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UvA-DARE is a service provided by the library of the University of Amsterdam (http://dare.uva.nl) UvA-DARE (Digital Academic Repository) Effi Briest, eine Deutsche Emma Bovary Voetelink, H.M. Link to publication Citation for published version (APA): Voetelink, H. M. (2000). Effi Briest, eine Deutsche Emma Bovary. Amsterdam: in eigen beheer. General rights It is not permitted to download or to forward/distribute the text or part of it without the consent of the author(s) and/or copyright holder(s), other than for strictly personal, individual use, unless the work is under an open content license (like Creative Commons). Disclaimer/Complaints regulations If you believe that digital publication of certain material infringes any of your rights or (privacy) interests, please let the Library know, stating your reasons. In case of a legitimate complaint, the Library will make the material inaccessible and/or remove it from the website. Please Ask the Library: https://uba.uva.nl/en/contact, or a letter to: Library of the University of Amsterdam, Secretariat, Singel 425, 1012 WP Amsterdam, The Netherlands. You will be contacted as soon as possible. Download date: 03 Jan 2020

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UvA-DARE is a service provided by the library of the University of Amsterdam (http://dare.uva.nl)

UvA-DARE (Digital Academic Repository)

Effi Briest, eine Deutsche Emma Bovary

Voetelink, H.M.

Link to publication

Citation for published version (APA):Voetelink, H. M. (2000). Effi Briest, eine Deutsche Emma Bovary. Amsterdam: in eigen beheer.

General rightsIt is not permitted to download or to forward/distribute the text or part of it without the consent of the author(s) and/or copyright holder(s),other than for strictly personal, individual use, unless the work is under an open content license (like Creative Commons).

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3.. EMMAS UND EFFIS ENTWICKLUN G

a.. Einzige s Kin d

Alss Charles mit Emma nach der Hochzeit In Richtung Tostes heimfahrt, siehtt der Leser in der Sicht des externen Erzahlers, wie Emmas Vater den beidenn nachschaut und sich an seine eigene Hochzeit erinnert: "comme c'étaitt vieux tout cela! Leur fils, a présent, aura it trente ans". [5.353]

Derr Text weist hier auf einen früh gestorbenen Sohn hin. Dem Leser wirdd darüber kein AufschluB gegeben. Es wird auch nicht deutlich, ob Emma diesenn alteren Bruder je gekannt hat. Im dritten Teil aber, gegen Ende des 10.. Kapitels, sagt Emmas Vater, nachdem er von dem Tod seiner Tochter erfahrenn hat, 'Tai vu partir ma femme ..., mon fils a prés ... et voila ma fills aujourd'hui!"" (Hervorhebung HMV) [S.636]

Ichh nehme an, daB sich der bestürzte Vater hier weniger sorgfaltig ausdrücktt und sich in der Reihenfolge irrt. Wie auch immer: Emma wachst alss einziges Kind auf, Effi 1st einziges Kind.

Emmaa und Effi bekommen ebenfalls nur ein einziges Kind, eine Toch-ter.. Was Emma betrifft, laBt sich das noch verstehen. Sie hatte damals ihre Hoffnungg zwar auf einen Sohn gesetzt, aber für die Mutterschaft zeigt sie sichh wenig geeignet. Nachdem sie ehebrecherisch geworden war, wird sie vermutlichh auch keinen Wert darauf gelegt haben, um von diesem oden Ehe-mannn noch ein zweites Kind zu bekommen.

DaBB Effi sich spater nicht mehr nach einem zweiten Kind sehnt, ist we-nigerr verstandlich. Als Annie geboren wurde, hatte der Arzt gesagt:

'Wirr haben heute den Tag von Königgratz; schade daB es ein Madchen ist,, aber das andere kann ja nachkommen, und die PreuBen haben viele Siegestage.'' [5.267]

Hattee sich Effi, in Berlin und mit der Crampas-Affare hinter sich, nicht nochh ein zweites Kind gewünscht? "Der preuBische Adel war zahlreich und in derr Regel kinderreich", schreibt von Krockow. [5.25] Und Innstetten? Im 1. Kapitell erzahlt Effi ihren Freundinnen:

'Innstettenss gibt es hier nicht, gibt es, glaub ich, überhaupt nicht mehr.'' [S.176]

Unterr diesen Umstanden muB ein von Tradition gepragter Mann wie Innstettenn doch Wert darauf gelegt haben, in Berlin auch noch einen jungen Stammhalterr in der Wiege begrüBen zu können. Nichts im Text, das darauf

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hinweist .. Effi und Innstette n sind scho n in ihre m siebte n Jahr in Berlin , als derr alte Rummschüttel , "de r auf dem Gebiet e der Gynakoiogi e nich t ohn e Ruf war" ,, kur z vor Effi s Reise nach Ems durc h Effi s Mutte r zu Rate gezogen wird . Weshal bb sich Effi und Innstette n nich t scho n eher an einen Gynakologe n gewende tt natten , wir d dem Leser nich t mitgeteilt .

Inn beiden Romanen hat die vorzeitige , einseitig e Beendun g der Ehe den Kinder nn beide r Frauen Schade n zugefügt . Die mittellos e Berth e wird spate r gezwungen ,, ihre n Lebensunterhal t als Arbeiteri n in einer Baumwoltspinnere i zuu verdienen , und Anni e wir d von ihre m Vater in einer die Mutte r abwei -sendenn Haltun g erzogen . Die Entscheidun g der Schriftsteller , daB Emma und Effii beid e als Mütte r nur ein einzige s Kind zur Welt bringe n sollten , ermög -lich tt es ihne n natürlich , alles Kinderlei d durc h eine gescheitert e Ehe auf diesess eine Kind zu lenken . Wie dem auch sei , der Leser lies t den gegebene n Text ,, und darau s ergib t sich lediglich , daö Emma und Effi , nachde m sie vor derr Ehe auch selbs t ohn e Brüde r und Schwester n als Einzelkin d aufgewach -senn sind , nur ein einzige s Kind zur Welt brachten . Emma und Effi sind also ohnee Brüde r und Schwester n groB geworden . Mit welche n Persone n haben siee dann aber vor der Ehe verkehrt ?

Emma a Alss sie als Dreizehnjahrig e zur Klosterschul e geht , lebt ihre Mutte r

noch .. Als sie in der Klosterschul e erfahrt , daB diese gestorbe n ist , wein t sie diee erste n Tage viel . Hatte die Mutte r viel für Emma bedeutet ? Über ihre n frühere nn Kontak t mi t ihr erfahr t der Leser nichts . Nachde m sie Charles ken-nengelern tt hat , hat Emma ihr e Mutte r aber noch nich t vergessen :

Ellee lui pari a encor e de sa mère , du cimetière , et même lui montr a dans Iee jardi n la plate-band e don t elle cueillai t les fleurs , tou s les premier s vendredi ss de chaqu e mots , pour les aller mettr e sur sa tombe . [5.345]

Fürr den Bauernho f ihres Vaters ist sie unbrauchbar . Freundinne n und Freund ee hat sie nicht . Das könnt e dem Leser in zweierle i Hinsich t bemer -kenswer tt vorkommen .

1. . Alss sie verheirate t ist , arger t Emma sich über die auBer e Erscheinun g

ihress Mannes und überleg t sie sich :

III aurai t pu être beau, spirituel , distingue , attirant , tels qu'il s étaien t sanss doute , ceux qu'avaien t épousé s ses ancienne s camarade s du couvent .. (Hervorhebun g HVM) [5.365]

Hattee sie aber je in der Klosterschul e mit irgendeine r Mitschüleri n eine kameradschaftlich ee Beziehun g aufgebaut , oder bildet e sie sich das nur ein?

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Namenn diese r Klosterfreundinne n werde n namlic h nie genannt . Kein e von ihne nn wurd e zur Hochzei t eingeladen .

2. . Wennn es in einer Bauernfamili e mehrer e Söhne gibt , kann nur einer

denn vaterliche n Hof erben . Für die andere n Söhne ware eine Bauerntochte r wiee Emma, die auBerde m noch hübsc h ist , eine attraktiv e Parti e gewesen . DaBB sie selbs t kein e Baueri n werde n möchte , ist ihr e Sache. Manche r Bau-ernsoh nn aber wir d doch - sei es vergeben s - versuch t haben , um Emma zu werben .. Darübe r bekomm t der Leser nicht s zu horen . Das Fehlen eines Bruders ,, der Kamerade n und Freund e ins Haus natt e bringe n können , und diee Erziehun g in einem Klosterinterna t für Madchen haben Emma vor der Ehe gesellschaftlic hh isoliert . Bedauert e sie das? Niemal s unternimm t Emma et-was ,, um dies e Isolatio n zu durchbrechen . Offenba r reichte n ihr vorlaufi g die fiktive nn Romanfiguren , mit denen sie sich als Fünfzehnjahrig e in der Kloster -schul ee heimlic h beschaftigte : ".. . messieurs , brave s comm e des lions , doux comm ee des agneaux , vertueu x comm e ne c'est pas ..." . [S.361] Eine fiktiv e Welt ,, schone r als die wirkliche . DaB Emma sich gern e in dies e fiktiv e Welt zurückzog ,, haben ihr e Elter n nich t wisse n können . Ihre Entscheidung , Emma inn eine Klosterschul e zu schicken , kann man ihne n nich t vorwerfen . Anfang s fühl tt Emma sich dor t auch nich t feh l am Platz. Die Gesellschaf t der Schwe -ster nn gefall t ihr , und haufige r als die anderen kann Emma dem Herrn Vikar auff schwierig e Fragen antworten . Als sie auf den Bauernho f zurückgekehr t ist ,, komm t fü r sie ein 'einfacher ' Bauernsoh n nich t in Frage. DaB Charle s an-fin gg ihr den Hof zu machen , konnt e als eine Art Erlösun g betrachte t werden . Emmass Elter n triff t kein e Schuld .

Undd Effi s Eltern ? Triff t auch sie kein e Schuld , als die Tochte r Innstette n heiratet ?? Als Effi von ihre r Mutte r veranlaB t wird , sich mi t ihm zu vermahlen , widersprich tt Bries t seine r Frau nicht . Er natt e Hohen-Cremme n damal s schon ,, er hat es noch . Effi s Vater ist kein Karrieremacher . Er wil l nur sein e Freihei tt und bevorzug t es, die Blick e nich t 'bestendi g nach oben richte n zu mussen' .. Vater Bries t ist lediglic h daran interessiert , in seine r adlige n Stel -Jungg als Rittergutsbesitze r anerkann t zu werden . Innstette n soi l nich t den Eindruc kk bekommen , ihm gesellschaftlic h überlege n zu sein , und soi l sich nich tt fü r einen 'verkappte n Hohenzollem ' halten . Die Mutte r bemüh t sich um Effi ss Erziehun g und Zukunft , dem Vater ist alles ein 'weite s Feld' .

Obwoh ll sie sich liebten , hat Innstette n von Effi s Mutte r seinerzei t einen Korbb bekommen . Es laBt sich verstenen , daB ihr viel daran gelege n ist , daB Effii jetz t seine n Heiratsantra g annimmt . Bevor sie Effi den Antra g über -mittelt ,, prüf t sie die Reife ihre r Tochter . Anfang s schein t sie beruhigt , am Tagg nach der Hochzei t hegt sie dennoc h Zweifel , ob die spielerisch e Effi fü r dies ee Heira t nich t doch noch zu jun g ist . Zu Bries t sagt sie :

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auchh das Negativ e und HaBlich e der Alltagswirklichkei t beschreib t - da ist z.B.. die nich t retuschiert e Wiedergab e des Anblick s von Emmas Leichna m -, wahren dd Fontan e sich auf das Positiv e und Schon e der Wirklichkei t konzen -trier tt und das ander e meisten s verschweig t - etwa die Spaziergang e Effi s mi t Crampass und was sich dabei abgespiel t haben mag und gesellschaftltc h ver -pön tt sein könnte . Trotzde m kenne n die beiden Romane zwei überein -stimmend ee Merkmale . In beide n Werken wir d dem Leser eine ihm qlaubhaf t erscheinend ee Geschicht e vermittelt , und diese r realistisch e Bezug betriff t die zeitaenössisch ee Wirklichkeit .

Inn beide n Romane n bilde t der Tod der weibliche n Hauptfigu r einen Höhepunkt .. Es gib t Schriftsteller , die ihre r Geschicht e nach Erreiche n eines solche nn Höhepunkte s ein Ende setzen . So zum Beispie l Thoma s Hardy in sei -nemm 1891 veröffentlichte n Roman Tess of the d'Urbervilles' . Flauber t und Fontan ee bevorzuge n es aber , nach dem Tod von Emma und Effi ihr e Ge-schicht ee noch ein weni g fortzusetzen . Meines Erachten s führ t diese Weiter -führun gg aber dazu , daB allmahlic h das Erzahlt e an Wahrscheinlichkei t und Glaubhaftigkei tt und dadurc h an Realismu s einbüBt .

1. . Wass die Fortsetzun g in Madame Bovary angeht , schlieB e ich mich

Somerse tt Maugha m an, der schreibt :

Throughou tt the book , Charles Bovar y has show n to be weak and easil y led.. .. Thoug h a stupi d man , he was conscientious , and it seems strang e tha tt he shoul d have neglecte d his patients . He badl y needed thei r money .. He had Emma's debt s to pay and his daughte r to provid e for.. . Finall yy he dies . He was a robus t man in the prim e of his life , and the onl yy reason one can giv e for his death is tha t Flaubert , after fifty-fiv e month ss of exhaustin g labour , wante d to be done wit h the book . Since wee are expressl y tol d tha t Bovary' s memorie s of Emma with tim e grew dim ,, and so presumabl y less poignant , one canno t but ask onesel f why Flauber tt did not let Bovary' s mothe r arrang e a thir d marriag e for him , ass she had arrange d the first . It woul d have added one more not e of futilit yy to the stor y of Emma Bovary , and accorde d well wit h Flaubert' s ferociou ss sense of irony . [5.169]

Auchh was am Ende des Romans über den Apotheke r Homais mitgeteil t wird ,, schein t mir wenige r glaubwürdi g (und daru m dem realistische n Grund -charakte rr des Werks wenige r gemaB) . Anfang s wurd e Homais als ein gegen dass Gesetz verstoBende r Mann geschildert , der gerad e in Yonville-L'Abbay e einenn 'Arzt ' brauchte , um die ihm untersagt e Ausübun g der arztliche n Praxi s zuu verheimlichen . Er fürchte t den Brotnei d seine r Kollegen . Wenn er Charle s jedoc hh durc h Gefalligkeite n verpflichte n könnte , würd e diese r scho n schwei -gen.. Die letzte n Satze des Romans laute n aber:

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Depui ss la mor t de Bovary , troi s médecin s se son t succéd é a Yonvill e sanss pouvoi r y réussir , tan t M. Homais les a tou t de suit e battu s en brèche .. II fai t une clientèl e d'enfer : l'autorit é Ie ménag e et l'opinio n publiqu ee Ie protege . II vien t de recevoi r la croi x d'honneur . [S.645]

2. 2. Alss Effi gestorbe n ist , wlr d sie nich t auf dem angrenzende n Kirchhof ,

sonder nn im Garten des elterliche n Herrenhause s begraben . Ausnahmsweis e wir dd Bries t dazu von den Behörde n Erlaubni s bekomme n haben . Die Elter n lassenn sich morgen s in der Nahe dieses Grabes das Frühstüc k und die Post bringen ,, wahren d die Mutte r dann den Kaffee einschenkt .

1.. und 2. Literarisc hh betrachte t bilde t Homais ' soziale r Aufstie g einen herbe n

Gegensat zz zum gesellschaftliche n Untergan g der Bovarys . Dieser Aufstie g wir dd dem Leser aber nich t auf glaubwürdig e Weise nahegebracht . Er erfahr t nicht ,, weshat b Homai s auf einma l keine n 'Arzt ' mehr braucht , um sein e rechtswidrige nn Handlunge n zu verheimliche n und weshal b er den Neid seine r Kollege nn nich t mehr zu fürchte n hat . DaB Effi im Garten des Hauses , wo sie gebore nn war , auch beerdig t wird , beton t literarisc h den Kreislau f ihre s kurzen ,, von einer Ehe unterbrochene n Lebens . DaB die Elter n aber , mi t dem Grabee ihre s einzige n Kinde s vor Augen , dor t gemütlic h frühstücke n und die Zeitun gg lesen , komm t mir wenige r realistisc h vor . So gefühlsar m sind die beide nn bis dahi n nich t dargestell t worden !

Diee dem Realismu s inherent e Glaubwürdigkei t schein t mi r also in beide nn Romane n einem effektvolle n Ende der zu erzahlende n Geschicht e geopfer tt worde n zu sein . Was übrigen s nach dem Tod von Emma und Effi gescha hh und nich t mehr von ihne n selbs t bewirk t wurde , ist kein Gegenstan d diese rr Untersuchun g mehr . Bis zu diese m Tod suggerier t der Erzahltex t beide rr Roman e eine Wirklichkeit , die im allgemeine n vom zeitgenössische n Leserr als reale Wirklichkei t oder ais seine r realen Wirklichkei t entsprechen d aufgefaB tt werde n kann . Was nich t heiBt , daB es nich t Ausnahme n gibt . In EffiEffi Briest z.B.: Vor der Heira t spiel t Effi mit Freundinne n im Garten des Elternhauses .. Innstette n ist im Begriff , Hohen-Cremme n zu besuchen , Effi soi ll ihm vorgestell t werde n und ruf t den Freundinne n zu: "Spiel t nur weiter , ichh bin gleic h wiede r da." Sie kehr t aber nich t in den Garten zurüc k und eine derr Freundinne n ruf t vergebens : "Effi . komm. " [S.181] Ats dann die geschie -denee Effi Jahr e spate r allein e in Berli n lebt - aus dem Text ergib t sich nicht , daBB Vater und Mutte r sie dor t je besuch t haben -, empfange n ihr e Elter n von Dr.. Rummschütte l die Nachricht , daB sie dor t hinsiech t und nur eine Rück -kehrr nach Hohen-Cremme n ihr Genesun g bringe n könne . Mit Einverstandni s seine rr Frau telegraphier t Bries t darau f seine r Tochte r ganz einfach : "Eff i komm" ,, und Effi kehr t zurück . [S.411]

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Derr Leser wir d sich bei Kenntnisnahm e des Telegramminhalt s der Wort ee 'Eff i komm ' erinnern , die anfang s ihre n Abschie d von Hohen-Cremme n einiauteten ,, jetz t aber für ihr e Rückkeh r benutz t werden . Entsprich t der Inhal tt des Telegramm s aber auch der Wahrscheinlichkeit ? Natünïch , litera -rische rr Realismu s brauch t kein e nackt e Wiedergab e der Alltagswirklichkei t zu bilden ,, muB aber solch e Element e diese r Wirklichkei t enthalten , daB der Text einemm Durchschnittslese r glaubhaf t vorkommt . 1st das hier der Fall?

Alss die Spielgefahrtinne n riefen : "Eff i komm" , hatt e Effi sich für Inn -stette nn entschiede n und verlie B sie Hohen-Cremmen . Als sie , wie es schien , diee Ene mi t Innstette n gebroche n hatte , wurd e ihr Hohen-Cremme n ver -schlossen .. Wie sollt e da ein Telegram m mit der kurze n Aufforderun g "Eff i komm "" der verstoBene n Tochte r ausreichen d deutlic h mache n können , was gemein tt ist und aus welche m Grund ? Befremdlic h ist auch , daB die Elter n in demm Gesprach , das der Versendun g des Telegramm s vorangeht , auf eine Begründun gg ausdrücklic h glaube n verzichte n zu können . Bries t schlag t vor , "gan zz einfach " zu telegraphieren : "Eff i komm" . Seine Frau zeigt sich dami t einverstande nn und gib t ihre m Mann einen KuB auf die Stirn . Weder Bries t nochh seine r Frau schein t die Frage zu kommen , ob Effi dies e zwei Wort e woh l richti gg verstehe n könne . Würd e es die Absich t ihre r Elter n sein , daB sie nach Hohen-Cremme nn als Wohnsit z zurückkehr t - in welche m Fall sie für die Um-siedlun gg die nötige n MaBnahme n treffe n müBt e -, oder wir d sie nur für einen kurze nn Aufenthal t dorthi n bestellt ? Es wir d dor t doch nich t irgen d etwas pas-sier tt sein? Ihre Mutte r wird doch nich t im Sterbe n liegen ? lm allgemeine n hatt Fontan e imme r in der Dialogfor m "di e entscheidend e Bedeutun g für eine wirklichkeitsbezogen ee und das Leben schildernd e Dichtun g erkannt. " [Greter, S.83]S.83] 1st das aber hier auch der Fall? Oder hat diesma l der literarisch e Effek t derr zwische n Anfan g und Ende korrespondierende n Forme l den Ausschla g gegeben ? ?

Einn besondere s Proble m der realistische n Darsteliun g sind die Aus -sparunge nn der Unbestimmtheits - und Leerstellen . Sogar in einem von aus-führliche nn und detaillierte n Besch rei bunge n gepragte n Text wird die dari n suggeriert ee Wirklichkei t imme r nur teilweis e aufgebaut . In jeder Erzahlun g komme nn Unbestimmtheits - und Leerstelle n vor , die der Leser selbs t aus-fülle nn und konkretisiere n muB . In meine r Einleitun g und am Anfan g des 2. Kapitel ss habe ich bereit s darau f hingewiesen . DaB in dem deutsche n Roman vonn Fontan e mehr derartig e Unbestimmtheits - und Leerstelle n vorkomme n alss in dem französische n von Flaubert , kann dem vergleichende n Leser nich t entgehen .. Zwei Beispiele .

1. . Woo die heimliche n Begegnunge n von Rodolph e und Emma und nachhe r

vonn Emma und Léon stattgefunde n haben , wird dem Leser jedesma l deutlic h

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mitgeteilt .. Deshal b werde n sich die Leseergebniss e hier ka urn unterscheiden . Jederr Leser 'aktualisiert * ziemlic h dasselbe , wenn er den Text "durc h sein e Lektür ee zum Leben erweckt" . [Iser, S.41] Wo aber die heimliche n Begegnun -genn von Effi und Crampa s stattgefunde n haben , wir d nich t erwahnt . Die genau ee Stell e bleib t unbestimm t und wir d der Phantasi e des Lesers über -lassen . .

2. . Diee gegen Emma gerichtete n juristische n MaBnahme n in bezug auf eine

Zwangsversteigerun gg werde n in allen Einzelheite n beschrieben . Über das ganzee gegen Effi gerichtet e Ehescheidungsverfahre n steh t im Text kein Wort . Dass einzige , was der Leser erfahrt , ist , daB diese r ProzeB sich wahren d einer imm Text ausgesparten , drei Jahr e (!) dauemde n Zeitspann e abgespiel t haben muB . .

DaBB in Madame Bovary wenige r Leerstelle n vorkomme n als in Effi Briest,Briest, ist meine s Erachten s auf zwei Ursache n zurückzuführen . Eine wurd e scho nn erwahnt : Fontan e konzentrier t sich mehr auf die Essenz eines Gesche -henss als der auf alle mögliche n Detail s achtend e Flaubert . Jedoc h betreib t Fontan ee offenba r auch einen ander s geartete n Realismu s als der französisch e Schriftsteller .. Denn im Gegensat z zu Flauber t werde n in Fontane s Realismu s diee negative n Seiten des Lebens vielfac h verschwiegen , was für die Inter -pretatio nn des in seine m Text Nichtgesagte n von Bedeutun g sein kann . Der Leserr wir d dadurc h genötigt , Unbestimmtheits - und Leerstellen , die sich auf dies ee negative n Seiten beziehen , selbs t auszufülle n und zu konkretisieren . Dass gil t insbesonder e für die Darstellun g der Beziehun g zwische n Effi und Crampas .. Ob wahren d der heimliche n Begegnunge n Geschlechtsgemein -schaf tt stattgefunde n hat oder nich t - was für den weitere n Verlau f der Ge-schicht ee und Effi s Verhalte n wahren d des ProzeBverfahren s von Bedeutun g seinn kann - wir d dem Leser nich t vermittelt .

