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Wissenschaftskolleg zu Berlin INSTITUTE FOR ADVANCED STUDY Köpfe und Ideen 2006

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Wissenschaftskolleg zu BerlinI N S T I T U T E F O R A D VA N C E D S T U D Y

Köpfe und Ideen2006

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Robert A. ARONOWITZ Cristian BADILITA Mark

BEISSINGER Josè CASANOVA Gregory CLARK

Leo CORRY Ingolf Ulrich DALFERTH Cathérine

DAVID Horst DREIER Shmuel N. EISENSTADT

Augustin EMANE Jean-Louis FABIANI Judit FRI-

GYESI Gamal AL-GHITANI Luca GIULIANI David

GUGERLI John HAMILTON Carla HESSE Hans

JOAS Grazyna JURKOWLANIEC Irad KIMHI Paul

KLEIHUES Charlotte KLONK Mordechai KREM-

NITZER Susanne KÜCHLER Geert LOVINK Ashis

NANDY Patrizia NANZ Itay NEEMAN Dietrich

NIETHAMMER Horia-Roman PATAPIEVICI Susan

PEDERSEN Oliver PRIMAVESI Scheherazade

Qassim HASSAN Astrid REUTER Jaan ROSS

Robert SALAIS Willibald SAUERLÄNDER Samah

SELIM Abdolkarim SOROUSH Barbara STAF-

FORD John R. STEEL Rudolf STICHWEH Charles

TAYLOR Giuseppe TESTA Vadim VOLKOV

Monika WAGNER Paul WINDOLF Hans ZENDER

Fellows 2005/2006

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Zum AuftaktDieter Grimmm

Statt der Ihnen vertrauten „Nachrichten“ aus dem Wissen-schaftskolleg halten Sie nun erstmals „Köpfe und Ideen“ in derHand. Freilich war auch in den „Nachrichten“ von Köpfen undIdeen die Rede, so wie sich in den „Köpfen und Ideen“ weiterhinNachrichten finden. Wir glauben aber, auf die neue Weise einenbesseren Einblick in das Geschehen am Wissenschaftskolleg ver-mitteln zu können: kein Überblick mehr über sämtliche Fello-ws und Aktivitäten in notwendig berichtsartiger Kürze,vielmehr beispielhafte Darstellungen ausgewählter Fellowpro-jekte in ausführlicherer Form. Typischerweise handelt es sich

nicht um Selbstdarstellungen der Fellows, sondern um Berichteüber das, was Fellows in ihrem Jahr am Wissenschaftskollegerforschen, allein oder in Zusammenarbeit mit anderen aneinem Schwerpunktthema. Fellows sollen damit aber nicht vonder Mitwirkung ausgeschlossen sein. So können Sie in diesemHeft lesen, wie der unerwartete Anblick einer Apfelsorte CarlaHesse aus Kalifornien zu der Entdeckung verhalf, dass ihrefamiliären Wurzeln in Berlin liegen. Was Sie an vollständiger Information hier vermissen, finden Sienatürlich weiterhin auf den Internetseiten des Kollegs.

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Netzwerk oder Wettbewerb: Wie tickt der Kapitalismus?

Der Wirtschaftssoziologe Paul Windolf erforscht, auf welche Weise Fellow 2005/2006

Unternehmen miteinander verbunden sind

von Ralf Grötker

Behandlung auf Verdacht

Robert A. Aronowitz, Internist und Medizinhistoriker, Fellow 2005/2006

arbeitet an einem Buch mit dem Titel

„Unnatural History: Breast Cancer, Risk, and American Society“

Robert Aronowitz im Interview mit Ralf Grötker

Vorbildliche Beinarbeit

Ansgar Büschges, Volker Dürr, Örjan Ekeberg und Keir Pearson simulieren Fellows 2001/2002

neuronale Prozesse im Bewegungsapparat von Katzen und Heuschrecken

von Sonja Asal

Städtische Räume als soziale Oberflächen

Monika Wagner Fellow 2005/2006

untersucht Taktilität und Optizität städtischer Räume

von Ralf Grötker

Inhalt

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Am Ariadnefaden der Wüstenameise

Rüdiger Wehner ist ein Pionier der Theoretischen Biologie. Seine Forschungen Permanent Fellow

führen ihn aus dem Zürcher Labor regelmäßig in die Wüsten Nordafrikas

von Sonja Asal

Säkulare Moderne? Korrektur eines Selbstbilds

José Casanova, Hans Joas, Astrid Reuter und Charles Taylor gehen den Fellows 2005/2006

verschiedenen Formen von Religion in modernen Gesellschaften nach

von Sonja Asal

Letter from Berlin:

How it took 175 years to get from Mitte to Grunewald

A Fellow traces the footsteps of her great-great-grandparents through Berlin Fellow 2005/2006

by Carla Hesse

Bildnachweise und Bilderläuterungen

Impressum

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Eine Kooperative, ein Netzwerk, oder wie man imRheinland sagt, ein Klüngel – so nennt man es, wenn eineHand die andere wäscht und dadurch ein System aufGegenseitigkeit beruhender Verpflichtungen, Hilfelei-stungen und Gefälligkeiten entsteht. „Mer kennt sisch,mer hilft sisch“, war die Parole Konrad Adenauers. InKöln geboren, wird er gewusst haben, wie der „Rheini-sche Kapitalismus“ funktioniert. Vielleicht muss man sich die Sache mit dem RheinischenKapitalismus so vorstellen wie in dem Fassbinder-Film„Lola“. Statt sich in gnadenlosem Konkurrenzkampf zubefehden, arbeitet man in Fassbinders Kleinstadtwelt der50er Jahre Seite an Seite – zum eigenen Wohl wie zumallgemeinen. Bürgermeister, Polizeipräsident, Bankdi-rektor und Bauunternehmer machen Geschäfte undPolitik unter sich aus, vorzugsweise in der „Villa Fink“ –dem örtlichen Bordell. Die Pfründe sind aufgeteilt; allesind zufrieden.Mit seiner moralischen Ambivalenz zeichnet „Lola“, derAnfang der 80er Jahre entstand, ein letztendlich nichtunrealistisches Bild der Mechanismen der deutschenWirtschaft und Politik. „Deutschland AG“ wurde dasSystem aus Kapitalverflechtungen und Personalüber-

schneidungen in den Aufsichtsräten auch genannt, wel-ches jahrzehntelang den Lauf der Dinge bestimmte. Mitder Deutschland AG, sagt der Wirtschaftssoziologe PaulWindolf, wurde eine Basis für die Kooperation rationalerEgoisten gelegt, indem Kontrollinstitutionen geschaffenund anarchische Konkurrenzverhältnisse reguliert wur-den. Das kann man als Klüngelwirtschaft und Selbstbe-reicherungsverein betrachten – oder aber als eine Formgemäßigter Marktwirtschaft, als Kapitalismus mitmenschlichem Antlitz. Möglich ist beides. Denn Netz-werke, betont Paul Windolf, sind Gelegenheitsstruktu-ren und als solche offen für verschiedene Verwendungs-zwecke.

