. Wer aber genau hinhört, wird auch in den Drei klängen eine Grund kadenz entdecken: IV-V-I in F#-Dur. Da es sich bei IV-V-I und II-V-I im Prinzip um dieselbe Funktionsfolge handelt, treffen hier zwei chromatisch gegen-ein ander verschobene Grundkadenzen aufeinander – wir haben es also mit einer bitonalen Klang verbindung zu tun.

Dies sind einige wenige Beispiele, die nur andeutungsweise zeigen können, welche Klang-viel falt in diesem Voicingkonzept steckt.

Molldreiklang / Basston

G- / G G-Molldreiklang in Grundstellung

Ab- / G HM5, G7(b9/b13) ohne Septime, HM/MM, Ab-maj7 m. Sept. im Bass

A- / G Mixolydisch, G13(sus4) ohne Septime, A-7 mit Septime im Bass

Bb- / G G-7(b5) (vierstimmige Grundstellung)

B- / G Gmaj7 (vierstimmige Grundstellung)

C- / G C-Molldreiklang in 2. Umkehrung

C#- / G HTGT, G13(b9/#11) ohne Terz

D- / G G9 (Mixolydisch) oder G-9 (Dorisch/Äolisch) ohne Terz

D#- / G keine Ahnung, special sound

E- / G E-Molldreiklang in 1. Umkehrung

F- / G HM5, G7(sus4/b9)

F#- / G Lydisch, Gmaj9(#11) ohne Terz

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Die neue Jazzharmonielehre

Aufgabe

Vergleicht auch diese Slash Chords, untersucht sie auf weitere Klangassoziationen und ord-net sie nach ihrem Spannungsgehalt.

Dasselbe Spiel könnten wir jetzt mit übermäßigen und verminderten Dreiklängen sowie mit allen vier- und fünfstimmigen Akkordtypen treiben. Das würde aber den Rahmen dieses Buchs spren gen. Für den Moment reicht es, zu wissen, dass es diese Klänge gibt.