Hierbe ii is t zu berücksichtigen , daB die erste n Leser von Effi Briest diese nn Roman vielfac h mit andere n Augen gelesen haben werde n als die er-stenn Leser von Madame Bovary. Madame Bovary war Flaubert s erste r Roman . Diee Leser kannte n Flauber t noch nich t und waren mi t seine r Schreibweis e nich tt vertraut . Effi Briest dagege n waren scho n mehrer e Gesellschaftsroma -nee von Fontan e vorausgegangen . Viele Leser von Effi Briest werde n vorhe r L'Adultera,L'Adultera, Cécile und Irrungen, Wirrungen gelesen haben . Im letzte n Roman arrangier tt ein Aristokra t vor seine r Heirat noch einen Ausflu g mi t einer Freundin .. Die beide n übernachte n in einer Herberg e im selbe n Schlafzimmer . Amm Aben d begib t man sich zur Ruhe, morgen s steh t man wiede r auf. Und sonst ?? Intimitate n werde n auf keinerle i Weise angedeutet . Gehor t das zu demm von Fontan e gemeinte n Realismus ? Im Zusammenhan g mi t diese r Frage seii darau f hingewiesen , daB Fontan e sich einig e Jahre vor der Veröffent -lichtun gg von Effi Briest einma l mehr in allgemeine m Sinn über den Begrif f

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'literarische rr Realismus ' geauBer t hat :

Inn einem 1853 veröffentlichte n Aufsat z Unsere lyrische und epische PoesiePoesie seit 1848 hat Fontan e darau f hingewiesen , wie der literarisch e Realis -muss nicht , wie scho n erwahnt , als ein nackte s Wiedergebe n des alltagliche n Lebenss zu betrachte n sei , "am wenigste n seines Elends und seine r Schatten -seiten" .. Die Darstellun g eines sterbende n Proletaries , "de n hungernd e Kin -derr umstehen" , gehor e seine r Meinun g nach nich t zum literarische n Realis -mus ,, und er fahr t fort : "Der Realismu s wil l ... am allerwenigste n das bloB Handgreifliche" .. [zitiert bei Plumpe 1985, 5.140 ff.] Hat er diese Prinzipie n auchh nachhe r zur Anwendun g gebracht , als er anfing , realistisch e Gesell -schaftsroman ee zu schreiben ?

lmm 21. Kapite l von Effi Briest lesen wir , wie sich die Eltern von Ros-with aa ihre r unverheirate n Tochte r gegenübe r benomme n haben , nachde m diesee schwange r geworde n war.

'Diee Mutter , na das ging noch , aber der Vater , der die Dorfschmied e natte ,, der war stren g und wütend , und als er's hörte , da kam er mi t einerr Stang e auf mich los , die er scho n aus dem Feuer genomme n natte ,, und wollt e mic h umbringen. ' [S.322]

Wirdd hier das bloB Handgreiflich e im Text vermieden ? Und was Effi selbs tt anbelangt : Nach der Entdeckun g der Crampas-Korresponden z wir d ihr ohnee weitere s von Innstette n der Zugan g zu ihre r Wohnun g und von ihre n Elter nn zu Hohen-Cremme n verweigert . Ohne jede Rücksprach e mit Effi wir d diesee plötzlic h aus dem ihr vertraute n adlige n GeselIschaftskrei s verstoBen . 1stt das kein e Schattenseit e des Lebens ?

Alss aber Fontan e 1853 seine theoretische n Betrachtunge n über den Realismu ss veröffentlichte , zielt e er noch auf den damalige n bürgerliche n Realismus ,, in dem man die Realita t noch zu idealisiere n gewohn t war . [Plumpe[Plumpe 1985, S.19 und 22] Die in der Zeit danach entwickelt e Photographi e istt ein Fakto r gewesen , der in den achtzige r Jahren des 19. Jahrhundert s die Entwicklun gg des Naturalismus . der im allgemeine n als eine Weiterentwick -lungg des Realismu s betrachte t wird , mi t geprag t hat . [Mahal, S.24] In diese mm Naturalismu s werde n dem Leser nachdrücklic h auch die Schatten -seite nn des Lebens gezeig t (Zola , Hauptmann) . Feststeht , daB Fontan e sich 18833 mi t Zola beschaftig t hat und dagegen warnte , "gelegentlich e HaBlich -keiten "" in Zolas Romanen mi t Realismu s zu verwechseln . Auch hat er in seine rr private n Korresponden z bestatigt , wie sehr er Verführungs - und Radauszene nn als einen Greuel betrachtete . [Greter, S.69] Andererseit s aber hatt er eingeraumt , daB auch ein künstlerisc h legitimierte r Naturalismu s dem "echte nn Realismus " zugehöre . [Reuter, 5.17] Als Fontan e nachhe r Effi Briest schrieb ,, wir d diese r Naturalismu s ihn bis zu einem qewisse n Grade beeinfluB t

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haben ,, obgleic h er im allgemeine n noch eine überwiegen d schonend e Wie-dergab ee der Alltagswirklichkei t bevorzugte . Eine fast fotographisc h genau e Beschreibun gg des Leichnam s der weibliche n Hauptfïgur , so wie dies e in MadameMadame Bovary vorkommt , finde t man in Eflï Briest nicht . SchluBfolgerung : Flauber tt erschein t mi t dem 1856 veröffentlichte n Roman Madame Bovary als Vorlaufe rr des kommende n Naturalismus . Mit dem 1895 erschienene n Roman EffiEffi Briest zeig t Fontan e sich in der Blütezei t des Naturalismu s noch über -wiegen dd als Vertrete r des bürgerliche n Realismus .

Zumm Schlu B noch eine Bemerkun g über die gesellschaftlic h tabuisiert e auBerehelich ee Geschlechtsgemeinschaft , die in Madame Bovary scho n unver -kennba rr angedeute t wir d - Emma mi t Rodolph e im Wald , spate r mi t Léon in einemm Hotel und einer Kutsch e -, aber in Fontane s Realismu s vólli g fehlt . Das heiBt ,, jed e Anspielun g auf auBereheliche , nich t auf ehelich e Geschlechts -gemeinschaf tt fehlt . Als im 4. Kapite l sein e Frau ihm zeigt , was sie in Berli n alless fü r Effi s Aussteue r gekauf t hat , reagier t Briest :

'Etwa ss teuer , oder sagen wir liebe r sehr teuer ; indesse n es tu t nichts . Ess hat alles so viel Chic , ich möcht e sagen so vie l Animierendes , daB ichh deutlic h fühle , wenn du mir solche n Koffe r und solch e Reisedeck e zuu Weihnachte n schenkst , so sind wir zu Oster n auch in Rom und mache nn nach achtzeh n Jahren unser e Hochzeitsreise : Was meins t du , Luise ?? Wolle n wi r nachexerzieren ? Spat komm t ihr , doch ihr kommt. ' Frauu von Bries t macht e eine Handbewegung , wie wenn sie sagen wollte :: 'unverbesserlich' , und überlie B ihn im übrige n seine r eigene n Beschamung ,, die aber nich t groB war. (Hervorhebun g HMV) [S.187]

Ess kann sein , daB Fontan e so schrieb , wei l er sich mi t Rücksich t auf geltend ee bürgerlich e Werte und Norme n bestimmt e Einschrankunge n aufer -legenn wollte . Es kann auch sein , daB er den Leserkreis , von dem er finanziel l abhangi gg war , nich t vor den Kopf zu stoBe n wagte . Möglicherweis e haben beid ee Faktore n zu Fontane s Kuns t des Verschweigen s beigetragen . In meine r Untersuchun gg stehe n jedoc h nich t der Schriftstelle r und sein Schaffens -prozeB ,, sonder n der Leser und sein Akt des Lesens zentral . Und diese r Leser erfahr tt nur , daB Fontan e jede Andeutun g auBereheliche r Intimitate n ver -meidet . .

Zusammenfassen dd laBt sich sagen : Fontan e verfahr t in seine r Schreib -artt skizzenhafte r als Flaubert . Und er hal t sich an einen Realismus , der die negative nn Seiten des Lebens starke r ausklammer t als Flaubert . Beide Fakto -renn führe n dazu , daB im deutsche n Roman mehr Unbestimmtheits - und Leer-stelle nn vorkomme n als im französischen .

Fürr den Leser beide r Romanen erheb t sich sodan n die Frage, wie er im allgemeine nn mi t einer derartige n Textlag e umgehe n soil . Was sin d für ihn die

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Interpretationsmöglichkeitenn des Nichterzahlten?

e.. Das Nichterzahlt e un d sein e Interpretationsmöglichkeite n

Inn bezug auf das im Text Nichterzahlte unterscheide ich fünf Situa-tionen: :

II Das Nichterzahlte kann von jedem gebildeten Leser als für die Darstell lung überflüssiq betrachtet werden, weil es mehr oder wenigerr selbstverstandlich ist.

I II Das Nichterzahlte erscheint nur einigen dieser Leser als selbst-verstandlichh und wird deshalb auch nur von ihnen als für die Darstellungg überflüssiq betrachtet.

I I II Das Nichterzahlte wird symbolisch anqedeutet.

IVV Das Nichterzahlte wird dem Leser nur in der Erwahnung des Er-gebnisses,, zu dem das Nichterzahlte geführt hat, angedeutet.

VV Der Text weckt beim Leser Erwartunaen, über deren Erfüllung ihm spaterr jedoch nichts mehr mitqeteilt wird.

Add I Auff Grund eigener Lebenserfahrung ist jeder gebildete Leser imstande,

dass Nichterzahlte selbst zu erg an zen. Das Nichterzahlte kann ausgespart bleiben,, weil eine explizite Beschreibung nicht notwendig ist. Vergleichen wir einmall das Sterben von Emma mit dem von Effi.

Emma a 1.. In der Sterbensphase hort Emma noch einmal den Gesang des blinden

Bettlers. .

Ett Emma se mit a rire, d'un rire atroce, frénétique, désespéré, croyant voirr la face hideuse du miserable, qui se dressait dans les ténèbres éternelless comme un épouvantement. 'III souffla bien fort ce jour-la, et Ie jupon court s'envola!' Unee convulsion la rabattit sur Ie matelas. Tous s'approchèrent. Elle n'existaitt plus. [S.623]

2.. Es folgt eine genaue Beschreibung ihres Leichnams.

Lee coin de sa bouche, qui se tenait ouverte, faisait comme un trou noir auu bas de son visage; les deux pouces restaient infléchis dans la paume dess mains; une sorte de poussière blanche lui parsemait les cils, et ses

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yeuxx commengaien t a disparaïtr e dans une paleu r visqueus e qui res-semblai tt a une toil e mince , comm e si des araignée s avaien t fil e dessus . [S.627] [S.627]

3.. Die Beerdigun g mit den dor t anwesende n Personen , ihre n Reaktione n usw .. wir d beschrieben .

4.. SchlieBlic h erfahr t der Leser die Konsequenze n ihres Todes für gewiss e Überlebende .. Nich t nur für Verwandt e wie Charle s und Berthe , sonder n auchh fü r Homais , Lheureux , Rodolphe . Für die Klavierlehrerin , die Ho-nora rr forder t fü r Stunden , die nich t stattgefunde n haben . Für Léon Du-puis ,, der jetz t eine Mile. Leboeu f heiratet , usw.

Effi i Einee Beschreibun g wie in Flaubert s Phasen 2 und 3 ist fü r Fontane s

Leserr nich t notwendig , urn nach dem Tod der weibliche n Hauptfigu r den weitere nn Verlau f der Geschicht e zu verstenen . Fontan e konnt e diese Phasen deswege nn überschlagen . Auch Fontan e beschreib t Phase 1, und dies e Szene wir dd durc h Effi selbs t fokalisiert .

Diee Stern e flimmerten , und im Parke regt e sich kein Blatt . Aber je lange rr sie hinaushorchte , je deutliche r hört e sie wieder , daB es wie ein feine ss Riesel n auf die Platane n niederfiel . Ein Gefüh l der Befreiun g überka mm sie : 'Rune , Rune' . \5.426]

Phasee 2 und 3 entfalle n und bilde n (vergliche n mi t Flaubert ) eine Leer-stelle .. Der Text geht weiter :

Ess war einen Monat spater , und der Septembe r ging auf die IMeige. Das Wette rr war schön , aber das Laub im Parke zeigt e scho n vie l Rot und Gelb ,, und sei t den Aquinoktien , die drei Sturmtag e gebrach t natten , lagenn die Blatte r überallhi n ausgestreut . Auf dem Rondel l natt e sich einee klein e Veranderun g vollzogen , die Sonnenuh r war fort , und an der Stelle ,, wo sie gestande n natte , lag seit gester n eine weiBe Marmor -platte ,, darau f stan d nicht s als Effi Briest und darunte r ein Kreuz . [S.426] [S.426]

Diee vorangegangen e Leerstell e der Phasen 2 und 3 wir d der Leser auf Grun dd eigene r Lebenserfahrun g und Vorstellungstatigkei t selbs t ausfülle n können ,, sowei t er das für nöti g halt .

Einn andere s Beispiel . Nach der Hochzeitsreis e stell t Innstette n im 6. Kapite ll Effi das Hauspersona l vor . Über seine n Diener sagt er:

'Diess hier ist mein alte r Friedrich , der scho n mit mir auf der Universita t

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warr ... nich t wahr Friedrich , out e Zeiten damals. ' (Hervorhebun g HMV) [S.208] [S.208]

Diee "gute n Zeiten " brauche n dem Leser nich t weite r veranschaulich t zu werden .. Er kann sich die AuBerunge n von Innstetten s 'Burschenherrlichkeit ' scho nn vorstellen , und er sieht , wie Friedric h schweigend , untertani g lacheln d zuhört . .

Add II Diee Vorstellun g des Verschwiegene n wir d aber schwieriger , wenn es

sichh um etwas handelt , das nur fur eine bestimmte , z.B. eine herausgeho -benee soziat e Schicht , charakteristisc h ist . Der Durchschnittslese r dürft e mi t denn dor t herrschende n Gewohnheite n wenige r vertrau t sein , und das Nicht -erzahlt ee wir d nur von den eingeweihte n Lesern als etwas betrachte t werden , dessenn explixit e Darstellun g sich erübrigt . Auch dafü r ein Beispiel , a us dem 1.. Kapite l von Effi Briest:

Auff Hohen-Cremme n erwarte t Effts Mutte r Besuch , einen alten Freund auss ihre n Madchentagen . Erst als der Besuc h da ist , teil t die Mutte r Effi mit , daBB Baron von Innstette n um ihr e Hand angehalte n habe. Kurz darau f treffe n sichh Mutter , Vater , Effi und Innstette n im Gartensaal :

Effi ,, als sie seine r ansichti g wurde , kam in ein nervöse s Zittern ; aber nich tt auf lange , denn im selben Augenblick e fast , wo sich Innstette n unte rr freundliche r Verneigun g ihr naherte , wurde n an dem mittlere n derr wei t offenstehende n und von wilde m Wein halb überwachsene n Fenste rr die rotblonde n Köpf e der Zwilling e sichtbar , und Hertha , die Ausgelassenste ,, rie f in den Saal hinein : 'Effi , komm' . Dannn duckt e sie sich , und beide Schweste m sprange n von der Bank -lehne ,, darau f sie gestanden , wiede r in den Garten hinab , und man hör -tee nur noch ihr leises Kicher n und Lachen . [S.180/181]

Einee Leerstell e folgt , es fang t sogar ein neues Kapite l an:

Nochh an demselbe n Tage hatt e sich Baron Innstette n mit Effi Bries t verlobt .. [S.181]

Effii hat sich vorhe r noch nie mit Innstette n vertraulic h unterhalten . Er hatt sie noch nie gekiiBt , nie einen abendliche n Spaziergan g mi t ihr gemacht . Wiee kann sie sich dann so schnel l zu einer Verlobun g entscheiden ?

Derr Leser , den diese rasene Entwicklun g erstaunt , befinde t sich in der-selbenn Lage wie eine der nichtadlige n Freundinne n von Effi . Als diese namlic h etwass spate r angstlic h fragt , ob Innstette n "den n auch der Richtige " sei , lau -tett die klar e Antwort :

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'GewiBB ist er der Richtige . Das verstehs t du nicht , Hertha . Jeder ist der Richtige .. Natürlic h mu6 er von Adel sein und eine Stellun g haben und gu tt aussehen. ' 'Gott ,, Effi , wie du nur sprichst . Sons t sprachs t du doch ganz anders. ' 'Ja,, sonst. ' 'Undd bis t du auch scho n ganz glücklich? ' 'Wennn man zwei Stunde n verlob t ist , ist man imme r ganz glücklich . Wenigsten ss denk ' ich es mir so. ' [S.182]

Hierr wir d im Text eine Ehe vorbereitet , von der die Erwartunge n ganz undd gar auf das Rational-ZweckmaBig e von Standeserwagunge n reduzier t sind .. Deswege n kann ieder Mann "de r Richtige " sein , wenn er nur imstand e ist ,, die soziale n Ansprüch e des Gesellschaftkreise s von Effi und ihre r Mutte r zuu erfüllen . Die Mutte r hat Effi genötigt , sich mi t einem Mann zu verloben , denn dies e noch nich t kennt . Eine Freundi n derTochter , die sich darübe r wun -dert ,, wir d von der Tochte r selbs t zurechtgewiesen . Eine Zurechtweisung , die demm mi t Effi s Gesellschaftskrei s nich t vertraute n Leser gleichzeiti g hilft , das Unverstandlich ee als standesbeding t zu verstenen , und zu erkennen , warum soo weni g erzahl t wird .

Add III Emma a Inn Kapite l 2 des erste n Teils von Madame Bovary wir d beschrieben , wie

Charle ss sein e Reitpeitsch e nich t finde n kann . Er betrit t noch einma l das EB-zimme rr des Bauernhofe s von Emmas Vater und such t dor t die Peitsche , die zwische nn Zimmerwan d und Getreidesack e gefalle n sein muB . Emma entdeck t diee Peitsch e und bück t sich über die Sacke. Charle s wil l ihr zuvorkomme n undd dabei streif t sein e Brus t den unte r ihm gebückte n Rücken des junge n Madchens .. Emma richte t sich erröten d auf und zeigt Charle s sein e Gerte .

Inn Kapite l 12 des zweite n Teils hat Emma in Rouen eine schon e Peit-schee mi t goldene m Knau f gesehen , die sie ihre m Liebhabe r Rodolph e schen -kenn möchte . Mit Hilf e Lheureux ' kauf t sie sich die Peitsche .

Diesee im Text beschriebene n Vorfall e lassen sich auch als symbolisch e Andeutun gg der führende n Rolle des Mannes in der im Roman beschriebene n Gesellschaf tt betrachten . Die Frau selbs t überreich t dem Mann sein e Peitsche . Symbolisch ee Andeutunge n spare n eine explizit e Darlegun g aus. Das Nicht -erzahlt ee wir d dem Leser in der Andeutun g zur eigene n Auslegun g überlassen .

Effi i Inn Effi Briest kann Effi s wiederholte s Schaukel n als symbolische r Hin-

weiss auf ihre n im Text nich t beschriebene n Freiheitsdran g betrachte t wer-den .. Ein andere s sehr deutliche s Beispie l finde t der Leser im 19. Kapitel , als

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Sidoni ee von Grasenab b Effi die Wirkun g des Schloon s erklart :

'Daa wir d es ein Sog, und am starkste n imme r dann , wenn der Wind nachh dem Lande hin steht . Dann drück t der Wind das Meerwasse r in dass klein e Rinnsa i hinein , aber nich t so, da6 man es sehen kann . Und dass ist das Schlimmst e von der Sache, dari n steek t die eigentlich e Gefahr .. Alfes geht namlic h unterirdisc h vor sich , und der ganze Strand -sandd ist dann bis tie f hinunte r mi t Wasser durchsetz t und gefüllt . Und wennn man dann über solch e Sandstell e weg will , die keine mehr ist , dannn sink t man ein , als ob es ein Sump f oder ein Moor ware. ' [S.306]

Effii ist sich der Crampasgefah r für ihr e Ehe nich t bewuBt . Jedenfall s wir dd im Text davon nicht s mitgeteilt . Sidonie s Beschreibun g der unterirdi -schenn Wirkun g des Schloon s verschaff t dem Leser jedoc h einen symbolische n Hinwei ss auf die Gefahr , die sich unmerklic h entwickel t und die also vorhan -denn ist , auch wenn sie sich nich t wahrnehme n laBt . Man könnt e den Hinwei s aberr auch so verstenen , daB nich t nur von der sich unmerklic h entwickeln-denn Gefahr die Rede ist , sonder n von dem, was sich unterschwelli g in Effi s UnterbewuBtsei nn abspielt , ohne daB sie es sich bewuB t mach t oder bewuB t mache nn möchte . Über den Charakte r von Effi wir d hier zwar mi t keine m Wort geredet ,, aber die von Fontan e gegeben e Beschreibun g des Treibsande s schein tt mir ihre n Charakte r und die dami t verbunden e Problemati k vollstan -digg zu symbolisieren . [Vgl. auch Glaser, S.373]

Inn bezug auf Effi s Wesen und das, was das Meerwasse r möglicherweis e symboiisiert ,, könnt e auch folgend e Deutun g noch erwoge n werden . Vor der Ehee versenk t Effi Stachelbeerschale n in einem Teich . Dabei vergegenwartig t siee sich einen frühe n Brauch , von dem sie einma l in der Geographiestund e gehor tt hat : In Konstantinope l wurde n untreu e Frauen im Bosporu s versenkt . Wahren dd der Ehe geling t es ihr , auf einem Damenpfer d mit Innstette n und Crampa ss regelmaBi g am Meer entlangreite n zu dürfen . Könnt e diese Meeres-bezogenhei tt mi t dem für Fontane s Frauengestalte n in der Forschun g ver -schiedentlic hh untersuchte n Melusinemoti v zu tun haben? [Vgl. z.B. Paulsen, S.257/258]S.257/258] Offenkundi g ist es nicht . Für einen Leser allerdings , der an My-thische mm und Legendare m interessier t ist und über entsprechend e Kennt -niss ee verfügt , könnt e sich eine assoziativ e Verknüpfun g mi t der nach franzö -sische rr Sage aus dem Meer emporsteigende n Melusin e vielleich t woh l ein -stellen .. Ein wenige r mit dem Melusine-Moti v vertraute r Leser müBt e erst Fontane ss letzte n Roman Der Stechlin gelese n haben . In diesem Roman namlic hh komm t eine Figur vor , die sich über das Marchenhaft e auBer t und tatsachlic hh als Melusin e benann t wird . Interpretatio n hang t hier besonder s deutlic hh von der Kenntni s des individuelle n Lesers und seine m Assoziations -vermöge nn ab.

Add IV

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Bevo rr Emma zustimmte , Charle s zu heiraten , kannt e sie diese n Mann scho nn langer e Zeit . Vater Rouaul t war gern e bereit , dessen Heiratsantra g bei Emmaa zu unterstützen : "S'i l me la demand e ..., je la lui donne. " [S.347] Und derr Vater braucht e nich t lange r als eine hatbe Stun de, um sich über diese n Antra gg mi t Emma zu unterhalten . Das Gesprac h selbs t wir d dem Leser im Textt nich t mitgeteilt , laBt sich aber leich t erraten . Er erfahr t das Erqebnis : Emmaa ist bereit , Charle s zu heiraten . Das reicht .

Innstetten ss Heiratsantra g wurd e von Effis Mutte r unterstützt . Effi selbs t hatt ee den Mann nur einma l gesehen . Nachdem sie ihm vorgestell t worde n war ,, und bevo r die Verlobungsmahlzei t anfing , wir d sie aber Gelegenhei t ge-habtt haben , sich kur z mi t ihm zu unterhalten . Auch dieses Gesprac h wir d im Textt nich t erwahnt , der Inhal t laBt sich für den Leser wenige r leich t erraten . Effii weiB , daB Innstette n Ihrer Mutte r damals den Hof gemacht , aber von ihr einenn Korb bekomme n hatte . Innstette n weiB , daB Effi das weiB . Effi weiB , daBB sie von ihm als Stellvertreteri n ihre r Mutte r gewahl t wird . Damals war er nochh zu jung , ist er jetz t fü r die siebzehnjahrig e Stellvertreteri n nich t zu alt? Auchh einem im Schreibe n von Dialoge n erfahrene n Schriftstelle r wie Fontan e waree es woh l nich t leich t gefallen , das erst e Gesprac h zwische n Innstette n undd Effi zu entwerfe n und auszuführen . Das ganze Gesprac h wir d im Text nich tt erwahnt , der Leser erfahr t nur das Ergebnis . Die Verlobun g finde t statt . Dass reicht .