Paul Windolf befasst sich schon seit längerem mit Wirt-schaftsverflechtungen wie Kartellen und Trusts, Mono-polen und Netzwerken der ökonomischen Elite. Seine2002 veröffentlichte Studie „Corporate Networks inEurope and the United States“ geht der Frage nach,wodurch sich Netzwerkstrukturen in den USA undGroßbritannien, in Deutschland, Frankreich, den Niederlan-den und der Schweiz voneinander unterscheiden. Netz-werke können durch ganz unterschiedliche Beziehungen

Netzwerk oder Wettbewerb: Wie tickt der Kapitalismus?

Der Wirtschaftssoziologe Paul Windolf erforscht, auf welche Weise Unternehmen miteinander verbunden sind Fellow 2005/2006

von Ralf Grötker

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GERMANY 1914

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entstehen: durch Kapitalbeteiligungen etwa oder durchManager, die gleichzeitig mehrere Positionen im Auf-sichtsrat oder Vorstand von Unternehmen einnehmen.Dieses Phänomen der Personalverflechtungen ist relativgut erforscht, da es hierzu zugängliches Datenmaterialgibt. Ein weiteres Beispiel sind Kredite, durch die Ban-ken und Unternehmen miteinander verbunden werden.Am Wissenschaftskolleg will Paul Windolf erforschen,wie es zu den Netzwerken der jüngeren Vergangenheitund zur Entstehung der Deutschland AG kam. Zu die-sem Zweck untersucht er die personellen und damit auchunternehmensrelevanten Verbindungen der ökonomi-schen Eliten in den USA, Deutschland und Frankreichzwischen 1900 und 1938.

Die Konjunktur dieser Netzwerke ist ein wichtigerSchlüssel zum Verständnis des Wirtschaftsgeschehensder letzten Jahre überhaupt, sie erklärt wesentlich dieEntwicklung hin zum Shareholder Value oder zum„Finanzmarkt-Kapitalismus“. Unter diesem Titel hatPaul Windolf gerade einen Sammelband veröffentlicht,für den er so ziemlich alle, die in Deutschland in SachenWirtschaftssoziologie einen Namen haben, als Autorengewinnen konnte.Shareholder Value steht für Renditesteigerung, interna-tionale Konkurrenz und Unternehmensübernahmen.Mit Shareholder Value oder Finanzmarktkapitalismushängt es zusammen, wenn die Deutsche Bank fünfund-zwanzig Prozent Eigenkapitalrendite ansteuert und imgleichen Moment die Streichung von 6400 Arbeitsplät-

zen verkündet; wenn Siemens seine Handysparteabwirft, oder wenn der Reifenfabrikant Continental eineHerstellungsstätte im niedersächsischen Stöckernschließen will, obwohl das Werk profitabel arbeitet undder Konzern satte Gewinne einfährt.Ein Strukturwandel im internationalen Wirtschaftsgefü-ge hat stattgefunden. „Seit den 80er Jahren“, erklärt PaulWindolf, „hatten in den USA Investment-Fonds begon-nen, in großem Stil auf dem Aktienmarkt tätig zu wer-den.“ Die Konzentration des Aktienbesitzes brachteeinen Umschwung der Machtverhältnisse mit sich.Fondsmanager begannen, den CEOs das Ruder aus derHand zu nehmen und sie vor die Tür zu setzen, wenndiese ihren Erwartungen nicht gerecht wurden. Seitdem,so Windolf, gilt: „Unternehmen, die zwar profitabel sind,die exorbitanten Rendite-Ziele der Fondsmanagerjedoch nicht erreichen können, müssen verkauft odergeschlossen werden.“ Das heißt, im Zeitalter des Shareholder Value ist die Stei-gerung des Aktienwertes wichtiger geworden als dasWachstum eines Unternehmens. Die Gesetze desFinanzmarktes haben jene des Gütermarktes durch-drungen. „Die Investment-Fonds“, schreibt Paul Win-dolf in „Finanzmarkt-Kapitalismus“, „übertragen denKonkurrenzdruck, dem sie auf den Finanzmärkten aus-gesetzt sind, auf die Unternehmen.“ Dass die Philosophie des Shareholder Value in Deutsch-land und in anderen kontinentaleuropäischen Ländernerst vergleichsweise spät Fuß fassen konnte und auchheute noch nicht so verbreitet ist wie in den USA, hängt

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sehr stark mit den oben beschriebenen Netzwerkenzusammen. Die Unterschiede zwischen Deutschland und den USAhinsichtlich der Unternehmensfinanzierung, das zeigendie Daten, die Paul Windolf für seine aktuelle Untersu-chung zusammengetragen hat, reichen bis ins späte 19.Jahrhundert zurück. Während für US-Unternehmen dieFinanzierung durch Aktien und Anleihen wichtiger war,wurden deutsche Unternehmen zu einem erheblichenTeil durch Bankkredite finanziert. So ist erklärlich, dass die Banken in Deutschland, mehrals in den USA, gezwungen waren, die Industrieunter-nehmen, bei deren Finanzierung sie direkt beteiligtwaren, zu kontrollieren. Dabei waren die Banken nichtdaran interessiert, dass die Unternehmen, nach demPrinzip des Shareholder Value, Strategien der Profitma-ximierung verfolgten und dabei hohe Risiken eingingen.Sie achteten darauf, dass sie dauerhaft profitabel blieben,damit sie langfristige Kredite zurückzahlen konnten.Dies hat sich erst in den letzten Jahren auf nicht undra-matische Weise verändert. Von einem „Tabubruch“,„Wildwestmanieren“ und einer „verlorenen Balance“war die Rede, als bekannt wurde, dass die Deutsche Bank1997 hinter den Kulissen aktiv den Krupp-Konzern beiseinem Übernahmeversuch des wesentlich größerenThyssen-Konzerns unterstützt hatte. Damit war derStartschuss gefallen. Innerhalb kurzer Zeit begannen diedeutschen privaten Großbanken, sich freiwillig von ihrenKapitalbeteiligungen und Aufsichtsratsmandaten zutrennen und vom Modell der Hausbank auf das der

Investmentbank umzustellen, um bei Übernahmeak-tionen mit freien Händen agieren zu können. An dieStelle persönlicher Kenntnisse über Vorgänge in denUnternehmen, denen die Bank Kredit gewährte, tratendie nach standardisierten Methoden erhobenen undallen Interessierten offen zugänglichen Bonitätsurteileder internationalen Ratingagenturen. Das Ende derDeutschland AG war damit eingeläutet – und derBeginn der neuen Ära des Shareholder Value.