Alss sich zwische n Emma und Rodolph e in ihre r Ehe eine intim e Bezie-hungg entwickelt , wir d diese ausführlic h und Schrit t für Schrit t beschrieben . Vonn einer intime n Beziehun g zwische n Effi und Crampa s erfahr t der Leser zumm erste n Mal, als der Beziehun g scho n ein Ende gesetz t ist . Mit Hilf e von Effi ss Abschiedsbrie f wir d dem Leser diese s Ergebni s vermittelt . Wie sich vor -herr eine intim e Beziehun g zwische n den beiden entwickel n konnte , bleib t ungesagt .. Darübe r erfahr t der Leser erst , nachde m Innstette n viel e Jahr e spate rr in Berli n die Crampas-Korresponden z gefunde n hat . Manche r Leser wil ll dann nur noch wissen , welch e Reaktio n das bei Innstette n auslöse n wird . Ann der Frage, wie die Brief e von Crampa s Effi j e erreiche n konnten , wir d er imm Zuge der Erzahlun g nich t mehr besonder s interessier t sein .

Inn Madame Bovary hatte n Rodolph e und Emma eine genau e Verab-redun gg getroffen . Abend s steckt e Emma einen Brie f in eine Spalt e der Ter-rass ee am Ende des Gartens , Rodolph e holt e ihn dor t ab und steckt e sein e Antwor tt in die Spalte . Und spater , nachde m Léon Emma anlaBlic h eines Theaterbesuche ss in Rouen wiederu m begegne t und diesma l zwische n den beide nn eine sexuell e Beziehun g entsteht , muB Léon sein e Brief e nich t an Emmass Privatadress e senden , sonder n an die Amm e von Emmas Tochter . Diee Amm e sorg t dafür , daB die Korresponden z Emma erreicht .

Aberr Effi und Crampas ? Welch e Verabredun g haben sie getroffen ?

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Innstetten ss Amt lag seine r Wohnun g schra g gegenüber . Crampa s konnt e die Zette ll nich t selbe r besorge n und auch nich t von einem Diener besorge n lassen .. Johann a würd e Innstette n sofor t gewarn t haben . Und zur Post konnt e Crampa ss sein e Korresponden z scho n gar nich t bringen . ('Ei Effi , sei t wann empfangs tt du Brief e von unsere m neuen Land wen rbezirkskommandeur ? Darf ichh auch mal lesen?' ) Hat Fontan e sich die Ausführun g des Briefwechsel s eigentlic hh woh l überlegt ? Ein Leser , der Madame Bovary scho n gelesen hat , konnt ee sich die Frage stellen . In seine m Aufsat z 'Eff i Bries t and the Crampa s letters '' interessier t sich auch Radcliff e nur für den Inhalt , nich t für die Besor -gungsweis ee der Briefe . Der Leser hat wahren d der Erzahlun g von Effi s Kessi -nerr Aufenthal t nicht s von diesen Zettel n erfahren , für Berli n denk t er nur nochh an die Konsequenzen , nich t mehr an die vorherig e praktisch e Ausführ -ungg des Briefwechsel s und wie diese stattfinde n konnte . Mit Erwahnun g des Ergebnisse ss und dem Verschweige n des vorangegangene n Geschehen s mach tt Fontan e es sich leicht . Die praktisch e Ausführun g des Briefwechsel s wir dd der Phantasi e der Leser überlassen , der Schriftstelle r selbs t brauch t sich darübe rr nich t mehr zu kümmern .

Diesee Erzahltechni k Fontane s erreich t einen Höhepunkt , wenn im Ro-mann das ganze Ehescheidungsverfahre n dem Leser vorenthalte n wird . Nach-demm Effi in Bad Ems den verhangnisvolle n Brie f ihre r Mutte r empfange n hat , überleg tt sie sich in Kapite l 31:

'Wovo rr bang e ich mich noch ? Was kann noch gesag t werden , das ich mirr nich t scho n selbe r sagte? Der, urn den alt dies kam , ist tot , eine Rückkeh rr in mein Haus gib t es nicht , in ein paar Wochen wir d die Scheidun gg ausgesproche n sein , und das Kind wir d man dem Vater lassen .. Natürlich . Ich bin schuldig , und eine Schuldig e kann ihr Kind nich tt erziehen. ' [5.390/391]

Dass nachst e Kapite l fang t mi t den Worte n an: "Dre i Jahre waren ver -gangen ,, und Effi bewohnt e sei t fast ebensolange r Zeit eine klein e Wohnun g inn der Königgratze r StraBe" , [S.394] wo sie ihr e gerad e am Tag von König -grat zz geboren e Tochte r vermiBt . Der Ehescheidingsproze B wir d also genaus o verlaufe nn sein , wie Effi sich das drei Jahre zuvo r überleg t hat . Der auf Ehe-bruc hh gegründete n Klage ihre s Mannes wurd e von Effi nich t widersprochen , dass Urtei l konnt e deswege n tatsachlic h scho n "i n ein paar Wochen " ausge -sproche nn werde n und die Vormundschaf t über Anni e in Übereinstimmun g mi t demm geitende n Recht dem Vater anvertrau t sein . [Schafarschik, S.91] Nur einemm mi t der ProzeBpraxi s vertraute n Leser wir d dieses Verfahre n wenige r überzeugen dd vorkommen , und für ihn büBt die Geschicht e auf einma l an Glaubwürdigkei tt ein . Er kann sich eher eine Versöhnun g als eine Eheschei -dungg vorstellen . Sein Vorstellungsvermöge n wir d aber vom Schriftstelle r ge-lenkt .. Mit seine r Ausfüllun g des Nichterzahlte n muB ein Leser imme r dor t auskommen ,, wo der Schriftstelle r selbs t wiederu m anfangt , seine Geschicht e

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imm Text weiterzuerzahlen . Effi wohn t allein e und lebt also jetz t als geschieden ee Frau. Nur ein mi t der ProzeBpraxi s vertraute r Leser wir d sich dannn f ragen können , weshal b Effi sich unnöti a hat scheide n lassen . Da 6 die Ehee nich t aufrech t erhalte n blieb , muB letztendlic h auf eine Entscheidun g vonn Effi selbst , nich t von Innstette n zurückzuführe n sein , so wie sich in Kapite ll 5 diese r Studi e zeigen wird .

Fastt unbemerk t passier t hier etwas Besonderes . Das in einem Text Nichterzahlt ee muB sich der Leser setbs t zurechtlegen . Das erforder t eine Steiaerun qq seine r Vorstellungstatiakeit . [Iser, 5.288] Leser sind unterschied -lich ,, und sie werde n also dabei unterschiedlich e Steigerunge n diese r Aktivita t entfalten .. Das gil t sowoh l für die F rag e, auf welch e Ar t und Weise die Crampas-Korresponden zz Effi erreich t hat , als auch für den genaue n Verlau f dess Ehescheidungsverfahrens . Es gib t aber einen wichtige n Unterschied . Wer auff dem einschlaqiae n Fachoebie t über besonder e Kenntniss e verfüqt , wir d dass Nichterzahlt e auf eine ander e Weise interpretiere n könne n als derieniqe . demm derartia e Kenntniss e fehlen . Ein Richte r oder Anwal t wir d Effi s passiv e Haltun gg wahren d des ProzeBverfahren s anders auslege n könne n als der ge-bildet ee Durchschnittsleser , der nun einma l nich t über spezialisttsch e verfah -rensrechtlich ee Kenntniss e verfügt . Das kann zu einer andere n Bewertun g von Effi ss Persönlichkei t führen . lm 5. Kapite l dieser Arbeit , bezüglic h der in bei -denn Romane n vorkommende n juristische n MaBnahmen , hoff e ich dieses Pha-nome nn - besonder e Kenntniss e des Lesers führe n zu einer andere n Interpre -tatio nn des Nichterzahlte n - naher darzulegen .

Add V Weshal bb ein Schriftstelle r beim Leser Erwartunae n hervorruft , über die

err sich spate r im Text nich t mehr auBert , ist sein Geheimnis . Er überlaB t die Fragee der Erfüllun g der Phantasi e seines Lesers und der kann nur raten . Ein paarr Beispiele .

1. . Imm 5. Kapite l auBer t Effi ihre r Mutte r gegenüber , was sie von einer Hei-

ratt mi t Innstette n erwartet . Wenn es Liebe und Zartlichkei t nich t geben kann ,, dann doch wenigsten s ein vornehme s Haus und "Galaoper , dich t neben derr groBe n Mittelloge" . [S.193] Inwiewei t vor der Entdeckun g der Crampas -Korresponden zz derartig e Erwartunge n in Berli n auch erfüll t wurden , steh t nich tt im Text . Auch wird die Gatti n eines Karrieremacher s erfahren , wie ihr Mannn bei seine r Besteigun g der amtliche n Pyramid e mi t Rivalitate n und Intrige nn konfrontier t wird , aber auch darübe r kein Wort .

2. . Hanss Ester weis t darau f hin , wie Hohen-Cremme n in Erscheinun g trit t

alss Ort , der sich gesellschaftliche n Ansprüche n entzieh t oder zumindes t die Möglichkei tt bildet , sich von inne n zu befreien . [Ester 1975, S.102] In ihre r

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Kessinerr Periode verlangt Effi denn auch mehrmals nach Hohen-Cremmen zurück,, was sich aus dem Text ergibt. Ahnliches ist der Fall, als Effi nach der Ehescheidungg alleine in Berlin leben muB. Sie, die gerade in Hohen-Cremmenn inmitten ihrer Freundinnen eine führende Rolle spielen konnte! Aberr wahrend der Berliner Glanzperiode erfahrt der Leser nur weniges über Effiss privates und soziales Leben, obgleich eine Erwahnung die Tragik der spaterenn gesellschaftlichen VerstoBung natte akzentuieren können.

3. . Anniess Besuch bei der geschiedenen Mutter wird für diese eine Enttau-

schung.. Sie haBt sogar ihr eigenes Kind. Als erste Reaktion laBt sich das nochh verstenen, aber einmal zur Besinnung gekommen? Nicht nur für ihre Heirat,, auch für ihre Mutterschaft war Effi noch zu jung. Sie natte sich so sehrr auf Annies Besuch gefreut! Es ergibt sich aber nicht aus dem Text, daB siee es je nochmals versucht hat, auch nicht nach ihrer Rückkehr nach Hohen-Cremmen.. Weshalb bleibt das der Phantasie des Lesers überlassen? Meiner Überzeugungg nach trifft Stern hier den Nagel auf den Kopf: "Of course she willl miss the girl. But when all is said and done, she can live without her." [S.373] [S.373]

f .. Text - un d Strukturanalys e

Werr beide Romane vergleichend zu Ende Nest, wird feststellen können, wiee sich in der Beobachtung von Übereinstimmung und Unterschied auch je-derr Text fur sich selber scharfer profiliert. Dann ergibt sich, wie sehr sowohl inn Madame Bovary als auch in Effi Briest das Erzahlte in eine je eigene Ro-manstrukturr eingebettet ist. Hat der Leser die Umrisse dieser Strukturen ein-mall entdeckt, kann er zur der Einsicht kommen, wie jede dieser Strukturen fürr die Bewertung der beiden Frauenfiguren vor und wahrend der Ehe mit-bestimmendd ist; jedenfalls wird sich der Leser darüber klarer, weshalb er zu einerr bestimmten Bewertung kommt. Auch wenn eingeraumt werden muB, daBB nicht jeder Leser zu derselben Einsicht in die Textstrukturen und zu denselbenn SchluBfolgerungen kommt, ist mit der Abhangigkeit des Urteils vonn den Textstrukturen doch so etwas wie ein Kriterium für die Beurteilung überhauptt gewonnen.

Einn Beispiel für die Frage der Beurteilung: In bezug auf Emma schreibt Stern:: "Even Rodolphe and Léon she does not love, but what she loves is herselff loving them... ." Und er fügt hinzu: "We feel that she (unlike Effi) mightt not be incapable of love." [5.366] lm Prinzip würde Emma wohl, Effi aberr nicht zur Liebe imstande sein? Hier kann ich Stern nicht folgen. Wenn ess sein Ausgangspunkt ist, daB die Liebhaber Rodolphe und Léon nicht mehr sindd als "the creatures of her extravagant imagination", wie kann der Leser dannn fühlen, daB Emma zur Liebe fahig sein könnte. Was hier fehlt, ist eine textanalytischee Erklarung des "we feel". Auf welcher Passage im Text beruht

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diese ss Gefüh l Stems , und weshal b soil , anders als Emma, Effi nich t zur Liebe imstand ee sein? Auch nach wiederholte r Lektür e beide r Romane kann ich nur zuu einer entgegengesetzte n SchluBfolgerun g kommen . So wie sie uns be-schriebe nn wird , sehnt e Emma sich danach , ihr eigene s sexuelle s Verfange n zuu befriedigen , doch war sie nich t zu einer dauerhaften , einer Heirat ange-messene nn Zuneigun g imstande . Effi dagegen konnt e das und hat es Inn -stette nn gegenübe r auch gezeigt , nachde m sie nach Berli n übersiedel n konnt e undd ihr e Beziehun g zu Crampa s aus eigene r Initiativ e abgebroche n hatte .

Beidee Roman e beginne n mi t einer Beschreibun g der voreheliche n Situa -tio nn der wahren d ihre r Ehe überwiegen d passive n Hauptfiguren : des Ehe-manne ss in Madame Bovary, der Ehefra u in Effi Briest. Überwiegen d passiv e Romanfigure nn sind jedoc h kaum geeignet , eine Geschicht e in Gang zu set -zen.. Das geschieh t denn auch durc h Vertrete r der vorige n Generation : die beide nn Mutter . Die Vater verhalte n sich neutral , Charle s und Effi lassen sich jedoc hh beid e von ihre n aktive n Mütter n führen .

Charles ** Mutte r kummer t sich urn den Abschlu B seines Studiums , nach -demm er einma l durchgefalle n ist ; sje such t und finde t für ihn eine Stell e in Tostes ,, wo er sich als 'Landarzt ' niederlasse n kann , sje ist diejenige , die sei -nee erst e Frau such t und findet . Die Mutte r von Charles betrachte t die Ehe ihre ss Sohne s als Erganzun g seine r Karriere . Der Sohn soi l als 'Landarzt ' reüs -sieren .. Die Mutte r von Effi dagege n ist Mutte r eines Madchens . Sie betrachte t diee Ehe nich t als irgendein e Erganzung , sonder n die Ehe ist die Karrier e ihre r Tochter .. Die Tochte r soi l als eine Baroni n von Innstette n Erfol g haben . Daher ihr ee Bemühung . Und sje kenn t Innstetten , ihre Tochte r noch nicht .

Beidee Mutte r zeigen sich also aktiv , was die künftig e Ehe ihre r Kinde r anbelangt ,, werde n aber von unterschiedliche n Beweggründe n dazu getrie -ben.. Charles ' Vater ist ein aus der Arme e entlassene r 'aide-chirurgien-major' , einn Geldverschwender , der sich nun aus wirtschaftliche n Gründe n gezwunge -nermaBe nn aufs Land zurückgezoge n hat . Ein Süffe l und ein Schürzenjager . Deswege nn wil l Charles ' Mutter , in bezug auf die (erste ) Heirat ihre s Sohnes , dass Sicher e dem Unsichere n vorziehen . Und der mittelmaBige , noch weni g selbstandig ee Charle s füg t sich brav den Bestrebunge n seine r Mutter .

Effi ss Mutte r wir d von ganz andere n Beweggründe n geleitet . Sie liebt e Innstetten ,, hat ihm aber einen Korb gegeben , wei l er noch zu jun g war . Die Tochte rr dar f jetz t an seine r Seite das sozia l gepragt e ehelich e Glüc k erleben .

Zusammenfassen dd taBt sich also feststellen : Charles ' Mutte r bring t eine (erste )) Heira t ihre s Sohnes zustande , Effi s Mutte r die ihre r Tochter . Beide Kinde rr verhalte n sich überwiegen d passiv , beide Vater füge n sich . Erst nach demm Tod seine r erste n Frau wir d Charle s selbs t akti v und wil l er die von ihm selbs tt gewahlt e Emma heiraten . Emmas Vater reich t ihm dazu hilfreic h die

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Hand.. In der Klosterschule war Emmas Ausbildung auf die einer Dame der bürgerlichenn Gesellschaft, nicht auf die einer tuchtigen Bauerin gerichtet. Vaterr Rouault möchte seine Tochter los werden.

Beweggründee und Überlegungen, die Emmas bzw. Effis Heirat bestim-men,, lassen sich wie folgt veranschaulichen:

== Romanfigur

== Beweggründe der Romanfigur

== Weist auf die Überlegungen und/oder das von einer Romanfigurr angestrebte Ziel hin

MadameMadame Bovary vo r Emma s Heirat : CHARLES: :

Liebee für Emma nachh dem Tod seinerr ersten Frau

i i ym m

I I 5'' S

1 1

Charles'' Gymnasium

Charles'' Studium

Charles'' Karriere undd erste Heirat

EMMA: :

OOErziehung g Emmas s Elternn Emmas

Klosterschule e fürr Emma

Rückkehrr auf denn Bauernhof

Vater r

Heiratt Charles und Emma

EffiEffi Briest voo r Effi s Heirat : EFFI: :

a)) Korb Innstettens b)) Innstettens amt-

licherr Aufstieg

INNSTETTEN: :

a)) Korb Innstettens b)) Innstettens amt-

licherr Aufstieg Innstetten n

Heiratt Effi und Innstetten

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Inn beiden Romanen fallt nach einigen Jahren die Entscheidung, um der Ehee ein Ende zu setzen. In Madame Bovary entscheidet die überwiegend akt ivee Frau darüber, in Effi Briest der überwiegend aktive Mann. Emma be-t rachtett ihre materiel le Lage als aussichtslos, berat sich nicht mi t ihrem Mann,, sondern wahlt auf eigene Faust den Freitod. In Effi Briest beendet Innstet tenn nach seiner Entdeckung der Crampas-Korrespondenz die Ehe mit einemm von ihm angestrengten ProzeB, ohne jegliche Beratung mit seiner Frau,, und obgleich er sie noch liebt und der Gesellschaftszwang inn wohl zu einemm Duell, aber nicht zu einer Ehescheidung nótigte. Im 5. Kapitel, das vonn den jur ist ischen MaBnahmen handelt, werde ich darauf noch zurückkom-men. .

MadameMadame Bovary beginnt mit einer Beschreibung der Situation des Mannes vorr seiner Ehe, Effi Briest dagegen mit einer entsprechenden Beschreibung vonn Effi. Madame Bovary endet auch mit einer Beschreibung der Situation dess Mannes, nachdem der Ehe ein Ende gesetzt wurde, Effi Briest dagegen mi tt einer entsprechenden Beschreibung von Effis Situation. Das Ende wird alsoo in beiden Romanen von der überwiegend aktiven Hauptfigur herbeige-führ t .. In Madame Bovary von Emma, in Effi Briest von Innstet ten. Nachdem diee Ehe einmal beendet ist, zeigt sich, da6 sich die überwiegend passive Hauptf igurr in beiden Romanen nicht wesentlich geandert hat. Allerdings mit folgendemm Unterschied: Charles ist noch immer der naive Mann, der er schon vorr der Ehe war, Effi ist nicht mehr das spielende Kind, als das sie geheiratet wurde,, aber in der Erinnerung kehrt sie dorthin zurück und sieht sich wieder alss das Kind, das gerne im Garten des Elternhauses schaukeln mochte.

Diee Gesamtstruktur beider Romane laBt sich also wie folgt schematisieren:

MadameMadame Bovary: naiverr Charles - Ehe mit Emma

Ehe e

naiverr Charles st irbt EffiEffi Briest: spielerischee Effi -p- Ehe mit Innstetten

Emm aa beende t di e Ehe un d stirb t

+ + Ehe e Innstette nn beende t di e Ehe

Effii s t i rbt in der Rückkehr zu sich selbst

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Erlang tt der Leser aufgrun d der hier schematisierte n Gesamtstrukture n bestimmt ee Einsichte n in die Entwicklun g beide r Frauen? Meines Erachten s ist dass der Fait. Ander n wir diese Strukture n einmal . Wie würd e ein Leser Mada-meme Bovary deuten , wenn diese r Roman nich t mi t Charles' , sonder n mi t Emmass Vorgeschicht e angefange n natte ?

Inn Madame Bovary wir d der Leser nun einma l mi t einer ungewöhnliche n Ehegeschicht ee konfrontiert . Eine Frau triff t regelmaBi g ihre n Liebhabe r (Ro-dolphe) ,, wenn ihr Mann morgen s das Haus verlasse n hat oder noch schlaft . Soo etwas kann ein Ma! gutgehen , doch nich t am laufende n Band . Charle s aberr erwach t nie. Niemal s frag t er sich , weshal b Emma das ehelich e Bett scho nn verlasse n hat . Wo dürft e seine Frau woh l sein? Um ihre n zweite n Lieb -haber ,, Léon Dupuis , öfter s treffe n zu können , benutz t Emma den Vorwand , inn Rouen Klavierstunde n nehme n zu wollen . Charles wir d Emma das Honora r erstatten .. Nachde m er merkt , da6 die Klavierlehreri n Emma nie Klavier -stunde nn gegebe n hat , geht ihm noch imme r kein Lich t auf , und natürlich , ein Ehebruch ,, der unbemerk t bleibt , wirk t wie ein Wolkenbruc h ohne Regen. Charles '' von ahnungslose r Naivita t gepragt e passiv e Haltun g stimulier t Emmass auBerehelich e Abenteue r und bring t sie dazu , ihn imme r mehr hin -terss Lich t zu führen . So wie diese Ehegeschicht e erzahl t wird , bemerk t Char-less erst nach dem Tod seine r Frau, da6 sie auBerehelich e Beziehunge n ge-habtt hat . Und was ist sein e Reaktion , als er Rodolph e begegne t und diese r ihmm gegenübersitzt ?

Accoud éé en face de lui , il machai t son cigar e tou t en causant , et Charle ss se perdai t en reverie s devan t cett e figur e qu'ell e avait aimée. II luii semblai t revoi r quelqu e chos e d'elle . C'étai t un emerveillement.i l aurai tt voul u être eet homme . [S.644]

Ohnee den einführende n Text könnt e dem Leser eine derartig e Reaktio n -- als wenn er Charles nich t besser kenne n würd e - noch unglaubwürdige r vorkommen .. Die Struktu r des Romans aber, welch e mi t Charles ' Jugen d be-ginnt ,, mach t ihn zu einer gerad e glaubwürdige n Figur . Er war scho n imme r unqeschickt .. Zuers t wahren d der Schulzeit , als er seine n Namen nich t richti g ausspreche nn konnte , in der Klass e wiederhol t sein e Mütze falle n Iie6 und zwanzi gg Mal schreibe n muBte : Ridiculu s sum . Der lacherlich e Charles war scho nn imme r naiv . Nachdem sein e von materielle n Sorge n gezeichnet e Mutte rr ihn dazu bringe n konnte , eine haBliche , zwanzi g Jahr e alter e Witw e zuu heiraten , natt e Charles gehofft , dadurc h unabhangige r zu werden . Als ob diee alter e Witw e zum Schut z ihre r eigene n Positio n nich t sofor t die Herr -schaf tt übernehme n würde . Und als ob sich einem jungen , noch unverhei -ratete nn Akademike r im Honoratiorenkrei s einer Kleinstadtgesellschaf t kein e bessere nn Heiratschance n biete n könnten .

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Weill der Leser aber gleic h zu Anfan g des Romans mi t Charles ' extreme r Ungeschicklichkei tt und Naivita t konfrontier t wird , könne n diese Eigenschaf -tenn spate r in der Ehe mi t Emma für ihn glaubwürdige r werden . Shlomit h Rimmon-Kena nn formulier t dies allgemein :

Thee tex t can direc t and contro l the reader' s comprehensio n and atti -tude ss by positionin g certai n item s befor e other s ... Thus , informatio n andd attitude s presente d at an early stage of the tex t tend to encourag e too interpre t anythin g in thei r light . The reader is pron e to preserv e such meanin gg and attitude s for as long as possible . (Hervorhebunge n HMV) [S.120] [S.120]

Inn Madame Bovary wahr t "as long as possible " sogar bis zum Ende. Der Leserr erfahrt , wie Charle s bis zu seine m Tod ungeschick t und naiv bleibt . AuBerde mm trag t die Erzahlweis e in zweierle i Hinsich t dazu bei , Charles ' Unge-schicklichkei tt wahren d der Schulzei t und seine Naivitat , als die Mutte r ihn überredet ,, eine alter e Witw e zu heiraten , glaubhaf t zu machen .

1. . Seinee Ungeschicklichkei t in der Klass e wir d von seine n Mitschüler n

wahrgenomme nn und einer von ihne n teil t das dem Leser mit : "Nou s étion s a l'étude "" usw . [S.327] Er redet nich t über sich selbst , nur über Charles . Die Ich-Erzahlsituatio nn mi t der der Roman beginnt , versterk t für den Leser die Glaubwürdigkei tt von Charles ' extreme r Ungeschicklichkeit . Seine Mitschule r habenn dies e Ungeschicklichkei t doch damal s selbs t wahrgenommen .

2. . Charles '' Mutte r hat für Charle s eine erste Heirat arrangiert . Wie sie das

geschaff tt hat , wir d dem Leser nur kur z zusammengefaB t - in der Form der 'erlebte nn Rede' - mitgeteilt :

Maiss ce n'étai t pas tou t que d'avoi r élevé son fils , de lui avoi r fai t apprendr ee la médecin e et découver t Tostes pour l'exercer : il lui fallai t unee femme . Elle lui en trouv a une: la veuv e d'un huissie r de Dieppe , quii avai t quarante-cin q ans et douze cents livre s de rente . Quoiqu'ell e fu tt laide , sèch e comm e un cotret , et bourgeonn é comm e un printemp s .... . [S.33S]

Inn der damalige n bürgerliche n GeselIschaf t spielt e Geld bei der Heirat einee wichtig e Rolle . Flaubert s Vorgange r Honor é de Balzac natt e das 1833 scho nn in seine m Roman 'Eugeni e Grandet ' betont . In Charles ' Fall natt e der Leserr sich vorstelle n können , daB Charle s sich erst in ein hübsches , wenn auchh mittellose s Madchen verlieb t hatte , aber sich dennoc h von seine r Mut-terr hatt e überrede n lassen , eine wenige r schone , aber dafü r wohlhabender e jung ee Frau zu heiraten . Aber eine haBlich e Witw e von fünfundvierzig ? Die

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Mutte rr muB ihre n Sohn doch vorhe r überzeug t haben , diese Frau zu heira -ten .. Stelle n wir uns das im Text nich t erwahnt e Gesprac h einma l in Dialog -for mm vor :

'Inn Tostes , mein liebe r Junge , brauchs t du auch noch eine Frau. Die Grisetten ,, mi t denen du dich noch wahren d deines Studium s amüsier t hast ,, komme n dafü r nich t in Frage. Mutte r hat aber auch noch eine passend ee Ehefra u für dich entdeckt. ' 'Undd die könnt e eine lieb e Frau und zuverlassig e Mutte r werden?* , frag t Charles . . 'Einee lieb e Frau schon , aber Mutte r .... Die Dame ist Witw e und fünf -undvierzig. ' ' 'Abe rr Mutte r ...' 'Siee ist reich , mein Junge . Und daB sie haBIic h aussieht , trocke n wie ein Reisigbünde ll und volle r Picke l ... ' 'Abe rr Mutter , ...'

Nein ,, in Dialogfor m laBt sich derartige s nich t leich t erzahlen . Der Leser lies tt jetz t nur das Ergebnis : Charle s heirate t die Witwe , und manche r Leser wil ll weiterlesen , ohn e sich noch daru m zu kümmern , ob das Vorangehend e sehrr wahrscheinlic h ist oder nicht .

Obgleic hh der Leser auf diese Weise ein gewisse s Verstandni s für Charles '' spater e Ungeschicklichkei t und Naivita t bekommt , erhal t er aber auchh ein unvollstandige s Bild von Charles . In seine m Buch 'Charle s Bovary , Landarzt ,, Portre t eines einfache n Mannes ' hat Jean Amér y darau f hinge -wiesen ,, wie die stark e Betonun g von Charles ' Ungeschicklichkei t und Naivita t sein ee positive n Eigenschafte n vertusche . Charles gib t sich Mühe, sein e Pa-tiënte nn zu besuchen ; er mag ein beschrankte r Mann sein , doch fleiBi g ist er. Diee Betonun g von Charles ' negative n Eigenschafte n mach t ihn zu einer lacherliche nn Figu r und erweck t dami t bei den Lesern Verstandni s für Emmas künftige ss Verhalten . Denn sie entwickel t sich im Laufe der Ehe zu einer unzuverlassige nn Hausfrau , einer schlechte n Mutter , einer ehebrecherische n Gefahrtin .. Amér y laBt Charles fotgende s überlegen :

Diee Geschicht e beginnt , als ware sie die meine . Aber in ihre m Verlau f berichte tt sie nur schmahlic h und schnöd e von mir , weit der einma l Arm ee der ewig Arm e und als der ewig Arm e auch der unwiderrufiic h Dumm ee zu bleibe n hat . [S.153]

Undd das bleib t Charle s bis zum Ende des Romans . Ander s als Emma wirdd er dem Leser als eine rein statisch e Figu r geschildert , die sich wahren d derr Ehe - was auch geschieh t - nich t weite r entwickelt . Dieser erst e Eindruc k wir dd im Verlau f des Romans - wie ich im nachste n Kapite l weite r zu verdeut -liche nn hoff e - fortwahren d bestatig t und dadurc h versterkt .

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EffiEffi Briest beginn t nich t mi t der voreheliche n Geschicht e des Mannes , sonder nn mi t der seine r Frau. Der erst e Eindruc k des Lesers von ihr kann nich tt ander s ais gunsti g sein . Das spontane , noch mi t ihre n Freundinne n spielend ee Kind , das plötzlic h einem alteren , künftige n Eheman n vorgestell t wird ,, kann beim Leser nur Mitgefüh l erwecken . In einem an Clara Kühnas t gerichtete nn Brie f vom 27. Oktobe r 1895 erwahn t Fontan e Leserreaktionen , diee ihn erreich t haben :

All ee Leut e sympathisiere n mi t ihr , und einig e gehen so weit , im Gegen-satzz dazu , den Mann als einen 'alte n Ekel ' zu bezeichnen . [Schafar-schik,schik, S.lll]

Stelle nn wir uns jetz t einma l vor , da6 der Roman zuers t die Vorge -schicht ee von Innstette n erzahle n würd e und daö, stat t der von Fontan e ge-wahlte nn Struktur , dessen Geschicht e der von Effi vorangegange n ware . Der Leserr würd e dann zuers t erfahren , wie der jung e Kadet t von Innstette n am liebste nn in Schwantiko w bei Effi s GroBvate r Bellin g ist , wie Effi s Mutte r ihn liebt ,, doch fü r die gesellschaftlich e Institutio n 'Ene' eine Frau von Bries t zu werde nn bevorzugt . Darauf möcht e Innstette n nich t lange r in der Nahe von Luise ss Famili e bleibe n und gib t sein e Karrier e als Berufsoffizie r auf . Als aber derr Krie g mi t Frankreic h anfangt , trit t er wiede r ein und lern t in Crampas , demm spatere n Landwehrbezirkskommandeu r in Kessin , einen neuen Kamera -denn kennen .

Vielee Jan re spate r möcht e der noch unverheiratet e Innstette n Luise s Umgebun gg noch einma l wiedersehen . Bei diese r Gelegenhei t sieh t er nich t nurr die ehemalig e Geliebte , sonder n auch ihre Tochter . Er melde t sich bei denn Elter n mi t einem Heiratsantrag . Nachdem er mi t Effi verheirate t ist , betrüg tt dies e ihn mi t seine m ehemalige n Kriegskamerade n Crampas . Jetzt wir dd er von der Tochte r der Frau, von der er damal s einen Korb bekomme n natte ,, soga r gesellschaftlic h gezwungen , sein Leben in einem Duel l aufs Spiel zuu setzen !

Inn diese r Struktu r waren die Fakten dieselbe n geblieben , der Leser wür -dee aber einen andere n Eindruc k bekomme n haben . 'Arme r Innstetten ' ware sein ee SchluBfolgerun g geworden , nicht : 'Arm e Effi' .

Derr eine Leser wir d seine n erste n Eindruc k von einer Romanfigu r lange r festhalte nn als der andere . Über die dem erste n Eindruc k folgend e Phase schreib tt Menakhe m Perry : "... the seque l of the tex t is suppose d to reinforc e orr extinguis h them. " (Hervorhebun g HMV) [5.42]

Dass erst e passier t mi t Charles . Er bleib t imme r ungeschick t und naiv . Dass zweit e mi t Effi . Seit ihre r Begegnun g mi t Crampas bleib t sie nich t lange r

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diee Unschul d vom Lande . Sie pfleg t eine heimlich e auBerehelich e Beziehun g mi tt Crampas , was ihre n Mann im Falie der Entdeckun g zwinge n könnte , sein Lebenn in einem Duell aufs Spiel zu setzen . Der Leser wir d sein e Sympathi e fürr Effi daru m anpasse n mussen . Wenn ihr Mann von ihre n heimliche n Be-gegnunge nn wüBte , ware er gesellschaftlic h genótigt , sich zu dueliieren . Das weiBB die adlig e Effi von vornherein , als sie die Beziehun g zu Crampas an-knüpft .. Aber völli g verliere n wir d der Leser sein e Sympathi e fü r sie nicht , er wirdd nich t leich t berei t sein , diese Sympathi e völli g preiszugeben . Nich t nur , weill die Geschicht e auf Hohen-Cremme n beginnt , sonder n wei l er von Effi s sichh allmahlic h Innstette n gegenübe r offenbarende n negative n Seiten nie direk tt Kenntni s nimmt , sonder n lediglic h von dem Ergebni s ihres Handeln s (Effi ss Abschiedsbrief) -

Inn ihre m Aufsat z 'Eff i Bries t und ihr e Vorgangerinne n Emma Bovar y undd Nora Helmer ' (1948) schreib t Mariann e Bonwi t iibe r die weibliche n Hauptfiguren :: "Es lieg t nahe, Effi Bries t mi t Madame Bovar y zu vergleichen , siee geradez u eine 'markisch e Madame Bovary ' zu nennen . Fontane s Roman gleich tt Flaubert s in Struktu r und Grundgedanken. " [S.445] Ich bin andere r Meinung .. Siche r ist , daB in den beiden Romane n ein und dasselb e Thema behandel tt wird . Strukturunterschied e habe ich scho n erwahnt . Weshalb Effi Bries tt nich t unbeding t als eine markisch e Madame Bovar y - eine ehebreche -risch ee Frau also - zu betrachte n sei , hoff e ich noch weite r zu erlautern . In Anbetrach tt der Zielsetzun g diese r Untersuchun g möcht e ich jedoc h zuers t dass kurz e Leben von Emma und Effi , ihr e Entwicklun g vor und ihre Entwick -lungg wahren d der Ehe etwas genaue r betrachten . Nich t um beide r Geschich -tenn nochmal s in eigene n Worte n wiederzugeben , sonder n um die Unterschie -dee in Entwicklungsgan g und angewendete r Erzahltechni k besser anschaulic h undd atmospharisc h nachprüfba r bezeichne n zu können .

Derr Mensch ander t sich in seine m Entwicklungsgang , auch in seine n Ansichte nn andere n Mensche n gegenüber . Effi hat sich kur z nach der Ehe-scheidun gg über Innstetten s Verhalte n besonder s empör t gezeigt , aber in ihre rr letzte n Lebensphase , nach Hohen-Cremme n zurückgekehrt , muB sie in einemm Gesprac h mi t ihre r Mutte r gestehen , daB er in jede r Hinsich t richti g gehandel tt habe. "LaB ihn das wissen , daB ich in diese r Clberzeugun g gestor -benn bin. " [S.425] Diese Anderun g in ihre m Entwicklungsgan g hat Christin e Brückne rr unbeachte t gelassen , als sie Effi soga r in diese r letzte n Lebens -phasee sich noch imme r Innstette n gegenübe r als empör t zeigen laBt . Effi rebellier tt dann aber nich t mehr . Sie zeigt sich völli g gesel Ischaftsbestatigend . Undd Fontane ? Fontan e auch . Er schilder t zwar die Schattenseite n eines Ge-sellschaftskreises ,, nimm t sie aber in Kauf .

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3.. EMMAS UND EFFIS ENTWICKLUN G

a.. Einzige s Kin d

Alss Charles mit Emma nach der Hochzeit in Richtung Tostes heimfahrt, siehtt der Leser In der Sicht des externen Erzahlers, wie Emmas Vater den beidenn nachschaut und sich an seine eigene Hochzeit erinnert: "comme c'étaitt vieux tout cela! Leur fils, a présent, aurait trente ans". [S.353]

Derr Text weist hier auf einen früh gestorbenen Sohn hin. Dem Leser wirdd darüber kein AufschluB gegeben. Es wird auch nicht deutlich, ob Emma diesenn alteren Bruder je gekannt hat. Im dritten Teil aber, gegen Ende des 10.. Kapitels, sagt Emmas Vater, nachdem er von dem Tod seiner Tochter erfahrenn hat, 'Tai vu partir ma femme ..,, mon fils a prés ... et voila ma fille aujourd'hui!"" (Hervorhebung HMV) [5.636]

Ichh nehme an, daB sich der bestürzte Vater hier weniger sorgfaltig ausdrücktt und sich in der Reihenfolge irrt. Wie auch immer: Emma wachst alss einziges Kind auf, Effi 1st einziges Kind.

Emmaa und Effi bekommen ebenfalls nur ein einziges Kind, eine Toch-ter.. Was Emma betrifft, laBt sich das noch verstehen. Sie hatte damals ihre Hoffnungg zwar auf einen Sohn gesetzt, aber für die Mutterschaft zeigt sie sichh wenig geeignet. Nachdem sie ehebrecherisch geworden war, wird sie vermutlichh auch keinen Wert darauf gelegt haben, um von diesem oden Ene-maa nn noch ein zweites Kind zu bekommen.

DaBB Effi sich spater nicht mehr nach einem zweiten Kind sehnt, ist we-nigerr verstandlich. Als Annie geboren wurde, hatte der Arzt gesagt:

'Wirr haben heute den Tag von Königgratz; schade daB es ein Madchen ist,, aber das andere kann ja nachkommen, und die PreuBen haben viele Siegestage.'' [S.267]

Hattee sich Effi, in Berlin und mit der Crampas-Affare hinter sich, nicht nochh ein zweites Kind gewünscht? "Der preuGische Adel war zahlreich und in derr Regel kinderreich", schreibt von Krockow. [S.25] Und Innstetten? Im 1. Kapitell erzahlt Effi ihren Freundinnen:

'Innstettenss gibt es hier nicht, gibt es, glaub ich, überhaupt nicht mehr.'' [S.176]

Unterr diesen Umstanden muB ein von Tradition gepragter Mann wie Innstettenn doch Wert darauf gelegt haben, in Berlin auch noch einen jungen Stammhalterr in der Wiege begrüBen zu können. Nichts im Text, das darauf

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hinweist .. Effi und Innstette n sind scho n in ihre m siebte n Jahr in Berlin , als derr alte Rummschüttel , "de r auf dem Geblet e der Gynakologi e nich t ohn e Ruf war" ,, kur z vor Effi s Reise nach Ems durc h Effi s Mutte r zu Rate gezogen wird . Weshal bb sich Effi und Innstette n nich t scho n ener an einen Gynakologe n gewende tt natten , wir d dem Leser nich t mitgeteilt .

Inn beide n Romane n hat die vorzeitige , einseitig e Beendun g der Ehe den Kinder nn beide r Frauen Schade n zugefügt . Die mittellos e Berth e wird spate r gezwungen ,, ihre n Lebensunterhal t als Arbeiteri n in einer Baumwollspinnere i zuu verdienen , und Anni e wird von ihre m Vater in einer die Mutte r abwei -sende nn Haltun g erzogen . Die Entscheidun g der Schriftsteller , daB Emma und Effii beide als Mütte r nur ein einzige s Kind zur Welt bringe n sollten , ermög -lich tt es ihne n natürlich , alles Kinderlei d durc h eine gescheitert e Ehe auf diesess eine Kind zu lenken . Wie dem auch sei , der Leser Mest den gegebene n Text ,, und darau s ergib t sich lediglich , daB Emma und Effi , nachde m sie vor derr Ehe auch selbs t ohn e Brüde r und Schwester n als Einzelkin d aufgewach -senn sind , nur ein einzige s Kind zur Welt brachten . Emma und Effi sind also ohn ee Brüde r und Schwester n groB geworden . Mit welche n Persone n haben siee dann aber vor der Ehe verkehrt ?

Emma a Alss sie als Dreizehnjahrig e zur Kiosterschul e geht , lebt ihr e Mutte r

noch .. Als sie in der Kiosterschul e erfahrt , daB dies e gestorbe n ist , wein t sie diee erste n Tage viel . Hatte die Mutte r vie l für Emma bedeutet ? Über ihre n frühere nn Kontak t mi t ihr erfahr t der Leser nichts . Nachde m sie Charles ken -nengelern tt hat , hat Emma ihr e Mutte r aber noch nich t vergessen :

Ellee lui pari a encor e de sa mere, du cimetière , et même lui montr a dans Iee jardi n la plate-band e don t elle cueillai t les fleurs , tou s les premier s vendredi ss de chaqu e mois , pou r les aller mettr e sur sa tombe . [S.345]

Fürr den Bauernho f ihres Vaters ist sie unbrauchbar . Freundinne n und Freund ee hat sie nicht . Das könnt e dem Leser in zweierle i Hinsich t bemer -kenswer tt vorkommen .

1. . Alss sie verheirate t ist , arger t Emma sich über die auBere Erscheinun g

ihress Mannes und überleg t sie sich :

III aurai t pu être beau, spirituel , distingue , attirant , tels qu'il s étaien t sanss doute , ceux qu'avaien t épousé s ses ancienne s camarade s du couvent .. (Hervorhebun g HVM) [5.365]

Hattee sie aber je in der Kiosterschul e mit irgendeine r Mitschüleri n eine kameradschaftlich ee Beziehun g aufgebaut , oder bildet e sie sich das nur ein?

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Namenn diese r Klosterfreundinne n werde n namlic h nie genannt . Kein e von ihne nn wurd e zur Hochzei t eingeladen .

2. . Wennn es in einer Bauernfamili e mehrer e Söhne gibt , kann nur einer

denn vaterliche n Hof erben . Für die andere n Söhne ware eine Bauerntochte r wiee Emma, die auBerde m noch hübsc h ist , eine attraktiv e Parti e gewesen . DaBB sie selbs t kein e Baueri n werde n möchte , ist ihr e Sache. Manche r Bau-ernsoh nn aber wir d doch - sei es vergeben s - versuch t haben , um Emma zu werben .. Darübe r bekomm t der Leser nicht s zu horen . Das Fehlen eines Bruders ,, der Kamerade n und Freund e ins Haus natt e bringe n können , und diee Erziehun g in einem Klosterinterna t für Madchen haben Emma vor der Ehe gesellschaftlic hh isoliert . Bedauert e sie das? Niemal s unternimm t Emma et-was ,, um dies e Isolatio n zu durchbrechen . Offenba r reichte n ihr vorlaufi g die fiktive nn Romanfiguren , mi t denen sie sich ais Fünfzehnjahrig e in der Kloster -schul ee heimlic h beschaftigte : ".. . messieurs , brave s comm e des lions , doux comm ee des agneaux , vertueu x comm e ne c'est pas ..." . [5.361] Eine fiktiv e Welt ,, schone r als die wirkliche . DaB Emma sich gern e in diese fiktiv e Welt zurückzog ,, haben ihr e Elter n nich t wisse n können . Ihre Entscheidung , Emma inn eine Klosterschul e zu schicken , kann man ihne n nich t vorwerfen . Anfang s fühl tt Emma sich dort auch nich t feh l am Platz. Die Gesellschaf t der Schwe -ster nn gefall t ihr , und haufige r als die andere n kann Emma dem Herrn Vikar auff schwierig e Fragen antworten . Als sie auf den Bauernho f zurückgekehr t ist ,, komm t für sie ein 'einfacher ' Bauernsoh n nich t in Frage. DaB Charle s an-fin gg ihr den Hof zu machen , konnt e als eine Art Erlösun g betrachte t werden . Emmass Elter n triff t kein e Schuld .

Undd Effi s Eltern ? Triff t auch sie kein e Schuld , als die Tochte r Innstette n heiratet ?? Als Effi von ihre r Mutte r veranlaB t wird , sich mi t ihm zu vermahlen , widersprich tt Bries t seine r Frau nicht . Er natt e Hohen-Cremme n damal s schon ,, er hat es noch . Effi s Vater ist kein Karrieremacher . Er wil l nur sein e Freihei tt und bevorzug t es, die Blick e nich t 'bestendi g nach oben richte n zu mussen' .. Vater Bries t ist ledigtic h daran interessiert , in seine r adlige n Stel -lun gg als Rittergutsbesitze r anerkann t zu werden . Innstette n soi l nich t den Eindruc kk bekommen , ihm gesellschaftlic h überlege n zu sein , und soi l sich nich tt für einen 'verkappte n Hohenzollern ' halten . Die Mutte r bemüh t sich um Effi ss Erziehun g und Zukunft , dem Vater ist alles ein 'weite s Feld' .