Netzwerke, das zeigt diese Geschichte, sind bereits vonihrer bloßen Funktion her mehr als nur „old boys’-net-works“ zur gemeinsamen Bereicherung. Sie bewahrtendie Gesellschaft auch vor einer anarchischen Konkur-renz, die nun mit dem Shareholder Value wieder gesell-schaftsfähig wird. Diese Janusköpfigkeit erklärt auch diemerkwürdige politische Karriere jener Art von Netz-werk, die Paul Windolf als organisierten Kapitalismusbezeichnet. Der Sozialdemokrat und Politiktheoretiker RudolfHilferding, Autor des 1910 erschienenen Werkes „DasFinanzkapital“, hatte den Begriff „organisierter Kapi-talismus“ einst auf Parteitagsreden und in Aufsätzenpopulär gemacht. Hilferding hatte damals die Entste-hung eines Generalkartells prognostiziert. Dieses,glaubte er, käme prinzipiell bereits dem Ersatz des kapi-talistischen Prinzips der freien Konkurrenz durch dassozialistische Prinzip der Planwirtschaft gleich. Kartelle,so Hilferding, ermöglichten dem Staat nicht nur, besserauf die Wirtschaft zuzugreifen, sondern versprachen

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langfristig sogar die Verstaatlichung der gesamten Wirt-schaft. Vor dem Hintergrund des Wissens um die Rolle derorganisierten Großindustrie im Faschismus und demZweiten Weltkrieg hatte sich die deutsche Sozialdemo-kratie von der Präferenz für den organisierten Kapi-talismus schon lange verabschiedet. Gerade dieMitte-Links-Parteien waren es, die, vor die Wahl gestellt,wuchernden Märkten oder unkontrollierbaren KartellenVorschub zu leisten, mit ihrer Wirtschaftspolitik der Ein-führung des Shareholder Value in Deutschland in denletzten Jahren die Türe geöffnet haben. Trotzdem, meint Paul Windolf, lag Hilferding damalszumindest in einigen Punkten nicht ganz daneben. Denntatsächlich hatte die „Organisation“ einiges für sich.Durch die Massenproduktion waren für die Unterneh-men die Fixkosten stark gestiegen. Dies machte sie anfäl-lig für Konjunkturschwankungen. „In Krisenzeiten“,erklärt Windolf, „reagieren Großunternehmen mitPreissenkungen, in der Hoffnung, gerade während derKrise einen höheren Marktanteil zu erobern und die Pro-duktion auf hohem Niveau zu stabilisieren. Da sich alleKonkurrenten in der gleichen Lage befinden, reagierensie ähnlich und das Ergebnis ist ein ruinöser Preis-kampf.“ Gegenseitige Absprachen schufen hier einenAusweg.Ähnliches gilt speziell für den Bankensektor. Auch hierschwächt Konkurrenz das System, weil sie die Bankendazu treibt, hohe Kreditrisiken einzugehen. „Eine unein-geschränkte Konkurrenz der Banken“, sagt Paul Win-

dolf, „kann zu einer gefährlichen Akkumulation ,faulerKredite’ führen, die das System insgesamt destabilisie-ren.“Letztendlich sind es die freien Kräfte des Marktes selbst,die im frühen zwanzigsten Jahrhundert zur Organisationführten. In den USA, betont Windolf, war es politischer Wille, dieKonkurrenz sozusagen künstlich am Leben zu erhalten.Kartelle, Monopole und Trusts wurden in den USA vorallem als Einschränkung wirtschaftlicher Freiheit, ja alsder Freiheit überhaupt angesehen. Louis Brandeis, von1916 bis 1939 Richter am Supreme Court, berichtet PaulWindolf, sprach sich sogar dafür aus, Trustvereinigun-gen und die gegenseitige Entsendung von Managern inden jeweiligen Board of Directors auch dann zu verbie-ten, wenn diese Restriktion unwirtschaftlich sei: Wirt-schaftliche und politische Freiheit, glaubte Brandeis,seien wichtiger als Effizienz. Diese Ansicht schlug sich inder rigorosen Anti-Monopolgesetzgebung nieder, die seitdem späten 19. Jahrhundert in den USA vom Kongressverabschiedet wurde. Wie sich die Anti-Monopol-Gesetze auf die Unterneh-menslandschaft in den USA ausgewirkt haben, lässt sichan einer Reihe von Indikatoren ablesen. Paul Windolfhat Daten zusammengetragen, die zeigen, wie Unterneh-men nicht nur durch Kartellverträge und Trusts, sonderndurch Personalverflechtungen miteinander verbundenwaren. Die Daten zeigen zum Beispiel, dass die Verflech-tungsdichte zwischen den US-Unternehmen nach 1914kontinuierlich abnimmt. In Deutschland hingegen ist die

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J.P.MORGAN, 1914

Blue: Financial

Red: Railway

Green: Industrial

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Netzwerkdichte mit einer ausgeprägten Spitze um dasJahr 1928 herum fast den gesamten Zeitraum über umein mehrfaches höher als in den USA. Diese Strukturen, sagt Paul Windolf, sind mit einemEisenbahnnetz vergleichbar: „Eine graphische Repräsen-tation des Netzes würde zeigen, welche ,Orte’ miteinan-der verbunden und welche Unternehmen isoliert waren.Was die Erhebung nicht zeigt, ist jedoch, welche Zügeauf den Gleisen verkehrten.“ Deshalb spricht Windolf imMöglichkeitsmodus, von Gelegenheitsstrukturen undKontrollchancen, die entstehen, wenn Manager, die Kon-trollfunktionen in den Aufsichtsräten ausüben, wechsel-seitig füreinander bürgen und dabei ihre Reputation aufsSpiel setzen.Die ab 1914 in Deutschland im Vergleich zu den USAviermal höhere Dichte im Unternehmensnetzwerk,meint Windolf, lässt sich deshalb als Indiz dafür inter-pretieren, dass aufgrund der Kontrollchancen auch dieMöglichkeiten der Kooperation rationaler Egoisten inDeutschland ausgeprägter waren als in den USA.

Dies alles ist nicht nur Geschichte. Denn die historischenEntwicklungslinien – die Stärkung eines angelsächsi-schen Konkurrenz-Kapitalismus auf der einen Seite unddie kontinentaleuropäische Entwicklung eines organi-sierten Kapitalismus auf der anderen – lassen sich bis indie Gegenwart verfolgen. Die Differenzen zwischen denbeiden Systemen sind bis kurz vor der Jahrtausend-wende relativ stabil geblieben. Erst danach beginnt dieDeutschland AG deutlich auseinander zu bröckeln.

Kann man aus der Geschichte etwas darüber ableiten,inwiefern die relativ losen Strukturen eines Netzwerkestatsächlich in der Lage sind, eine soziale Ordnung undgemeinsame Normen zu stärken? „Der PolitiktheoretikerMichael Taylor von der University of Washington“, holtPaul Windolf aus, „stellt in seinem Buch ,Community,Anarchy and Liberty’ die Frage: Wie ist soziale Ordnungohne Staat möglich? Er kommt dabei zu folgenden Ant-worten: Eine Gemeinschaft muss aus Mitgliedern beste-hen, die sich ständig sehen und die sich persönlichkennen. Außerdem ist es notwendig, dass innerhalb derGemeinschaft ein Konsens über grundlegende Werteherrscht. Meiner Ansicht nach sind einige dieser Voraus-setzungen zur Aufrechterhaltung sozialer Ordnungohne staatliche Hilfe in den Netzwerken gegeben –zumindest für Deutschland.“ Aber ist dieses Bild auch auf andere Formen von Netz-werken übertragbar – etwa auf Zusammenschlüsse vonglobal agierenden Konzernen unter der Leitidee dergesellschaftlichen Verantwortung wie etwa die UN-Initiative „Global Compact“, deren Mitglieder sich aufeinen freiwilligen Verhaltenskodex verpflichtet haben?„Ich glaube nicht“, sagt Paul Windolf, „dass das Konzepteines Netzwerkes, welches durch Mittel der Selbstkon-trolle quasi-staatliche Funktionen übernimmt, auf globa-ler Ebene auch noch funktioniert. Zum einen sehen sichdie Mitglieder einer solchen Gemeinschaft seltener undstehen sich persönlich nicht besonders nahe. Zum ande-ren fehlt aber auch die Anbindung an eine gesetzlicheVerpflichtung. Aufsichtsräte haben ja die gesetzliche

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Aufgabe, das Unternehmen zu kontrollieren. Das darfman nicht übersehen.“ Die Geschichte des organisierten Kapitalismus tangiertauch eine andere aktuelle Debatte: jene über die Spielar-ten des Kapitalismus, die der amerikanische PolitologePeter Hall, der im Jahr 2003/2004 Fellow des Wissen-schaftskollegs war, durch einen Sammelband angeregthatte, den er gemeinsam mit seinem Kollegen DavidSoskice herausgab. In jüngeren Untersuchungen hatPeter Hall gezeigt, dass koordinierte, organisierte Märk-te, wie sie sich typischerweise in Kontinentaleuropa fin-den, durchaus die Konkurrenz mit liberalen Systemenangelsächsischer Prägung aufnehmen können – wennnur das System aus Finanzmarkt, Arbeitspolitik, Bil-dung und Wirtschaftsgesetzen in sich kohärent struktu-riert ist. Selbst wenn es Wirtschaftsforschern wie Peter Hall inletzter Zeit gelungen ist, die Wettbewerbsfähigkeit desoftmals als unwirtschaftlich geschmähten organisiertenKapitalismus im Rückblick zu belegen: eine Zukunft,glaubt Paul Windolf, wird dem organisierten Kapitalis-mus nur dann beschieden sein, wenn es ihm gelingenwird, sich auch im größeren Maßstab auf europäischerEbene fortzusetzen – als eine „Europa AG“ sozusagen,die mittels grenzüberschreitender Firmenzusammen-schlüsse, transnationaler Anteilseignerschaft und Über-kreuz-Besetzungen im Vorstandspersonal dem anglo-amerikanischen Wettbewerbskapitalismus die Stirn bie-tet. Ist das ein realistischer Ausblick? „Schon,“ meintPaul Windolf. „Aber mit einem Fragezeichen versehen.“

Paul Windolf

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Ralf Grötker: In Berichten über neue Entwicklungen inder Krebsforschung fällt vor allem der Optimismus unddie Aufbruchstimmung auf, die von Wissenschaftlernverbreitet werden. Verbunden damit ist allerdings dasEingeständnis, dass wir mit vielem immer noch ganz amAnfang stehen. Alle Aufmerksamkeit ist auf dieZukunft gerichtet. Wie stellt sich diese Situation jeman-dem dar, der als Historiker auf die Geschichte des Brust-krebses zurückblickt?

Robert A. Aronowitz: In meinem Institut an der Univer-sity of Pennsylvania hängt ein Gemälde aus dem Jahr1889. Man sieht darauf, wie der berühmte Chirurg Hayes

Agnew im Hörsaal, vor ver-sammeltem Publikum, eineBrustoperation leitet, bei derein Tumor entfernt wird. Alsein Heldenporträt war dasgedacht! Aber die traurigeWahrheit ist, dass selbst einso erfolgreicher und gefrag-ter Arzt wie Agnew damalseingestehen musste, keinen

einzigen Krankheitsfall zu kennen, wo sich der Tumor-verdacht bestätigt hatte und bei dem die Patientin durcheine Operation geheilt werden konnte. Manchmal operierte man einfach, weil ein Brusttumoreine schmerzhafte, unansehnlich wuchernde Masse war,die die Patientinnen entfernt wissen wollten. Meist abergeschah der chirurgische Eingriff in der Hoffnung dar-auf, damit das Leben der Patientin zu verlängern. Obdas tatsächlich zutraf, wusste man jedoch überhauptnicht. Statt auf messbare medizinische Erfolge stütztesich die Bekämpfung des Brustkrebses eher auf Verspre-chungen, die man sich von der Chirurgie oder anderenBehandlungsmethoden machte. Und genau dieses Phä-nomen setzt sich von den Kampagnen zur Früherken-nung bei Krebsverdacht, die in den 1920er Jahrenbegannen, bis zu den routinemäßigen Vorsorgeuntersu-chungen der Gegenwart fort.

RG: Bis in die 1840er Jahre, schreiben Sie, hat man Brust-operationen noch ohne Betäubung durchgeführt – beiden Patienten zuhause, in der Küche oder im Wohnzim-mer. Heute wird ein solcher Eingriff viel schonenderund gezielter vorgenommen. Außerdem haben wir die

Behandlung auf Verdacht

Robert A. Aronowitz, Internist und Medizinhistoriker, arbeitet an einem Buch mit demTitel „Unnatural History: Breast Cancer, Risk, and American Society“ Fellow 2005/2006

Interview: Ralf Grötker

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Chemotherapie und neue Medikamente, welche selektivgegen tumorspezifische Eigenschaften von Zellen vorge-hen. Ist das alles nicht ein gewaltiger Fortschritt?