Obwoh ll sie sich liebten , hat Innstette n von Effi s Mutte r seinerzei t einen Korbb bekommen . Es laBt sich verstehen , daB ihr vie l daran gelege n ist , daB Effii jetz t seine n Heiratsantra g annimmt . Bevor sie Effi den Antra g über -mittelt ,, prüf t sie die Reife ihre r Tochter . Anfang s schein t sie beruhigt , am Tagg nach der Hochzei t hegt sie dennoc h Zweifel , ob die spielerisch e Effi für dies ee Heira t nich t doch noch zu jun g ist . Zu Bries t sagt sie :

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'Ih rr Ehrgei z wir d befriedig t sein , aber auch ihr Hang nach Spiel und Abenteuer ?? Ich bezweifle. ' [5.200]

Ess zeigt sich , daB dieses Schuldgefüh l sie nach Effi s Tod noch imme r qualt .. Sie sagt zu ihre m Mann:

'Obb wir sie nich t ander s in Zuch t natte n nehme n mussen . Gerade wir . .... und zuletzt , womi t ich mich selbs t anklage , denn ich wil ! nich t schuldlo ss ausgehe n in diese r Sache, ob sie nich t doch vielleich t zu jun g war? '' [5.427]

Ess frag t sich , ob die Mutte r mi t ihre r Erwagung , man habe Effl "ander s inn Zuch t nehme n mussen" , den entscheidende n Punk t trifft . Der Leser kann vomm Gegebene n her auch zu einer andere n SchluBfolgerun g kommen . Die Elter nn haben in Effi s Erziehun g einen wichtige n Fehler gemacht , den Effi in -nenn indirek t vorwirft , als sie ihre n Vetter Dagober t zum Polteraben d einladt :

'.... du komms t also zu meine m Polterabend , und natürlic h mit Cortege . Dennn nach den Aufführunge n ... ist Ball . Und du muBt bedenken , mein erste rr groBe r Ball ist vielleich t auch mein letzter . Unter sechs Kame-radenn - natürlic h best e Tanzer - wird gar nich t angenommen. ' [5.186]

Effii hat drei Freundinnen , aber keine mannliche n Freunde . Vetter Dago-bertt soi l dafü r sorgen , wenigsten s sechs Offizier e mitzubringen . Das befiehl t dass markisch e Landfraulei n ihre m Vetter . Die Kameraden , die er mitbringe n soil ,, werde n nich t genaue r benannt . Offiziere , best e Tanzer , das reich t doch ? Wiee Emma, die keine n Bauernsoh n heirate n möchte , so muB auch Effi auf Hohen-Cremme nn gesellschaftlic h isolier t geleb t haben . Freundinne n waren da.. DaB die Freundinne n nur gutbürgerlic h waren , stört e nicht . Ein Freund , einn potentielle r Ehemann , natt e aber adli g sein mussen , und der fehlte . Effi s Elter nn natte n dafü r sorge n mussen , daB Effi vorhe r Gelegenhei t bekam , urn auff Hohen-Cremme n und bei andere n Adelsfamilie n auch ander e adlig e jung e Mannerr kennenzulernen . Eine ausreichend e Sozialisatio n fehlt e und ein Tennis -- oder Hockeyklub , wo Effi auf ungezwungen e Weise mi t junge n Man-nernn des eigene n GeselIschaftskreise s natt e verkehre n können , war noch nich tt vorhanden . Unter diese n Umstande n hatt e für Effi der Hochzeitsbal l nie ihrr erste r Ball sein dürfen ! Jetzt wurd e Effi ohne weitere s ein ihr unbekannte r Landra tt als Mann der feinste n Formen angepriesen , und Pastor Niemeye r hatt ee bestatigt , daB er ein Mann von Charakter , von Prinzipien , ja soga r von Grundsatze nn sei .

Überr welch e besondere n Grundsatz e Innstette n verfügt e und wie Pasto r Niemeye rr davo n je erfahre n hatte , steh t übrigen s nich t im Text . Innstette n erweis tt sich in seine m Gesellschaftskrei s als ein anstandige r Mann, verfügt e err aber auch über Grundsatze ? In seine m spatere n Gesprac h mit Wüllersdor f

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wirdd er zugeben, da6 das Duell ein Götzendienst ïst. Er fügt jedoch hinzu: "... aberr wir mossen uns ihm unterwerfen, solange der Götze gilt". Innstetten richtett sich nicht nach eigenen Grundsatzen, sondern nach den Auffassungen undd Usancen seines Gesellschaftskreises, auch wenn die - wie im Falie des Duellss - rechtswidrig sind. Er ist sicher kein Feigling, als es spater zu seiner Duellentscheidungg kommt, aber ein Mann mit Grundsatzen? Effis Mutter hat ihrerr Tochter geraten, einen Konformisten zu heiraten.

b.. Wi e wurde n Emm a un d Eff i vo r der Ehe vo n andere n gesehen ?

Wiee der Mensch sich benimmt, so wird er von anderen beurteilt. Andert err sein Verhalten, werden auch die Betrachtungen der anderen nicht diesel-benn bleiben.

Emma a Inn der Klosterschule war man zuerst von Emma begeistert:

Cett esprit, positif au milieu de ses enthousiasmes, qui avait aimé réglise.. [S.361]

Allmahlichh andert sich das.

.... elle s'irritait davantage contre la discipline, qui était quelque chose d'antipathiquee a sa constitution. Quand son père la retira de pension, onn ne fut point faché, de la voir partir. La supérieure trouvait même qu'ellee était devenue, dans les derniers temps, peu révérencieuse enverss la communauté. [5.361]

Emmass religiose Teilnahme laBt nach, die Klosterschwestern betrachten siee nicht mehr als mögliche Kollegin.

Auff den Bauernhof zurückgekehrt, versorgt Emma ihren verwitweten Vater.. Als dieser zur Einsicht kommt, daB Emma für ein Leben auf einem Bauernhoff kaum geeignet ist, möchte er sie los werden. Er ermutigt Charles ener,, seine Tochter zu heiraten, als daB er dessen Heiratsantrag abweist. "S'ill me la demande ..., je la lui donne." [S.347]

Derr einzige, der sein Urteil nie andert, ist Charles selbst. Er sieht Emma mitt der Hartnackigkeit eines verliebten Mannes, dem sie übrigens vor der Ehee reichlich Gelegenheit gab, sie kennen zu lernen. Sie bietet ihm an, mit ihrr Likör zu trinken.

.... elle se mit a causer du couvent, Charles de son college, les phrases leurr vinrent. Ils montèrent dans sa chambre. Elle lui fit voir ses anciens cahierss de musique, les petits livres qu'on lui avait donnés en prix et

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less couronne s en feuille s de chêne , abandonnée s dans un bas d'ar -moire .. [S.581]

Obgleic hh Zartlichkeite n nich t genann t werden , erfahr t der Leser , wie ihr ee Bekanntschaf t allmahlic h vertraulichere n Charakte r bekommt . Die Klo -sterschwester nn wollte n sie los werden , ihr Vater wollt e sie los werden , Char-less aber wil l sie haben .

Effi i Vonn Effi und Innstette n kann man nich t sagen , daB ihr e Bekanntschaf t

allmahlic hh einen vertr a ulichere n Charakte r bekommt . Noch am selben Tag, ann dem sie dem Mann vorgestell t wird , verlob t Effi sich mit ihm . Bevo r sie ihmm vorgestell t wird , ist sie bereit , sich rasch umzuziehen , aber die Mutte r hal tt sie zurück . Sie soi l bleiben , wie sie ist . Die Mutte r trag t offenba r das im Textt nich t ausgesprochen e Vorhabe n in sich , Innstette n die Verantwortun g deutlic hh zu mache n für die Ehe mi t einer Effi , die sein soil , wie sie ist . Kurz nachh der Verlobun g ander n die drei Freundinnen , Innstette n selbs t und Effi s Mutte rr ihr e Betrachtungsweise .

Solang ee die Freundinne n noch mi t Effi im Garten spielte n und Effi noch nicht ss wuBt e von Innstetten s Heiratsantrag , hatt e sie den Freundinne n er-zahlt :: "Altlic h ist er auch , er könnt e ja beinah e mein Vater sein" . [S.178] Nachdemm Effi sich noch am selben Tag mi t diese m Landra t verlob t hat , fall t ess den Freundinne n schwer , die vertraut e Spieigefahrti n auf einma l als künftig ee Baroni n von Innstette n betrachte n zu mussen . Effi spiel t keine n Anschla gg mehr , sie spiel t die glücklich e Verlobte .

Beii Innstette n vollzieh t sich eine Anderun g seine r Betrachtungsweis e in andere rr Richtung . Als Effi ihm vorgestell t wurde , sah er sie noch als sein e künftig ee Ehefrau . Als aber eine ihre r Freundinne n kurz vor der Verlobungs -mahlzei tt in den Saai ruft : "Effi , komm" , wird ihm klar , daB er ein Kind heira -tenn wir d und er kann diese zwei Wort e nich t mehr los werden . Er wir d in sei -nerr Ehe auch noch Vater und Erziehe r sein mussen .

Effi ss Mutte r ander t ihr e Betrachtungsweis e möglicherweis e noch am meisten .. Alles war ihr daran gelegen , eine Verlobun g zwische n Effi und ihre m ehemalige nn Verehre r zustand e zu bringen . Zu diese m Zweck prüf t sie die Reifee ihres Kindes : Als Effi ihr e Arbei t am Altarteppic h fü r Tumübunge n unterbricht ,, fragt sie die Tochter , ob sie nich t liebe r Kunstreiteri n hatt e werde nn wollen . Als Effi entgegnet : "Waru m machs t du kein e Dame aus mir? " [5.172],[5.172], glaub t die Mutter , die Situatio n richti g eingeschatz t zu haben und ihree Tochte r davon überzeuge n zu dürfen , Innstette n zu heiraten . Nachde m siee Effi einma l überzeug t hat - die Verlobun g fmde t stat t -, verlier t sie ihr e Überzeugun gg aber wieder . Der Mann ist doch zu alt für Effi . Ein paar Wochen vorr der Heirat frag t sie Effi , ob sie Innstette n woh l wirklic h liebe und füg t

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hinzu:: "Noch ist es Zeit". [S.194] Effi antwortet jedoch, daB Innstetten ein Mannn sei, mit dem sie Staat machen könne. Die Mutter hatte Innstetten sei-nerzeitt geliebt, konnte aber noch keinen Staat mit ihm machen. Effi kann dass jetzt wohl. Wird es ihr reienen? Ich möchte darauf aufmerksam machen, daBB dieses Gesprach im Text kurz vor und nicht nach der Hochzeit stattge-fundenn hat, so wie Demetz erwahnt. [S.212]

c.. Die nich t erzahlt e erst e Period e ihre r Kindhei t

Derr Text erzahlt dem Leser das Leben beider jungen Frauen von der Hochzeitt bis zum Tode. Was die Kindheit anbelangt, wird von Emmas Leben erstt seit ihrem dreizehnten, von Effis seit ihrem siebzehnten Lebensjahr berichtet.. Alles Vorangegangene wird fast ganz der Phantasie des Lesers überlassen. .

Inn Madame Bovary beginnt das 6. Kapitel im ersten Teil in folgender Weise: :

Ellee avait lu Paul et Virginie et elle avait rêvé la maisonnette de bam-bous,, Ie nègre Domingo, Ie chien Fidele, mais surtout l'amitié douce de quelquee bon petit frère, qui va chercher pour vous des fruits rouges danss des grands arbres plus hauts que des doeners, ou qui court pieds nuss sur Ie sable, vous apportant un nid d'oiseau. [5.357]

"L'amitiéé douce de quelque bon petit frère", könnte sich auf ein Ver-langenn nach dem von ihr vermiBten, früh gestorbenen Bruder beziehen. Übri-genss erfahrt der Leser nichts über die Kindheit yor Emmas Aufenthalt in der Klosterschule,, in der sie plötzlich als Bauerntochter mit Mitschülerinnen einer stadtischenn Bourgeoisie umgehen muB, sich aber in der ersten Zeit über-hauptt nicht langweilt. Sie kennt sich gut im Katechismus aus und kann dem Herrnn Vikar, besser als alle anderen, schwierige Fragen beantworten.

Hattee die Lehrerin der Volksschule oder ein Dorfspastor den Eltern das Klosterinternatt empfohlen? Oder haben die Eltern selbst in der Hoffnung, auf diesee Weise die Heiratschancen ihrer hübschen Tochter zu verbessem, diese Wahll getroffen? Der Leser muB das erraten, denn der Text gibt keinen Auf-schluB.. Auch nicht auf die Frage, wie Emma auf die Entscheidung ihrer El-tern,, um künftig in einer Klosterschule erzogen zu werden, reagiert hat. Durchh diese Entscheidung wird Emma plötzlich aus einer ihr vertrauten Urn-weltt gerissen. Auf die möglichen negativen Folgen einer derartigen Ent-scheidungg hat spater Flauberts Verteidiger in dem gegen den Autor anhangig gemachtenn StrafprozeB hingewiesen. Im 5. Kapitel dieser Arbeit werde ich darauff zurückkommen.

Inn der Klosterschule werden Musikstunden gegeben. Man singt Roman-

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zenn über kleine Engel mit goldenen Flügeln und Gondolieren: kindlich erleb-tess Christentum in Kombination mit romantisierter Mannlichkeit, genauso, wiee Emma es sich in ihren Traumen vorstellt. Ihr Musikunterricht bleibt nicht auff Singen beschrankt. Nachdem sie verheiratet ist, bewundert Charles ihre Fingerfertigkeitt am Klavier. Wo und wann sie vor der Ehe Klavier spielen gelerntt hat, ergibt sich nicht aus dem Text. Besonders auf dem Lande war mann auf Hausmusik angewiesen, wobei der Hausfrau die assistierende Rolle amm Klavier zukam. Weder Flaubert noch Fontane hielten es für nötig, ihren Lesernn darüber weitere Auskunft zu geben. In jeder Hinsicht erfüllte die ver-heiratetee Frau eine dienende Aufgabe, und die Leser waren damit vertraut.

Auchh über die sonstige Ausbildung beider Madchen wird im Text nichts erwahnt.. In Effi Briest kommt nur noch ein Hinweis auf Effis Schufunterricht vor.. Im 1. Kapitel des Romans will Effi mit ihren Freundinnen mit Hilfe einer Tüte,, die nachher mit einem Stein beschwert in den Teich neben dem Haus versenktt wird, Stachelbeerschalen vom Tisch aufraumen. Effi sagt:

'.... so vom Boot aus sollen früher auch arme unglückliche Frauen ver-senktt worden sein, natürlich wegen Untreue.' 'Aberr doch nicht hier.' 'Nein,, nicht hier', lachte Effi. 'Hier kommt so was nicht vor. Aber in Konstantinopel,, und du muBt ja, wie mir eben einfallt, auch davon wissen,, so gut wie ich, du bist ja mit dabei gewesen, als uns Kandidat Holzapfell in der Geographiestunde davon erzahlte.' [S.177]

Derr Unterricht in einer damaligen (höheren) Madchenschule war darauf ausgerichtet,, "dem Weibe eine der Geistesbildung des Mannes ... eben-bürtigee Bildung zu ermöglichen, so daB der deutsche Mann nicht durch die geistigee Kurzsichtigkeit seiner Frau an dem hauslichen Herde gelangweilt und inn seiner Hingabe an höheren Interessen gelahmt werde." [Lange, 5,210] Effi wuBtee also ziemlich sicher, wo Konstantinopel liegt, und am hauslichen Herd wirdd nur sie und nicht Innstetten sich gelangweilt haben. Anders als ihre Freundinnenn ist sie sich des verhangnisvollen Schicksals einer Ehebrecherin bewuBt. .

d.. Vorbereitun g auf di e Ehe un d Empfan g in der neue n Wohnun g

Emma a Emmaa natte gehofft, sich auf eine besondere Weise vermahlen zu

können. .

Emmaa eüt ... désiré se marier a minuit, aux flambeaux; mais Ie père Rouaultt ne comprit rien a cette idéé. [S.348]

Ihrr anfanglicher Wunsch, urn sich urn Mitternacht bei Fackelschein zu

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vermahlen ,, entsprac h vermutlic h mehr der sentimentale n Literatur , die sie in derr Klosterschul e heimlic h gelese n natte , als der Realita t einer Bauernhoch -zeit ,, wie sich ihr Vater die vorstellte . Das Unverstandni s ihre s Vaters weis t aberr zugleic h auf eine Kommunikationsstörun g hin . Emma war nich t imstan -de,, ihre m Vater deutlic h zu machen , weshal b sie sich eine Hochzei t bei Fackelschei nn ertraum t natte . Derartige MiBverstandniss e trete n im weitere n Verlau ff des Roman s öfte r auf , fast imme r mi t Charles , anfang s auch mi t Bournisien . .

Warr Emma auf ein gemeinsame s Leben mit Charle s vorbereitet ? War siee sexuel l aufgeklar t worde n und wurd e für ihr e Aussteue r gesorgt ? Mad-chenn wie Emma und Effi heiratete n damals jun g und wurde n erst in der Hochzeitsnach tt entjungfert . Emma natt e keine Mutte r mehr , die sie darau f natt ee vorbereite n können , und in der Klosterschul e natt e sie sich den Schwe -ster nn gegenübe r nur für die Religio n interessier t gezeigt .

Diee fromme n Schwester n natte n gehofft , daB Emma einma l in ihre n Ordenn eintrete n würd e und natte n ihr Ratschlag e gegeben , wie man den Leib kastei ee und das Seelenhei l bewahre . Das weis t mehr auf körperlich e Zuch t undd Beherrschun g hin , als auf eine Atmosphere , in der fre i und unbefange n überr Sexualita t gerede t wird . Als Bauemkin d wir d Emma aber Gelegenhei t gehab tt haben , das Verhalte n der dor t lebende n Saugetier e zu beobachten , undd darau s ihr e Schlüss e gezoge n haben . In diesem Zusammenhan g möcht e ichh auf Flaubert s spater e Erzahlun g 'Un coeur simple ' hinweisen , in der er in bezugg auf das auf dem Lande tebend e Madchen Félicit é schreibt : "Les animau xx l'avaien t instruite. " AuBerde m war Emma der Brauc h bekannt , auf einerr Bauernhochzei t derb e Possen über den Geschlechtsverkeh r zu reiBen undd das jung e Paar wahren d ihre r erste n gemeinsame n Nacht zu storen . Dieserr Brauc h wurd e jedoc h von Emma rechtzeiti g abgewiesen :

Laa marié e avai t suppli é son père qu'o n lui épargna t les plaisanterie s d'usage .. Cependant , un mareyeu r de leurs cousin s ... commencai t a souffle rr de l'eau avec sa bouch e par Ie trou de la serrure , quan d Ie père Rouaul tt arriv a just e a temp s pour Ten empêcher , et lui expliqu a que la positio nn grav e de son gendr e ne permettai t pas de telle s inconvenan -ces.. [S.351/352]

Bemerkenswer tt ist sodan n die Reaktio n von Charle s und Emma auf dies ee Hochzeitsnacht .

Lee lendemain , il semblai t un autr e homme . C'est lui plutö t que l'on eüt pri ss pou r la vierg e de la veille , tandi s que la marié e ne laissai t hen découvri rr oü Ton püt devine r quelqu e chose . [S.352]

Beid ee Reaktione n könne n für den Leser begreiflic h sein . Die von Char-les ,, wei l er in der erste n Ehe für ehelich e geschlechtlich e Erfahrunge n auf

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einee vie l altere , haBlich e Gatti n angewiese n war. Die von Emma, wei l sie Gasten ,, die sich auf ihr e Koste n natte n amüsiere n wollen , jetz t die kalt e Schulte rr zeigen konnte .

Wass die Aussteue r angeht , ist es üblich , daB die Mutte r der Brau t dabei zurr Seite sten t Emmas Mutte r lebt e jedoc h nich t mehr , und kein andere r Menschh half ihr . Emma hat auch niemande n um dies e Hilf e gebeten . Sie sorg tt für sich selbst .

Milee Rouaul t s'occup a de son trousseau . Une parti e en fu t commandé e èè Rouen et elle se confectionn a des chemise s et des bonnet s de nuit , d'apré ss des dessin s de mode qu'ell e emprunta . [5.348]

Effi i Effii führ t vor der Ehe vertraulich e Gesprach e mit ihre r Mutter , wenn

auchh - sowei t sich aus dem Text ergib t - nich t über die bevorstehend e Ent-jungferung .. Das wil l nich t heifien , daB ein derartige s Gesprac h nich t statt -gefunde nn hat . Einige s muB Effi scho n bekann t gewese n sein , und Fontan e wahl tt einen besondere n Weg, um den Leser auf Effi s verschwiegene , intim e Beziehun gg mi t Crampa s vorzubereiten . Wenigsten s zweima l wird sie vor der Ehee mit den gefahrliche n Konsequenze n des Ehebruch s vertrau t gemacht . Zuerst ,, als sie im 1. Kapite l mi t ihre n Freundinne n Stachelbeerschale n ver -senk tt und sich daran erinnert , was der Kandida t Holzapfe l in der Geographie -stund ee über das Versenke n untreue r Frauen in Konstantinope l erzahl t natte . Spater ,, als Effi und ihr e Mutte r von der 'Aussteuerreise ' nach Berli n heimge -kehr tt sind , wir d Effi zum zweite n Mal mi t den ernsthafte n Konsequenze n einess Ehebruch s konfrontiert . Vater Bries t erzahl t ihnen :

'Ih rr habt mir da vorhi n von der Nationalgaleri e gesproche n und von der InselInsel der Seligen - nun , wir haben hier , wahren d ihr for t wart , auch so wass gehabt : unse r Inspekto r Pink und die Gartnersfrau . Natürlic h habe ichh Pink entlasse n mussen , übrigen s ungern . Es ist sehr fatal , daB sol -chee Geschichte n fast imme r in die Erntezei t fallen . Und Pink war sons t einn ungewöhnlic h tüchtige r Mann, hier leide r am unrechte n Fleck. ' [5.186] [5.186]

Soweit ,, was Effi s geschlechtlich e 'Vorbereitung ' betrifft . Zur Aussteue r folgendes :: Wahren d der Verlobungszei t zeigt Effi sich Kind und Frau, je nach denn Umstanden . Als sie in Berli n mi t ihre r Mutte r die Alle e 'Unte r den Linden ' entlangspaziert ,, spiel t sie trot z ihres Backfisc h a Iters scho n die künftig e Baro -ninn von Innstette n mi t erlesene m Geschmac k und benimm t sie sich bereit s wiee "di e privilegïert e Ehefrau des zweite n Kaiserreichs" . [Aust 1997, 5.71]

Nurr das Elegantest e gefie l ihr , und wenn sie das Beste nich t haben konnte ,, so verzichtet e sie auf das Zweitbeste , weil ihr dies Zweit e nun

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nicht ss mehr bedeutete . 3a, sie konnt e verzichten . ... wenn es aber aus-nahmsweis ee mal wirklic h etwas zu besitze n galt , so muBt e dies imme r wass ganz Aparte s sein . Und darin war sie anspruchsvoll . [5.185]

Wiee Emma sich am liebste n um Mitternach t vermahl t natte , so hegt e auchh EfTi zu Anfan g bestimmt e Illusionen . Sie hatt e sich einen japanische n Bettschir mm gewünscht , "schwar z und golden e Vogel darauf , alle mi t einem lange nn Kranichschnabe l ... Und dann vielleich t auch noch eine Ampe l für unse rr Schlafzimmer , mi t rote m Schein. " [S.I9i]Da B die Mutte r von diese r Hamburge rr Reeperbahnbeleuchtun g nich t besonder s begeister t war , wir d der Leserr ohn e weitere s verstehen . Aber warum wollt e sie nicht s von einem Bettschir mm mi t - so ihr e Wort e - "allerhan d fabelhafte m Getier " wissen ? Wes-halbb haben sich Mutte r und Tochte r vor der Heirat nich t zuers t einma l Inn -stetten ss Wohnun g angesehen ?

DaBB Emma nicht s dergleiche n tat , ist verstandlich . Sie konnt e nich t von ihre rr Mutte r begleite t werden , und Charles befand sich noch in Trauer . Innstette nn dagege n verkehrt e nich t in Trauer , und Effi war offiziel l mi t ihm verlobt .. Übrigen s wir d im Text nicht s darübe r gemeldet , ob Effi s Mutter , nachde mm sie die Heira t ihre r Tochte r 'arrangiert ' hatte , je nach Kessi n eigen -ladenn wurde . [Kaarsberg Wallach, 5.104] DaB dies anfang s woh l die Absich t war ,, ergib t sich aus dem 8. Kapitel , als Effi und Innstette n sich noch überlegen ,, wo 'di e Mama' dann wohne n sollte .

Nachh der Hochzeitsreis e betrit t Effi zum erste n Mal die Innstettensch e Wohnung .. [5.209] Ihr Mann hat für eine neue Einrichtun g gesorgt . Er schlag tt eine Portier e zurück ,

hinte rr der ein zweite s gröBere s Zimmer , mi t Bliek auf Hof und Garten , gelege nn war . 'Das, Effi , ist nun also dein . Friedric h und Johann a haben es,, so gut es ging , nach meine n Anordnunge n herrichte n mussen . Ich find ee es ganz ertraglic h und würd e mich freuen , wenn es dir auch gefiele. ' ' Siee nahm ihre n Arm aus dem seinige n und hob sich auf die FuBspitzen , umm ihm einen herzliche n KuB zu geben . [5.209]

Innstette nn hat also alles auf die vermutliche n Wünsch e von Effi abge-stimmt .. Effi selbs t hat er nich t befragt . Seinen eigene n Vorstellunge n über Effi ss Wünsch e folgen d wir d Innstette n auch weiterhi n entscheiden , was in seine mm Haus geschieh t und was nicht . Auch im Schlafzimmer .