RAA: In vielen Bereichen stehen wir heute nicht so vielbesser da als damals. Trotz nunmehr rund hundert Jah-ren an Gesundheitskampagnen, die zuerst darauf ziel-ten, dass Frauen Krebs frühzeitig selbst erkennenlernten und später Mammographie zur Routine-Vorsor-ge erhoben, hat sich das Sterberisiko kaum verändert.Wenn man die über die Jahre höher gewordene Lebens-erwartung mit einberechnet, ist die Zahl der Brustkrebs-opfer in den USA bis in die 90er Jahre hinein stabilgeblieben. Erst seitdem beobachten wir einen leichtenRückgang, der vielleicht auf den vermehrten Einsatzvon Hormontherapie zurückzuführen ist oder aufaggressivere Behandlungsmethoden zu einem frühenZeitpunkt der Erkrankung. Was allerdings erklärungs-bedürftig bleibt, ist die Tatsache, dass sich all die Jahrezuvor das Sterberisiko nicht veränderte, die Anzahl derregistrierten Brustkrebsfälle jedoch stark anstieg.

RG: Wie geht das zusammen?

RAA: Eine Erklärung dafür wäre, dass unsere medizini-schen Bemühungen um Vorsorge und Behandlung soeben mit der sich immer weiter ausbreitenden Krank-heit Schritt halten. Aber ich bezweifle, dass dies wirklichso zutrifft, obwohl es sowohl Fortschritte in denBehandlungsmethoden wie auch wahrscheinlich einen

Anstieg von „echten“, d.h. lebensbedrohlichen Krebsfäl-len, gegeben hat. Eine Erklärung für das Phänomenwäre, dass die Praxis der Vorsorgeuntersuchungen undauch die sich wandelnden Definitionen der Krankheituns dahin geführt haben, immer mehr und mehr Fällevon Brustkrebs aufzuspüren und zu behandeln, die,wären sie unerkannt geblieben, keinen Schaden ange-richtet hätten.Aber mich interessiert eigentlich etwas anderes. Dermedizinische Fortschritt – oder sein Ausbleiben – istlediglich eine Seite der ganzen Geschichte. In welcherWeise haben Millionen von Frauen ihre Gewohnheitenverändert? Wie also wurde eine kaum sichtbare Krank-heit, über die man nicht sprach, und mit der betroffeneFrauen weitgehend allein gelassen waren, zu einer Mas-senkrankheit und zu einem zentralen Thema derGesundheitspolitik? Dabei sind über die vielen Jahrehinweg einige wesentliche Grundmuster unseresUmgangs mit Brustkrebs gleich geblieben. Ein histori-sches Beispiel für ein solches Muster ist Susan Emlen,eine der Patientinnen, deren Schicksal ich in meinemBuch beschreibe. Emlen bemerkt 1813 einen Knoten inihrer Brust und stirbt letztendlich 1819 an „Krebs in derBrust“– so nannte man das damals. Sie verbringt einganzes Jahr damit, von Arzt zu Arzt zu gehen und sichverschiedenen Behandlungen zu unterziehen, bis sie sichzu einer Operation entschließt. Nicht, dass sie am Endeüber bessere Informationen verfügt. Sie entscheidet sichletztendlich zu einer Brustamputation, die ohne Narkose,in ihren eigenen vier Wänden, von ihrem Schwager,

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einem Chirurgen, durchgeführt wird. Wie die meistenseiner Kollegen zu dieser Zeit ist er sehr pessimistisch,was die Möglichkeit einer Heilung durch den operativenEingriff betrifft. Aber Emlen sagt sich: „Ich kann umvieles beruhigter meinem Ende entgegensehen, wennich weiß, dass ich alles getan habe, was möglich ist.“Antizipiertes Bedauern: das ist auch heute noch einwichtiger Grund, weshalb sich jemand für eine Behand-lung entscheidet – egal, was man über deren Wirksam-keit weiß.

RG: Wie hat sich denn die Krankheit selbst in den letz-ten hundertfünfzig Jahren verändert? Und was wissenwir heute über Brustkrebs, was man damals nicht wusste?

RAA: Zweifelsohne haben sich soziale Faktoren daraufausgewirkt, wie häufig Frauen an Brustkrebs erkran-ken. Bessere Lebensbedingungen und gesündereErnährung haben dazu geführt, dass Frauen ihre Regel-blutung in immer jüngerem Alter bekommen und dieWechseljahre immer später einsetzen. Dazu kommt derEinsatz von Verhütungsmitteln, der dazu geführt hat,dass Frauen später und weniger Kinder bekommen. Alldies hat zur Folge, dass Frauen in ihrem Leben mehrMenstruationszyklen durchlaufen, bei denen die Brustwächst und Milch produziert. Und bei jedem Menstrua-tionszyklus gibt es ein gewisses Risiko für einen geneti-schen Fehler, eine Zellveränderung, die dann zu Krebsführen kann. In meiner Arbeit erforsche ich jedoch weniger soziale

Faktoren dieser Art, sondern vielmehr, wie sich dieKrankheit selbst im Lichte des jeweiligen medizinischenWissens verändert hat. Für Susan Emlen war Krebsnoch ein unschön aussehendes Ding auf der Körperober-fläche. Eine makroskopische Krankheit, die chirurgischbehandelt wurde – und die man nicht aus dem Standheraus diagnostizieren konnte. Erst wenn eine Patientindie Jahre nach einer Tumordiagnose überlebte, wussteman, dass sie nie Brustkrebs gehabt hatte. Heute definie-ren wir Krebs anhand zellulärer und sogar biochemi-scher, hormoneller Merkmale. Wir verstehen ihn heutenicht mehr notwendigerweise als eine Krankheit, die perdefinitionem zum Tod führen muss. Ohne ein Relativist sein zu wollen: Ich meine, dass dieDefinition von Krebs ganz enorm abhängig ist vomjeweiligen Stand des Wissens und der medizinischenTechnik. Wir haben heute bessere Kriterien, um ad hoceine Prognose zu stellen, als vor einhundertfünfzig Jah-ren. Aber wir können einem Patienten immer nochnicht verlässlich die Zukunft vorhersagen.

RG: Ja, die Technik verändert sich. Wir lernen immermehr dazu. Vielleicht müssen wir manches, was wirheute für gewiss halten, in Zukunft wieder revidieren.Heißt das nun auch, dass unser gegenwärtiges medizini-sches und biologisches Wissen uns keine solide Grundlagedafür bietet, Entscheidungen über Behandlungsverfah-ren von Brustkrebs zu treffen?

RAA: Vor vierzig Jahren hat man in den USA begonnen,

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den Erfolg von routinemäßigen Vorsorgeuntersuchun-gen zu messen. Vorsorge allein rettet natürlich nieman-dem das Leben. Wichtig ist, was folgt. Aber dennoch:Die Studie zeigte, dass Vorsorge lediglich in der Gruppevon Frauen über fünfzig zu einer Reduktion der durchKrebs verursachten Todesfälle führte. Man wartete dieErgebnisse dieser Studie aber gar nicht ab. Auf Druckder Regierung und der American Cancer Society wurdedie Vorsorge zur Routine erhoben, ohne dass deren Nut-zen erwiesen war. Studien dieser Art sind im übrigen voll von Stolperfal-len. Erst zeigten die Untersuchungen zum Beispiel, dassFrauen, die zur Vorsorge gingen, tatsächlich länger zuleben schienen. Aber dann fand man heraus, dass sie nurzu einem früheren Zeitpunkt über ihre Krankheit infor-miert waren – ohne dass sich ihr Leben insgesamt ver-längerte. Aber das ist nur die Spitze eines Eisberges.Solche Effekte gibt es zuhauf, und sie treten immer wie-der auf. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich bin überhauptnicht insgesamt gegen Kontrolluntersuchungen und diesogenannte Evidence Based Medicine. Wir haben damitzum Beispiel herausgefunden, dass Hormonersatz, ent-gegen der eine Zeit lang verbreiteten Meinung von Ärz-ten, Herzkrankheiten nicht vorbeugt, sondern imGegenteil Herzleiden und sogar Brustkrebs verursacht.Aber Evidence Based Medicine hat einfach ihre Gren-zen. Oft sind wir gezwungen, ein provisorisches Urteilzu fällen, welches sich auf eher soziologische Gründestützt, wie etwa Überlegungen dazu, wer bei der Ein-

führung bestimmter Methoden etwas gewinnt und werdabei etwas verliert.

RG: Wie stellt sich nun auf der anderen Seite die Situati-on für den einzelnen Patienten oder den Arzt dar? Wiekönnen sie zu einer Entscheidung gelangen?

RAA: Das meiste, was ich Ihnen eben erzählt habe,bezieht sich auf den epidemiologischen Nutzen vonKrebsvorsorge – darauf also, wie sich die Sache fürjemanden darstellt, der gesundheitspolitische Entschei-dungen für eine große Gruppe von Menschen trifft. Ausder Sicht des Einzelnen stellt sich das oft ganz andersdar. Kurz gesagt, die Notwendigkeit, individuelle Ver-anlagungen und Eigenarten zu berücksichtigen, ist indiesem Kontext zentral. Nehmen Sie zum Beispiel diesen Fall: Zwei Männerhaben Darmkrebs im gleichen Stadium. Der eineTumor ist vermutlich erst vor kurzem entstanden. Dasvermutet man, weil der Mann sich regelmäßig hat unter-suchen lassen. Der andere Tumor ist wahrscheinlichschon älter. Alles deutet darauf hin, dass die beidenTumoren unterschiedlich schnell wachsen. Für dieBehandlung sollte dieser Unterschied relevant sein.Denn es gibt Tumore, die, wenn sie nicht entfernt wer-den, nie lebensbedrohlich werden. Aber nach den Stan-dardprognosekriterien werden beide Fälle trotzdem indie gleiche Risikoklasse eingestuft.

RG: Kann man solche Probleme nicht einfach lösen,

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indem man bessere Verfahren der Einstufung ent-wickelt?

RAA: Das Problem liegt nicht nur in der Begrenztheitder vorhandenen Technologie oder in der Effizienzge-triebenheit der Medizin. Und auch nicht darin, dassÄrzte nicht eingehend genug mit ihren Patienten redenoder nicht sensibel genug sind für die Besonderheitendes individuellen Patienten. Ich meine vielmehr, dassein Teil unserer Probleme – und das ist jener Teil, mitdem ich mich als Historiker befasse – damit zusammen-hängt, wie medizinisches Wissen erzeugt und kommu-niziert wird.Es gibt zum Beispiel bereits seit der Antike einen Streitdarüber, ob eine Krankheit sozusagen für sich existiert,als eigene Wesenheit, oder bloß in der jeweiligen Aus-formung am Patienten. Ich glaube, beide Sichtweisenhaben ihre Berechtigung. Sie passen nur je zu verschie-denen Krankheiten. Dementsprechend war auch zuunterschiedlichen Zeiten die eine oder die andere derbeiden Sichtweisen populärer – je nachdem, welcheKrankheiten gerade im Vordergrund standen. Die Auf-fassung von der Krankheit als für sich existierende Ent-ität wird zum Beispiel einer Krankheit wie der Pestgerecht, mit einem eindeutigen Krankheitsbild undeinem bestimmten Erreger. Die andere Konzeptionpasst auf die chronischen, oft schwer diagnostizierbarenund im weiteren Verlauf kaum eindeutig zu prognosti-zierenden Krankheiten, mit denen wir es heute zu tunhaben.

RG: Inwiefern könnte so etwas für einen Arzt oder fürden Patienten interessant sein?

RAA: Schmerzen und Leiden, denen mit keiner der vor-handenen Diagnosen beizukommen ist, wird es immergeben. Wenn aber das Modell einer Krankheit als eigen-ständige Wesenheit, die wie ein Keim existiert, als daseinzig medizinisch seriöse dargestellt wird, dann sindPatienten, die an einer jener eher undefinierbarenKrankheiten leiden, dazu verdammt, immer weiternach der Ursache ihres Leidens zu suchen – meist verge-bens. Wenn diese Patienten sich klar machen würden,dass ihre Krankheit ebenso legitim als ihre höchstper-sönliche Krankheit betrachtet werden kann, würden sieihre Kräfte vielleicht nicht so sehr bei der Suche nacheiner letztgültigen Diagnose verschwenden. Auch bei Brustkrebs spielen Idiosynkrasien dieser Arteine Rolle. Mit jeder neuen Generation der Medizinhaben Ärzte und Patienten neu entdeckt, wie verschie-den Prognosen ausfallen können und wie schwierig es ist,anhand der physischen Merkmale eines Tumors Aussa-gen über zukünftiges Befinden zu machen. Irgendwanneinmal werden wir vielleicht bessere Testverfahrenhaben und Möglichkeiten, versteckte Metastasen sicht-bar zu machen. Aber ich bezweifle, dass wir das Pro-blem der Idiosnykrasie jemals vollständig loswerdenkönnen.