Emmaa konnt e noch kein e Hochzeitsreis e machen , Effi wohl . Innstette n warr sich darübe r im klaren , daB er ein unwissende s Kind geheirate t hatte . Dass konnt e erklaren , waru m Innstette n die Hochzeitsreis e gleichzeiti g be-nutzte ,, um Effi kulturell e Nachhilfestunde n zu geben : Münche n (Pinakothek) ,

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Verona,, Vicenza, Padua, Venedig ... Kein Wunder, daB Effi ihren Eitern schreibt:: "Tausend GrüBe von einer ganz berauschten, aber auch etwas müdenn Effi." [5.201]

Diskrett wird dem Leser mitgeteilt, da6 der etwa zwanzig Jahre altere Innstettenn die blutjunge Effi in der Hochzeitsnacht nicht nur entjungfert, sondernn auch geschwangert hat. Am 3. Oktober wurde geheiratet und am 3. Julii des nachsten Jahres wird Annie geboren. Neun Monate aufs Haar genau.

Inn ihrer neuen Wohnung angekommen, verlauft für Emma alles ruhig undd so, wie sie es erwarten konnte.

M.. et Mme. Charles arrivèrent a Tostes, vers six heures. Les voisins se mirentt aux fenêtres pour voir la nouvelle femme de leur médecin. La veillee bonne se présenta, lui fit ses salutations, s'excusa de ce que Ie dinerr n'était pas pret, et engagea Madame en attendant, a prendre connaissancee de sa maison. [S.353]

Alss Effi dagegen in Kessin ankommt, erwartet sie eine ganze Diener-schaft:: Kutscher, Hausmadchen, Köchin und Hausdiener. Die bereits vorhan-denee Organisation lauft 'wie am Schnürchen'. lm Gegensatz zu Emma wird Effii im Haushalt nichts zu tun haben. Voraussichtlich wird sie sich mehr lang-weilen. .

e.. Emm a in Toste s

Daa in beiden Romanen der unglückliche Verlauf der Ehen die haupt-sachlichee Handlung ist, nehmen Dichte und Genauigkeit der Erzahlung zu, sobaldd die Ehen geschlossen sind und in ihrer Hauslichkeit und Alltaglichkeit anfangen.. Vom Nichterzahlten der Kindheitsphase über die bereits ausführ-licherr berichteten Zwischenstufen gerat der Leser nun ins vollends Erzahlte undd andert sich auch sein 'Akt des Lesens'. Gegenüber dem Erganzen von Leer-- und UnbestimmtheitssteHen nimmt das Deuten des Mitgeteilten zu. Allerdingss zeigt sich im Grad dieses Wechsels ein wesentlicher Unterschied derr beiden Romane. Bei Fontane bleiben trotz der zunehmenden Dichte des Erzahlenss Leer- und Unbestimmtheitsstellen ein markanter Strukturzug, viel starkerr als bei Flaubert.

Emmass erste auBereheliche Beziehung spielt in Yonville-L'Abbaye. Nach derr Hochzeit wohnt sie erst einige Jahre in Tostes. Dort hat Charles seine Praxiss aufgebaut und diese nach dem Tod seiner ersten Frau erweitert. Was demm Leser auffallt, ist, daB der zweite Teil des Romans erst mit dem Auf-enthaltt des Ehepaars in Yonville-L'Abbaye beginnt und nicht schon in Tostes. Tostes'' wurde von Flaubert offenbar als eine Übergangsphase in Emmas Lebenn gemeint. Auch die vollstandige Anonvmitat der in Tostes lebenden

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Persone nn fall t auf . Das ist verstandden , sowei t es sich urn Persone n handelt , diee Emma nich t kenn t und nur auf Abstan d duren ein Fenste r ihre s Hauses erblickt : :

Touss les jours , a la même heure , Ie maïtr e d'école , en bonne t de soie noire ,, ouvrai t les auvent s de sa maison , et Ie gard e champêtr e passait , portan tt son sabre , sur sa blouse . [S.383/384]

Aberr auch jen e Personen , zu denen Emma in gesellschaftliche r Verbin -dun gg steht , bleibe n in Tostes anonym . Wenn am Sonnta g irgendei n Nachba r derr Bovary s zu Tisc h gebete n wird , weiB Emma imme r ein besondere s Ge-rich tt anzubieten , und sie schaff t zu diese m Zweck fü r den Nachtisc h klein e Mondschale nn an. Die so gastfre i empfangene n Nachbar n werde n im Text aber nich tt mi t einem Namen versehen . Gesellschaftliche r Umgan g ist wechsel -seitig ,, aber aus dem Text ergib t sich nicht , ob die Bovary s je von ihre n anonyme nn Nachbar n eingelade n wurden .

Inn Yonville-L'Abbay e werde n von Anfan g an alle dor t lebende n Persone n mi tt ihre n Namen genannt , in Toste s nicht . In jedem Dorf , jeder Kleinstad t entsteh tt fas t von selbs t eine gesellschaftlich e oder wenigsten s beruflich e Be-kanntschaf tt zwische n Arzt und Apotheker . In Yonville-L'Abbay e wir d der Apotheke rr Homai s denn auch eine wichtig e Rolle in Charles ' Leben spielen . Mitt welche m Apotheke r Emmas Mann in Tostes zusammenarbeitete , erwahn t Flaubert ss Erzahle r nicht .

Ahnlic hh ist es mit den Patiënten . Anfang s entwickel t sich Emma in Toste ss zur vorbildliche n Gatti n eines 'Landarztes' . Nich t nur , daB sie sich auf ihre nn Haushal t versteht , sie ist gleichzeiti g ihre m Mann in der Ausübun g seine rr Praxi s behilflich . Emma unterhal t den Kontak t mi t Patiënten , denen sie ,, in wohlstilisierte r Form von Briefen , Rechnunge n sendet , die nicht s Ge-schaftsmaBige ss haben . All e Patiënte n bleibe n aber namenlos .

Ess gib t eine Ausnahm e von diese r Anonymitat , die dest o mehr auffallt . Plötzlic hh erschein t in Toste s ein Mann, dessen Name genann t wird . Ein Name, derr genau zu der von Emma sei t ihre r Kindhei t aufgebaute n vornehmen , fiktive nn Welt paBt : der Maraui s d'Andervilliers . Er wir d Emma kurz e Zeit die Illusio nn verschaffen , daB sie imstand e sei , Fiktio n und Wirklichkei t in Ein-klan gg zu bringen . Der Marqui s hat ein Geschwü r im Mund , von dem Charle s ihnn durc h einen einzige n Einstic h zu befreie n weiB . Der Mann ist dankbar , er bemerkt ,, daB Charle s eine elegant e Gatti n habe; Charle s und Emma werde n daraufhi nn zu einem festliche n Abend auf seinem Schlo B eingeladen .

Emmass Aufenthal t in Toste s laBt sich in dre i Phasen einteilen : 1) vor demm Ball , 2) wahren d des Balls , 3) nach dem Ball .

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Derr Gegensat z zwische n der erste n und letzte n Phase wir d von Flauber t inn Emmas Betrachtungsweis e des zu ihre m Haus gehörende n Garten s zum Ausdruc kk gebracht .

Alss die gerad e erst verheiratet e Emma in Tostes ankomm t und von Charles '' Dienstmadche n begrüB t wird , schlag t dies e Emma vor , ihr neues Hauss zu besichtigen . Das 5. Kapite l beginn t direk t mi t einer Beschreibun g dess untere n Stockwerk s und des zum Hause gehörende n Gartens .

Derr Leser nimm t das Haus und den Garten durc h die Augen Emmas wahr ,, so wie sie diese direk t nach ihre r Ankunf t fokalisiert . So heiö t es über denn Garten :

Lee jardi n plus long que large , allait , entr e deux mur s de bauge couvert s d'abricot ss en espalier , jusqu' a une haie d'épine s qui le séparai t des champs .. II y avai t au milieu , un cadra n solair e en ardoise , sur un piëdesta ll de maconnerie ; quatr e plates-bande s garnie s d'églantier s maigre ss entouraien t symétriquemen t le carr é plus util e des vegetation s sérieuses .. Tout au fond sous les sapinettes , un cur é de platr e lisai t son bréviaire .. [S.354]

Emmass Feststellun g ist sachlic h und ohne Emotion . Wenn aber Emma dass nachst e Jahr nich t mehr eingelade n wird , betrachte t sie den Garten melancholischer : :

Laa rosée avai t laiss é sur les chou x des guipure s d'argen t avec de long s fil ss clair s qui s'étendaien t de Tun a l'autre . On n'entendai t pas d'oiseaux ,, tou t semblai t dormir.. . le cur é en tricom e qui lisai t son bréviair ee avai t perd u le pied droi t et même le platre , s'écaillan t a la gelee,, avai t fai t des gales blanche s sur sa figure . [S.383]

Woherr stamm t Emmas hier angedeutet e Enttauschung ? Schon am Endee des 5. Kapitel s wir d darau f angespielt :

Avan tt qu'ell e se mariat , elle avai t cru avoi r de l'amour ; mais le bonheu r quii aurai t du résulte r de eet amou r n'étan t pas venu , il fallai t qu'ell e se fü tt trompée , songeait-elle . Et Emma cherchai t a savoi r ce que Ton entendai tt au just e dans la vie par les mots de félicité , de passio n et d'ivresse ,, qui lui avaien t paru si beaux dans les livres . [S.356]

Ess war also nich t der Unterrich t in der Klosterschule , sonder n die heimlich ee Lektüre , von der Emma dor t eine falsch e Vorstellun g von der Ehe erhalte nn hatte . Übrigen s gab es zwei extern e Faktoren , die auf Emma nach derr Hochzei t eine gunstig e Auswirkun g natte n haben könne n und am Anfan g auchh tatsachlic h natten .

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1. . Obgleic hh die verheiratet e Frau in einer von Manner n geführte n Welt

lebte ,, kannt e die Gatti n eines 'Landarztes ' gewiss e Freiheiten . Charle s - und dami tt auch sein e Frau - verkehrt e mi t Mensche n aus unterschiedliche n Ge-sellschaftsschichten ,, sowoh l mi t Bauer n als auch mi t dem Marquis .

2. . Charle ss war auBerde m in diese r von Mannern geführte n Welt das Ge-

gentei ll eines Haustyranns . Der Freiraum , den er Emma lieB , war groB . Sie wuBt ee dies e Freihei t aber nich t positi v zu nutzen . Sie konnt e zeichnen . Kla-vie rr spielen , verfügt e über gewiss e literarisch e Kenntnisse . Emma zeigt e in Toste ss aber kein Bedürfni s - (anfangs ) abgesehe n von Charles ' Patiënte n -, umm Kontak t mi t andere n Einwohner n aufzunehmen , obwoh l ihr e gesell -schaftlich ee Positio n ihr als Gatti n des lokale n 'Landarztes ' dazu Gelegenhei t bot .. Waren die Einwohne r alle langweili g und dumm ? "A great many peopl e are" ,, schreib t Somerse t Maugham , "bu t not all ; and it is inconceivable , tha t inn a town , howeve r small , ther e shoul d not be foun d one perso n at least , if nott two or three , who is sensible , kindl y and helpful. " [S. 166/167] Ein urn -gangliche rr Einwohne r wie Fontane s Gieshüble r fehl t in Flaubert s Roman .

Charle ss entsprac h nich t dem Typu s 'Mann' , den Emma sich unte r Ein-fluBB ihre r Jugendlektür e vorgestell t hatte . Andererseit s hatt e sie - im Gegen-satzz zu Effi - vor der Ene langer e Zeit Gelegenhei t gehabt, um ihre n künfti -genn Mann kennenzulernen . Damals meint e sie ihn auch zu lieben , aber nun beklag tt sie sich (in der erlebte n Rede): "La conversatio n de Charle s étai t plat ee comm e un trottoi r de rue" . [5.362] War sein Gesprachsstof f vor der Ehee wesentlic h ander s gewesen ? In Toste s arger t sich Emma plötzlic h über Charles '' EBgewohnheiten , mach t ihn aber nich t auf sein Schlürfe n aufmerk -sam.. Er bring t ihr kein e Kenntniss e bei , und Emmas Meinun g nach hatt e gerad ee Charle s sje unterrichte n mussen .

Maiss il n'enseignai t rien , celui-la , ne savai t rien , ne souhaitai t rien . Mais ill la croyai t heureuse ; et elle lui en voulai t de ce calm e si bien assis , de cett ee pesanteu r sereine , du bonheu r même qu'ell e lui donnait . [S.362]

Undd sie zweifel t daran , ob sie durc h eine ander e Fügun g des Zufall s nich tt einen andere n Mann hatt e heirate n können . Sie versuch t sich vorzu -stellen ,, wie diese r unbekannt e Gatte woh l hatt e beschaffe n sein mussen : geistreich ,, vornehm , verführerisc h ...

Geradee dann komm t die Einladun g zum Ball und schein t Emma sich mi t ihre rr Situatio n zu versöhnen . Die Wirklichkei t könnt e vielleich t doch mi t der vonn ihr ertraumte n Welt der vornehme n Gesellschaf t übereinstimmen . Es komm tt für sie tatsachlic h zu einer rauschende n Ballnacht . Sie tanz t mi t

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einemm Vicomte , und wie!

Ilss commencèren t lentement , puis allèren t plus vite . Ils tournaient : tou tt tournai t autou r d'eux , les lampes , les meubles , les lambri s et Ie parquet ,, comm e un disqu e sur un pivot . En passan t auprè s des portes , laa robe d'Emma , par Ie bas, s'ériflai t au pantalon ; leur s jambe s entrai -entt Tune dans l'autre ; il baissai t ses regard s vers elle , elle levai t les sienss vers lui ; une torpeu r la prenait... . [S.373]

Diee Reise nach La Vaubyessar d natt e zu einem Ri6 in ihre m Leben ge-führt .. Von dem Erlebni s des Reichtum s war etwas Unauslöschliche s hafte n geblieben .. Allmahlic h schwinde n Einzelheite n aus ihre m BewuBtsein , aber die Sehnsuch tt bleibt .

Wahren dd des Balls hat Emma im Garten die Gesichte r von Landleute n bemerkt ,, die durch s Fenste r hereinstarren . Ohne Charle s natt e Emma auch dor tt gestanden . Emma aber bleib t Charles gegenübe r nur abwerten d kritisch . Jeglich ee Erkenntlichkei t fehlt .

Imm Schlo B natt e man angenommen , kein e Ungeschicklichkei t zu bege-hen,, wenn man das jung e Paar einlade n würde . Emma meint e aber nun , sie gehor ee auch zu diese m adlige n Kreis . In ihre r Traumwel t schon , in Wirklich -kei tt überhaup t nicht . Die wirklich e Freude , die sie an der Einladun g natt e erlebe nn können , entgeh t ihr .

Zuu Hause traum t Emma weiter . In ihre r Phantasi e sieh t sie ihre n Vi-comt ee imme r wiede r vor sich . Sie muB weiterhi n in Toste s leben , er wir d sich inn Paris aufhalten . Sie kauf t sich darau f einen Parise r Stadtplan .

Ellee remontai t les boulevards , s'arrêtan t a chaqu e angle , entr e les lig -ness des rues , devan t les carré s blanc s qui figuren t les maisons . Les yeuxx fatigue s a la fin , elle fermai t ses paupière s ... [S.377]

Siee abonnier t eine Frauenzeitschrif t und verschling t die Bericht e von Premiere nn und Abendgesellschaften . Sie kenn t jetz t die letzte n Moden und diee Adresse n der vornehme n Schneider . Sie Mest Balzac , George Sand und bring tt ihr e Lektür e zu den Mahlzeite n mit . Und diese Lektür e ist imme r noch vonn der Erinnerun g an den Vicomt e durchtrankt , und sie bilde t sich soga r ein ,, in Paris in der Nahe von 'ihrem ' Vicomt e in der Welt auslandische r Bot -schafte rr zu verkehren .

Natürlic hh trüg t diese r Schein . Die Wirklichkei t bleib t Tostes und Emma beklag tt sich darüber . Charles erwag t ernsthaft , ob er sich andersw o nieder -lassenn soil , denn seine Frau wir d imme r blasse r und bekomm t Herzklopfen . Wass nun?

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III en coütai t a Charles d'abandonne r Tostes après quatr e ans de séjou r ett au momen t oü il commencai t a s'y poser . S'il Ie fa Ma it , cependant ! II laa conduisi t a Rouen voi r son ancie n maitre . C'étai t une maladi e ner-veuse :: on devai t la change r d'air . [S.386]

Beii den Vorbereitunge n zum Umzug nach Yonville-rAbbay e kram t Em-maa in einer Schublad e und stich t sich in den Finger . Es ist ein Stuc k Draht ihre ss HochzeitsstrauBes . Sie wirf t den Strau B ins Feuer.

Ellee Ie regard a brüler . Les petite s baies de carto n éclataient , les fit s d'archa ll se tordaient , Ie galo n se fondait ; et les corolle s de papier , racornies ,, se balancan t Ie long de la plaqu e comm e des papillon s noirs , enfi nn s'envolèren t par la cheminée . [S.387]

Dass Ende des erste n Teils von Flaubert s Roman ist ein Tiefpunk t in der Beziehun gg zwische n Emma und ihre m Mann. Sie 'verbrennt ' ihr e Ehe in dem Augenblick ,, in dem Charle s ihretwille n sein e Praxis in Tostes aufgibt . Die Ehe hatt aber auch fü r Emma gewiss e Konsequenzen . Der erst e Teil des Romans endett mi t dem Satz:

Quandd on parti t de Tostes , au mois de mars , Mme Bovar y étai t en-ceinte .. [S.387]

Welch ee Bedeutun g kann nun der Leser Emmas Aufenthal t in Toste s zu-schreiben ?? DaB sie sich in einer Kleinstad t langweil t und ein andere r Mann dies ee Situatio n selbstsüchti g auszunutze n versucht , erfahr t der Leser erst wahren dd ihre s Aufenthalt s in Yonville-L'Abbaye . Emma entpupp t sich aber scho nn in Toste s als kompliziert e Ehefrau , die Phantasi e und Wirklichkei t nich t zuu trenne n vermag . Zunachst , als sie sich vorstellt , mi t welche n interessan -tenn Manner n die ehemalige n Mitschülerinne n der Klosterschul e jetz t verhei -rate tt seien . Wie würd e es inne n gehen , im Braus der Theater , in den Licht -flute nn der Bali e ... ? Emma mach t aber kein e Anstalten , mi t irgendeine r die -serr ehemalige n Mitschülerinne n Verbindun g aufzunehmen . Sie zeigt auch keinn wirkliche s Bedürfnis , ihre n Vicomt e nochmal s zu treffen . Es natt e nur weni gg Mühe gekostet , sich auf dem Ball zu erkundigen , wo er lebt . Vorlaufi g schein tt sie mi t einer phantasierte n auBereheliche n Beziehun g zufriede n zu sein . .

Flauber tt hat seine n Roman in drei Teile aufgegliedert . Jeder Teil bezieh t sichh auf eine auBerehelich e intim e Beziehun g Emmas . Der erst e Teil auf das phantasiert ee Verhaltni s zum Vicomte , der zweit e auf die wirklich e sexuell e Beziehun gg zu Rodolphe , der dritt e auf die wirklich e zu Léon .

Einee alles beherrschend e Phantasi e bring t Emma dazu, ihr Glüc k wie -

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derholtt auöerhalb der für sie bestehenden Wirklichkeit zu suchen. "Madame Beauu varie", schreibt Butor. [S.82] Emma, die schlieBlich Tostes verlaBt, um sichh mit ihrem Mann in Yonville-L'Abbaye niederzulassen, ist darum auch keinee - so wie Bachleitner meint [S.582] - "phantasiebeaabte", sondern eine "phantasiebehinderte"" Frau. "It is her capacity to dream and to wish to transferr the world to fit her dreams, which sets her apart", schreibt Brom-bert.. [S.85]

f.. Emm a in Yonville-L'Abbaye , Eff i in Kessi n

Emma a Schonn die Hinreise nach Yonville-L'Abbaye war fur Emma zweifach ent-

tauschend.. Zuerst war ihr kleiner Hund plötzlich aus der Postkutsche L'Hiron-dellee verschwunden, gerade das Tier, dem sie immer ihre Vertraulichkeiten mitteilte.. Danach muBte man ihren Mann bei der Ankunft in Yonville-L'Abba-yee wecken, denn er war bei Anbruch der Dunkelheit fest eingeschlafen.

Imm Wirtshaus 'Le Lion d'or' begegnet das Ehepaar darauf dem örtlichen Apothekerr Homais und dem bei ihm wohnenden Jurastudenten Léon Dupuis. Dupuiss ist zeitweilig als Angestellter beim dortigen Notar maïtre Guillaumin tatig.. Es entspinnen sich zwei Gesprache. Das eine zwischen Homais und Charless uber die Voraussichten einer Praxis in Yonville-L'Abbaye und das anderee zwischen Léon und Emma über kulturelle Angelegenheiten. Léon liest viel: :

'Quantt a moi, vivant ici, loin du monde, c'est ma seule distraction; mais Yonville-L'Abbayee offre si peu de ressources!' 'Commee Tostes, sans doute', reprit Emma ... . [5.401]

Emmaa erkennt zweierlei. Zum einen wird ihr bewuBt, daG die Lange-weilee in Yonville-L'Abbaye dieselbe sein wird wie in Tostes. Zum andern merktt sie, daB sie in diesem Léon hier einen Schicksalsgenossen gefunden hat.. Er ist auch der erste Einwohner, den sie nach Erwachen in ihrer neuen Wohnungg am nachsten Tag drauBen wahrnimmt. Emma ist noch im Morgen-rock.. Er hebt den Kopf und grüBt. Sie dankt kurz und schlieBt das Fenster.

Nachdemm Berthe geboren ist, laden die Bovarys einen Abend Léon ein undd jener singt für Emma eine Barcarole. Kurze Zeit spater - Emma hat ihr Kindd inzwischen bei einer Amme untergebracht - trifft sie Léon zufallig auf derr StraBe. Das Gehen strengt sie an und sie f ragt Léon: "Avez-vous affaire quelquee part?" Er verneint und Emma bittet ihn, sie zu begleiten. [S.408] Bereitss abends ist dieser Vorfall in ganz Yonville bekannt, nachdem die Frau dess Bürgermeisters in Gegenwart ihres Dienstmadchens erklart hat, daB Frau Bovaryy sich bloBstelle.

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Alss Emma mi t Léon die Amm e besucht , zeigt sich , daB Emma ihre n SpaBB am Kommandiere n von Untergebenen , wie damal s auf dem Bauernhof , nochh nich t verlem t hat . Ihre r Amm e gegenübe r benimm t sie sich schrof f und sagt :: "Vou s m'ennuye z ... Dépêchez-vous! " Léon gegenübe r zeigt sie sich sehrr charmant :

Débarrassé ee de la nourrice , Emma repri t Ie bras de M. Léon . [5.420]

Alss Emma und Charle s an einem Abend bei dem Apotheke r Homais und desse nn Frau zu Besuc h sind , darf auch der bei ihne n zur Untermiet e wonnen -dee Léon dabei sein . Homai s spiel t mi t Emma Karten , und Léon steh t hinte r ihrr und gib t Ratschlage . Spater unterhalte n die beiden sich wiederu m über Kunst .. So entsteh t zwische n ihne n im bestendige n Gesprac h über Büche r undd Verse eine gewiss e Gemeinsamkeit . Charles , dem jede Eifersuch t fehlt , fall tt nicht s auf . Natürlic h sehn t sich der einsam e Studen t in Emmas Anwe -senhei tt allmahlic h nach 'mehr' , aber Emma spur t die dari n für ihr e Ehe lauemd ee Gefahr . Sie erweis t sich "vertueus e et inaccessible " und als Léon sie einma ll darau f aufmerksa m macht , daB Mme. Homais sich nachlassi g kleid e -einn indirekte s Komplimen t für Emma -, halt sie ihm vor , daB eine gut e Hausfra uu nich t so sehr darau f achte n könne . In Wirklichkei t hat sie sich in Léonn verlieb t und ist empört , daB Charle s keine Ahnun g von ihre m Martyriu m hat .. Sie sehn t sich nur noch nach Léon , die SpieBbürgerlichkei t ihre r Urn-gebun gg treib t sie in ausschweifend e Phantasie n und Charles ' brave s Ehe-verhalte nn zu ehebrecherische n Gelüsten . Zur gleiche n Zeit sieh t Léon ein , daBB es fü r ihn besse r ware , Yonville-L'Abbay e zu verlassen . Er hat genug davon ,, erfolglo s zu lieben .