RG: Trotzdem interessiert es mich als Patient aber doch,wie meine Situation sich darstellt, wenn man sie mit der

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von anderen vergleicht. Ich möchte doch wissen, wiegroß mein Risiko ist zu erkranken – oder wie großmeine Chancen sind, erfolgreich behandelt zu werden.

RAA: Wenn jemand an Krebs erkrankt ist und eineschwierige Entscheidung über Behandlungsmethodentreffen muss, sind Wahrscheinlichkeitszahlen für ihnmanchmal nur bedingt von Nutzen. Eine Entschei-dungsstrategie, mit der man über viele Spielrunden hin-weg den größten Gewinn erzielt, muss nicht unbedingtdie gleiche sein, die jemand wählt, der nur eine begrenz-te Anzahl von Runden zu spielen hat. Aus diesemGrund spielen Menschen Lotto. Auch wenn sie wissen,dass sich das Spiel auf lange Sicht betrachtet nicht rech-net, hoffen sie darauf, das eine Mal schlichtweg Glückzu haben. Brustkrebspatienten befinden sich manchmalin einer ähnlichen Situation. Wenn es irgendeinen Weggibt, der ihnen auch nur einen Funken Hoffnung ver-spricht, dann wählen sie ihn vielleicht. Aus diesemGrund ist das, was aus epidemiologischer Sicht sinnvollist, nicht immer das gleiche, was für den Einzelnen inder Situation angemessen ist.

RG: Genau um diesem Sachverhalt gerecht zu werden,hat man doch das Instrument der „informierten Ent-scheidung“ eingeführt: Patienten entscheiden aufgrundder Kenntnis ihrer persönlichen Risiken selbst, ob siesich einem bestimmen Eingriff unterziehen wollen.

RAA: Die informierte Entscheidung ist eine sehr zwie-

spältige Angelegenheit. Oft gibt es in der Forschung eineKontroverse, die Datenlage ist unklar, und man be-schließt die Sache damit, dass man sagt: soll doch derPatient entscheiden. Aber sobald hier wirtschaftlicheInteressen von Pharmaunternehmen ins Spiel kommen,die etwa ein Präparat für eine bestimmte Behandlungs-methode oder ein Hormonersatzmittel herstellen,beginnt das problematisch zu werden. Allzu leicht kannhier Beeinflussung in der einen oder anderen Richtungstattfinden. Und außerdem: Warum soll der Laie eineEntscheidung treffen, wo nicht einmal der Experte sichdies zutraut? In solchen Fällen, meine ich, dass wir unse-re Unsicherheiten nicht dem Patienten anlasten sollten.

RG: In ihrem Buch beschreiben sie sehr ausführlich dieGeschichte von Rachel Carson, der Begründerin deramerikanischen Umweltbewegung. An ihrem Beispielkann man das, was Sie eben beschrieben haben, sehr gutnachvollziehen.

RAA: Rachel Carson glaubte, dass Umweltgifte undunsere moderne Lebensweise eine entscheidende Rollebei der Entstehung von Krebs spielen. Ihr Bild vom Kör-per und ihre Vorstellungen von Gesundheit waren eherganzheitlich. Und der Arzt, der sie behandelte, GeorgeCrile, war der seinerzeit bekannteste Krebs-Skeptiker.Crile warnte, dass die Krebsphobie mehr Leiden verur-sachen könne als die Krankheit selbst; er stellte diedamals verbreiteten Statistiken in Frage, sprach sichgegen Amputationen aus und befürwortete stattdessen

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„sanfte“ Behandlungsmethoden wie die Bestrahlung.Trotz allem endet die Geschichte so, dass Crile RachelCarson kurz vor ihrem Tod mit genau den Methodenbehandelt, die er eigentlich kritisiert. Er injiziert ihrsogar radioaktive Substanzen ins Hirn. Im Rückblickund für manche von Rachel Carsons damaligen Freun-den sahen diese medizinischen Entscheidungen aus wieFehler und wie ein Widerspruch zu dem, was sowohlCrile wie Carson im Privaten und in der Öffentlichkeitimmer wieder vertreten hatten. Diese ganze Geschichte ist nicht nur ein Beispiel dafür,wie jemand in einer verzweifelten Situation eine Wetteeingeht, bei der er aller Wahrscheinlichkeit nach nur ver-lieren kann. Sie zeigt auch, inwiefern Entscheidungenfür eine Behandlungsmethode symbolische Bedeutunghaben können. Sich für eine bestimmte Behandlung zu

entscheiden, kann die Hoffnung zu überleben aufrecht-erhalten und dem Patienten zeigen, dass die Ärzte ihnnoch nicht aufgegeben haben.

RG: Aber zeigt diese Geschichte nicht auch, wie schweres für den Einzelnen ist, sich den verbreiteten Praktikender Medizin zu widersetzen, auch wenn dies seinenAnschauungen noch so sehr widerspricht?

RAA: Nein. Ich würde auch nicht sagen, das RachelCarson einen Fehler gemacht hat. Ihre Geschichte unddie vieler anderer in meinem Buch machen mich, ebensowie meine eigene Erfahrung als Arzt, skeptisch hinsicht-lich der Idee des humanen Sterbens. Ich bin natürlichnicht gegen humanes Sterben. Aber man ignoriert dochleicht, dass es oft gute Gründe sind, welche Leute dazubringen, jene Entscheidungen zu treffen, die im nach-hinein falsch aussehen. Meiner Ansicht nach sind Entscheidungen der Betreu-ung am Lebensende unter den heutigen Umständen ofttragisch und frustrierend, weil hier unterschiedlicheWerte im Spiel sind und miteinander konfligieren. Mankann dem Patienten gegenüber einfach nicht immer völ-lig aufrichtig sein oder das Prinzip des humanen Ster-bens verfolgen und gleichzeitig die Hoffnung aufsÜberleben bestärken.

RG: Welche gesundheitspolitischen Empfehlungenwürden Sie denn für die Behandlung von Brustkrebspa-tienten geben?

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RAA: Wenn wir der Medizingeschichte nicht so igno-rant gegenüberstünden und immer nur auf den Fort-schritt schauten, könnten wir uns einige Fehl-entscheidungen vielleicht ersparen. Insbesondere solltenwir von solchen Arten des Umgangs mit der Krankheitdie Finger lassen, welche Patienten nur übertriebenAngst machen – was dann weiter dazu führt, dass manaus einem Wunschdenken heraus die Wirksamkeit vonso genannter Vorsorge überschätzt und Vorsorgemetho-den voreilig bewirbt und zum Einsatz bringt. Eine andere, pragmatischere Überlegung wäre es, ein-zelnen betroffenen Patienten eine stärkere Stimme zuverleihen. Auf diese Weise könnte man auch Meinungenin die Diskussion mit aufnehmen, die ansonsten ehervon Kulturkritikern vertreten werden und die sich nurschlecht in die Sprache medizinischer Daten übersetzenlassen.Ich glaube aber davon abgesehen, dass Geschichte nichtnur wichtig ist, um irgend etwas daraus abzuleiten oderzu beweisen. Sie ist auch für sich genommen von Bedeu-tung. Deshalb schreibe ich an diesem Buch.