Imm atlgemeine n faszinier t die in Madame Bovary erzahlt e Geschicht e denn Leser , aber die Passage , in der Emma und Léon ihre r platonische n Bezre-hungg ein Ende setzen , kenn t in ihre r Schlichthei t zugleic h eine rührend e Wir -kung : :

'Allons ,, adieu! ' soupira-t-il . Ellee relev a sa tête d'un mouvemen t brusque : 'Oui ,, adieu... , partez! ' Ilss s'avancèren t l'un vers l'autre ; il tendi t la main , elle hésita . 'AA l'anglais e done, ' fit-ell e abandonnan t la sienn e tou t en s'efforcan t de rire . . Léonn la senti t entr e ses doigts , et la substanc e même de tou t son être luii semblai t descendr e dans cett e paume humide . Puis il ouvri t la main ; leur ss yeux se rencontrèren t encore , et il disparut . [S.434]

Diee Initiativ e zu diese r jetz t beendete n platonische n Beziehun g kam nich tt von Léon , sonder n von Emma. Nachher zeigt Emma ihm die kalt e Schulter .. Ihr e normativ e Kontroll e bezwing t vorlaufi g noch ihr auBerehe -

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liche ss Verlangen . Bald wir d sïch aber zeigen , daB Emma diese Kontroll e bei einemm energischere n und zielbewuBtere n Mann völli g verliert .

Effi i Auchh Effi verkehr t in gesegnete n Umstanden , als sie in ihre m neuen

Wohnor tt eintrifft . Davon nimm t der Leser Kenntnis , als die am 3. Oktobe r verheiratet ee Effi ihre r Mutte r am 31. Dezember schreibt , daB das, was sie neulic hh andeutete , für sie jetz t zur GewiBhei t geworde n sei und Innstette n ihrr taglic h sein e Freude darübe r bezeuge . Ihre Gemütslag e nach Ankunf t in Kessi nn ist aber eine ander e als die von Emma nach der Ankunf t in Yonville -L'Abbaye .. Emma war in der Ehe enttauscht , Effi dagege n ist die von der Hochzeitsreis ee heimkommend e erwartungsvolle , jung e Ehefrau .

Auchh Effi finde t kur z nach ihre r Ankunf t eine Zerstreuun g bietende , platonisch ee Beziehun g zu einem andere n Mann, und zwar zu dem örtliche n Apotheke rr Gieshübler . Natürlic h ist sie daran interessiert , mi t welche n Perso -nenn sie als 'Frau Landratin ' verkehre n wird . Und als Effi und Innstette n am Endee der Hochzeitsreis e nach Kessi n fahren , erklar t Innstette n ihr den Unter -schie dd zwische n der dortige n und der Effi vertraute n markische n Landbevöl -kerung . .

'Euree markische n Leute sehen unscheinbare r aus und verdrieBlicher , undd in ihre r Haltun g sind sie wenige r respektvoll , eigentlic h gar nicht , aberr ihr 3a ist Ja und Nein ist Nein, und man kann sich auf sie verlas -sen.. Hier ist alles unsicher. ' [S.204]

Alss Effi fragt , weshal b ihr Mann ihr das mitteile , weil sie doch ab jetz t mi tt diese n Mensche n leben müsse , antworte t Innstetten :

'Duu nicht , du wirs t nich t viel von ihne n horen und sehen . Denn Stadt undd Land sind hier sehr verschieden , und du wirs t nur unser e Stadte r kennenfernen ,, unser e gute n Kessiner. '

Undd erlautern d füg t er hinzu :

'Worau ff sie angewiese n sind , das sind die Gegenden , mit denen sie Handell treiben , und da sie das mi t aller Welt tun und mi t aller Welt in Verbindun gg stenen , so findes t du zwische n ihnen auch Mensche n aus allerr Welt Ecken und Enden . Auch in unsere m gute n Kessin , trotzde m ess eigentlic h nur ein Nest ist. ' [5.204]

Zuers tt freu t Effi sich darübe r und ist der Meinung , sie werd e in Kessi n einee ganz neue Welt und 'allerle i Exotisches ' antreffen . Innstette n wider -sprich tt diese r Erwartun g nicht , als er aber Namen nennt , handel t es sich nich tt um "Mensche n aus aller Welt Ecken" , sonder n nur um Europaer : einen

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schottische nn Baggermeiste r Macpherson , einen portugiesische n Barbie r Beza, einenn danische n Arzt Dokto r Hannemann . So exotisch-interessan t klinge n dies ee Namen nicht . Als Effi daraufhi n fragt , ob man in Kessi n auch "Leut e vonn Familie " kennt , eine Elite , "Honoratiore n oder dergleichen" , mu6 Inn -stette nn das verneinen . Was dann noch bleibt , sind bloB Konsu l n, und auch siee stelle n eigentlic h nicht s vor . Innstette n kenn t nur einen wirklic h vorzügli -chenn Mann in der ganzen Stadt : den Apotheke r Gieshübler . Zuers t qualifi -zier tt er ihn noch als "unser e best e Numme r hier" , so wie ein Zirkusdirekto r seine nn Spitzenakrobate n anpreist . 3e mehr er aber Effi über die andere n Einwohne rr enttausche n muB , dest o mehr rühm t er Gieshübler : "Ein kapitale r Mann,, der dein Freun d werde n wird , wenn ich ihn und dich rech t kenne. " [S.217] [S.217]

Innstette nn mach t mit Effi Stadtbesuche , spate r komm t der Landade l an diee Reine, der Eff i merke n laBt , daB man sie für eine so jung e Dame ent -wederr zu pratentiö s oder nich t zurückhalten d genug findet . Effi teil t Innstet -tenn daraufhi n ihr e SchluBfolgerun g mit :

'Ichh werd e mic h woh l für Einsiedlertu m entschlieBen , wenn mich die Mohrenapothek ee nich t herausreiBt . ... Ich sten ' und fali e mi t Gies-hübler .. Es kling t etwas komisch , aber er ist wirklic h der einzige , mi t demm sich ein Wort reden laBt , der einzig e richtig e Mensch hier. ' [S.225]

Innstette nn antwortet : "Das ist er. ... Wie gut du zu wahle n verstehst. " Undd Effi reagiert : "Hatt e ich sons t dich?" [ebd.] In Wirklichkei t hat sie ihn überhaup tt nich t ausgewahlt . Innstette n hat gewahlt , und Effi s Mutte r hat dies ee Wahl unterstützt .

Auchh Madame Bovary kenn t eine Apothekerfigur . Homais laBt sich aber mi tt Gieshüble r nich t vergleichen . Homai s ist nur an sich selbs t interessiert . Emmaa gegenübe r kenn t er lediglic h eine strukturell e Funktio n im Roman . Emmaa fall t moralisc h tief , Homai s erwirb t gesellschaftliche s Ansehen . Emma wahl tt schlieBlic h den Freitod , ihr Gegenpo l Homais - letzte r Satz des Romans -- erhal t das Kreu z der Ehrenlegion . Es entsteh t zwar eine enge Beziehun g zwische nn Emma und dessen Apothek e - Justi n verhilf t ihr zum tödliche n Gif t -,, aber nich t zu dem Apotheke r selbst . In Effi Briest ist gerad e das Umge-kehrt ee der Fall . Es entsteh t eine enge Verbindun g zwische n Effi und Gieshüb -ler ,, aber der Tatsache , daB diese r zufalligerweis e Apotheke r stat t Anwal t oderr Notar ist , komm t keinerle i Relevan z zu.

Wahren dd ihre s Aufenthalt s in Kessi n entwickei t Effi zuers t auch nur mi t Gieshüble rr einen gesellschaftliche n Kontakt , und diese r ist nich t mi t dem zwische nn Emma und Homais , sonder n mi t dem zwische n Emma und Léon vor seine rr Abreis e nach Paris vergleichbar . Wohl sind Léon und Gieshüble r ande-ree Persönlichkeiten . Léon hat das Leben noch vor sich , Gieshüble r nicht .

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Dieserr ist nich t nur ein alterer , sonder n auch ein bucklige r Mann, der deswe -genn unverheirate t gebliebe n ist . In seine m erste n Gesprac h mit Effi be-schwer tt er sich darüber :

'Mann hat keine n rechte n Mut, man hat kein Vertraue n zu sich selbst , mann wagt kaum , eine Dame zum Tanz aufzufordern , wei l man ihr eine Verlegenhei tt erspare n will , und so gehen die Jahre hin , und man wir d alt ,, und das Leben war arm und leer. ' [S.220]

Trot zz ihre r Jugen d zeigt Effi sich imstande , Gieshüble r zu trosten , und einn getröstete r Gieshüble r fahr t fort :

'Wirr sitze n hier scho n in der vierte n Generation , voll e hunder t Jahre , undd wenn es einen Apothekerade l gabe . . . ' [S.221]

Seinn gesellschaftliche r Statu s erlaub t Gieshübler , kur z nach diese m Gesprac hh Effi und ihre n Mann - den wirkliche n Adel - bei sich zu Hause zu ei -nemm Diner mi t Konzer t einzuladen . Aus dem Text seine r Einladun g wir d er-sichtlich ,, daB die paar andere n Gaste für Effi und ihre n Mann gesellschaftlic h akzeptabe ll sein werden . Diese sind namlic h Pasto r Lindequis t (der begleitet ) undd natürlic h die verwitwet e Frau Pastori n Trippel .

Inn jeder Hinsich t zeigt Gieshüble r sich als ein Mann, der als Bucklige r seine nn Platz in der Gesellschaf t kennt . In seine r Verfilmun g von Effi Briest hatt Fassbinde r die Beziehun g zwische n Effi und Gieshüble r anders interpre -tiert .. Er laBt Gieshüble r Effi hoffnungslo s lieben . Er mach t aus Gieshüble r dennn auch einen iunqe n Buckligen , der sich tatsachlic h argert , daB er sich Effii nich t als Liebhabe r naher n kann . Die Frage, inwiewei t die Verfilmun g einess Romans vom Inhal t des Romans abweiche n kann , urn doch noch als 'Verfilmung '' betrachte t werde n zu können , ware in meine r Studi e 'ein zu weite ss Feld' . Ich stell e nur fest , daB Fassbinder s filmisch e Interpretatio n nich tt mi t den Gefühle n Gieshüblers , so wie dies e im Roman vorkommen , in Übereinstimmun gg zu bringe n ist . Im Roman kenn t Gieshüble r eine durc h sein Lebenn erworben e Weisheit . Er hat Verstandni s für die Einsamkei t der sieb -zehnjahrige nn Frau Landratin . Er schick t ihr regelmaBi g Zeitschriften , in denenn er die für Effi vermutlic h interessanteste n Passagen angestriche n hat . Alss ein mi t ihre m Ehemann konkurrierende r Liebhabe r komm t er nich t in Frage.. Das kann er nicht , das wjN er nicht . Deswege n ist es auch verstand -lich ,, waru m Innstette n ihn Effi gegenübe r so sehr rühmt . Er warn t Effi lediglic hh vor dem ungebundene n Lebensstil , den die von Gieshüble r einge -laden ee Sangeri n Mariett a Trippell i führt :

'Siee war ein paar Jahr lang in Paris bei der berühmte n Viardot , wo sie auchh den russische n Fürste n kennenlemte , ... und Kotschukof f und Gieshüble rr ... diese beiden sind es rech t eigentlich , die die klein e Marie

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Trippell zu dem gemacht haben, was sie jetzt ist. Gieshübler war es, durchh den sie nach Paris kam, und Kotschukoff hat sie dann in die Trippellii transponiert.' [S.241]

Alss Effi antwortet, wie reizend sie das alles findet, weil es in Hohen-Cremmenn nie etwas Apartes gegeben hat, nimmt Innstetten ihre Hand und sagt: :

'Soo darfst du nicht sprechen, Effi... hüte dich vor dem Aparten oder was mann so das Aparte nennt. Was dir so verlockend erscheint - und ich rechnee auch ein Leben dahin, wie's die Trippelli führt -, das bezahlt mann in der Regel mit seinem Glück.' [S.242]

Vonn Gieshübler hat Innstetten nichts zu fürchten, von der Trippelli wohl. .

Vorr seiner Abreise nach Paris küBte Léon Emmas Kind. Sogar bei diesemm Abschied wagte er es nicht, Emma selbst zu kussen. Gieshübler aber, derr 'immer schon alt war', liegt es fern, an derartiges zu denken. Übrigens handeltt es sich in beiden Romanen für die sich langweilenden weiblichen Hauptfigurenn zuerst um rein platonische auBereheliche Beziehungen: Emma-Léon,, Effi-Gleshübler.

Nachdemm in Madame Bovary der Eroberer Rodolphe einmal die Bühne betretenn hat, vergiBt Emma die platonische Beziehung zu Léon. Und als in EffiEffi Briest Crampas sich als Eroberer prasentiert hat, vergiBt Effi Gieshübler zwarr noch nicht, er gerat aber in den Hintergrund, nachdem sie in den Bann dess selbstsüchtigen Crampas geraten ist.

g .. Rodolph e versu s Crampa s

Rodolphe e Beidee Manner legen es darauf an, eine verheiratete Frau sexuell zu

besitzen.. Rodolphe gelingt das, und Emma freut sich darüber. 'Tai un amant!! J'ai un amant!" [S.473] Der vierunddreiBigjahrige Junggeselie hat sofortt bemerkt, daB Emma sich langweilt und von ihrem Mann zu wenig verstandnisvollee Zartlichkeit erfahrt. "Ca baille après l'amour, comme une carpee après l'eau sur une table de cuisine." [S.444] Als er aber auf der land-wirtschaftlichenn Tagung das erste Mal mit ihr allein ist, sieht Emma, wie Rodolphee nur eine oberflachliche Teilnahme für sie kennt. Einerseits will er Emmaa gerne erobern, andererseits interessiert er sich für das dort ausge-stelltee Vieh. Als er bemerkt, daB Emma dafür kein Interesse zeigt, konzen-triertt er sich wiederum völlig auf ihre Eroberung und versucht er das Mittel derr indirekten Komplimente:

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.... il s'arrêtai t parfoi s devan t quelqu e beau sujet , que Mme. Bovar y rVadmirai tt guère . II s'en apercut , et alor s se mi t a fair e des plaisante -riess sur les dames d'Yonville , a propo s de leur toilette . [S.451]

Err auBer t sich nich t über Emmas eigen e Kleidung , sonder n herab -lassen dd über die der andere n Damen. Auf dies e Weise erfahr t der Leser , wie ander ss Emma sich Rodolph e gegenübe r verhal t als damal s in ihre r plato -nische nn Beziehun g zu Léon . Jetzt akzeptier t sie das indirekt e Kompliment . Undd in dem Gutsbesitze r sieh t Emma auf einma l den Tanzpartne r vom Ball auff dem Schlo B in Vaubyessar d wieder . Rodolph e wir d fü r sie der damalig e Vicomte . .

Ellee distinguai t dans ses yeux des petit s rayon s d'or , s'irradian t tou t autou rr de ses pupille s noires , et même elle sentai t Ie parfu m de la pommad ee qui lustrai t sa chevelure . Alor s une molless e la saisit , elle se rappel aa ce vicomt e qui l'avai t fai t valse r a la Vaubyessard , et don t la barb ee exhalait , comm e ces cheveux-la , cett e odeu r de vanill e et de ci -tron ;; et, machinalement , elle entreferm a les paupière s pour la mieu x respirer .. [S.459]

Alss Rodolph e sie kur z nach der landwirtschaftliche n Tagung im Walde zuu verführe n weiB , verschwinde t der Vicomt e aus Emmas Gedankenwelt . Emmaa komm t es vor , als habe die Realita t die Traumere i erfolgreic h ein -gehol tt und von ihre m Platz verdrangt . Rodolph e fang t an, sich herablassen d überr ihre n Mann zu auBern : 'Bovary ' sei nich t ihr eigene r Name, sonder n der einess anderen . Und Rodolph e wiederholt : 'eines anderen' . Darauf schlag t er diee Hande vor das Gesich t und erklart , daB ihn diese r Gedank e gerad e zur Verzweiflun gg bringe , denn wer kampf e gegen den Himmel , und wer wider -setzee sich dem Lachel n eines Engels ?

Ess ist deutlich , daB Emma eine solch e Sprach e nie zuvo r gehor t hat . Rodolph ee versucht , sie mit seine m verführerische n Wortschwal l zu über -schütten . .

'Laa nuit , toute s les nuits , je me relevais , j'arrivai s jusqu'ici , je regardai s votr ee maison , Ie toi t qui brillai t sous la lune , les arbre s du jardi n qui se balancaien tt a votr e fenêtre , et une petit e lampe , une lueur , qui brillai t aa traver s les carreaux , dans l'ombre . Ah! vous ne savie z guèr e qu'i l y avai tt la, si prés si loin , un pauvr e miserabl e ... ' Ellee se tourn a vers lui avec un sanglot . 'Oh!! vous êtes bon! ' dit-elle . 'Non ,, je vous aime, voil a tout! ' [5.467/468]

Diee Reaktio n "vou s êtes bon" zeigt , daB Emma Rodolphe s Absicht , sie alss neue MaTtress e für sich zu gewinnen , nich t durchschaut . Nich t durch -

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schaue nn kann oder nich t durchschaue n möchte ? Jedenfall s handel t es sich umm eine in rem Wunschdenke n entsprechend e Selbsttauschung , die Emma dazuu bringe n wird , sich von Rodolph e verführe n zu lassen . Und nachde m sie einma ll verführ t ist , mein t Emma im Ernst , sie könnt e mi t Rodolph e flüchten . Inn bezug auf die bevorstehend e Fluen t schaff t sie sich mi t Hilf e Lheureux ' kostbar ee Waren an, aber Rodolph e schreib t Emma ab. Wiederu m hat Emma diee Realita t aus dem Auge verloren . Würd e der Gutsbesitze r die Einkünft e auss der Landwirtschaf t je aufgeben , um mi t ihr zu flüchten ? Würd e der ober -flachlic hh liebend e Junggesell e sein e Freihei t nur ihretwille n plötzlic h aufge -ben?? Rodolph e verschwinde t - ohn e daB der leichtglaubig e Charle s etwas davo nn bemerk t -, und Emmas moralische r und zugleic h gesellschaftliche r Untergan gg setz t ein . Léon , dem sie zuers t noch die kalt e Schulte r gezeig t natte ,, begegne t ihr wahren d eines Opernbesuch s mi t Charle s in Rouen und Emmaa ergreif t sofor t die Initiative . Um Léon regelmaBi g in Rouen treffe n zu können ,, wende t sie gegenübe r Charle s die Notwendigkei t vor , wiederu m Klavierstunde nn nehme n zu mussen . Ihre Schulde n mehre n sich , obgleic h Charle ss dies e nich t stattfindende n Klavierstunde n bezahlt . SchlieBlic h geht siee so weit , Léon zur Unterschlagun g der ihm von Mandante n anvertraute n Gelderr anzuregen . Der jung e Mann fühlt , wie er unte r der WillensauBerun g diese rr Frau , die ihn zu einem Verbreche n anspornt , schwac h wird . Weil Emmaa nirgend s die Gelder zur Begleichun g ihre r bei Lheureu x gemachte n Schulde nn bekomme n kann , wahl t sie schlieBlic h den Freitod .

Crampa s s Crampa ss hatt e es schwere r als Rodolphe . Effï hatt e sich noch nicht , so

wiee Emma, mehrer e Jahre in einer Kleinstad t gelangweilt . Emma hatt e be-reit ss langer e Zeit eine Abneigun g gegen ihren Mann entwickelt , Effi nicht . AuBerde mm kannt e Rodolph e kein e besonder e gesellschaftlich e Bindun g mi t Charles ;; Crampa s mi t seine m Landra t und ehemalige n Kriegskamerade n wohl .. Rodolph e braucht e kein Duellrisik o einzugehen , Crampa s hatt e wenig -sten ss scho n einma l diese s Wagni s auf sich genomme n und davo n eine ent -stellt ee Schulte r zurückbehalten . Die Beziehunge n zwische n Effi , Innstette n undd Crampa s kenne n denn auch ander e Aspekt e als das Dreiecksverhaltni s Emma-Charles-Rodolphe . .

Alss Emma und ihr Mann in Yonville-L'Abbay e ankommen , begegne n sie sofor tt einem zum selbe n Gesellschaftskrei s gehörende n Ehepaar . Der Mann, derr Apotheke r Homais , informier t Emma über samtlich e Lieferanten , bestell t seine nn Apfelweinhandle r eigen s für sie , erlauter t ihr , wo sie sich am billigste n mi tt frische r Butte r versorge n kann , usw . Effi brauch t sich um derartige s nich tt zu kümmern , wei l der Haushal t für sie von Innstetten s Persona l geführ t wird .. Ebensoweni g begegne t sie aber einem andere n Ehepaar , mi t dem man sichh befreunde n könnte . "Es leben ein paar Adlig e in der Nahe, aber hier in derr Stad t ist es gar nichts, " sagt Innstetten . [5.215]

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Deswegenn muB auch Innstette n sich einsa m gefühl t haben . Er hatt e sein ee Arbeit , und Kessi n bildet e nur eine Zwischenstation . Als unverheira -tete rr adlige r Landra t lebt e er aber geselIschaftlic h isoliert . Gieshüble r war zwarr ein herzensgute r Mensen , in Innstetten s Erlebniswel t konnt e er jedoc h nich tt als 'eine r von uns ' betrachte t werden . Dem neuen Land wen rbezirks -kommandeu rr von Crampa s aber wir d nich t nur Effi , sonder n auch Innstette n wiee einem Trost - und Rettungsbringe r entgegengesehe n haben . Leide r ist dessenn Gatti n kein e 'Geborene ' und obendrei n eine imme r verstimmte , melancholisch ee Frau. "Ohn e sie geht es nicht , und mi t ihr ers t rech t nicht" , schreib tt Effi ihre r Mutter . [5.258] Crampas ' Vorgange r war ein Greuel gewe-sen,, in Crampa s finde t Innstette n immerhi n einen alten Kriegskamerade n wieder .. Dies könnt e erklaren , waru m Innstette n Crampa s nich t sofor t als einee Gefahr für sein e Ehe erkennt . Innstette n weiB , daB diese r ein Damen-mannn ist , ein Mann viele r Verhaltnisse , der eben solche r Ding e wegen mi t ei-nemm Kamerade n ein Duell gehab t hatte , bei welche r Gelegenhei t ihm der link ee Arm dich t unte r der Schulte r zerschmetter t worde n war .

Alss Anni e getauf t wird , ladt Innstette n Crampa s zum anschlieBende n Festmah ll ein . Crampa s sitz t soga r neben Effi , und als diese kurz darau f auf derr Terrass e ihre s Hauses zusamme n mit Innstette n Kaffee trinkt , ergreif t diese rr die Initiative , den vom Stran d herkommende n Crampa s einzuladen . Weill die nachste n Tage bis in den Oktobe r hinei n schö n bleiben , komm t Crampa ss regelmaBi g gegen elf Uhr vorbei . Innstette n ladt ihn ein , zusamme n mi tt ihm auszureiten . Wenn die Herren einma l for t sind , spiel t Effi mi t ihre m Kindd oder durchblatter t die ihr von Gieshüble r nach wie vor zugeschickte n Zeitungen .. Innstette n hat erreicht , sich regelmaBi g mi t einem ebenbürtigen , adlige nn Freund unterhalte n zu können . Crampa s hat auf dies e Weise erreicht , Effii regelmaBi g zu begegnen . Beide r Wege scheine n vorlaufi g paralle l zu taufen .. Das geht so wochenlang , bis Effi den Wunsc h auBert , mitreiten zu dürfen . .

Derr Major fand die Sache kapital , und Innstetten , dem es augenschein -lichh wenige r paBte - so wenig , daB er imme r wiede r hervorhob , es werd ee sich kein Damenpfer d finde n lassen -, Innstette n muBt e nach -gebenn als Crampa s versicherte , 'das soll e sein e Sorg e sein' . Und richtig , wass man wünschte , fand sich auch , und Effi war selig , am Strand e hin -jagenn zu können , jetz t wo 'Damenbad ' und 'Herrenbad ' kein e schei -dende nn Schreckenswort e mehr waren . [S.277]

Innstette nn war derjenige , von dem die Initiative , Crampas regelmaBi g einzuladen ,, ausgegange n war. Allmahlic h komm t der Gedank e auf, auch am Strand ee zu raste n oder zu drit t eine Streck e Wegs zu FuB zu gehen . Effi s Kontakt ee mit Crampa s werde n von Innstette n nich t abgebremst , und als Endee Oktobe r die Wahlkampagn e einma l begonne n hat , ist diese r verhindert .

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sichh weiterhi n an den Ausflüge n zu beteiligen . Auf diese Weise bekomm t Crampa ss Gelegenheit , eine intimer e Beziehun g zu Effi aufzubauen . Innstet -tenn aber hat ihm dies e Gelegenhei t selbs t verschafft .

Ess gehor t zu der übliche n Takti k eines Liebhabers , auf subtif e Weise einee bestimmt e Entfremdun g zwische n der Ehefrau und ihre m Mann zustan -dee zu bringe n bzw. zu vergröBern . So hatt e Rodolph e Emma darau f hinge -wiesen ,, daB man in Yonville-L'Abbay e ihre n eigenen Namen gar nich t kannte , nurr den ihre s Ehemannes . Crampa s geling t es ebenfalls , eine derartig e Entfremdun gg zustand e zu bringe n bzw. zu vergröBern . Nachdem Effi ihm von Innstetten ss Spukgeschicht e mi t dem Chinese n erzahl t hat , lach t er: "als o ganzz der alte" . [S.281] So hatt e Innstette n sich auch wahren d des Kriege s vonn 1870-1871 benommen , und deswege n wohn e er auch jetz t nich t in einemm gewöhnliche n Haus, denn ein Spukhau s sei nie was Gewöhnliches . AuBerde mm war Innstette n auch damal s scho n ein Mann gewesen , der gern e erzieherisc hh handelte . Und Crampa s sagt zu Effi :

'Ein ee jung e Frau ist eine jung e Frau, und ein Landra t ist ein Landrat . Er kutschier tt of t im Kreis e umher , und dann ist das Haus allei n und unbewohnt .. Aber solen Spuk , ist wie ein Cheru b mit dem Schwer t ... ' (Hervorhebun gg HMV) [S.283]

Ungewoll tt zeig t sich kur z nachhe r der gutwillig e Gieshüble r dem erobe -rungssüchtige nn Crampa s gegenübe r behilflich . Nach einem Plan von Cram-pass sollt e kur z vor Weihnachte n ein Theaterstüc k aufgeführ t werden . Cram-pass hat die Regie, und nachde m Gieshüble r mit ihr darübe r gesproche n hat , spiel tt Effi die Hauptrolle . Kurz darau f verabrede t Innstette n selbs t mi t Cram-pass noch eine Ausflugsparti e zu Oberförste r Ring .

Weshal bb triff t Innstette n eine derartig e Verabredung , wenn er Crampa s nich tt traut ? Effi fragt :

'Halts tt du ihn fü r schleent? ' 'Nein ,, fü r schlech t nicht . Beina h im Gegenteil , jedenfall s hat er gut e Seiten .. Aber er ist so'n halbe r Pole, kein rechte r VerlaB , eigentlic h in nichts ,, am wenigste n mi t Frauen . Eine Spielernatur . Er spiel t nich t am Spieltisch ,, aber er hasardier t im Leben in einem fort , und man muB ihm auff die Finge r sehen. ' [S.295]

Effii bestatig t Innstetten , daB es ihr lieb ist , daB er ihr das gesag t hat . "Ic hh werd e mic h vorsehe n mi t ihm. " [ebd.] Auf der Rückfahr t der von Inn -stette nn arrangierte n Parti e sitze n Effi und Crampas zusamme n in einem Schutten .. Am nachste n Tag zeigt Innstette n sich verstimmt , muB aber aner-kennen ,, daB er selbs t schul d hat , und er füg t hinzu :

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.... von einem Fauxpas mag ich nich t sprechen , das ist in diese m Zusammenhang ee kein gute s Wort. Also selbe r schuld , und es soi l nich t wiede rr vorkommen , so wei t ich' s hinder n kann . Aber auch du, wenn ich dirr raten darf , sei auf deine r Hut... ' [S.309]

Kurzz darauf , zu Silveste r desselbe n Jahres , bekomm t Effi Gelegenhei d Innstette nn ihr e Standfestigkei t zu beweisen . Der Silvesterbal l finde t start . Crampa ss ist anwesen d und begrüB t sie , aber Effi tanz t nicht , sonder n hat ihre nn Platz "be i den alten Damen, für die , ganz in der Nahe der Musik -empore ,, die Fauteuil s gestell t waren, " eingenommen . [S.310] Über irgen -deine nn Kontak t zwische n Effi und Crampa s sei t ihre m Gesprac h wahren d der Schlittenfahr tt steh t nicht s im Text . Auch nich t über ein vergleichbare s Ge-sprac hh im Janua r oder Februa r des gerad e begonnene n Jahres . Der Leser wir dd denn auch überrascht , wenn er auf einen unverkennba r an Crampa s gerichtete nn Abschiedsbrie f stöBt :

'Ichh reis e morge n mit dem Schiff , und dies sind Abschiedszeilen . Innstette nn erwarte t mich in wenig Tagen zurück , aber ich komm e nicht wiede rr ... Warum ich nich t wiederkomme , Sie wisse n es ... Es ware das best ee gewesen , ich natt e dies Stüc k Erde nie gesehen . Ich beschwör e Sie,, dies nich t als einen Vorwur f zu fassen ; alle Schul d ist bei mir . Bliek '' ich auf ihr Haus .., Ihr Tun mag entschuldba r sein , nich t das meine .. Meine Schul d ist sehr schwer , aber vielleich t kann ich noch heraus .. DaB wir hier abberufe n wurden , ist mir wie ein Zeichen , daB ich nochh zu Gnaden angenomme n werde n kann . Vergesse n Sie das Ge-schehene ,, vergesse n Sie mich . Ihre Effi. ' (Hervorhebunge n HMV) [S.333] [S.333]

DaBB plötzlic h von einem Abschiedsbrie f die Rede ist , zeigt dem Leser an,, daB der Erzahle r manche s überschlage n hat . Offensichtlic h natt e sich einee intim e Beziehun g zwische n Effi und Crampa s entwickelt , deren Verlau f demm Leser aber nich t mitgeteil t worde n ist .

Wirr haben hier mi t der woh l auffalligste n und wichtigste n Leerstell e in derr Erzahlun g von der Ehe Effi s zu tun , insofer n namlic h gerad e das, was hierr verschwiege n wird , die Antwor t auf die Frage enthalt , ob und inwiewei t ess zu einem wirkliche n Ehebruc h gekomme n ist . Der Leser muB selbe r Rück -schlüss ee ziehen , und er wir d veranlaBt , sie rasch und mögücherweis e voreili g zuu ziehen , weil sich sofor t eine zweit e Frage aufdrang t und die Aufmerk -samkei tt auf sich lenkt . Es entsteh t namlic h für den Fortgan g der Geschicht e sogleic hh die Spannung , ob Innstette n je etwas von den ihm verheimlichte n Intimitate nn zwische n Effi und Crampa s erfahre n wird .

Einemm Leser , der sich nich t vorschnel l von der erste n Frage abbringe n laBt ,, zeigt der Inhal t des Briefe s nach genauere r Prüfun g zweierlei : Zum

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einen :: Die Beziehun g zwische n Effi und Crampas muB sich in sehr kurze r Zeitt zu einer Verbindun g intimere r Ar t entwickel t haben . Zum andern : Effi scham tt sich dafü r und brich t die Verbindun g jetz t schuldbewuB t ab.

Sodan nn drange n sich dem Leser dre i Fragen auf: (1)) Wie lang e hat die Verbindun g gedauert ? (2)) Wo haben die heimliche n Begegnunge n stattgefunden ? (3)) Wie wei t sin d die beide n dabei gegangen ?

Add 1 Diee Parti e zur Oberförstere i Uvagl a fand vier Tage vor dem Silvesterbal l

statt .. Es war wahren d der Heimfahrt , daB Crampas im Schutte n Effi s Hand genomme nn und dies e mit Kusse n überdeck t hatte . "Es war ihr , als wandi e sie einee Ohnmach t an." [S.308] Das schein t darau f hinzuweisen , daB Crampa s dies ee Hand vorhe r noch nich t auf eine derarti g leidenschaftlich e Weise ge-küB tt hatte . Ohnmachtbefürchtunge n waren dann ausgeblieben . Eine intimer e Verbindun gg zwische n Effi und Crampa s muB also erst gegen Ende des zwei -tenn Jahre s von Effi s Kessine r Aufenthal t begonne n haben .

Alss Effi nachhe r Kessi n mi t einem Dampfe r für imme r verlaBt , laute t derr Text :

Effii gedachte des Tages, wo sie , vor jetz t gerad e Fünfvierteljahren , im offene nn Wagen am Ufer diese s Breitling s hin entlan g gefahre n war. [5.354] [5.354]

Effii hatt e Innstette n im Oktobe r geheiratet , die Hochzeitsreis e dauert e sechss Wochen , Effi war also zwei Jahr e zuvo r im Novembe r das erst e Mal in Kessi nn angekommen . Einernvierteljah r spater , also im Februar , hat sie Kessi n fü rr imme r verlassen . Rainer Gippert , der den Roman im Hinblic k auf die Zeit -gestaltun gg interpretier t hat , berechnet , daB Effis Abfahr t aus Kessi n den 25. Februa rr stattgefunde n haben muB . [5.103]

Vonn diese r an sich kurze n Zeitspann e musse n dann auch noch die Tage vonn Crampas ' Dienstreis e nach Stetti n abgezoge n werden . Eine intimer e Be-ziehun gg zwische n Eff i und Crampa s kann erst im Janua r zustand e gekomme n sein ,, und die Period e der heimliche n Begegnungen , auf welch e die Crampas -Korresponden zz sich bezieht , hat nich t lange r als vier bis fün f Wochen gedauert . .

Add 2 Diee intime n Kontakt e könne n nur am hellichte n Tag stattgefunde n ha-

ben ,, in einer Periode , in der Roswith a Effi wahren d ihre r tagliche n Spazier -gang ee nich t (mehr ) begleitete . Und doch nich t im Freien , wie bei Emma, die sichh Rodolph e im Wald hingab . Im pommersche n Klim a ladt die Wintertem -

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peratu rr dazu auch kaum ein . AuBerde m hatt e es geschneit . Aber auch ganz abgesehe nn davon : Wenn irgendei n Kessine r beobachte t hatte , daB die Frau Landrati nn von dem örttiche n Landwehrbezirkskommandeu r umarm t worde n waree und diese Wahmehmun g in Kessi n herumgeplauder t hatt e - das freundschaftlich ee Verhalte n zwische n Innstette n und Crampa s würd e ein Endee genomme n haben und ein Pistolenduel l ware - scho n dann - gesell -schaftlic hh unvermeidba r geworden . Deswegen könne n sich die heimliche n Begegnunge nn zwische n Effï und Crampa s nur innerhal b eines Hauses abge-spiel tt haben . Fontane s Erzahle r teil t dem Leser nich t mit , urn welche s Haus ess sich handelt . Der Text biete t ihm aber zwei Anhaltspunkte :

a)) Nachde m Effï am 24. Februa r ihre n Abschiedsbrie f geschriebe n hat , berichte tt der Erzahler , wie Effï mi t diese m Brie f auf ein Haus zugeht , zwis -chenn dem Kirchho f und der Waldecke . "Ein dunne r Rauch stie g aus dem halb eingefallene nn Schornstein . Da gab sie die Zeilen ab." [S.353]

b)) lm erste n Zette l der spate r von Innstette n entdeckte n Crampas -Korrespondenz ,, schreib t dieser : "Sei heut e nachmitta g wiede r in den Dünen , hinte rr der Mühle . Bei der alten Aderman n könne n wir uns ruhi g sprechen , dass Haus ist abgelege n genug. " [S.371]

Werr ist diese alte Adermann , die irgendw o in den Dünen wohnt ? Und werr ist die Person , die Effi s Brie f in einem Haus "mi t halb eingefallene m Schornstein "" in Empfan g genomme n hat? Fontane s Erzahle r laBt es im un-klaren . .

Add 3 Überr die Art eventuelle r Intimitate n wahren d der heimliche n Begeg -

nunge nn laBt Fontane s Erzahle r sich überhaup t nich t aus. Es wird nur er-wahnt ,, daB Effï sich endgülti g von Crampa s zu verabschiede n wünscht . Wa-rumm ist Crampas ' Tun in Effi s Augen "entschuldbar" , und waru m bezeichne t siee ihr e eigen e Schul d als "seh r schwer" ? Weisen diese Wort e nich t auf eine auBerehelich ee Geschlechtsgemeinschaf t hin? Es ist die allgernein e Auffas -sung ,, und ich schlieB e die Möglichkei t diese r Interpretatio n nich t aus. Der Ehebruc hh eines Mannes wurd e zwar vielfac h als 'entschuldbar ' betrachtet , aberr in diese m Fall handel t es sich nich t urn einen Seitensprun g von Cram-pass mit irgendeine r andere n verheiratete n Frau. Crampa s war Innstetten s ehemalige rr Kriegskamera d und als neuer Landwehrbezirkskommandeu r auBerde mm in Kessi n ein Freund des Hauses . Ware unte r diesen Umstande n dass Anknüpfe n einer heimliche n Beziehun g zwische n Effï und Crampa s als 'entschuldbar '' zu betrachten ? Wenn der Leser sich allerding s vergegenwar -tigt ,, daB Innstette n durc h die Entdeckun g heimliche r Begegnunge n Effi s mi t einemm andere n Mann gesellschaftlic h genötig t wurde , Crampas zu einem Pistolenduel ll zu fordern , bekomm t der Begrif f 'entschuldbar ' einen verstand -lichere nn Sinn . In einem solche n Duell riskier t der Hasardeu r Crampas nur das

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eigen ee Leben , Eff i dagege n setz t das Leben ihres Mannes aufs Spiel, und mi t fü rr ihn schlechtere n Chancen . Crampa s natt e sich wenigsten s scho n einma l duelliert ,, Innstette n nicht . Und wer würd e der erfahrener e Pistolenschütz e sein ,, der Milita r Crampa s oder der Zivilis t Innstetten ? Effi konnt e das eigen e Verhalte nn denn auch mit Recht als "schwer e Schuld " bezeichnen .

Vergleiche nn wir nun die Beziehun g Emma-Rodolph e mi t der von Effi undd Crampas , so sehen wir , daB in beide n Fallen ein Abschiedsbrie f der Be-ziehun gg ein Ende setzt . In Madame Bovary schreib t der Liebhabe r diese n Brief ,, in Effi Briest die verheiratet e Frau. In Madame Bovary natt e Rodolph e Emmaa satt ; konnt e Effi Crampa s auch nich t mehr ertragen ? Sie benutzt e die Gelegenhei tt der Umsiedlun g nach Berlin , um eine vernünftig e Entscheidun g zuu treffen . In Berli n wohnhaf t geworden , konnt e sie ihm doch nich t mehr regelmaBi gg begegnen . Konnt e Effi Crampa s aber auch nich t mehr ertragen ? Weshal bb bewahrt e sie dann sein e Briefe ? Gilber t rechne t mi t der Möglichkeit , "tha tt Effi had deeper feeling s for Crampa s than she was willin g to admit" . [S.114][S.114] Auch das ist nich t auszuschlieBen , obgleic h Ton und Inhal t des Ab-schiedsbriefe ss nich t auf tiefer e Gefühl e hinweisen . Eine ander e Möglichkei t ware ,, daB Effi mi t Crampa s irgendein e besonder e erotisch e Erfahrun g ge-mach tt hatte , die ihr bis dann unbekann t war und die sich nachhe r nich t wie -derholte .. Seine Korresponden z konnt e sie als Erinnerun g daran aber aufbe -wahren . .

Imm Text steht , wie bei Effi s Abfahr t aus Kessi n noch eine Anzah l von Persone nn neugieri g am Bollwer k umherstand .

...undd als sie die Landungsbrück e noch einma l musterte , sah sie , daB Crampa ss in vorderste r Reihe stand . Sie erschra k bei seine m Anblic k undd freut e sich doch auch . Er seinerseits , in seine r ganzen Haltun g ver -andert ,, war sichtlic h beweg t und grüBt e erns t zu ihr hinüber , ein GruB , denn sie ebenso , aber doch zugleic h in groBe r Freundlichkei t erwiderte ; dabeii lag etwas Bittende s in ihre m Auge . Dann ging sie rasch auf die Kajüt ee zu, wo sich Roswith a mi t Anni e scho n eingerichte t hatte . [S.334] [S.334]

Effii erschrickt , so wie sie spate r auch noch erschrecke n wird , wenn sie imm Sommer , mi t Innstette n in den Ferien , nich t in einem Dorf namen s 'Crampas '' übernachte n möchte . Freut sie sich aber auch , wel l die Ent-deckungsgefah rr und das dami t verbunden e Duellrisik o jetz t fü r imme r über -wunde nn erscheinen ? Oder wei l sie wahren d der stattgehabte n Begegnunge n Crampa ss noch davo n abhalte n konnte , eine letzt e Intimitatsgrenz e zu iiber -schreiten ?? Oder wei l es ihr gefiel , daB der Liebhabe r sich doch noch verab -schiede nn wollte ? Was Effi empfindet , nachde m sie sich für imme r von Cram-pass verabschiede t hat , erfahr t der Leser nicht . Flauber t kleide t das bei seine r Hauptgestal tt ander s ein . Als erst Rodolph e und dann Léon als Liebhabe r aus

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Emmass Leben verschwunde n sind , weiB der Leser genau , was alles Emma empfindet .. Bei Flauber t brauch t der Leser auch nich t zu mutmaBen , wo die heimlichen ,, auBereheliche n Begegnunge n stattgefunde n haben , und ob es beii diese n Begegnunge n zu einem auBereheliche n Geschlechtsverkeh r ge-komme nn ist . Emma muB , Effi kann sich ehebrecherisc h verhalte n ha ben. Im letzte nn Kapite l meine r Arbei t werd e ich mich dami t eingehende r auseinander -setzen . .

Inn den beide n Romanen komme n heimlich e Begegnunge n zwische n einemm Liebhabe r und einer verheiratete n Frau zustande . Flauber t mach t darau ss ein weitlaufigere s Geschehe n als Fontane . Der Vicomt e war es noch nicht ,, Léon anfang s auch noch nicht , erst Rodolph e gelan g es, Emma zu verführen .. Einerseits , wei l sein gespieltes , romantische s Benehme n in Über-einstimmun gg war mi t dem des mannliche n Typs , wie Emma ihn sich sei t ihre rr heimliche n Lektür e in der Klosterschul e vorgestell t hatte . Andererseits , wei ll Charle s nich t nur extre m naiv war , sonder n sein e Frau auch noch imme r unkritisc hh mi t den Augen eines verliebte n Mannes sah.

Innstette nn war nich t naiv . Er kannt e Crampa s und war sich auch bewuBt ,, ein unerfahrene s Kind geheirate t zu haben . Solang e er selbs t als dritte rr an den Begegnunge n teilhatte , konnt e er sich über die Anwesenhei t dess ehemalige n Kriegskamerade n nurfreuen . Dabei hat er jedoc h die Gefahr unterschatzt,unterschatzt, was passiere n konnte , wenn er einma l abwesen d sein würde .

Wass Emma und Effi angeht, zeigt sich dem Leser für beide zuers t ihr e beschrankt ee Lebenserfahrung . Klosterinterna t bzw. Rittergu t haben sie zu sehrr geschützt . Verführungsversuch e von Rodoiph e und Crampas könne n oderr wolle n sie nich t rechtzeiti g durchschauen . Deren schmeichelnd e Re-densarte nn erfahre n sie als aufrichti g gemeint e LiebesauBerunge n von Man-nern ,, die soga r zur Fluch t mi t ihnen berei t sein würden . Obgleic h verheirate t undd bereit s Mutte r geworden , bleibe n beide Frauen noch ebens o naiv wie die unverheiratet ee Christin e in Arthu r Schnitzler s 'Liebeiei' .

Vergleiche nn wir noch einma l im Überblic k die Unterschied e im Entwick -lungsgan qq beide r Frauen und die dabei von den Schriftsteller n verwendet e unterschiedlich ee Erzahltechnik :

Erstt nach mehrere n Jahren führ t Emmas Entwicklun g zu einer heimli -chen ,, auBereheliche n Beziehung . Bei Effï geschieh t das scho n nach gut einemm Jahr . Emmaa begeh t über langer e Zeit wiederhol t Ehebruch , Effi ergreif t scho n nachh ein paar Wochen die Initiative , ihr e einmalig e auBerehelich e Be-ziehun gg zu beenden .

-- Emma jauchzt : "J'a i un amant. " Effi scham t sich : "Mein e Schul d ist sehr schwer. " "

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-- Emma vernichte t sich selbs t durc h Geldvergeudung . Effi vernichte t sich , wei ll sie , ohn e rechtzeitig e Beratun g mit einem Anwalt , die moraiisch e undd die juristisch e Problemati k ihre s Falies nich t auseinanderhalte n kann . Dochh dazu im 5. Kapite l mehr .

-- Was die Erzahltechni k betrifft , bediene n sich beide Autore n der chrono -logische nn Darstellung . Flauber t hal t sie strenge r ein als Fontane , nur muB err die Entwicklunge n von Charle s und Emma vor der Ehe als getrennt e Geschichte nn gesonder t erzahle n und also einande r nachordnen , wenn -gleic hh sie sich realite r gleichzeiti g abspielen . Fontan e arbeite t dann und wannn freie r mi t einer 'Rückblende' . Effi s Gesprac h mi t ihre n Freundinne n z.B.. gib t ein bereit s vergangene s Geschenen , die früher e Beziehun g zwi -schenn ihre r Mutte r und Innstetten , wieder .

-- Bet Flauber t erfahr t der Leser , wie sich zwische n Emma und Rodolph e einee intim e Beziehun g entwickelt . Bei Fontan e wir d der Leser erst in Effi s Abschiedsbrief ,, und also nachtraglich , mi t einer solche n Beziehun g überrascht . .

-- In Madame Bovary kann der Leser verfolgen , wie Emma und Rodolph e ein schriftliche ss Kommunikationssyste m entwickeln , in Effi Briest erfahr t der Leserr ers t bei der Enthüllun g viel e Jahr e spate r - als Innstette n in Berli n diee Crampas-Korresponden z entdeck t -, daB auch Effi und Crampa s sich einenn eigene n Schriftverkeh r eingerichte t natten .

-- Die unterschiedlich e Erzahltechni k hat zur Folge , daB der Leser von Effi BriestBriest von unerwartete n Ereignisse n durc h nachgeholt e Mitteilun g über -rasch tt wir d und sie dann auch noch weitgehen d selbe r rekonstruiere n muB .. Fontane s Geschicht e wir d dem Leser mehr wie in einem Detectiv e vermittelt .. Ob das auch als ein literarische s Verdiens t zu betrachte n ist , möcht ee ich dahingestell t sein lassen . Ich konstatier e hier nur das Faktum .

-- Ferner ergib t sich , daB bei Emma und Effi aus den auBereheliche n Be-ziehunge nn Schuldgefühl e resultiere n und ihr e weiter e Entwicklun g be-lasten .. Emma kenn t dieses Gefüh l nur vor Gott , Effi auch ihre m Mann gegenüber .. Davon handel t das nachst e Kapitet .