Robert A. Aronowitz

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Unsere Knochen und Muskeln sind für das lange re-gungslose Sitzen nicht gemacht. Das liegt an unserembiologischen Erbe. Denn Tiere sind, im Gegensatz zuPflanzen, auf organische Nahrung angewiesen, unddaher können es sich nur wenige Arten leisten, auf derStelle zu verharren und zu warten, bis etwas Essbaresvorbeigetrieben kommt. Alle anderen sind ständigunterwegs – auf der Jagd nach Beute oder auf der Suchenach einem Sexualpartner, auf der Flucht vor Feindenoder auf der Wanderung zu Brutplätzen. Tiere schwim-men, kriechen, laufen oder fliegen, und dazu setzen sieFlossen, Flügel, Dutzende von Beinpaaren oder gleichdie ganze Körperwand in Aktion.Die Frage, wie Bewegung in einem lebenden Organis-mus initiiert und gesteuert wird, treibt die menschlicheWissbegier schon seit der Antike an. EntscheidendeFortschritte wurden im 19. Jahrhundert erreicht, undzwar damals schon mit Hilfe der neuesten technischenErrungenschaften. Der französische TierphysiologeÉtienne-Jules Marey analysierte als einer der ersten mitHilfe der neuen fotografischen Technik die Gangart derTiere. Durch seine Versuche angeregt, gelang es dem

amerikanischen Fotografen Eadweard James Muybridgeim Jahr 1878, ein galoppierendes Pferd in einer Sequenzvon kurz hintereinander aufgenommenen Bildern auf-zunehmen und damit eine lang gehegte Vermutung zubeweisen, dass es nämlich beim Galopp eines Pferdeseine Phase gibt, in der keiner seiner Hufe den Bodenberührt. Und der entscheidende Impuls für die Er-klärung der Bewegungskontrolle kam schließlich vondem Physiologen Emil du Bois-Reymond, der die Bio-elektrizität in den Nerven der Muskulatur entdeckte.Seither hat sich die Bewegungsforschung zu einem leb-haften und schnell voranschreitenden Bereich der Biolo-gie entwickelt. Man darf annehmen, dass sie schon inihren Anfängen interdisziplinär angelegt war und auchimmer schon einen theoretischen Zugang wählen musste,wollte sie die Vielzahl der Beobachtungen und Messun-gen zu einer Erklärung zusammenführen. Ansgar Büschges und seine Kollegen Volker Dürr,Örjan Ekeberg und Keir G. Pearson – allesamt Speziali-sten für Fortbewegung – kamen im akademischen Jahr2001/2002 in der Schwerpunktgruppe „Neural Controlof Locomotion“ am Wissenschaftskolleg zusammen,

Vorbildliche Beinarbeit

Ansgar Büschges, Volker Dürr, Örjan Ekeberg und Keir Pearson simulieren neuronale Prozesse im Bewegungsapparat von Katzen und Heuschrecken Fellows 2001/2002

von Sonja Asal

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um die den Bewegungsabläufen zugrundeliegendenProzesse im Nervensystem zu analysieren. Dabei profi-tierte die Gruppe von ihrer interdisziplinären Zusam-mensetzung, in der sich biokybernetisches, verhaltens-biologisches und neurophysiologisches Wissen überWirbeltiere und Wirbellose vereinte.Anders als für Geisteswissenschaftler ist ein Aufenthaltam Wissenschaftskolleg für experimentell forschendeNaturwissenschaftler bisweilen sehr schwierig in ihrArbeitsprogramm einzubinden und deshalb oft beson-ders aufwendig in der Vorbereitung. Denn er bedeutetimmer, für einen längeren Zeitraum von den For-schungsmöglichkeiten des Labors abgeschnitten zu sein.Andererseits bietet er aber auch den Freiraum, künftigeForschungen konzeptionell vorzubereiten oder die inden Laborversuchen gewonnenen Daten theoretischauszuwerten. Dieser Arbeit widmete sich die „Locomo-tion-Gruppe“, und ihre Ergebnisse übertrafen, wieAnsgar Büschges und Volker Dürr betonen, ihreursprünglichen Erwartungen um ein Vielfaches.Das Forschungsziel bestand darin, die in jahrelangenLaborexperimenten gewonnenen Daten in eine dreidi-mensionale dynamische Computersimulation umzuset-zen. Dabei wächst sowohl die Detailkenntnis dereinzelnen Abläufe wie mit ihr auch die zur Verfügungstehende Datenmenge. Im Kölner Labor von AnsgarBüschges wird neben dem Flussneunauge, dessen neuro-nale Netzwerke zur Erzeugung von Fortbewegung diebislang bestdokumentierten aller Lebewesen sind, auchan der Stabheuschrecke geforscht, die wiederum für

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Büschges die nachgerade ideale Protagonistin für dieBewegungsforschung darstellt, da sie von der neurologi-schen bis zur verhaltensbiologischen Ebene ganz unter-schiedliche Zugangsweisen zu der komplexen Fort-bewegungsform des Laufens erlaubt. Generell, so erläutert Büschges, sind Bewegungsvorgän-ge zyklisch aufgebaut, wobei man beim Laufen eineStemm- und eine Schwingphase unterscheiden kann. Inder Stemmphase üben die Gliedmaßen Kraft auf dieUmgebung aus, um den Körper voranzubewegen. Inder Schwingphase werden sie dann in ihre Ausgangspo-sition zurückgebracht, von der aus der Zyklus vonneuem beginnt. Dabei werden abwechselnd antagonisti-sche Streck- und Beugemuskeln aktiviert. Während dieEntscheidung, sich überhaupt in Bewegung zu setzen,von höheren Zentren innerhalb des Nervensystems, alsoin der Regel dem Gehirn, ausgeht, werden die einzelnenBewegungselemente und ihre Koordination auf sehr vielniedrigeren Ebenen der nervösen Organisation durchrhythmische neuronale Muster gesteuert. Allerdingsmussten im Zuge weiterer Forschungen die Vorstellun-gen zur Erzeugung dieser automatisch ablaufendenMuster insofern modifiziert werden, als man nachwei-sen konnte, dass die Verarbeitung von sensorischenInformationen einen elementaren Beitrag zur Plastizitätund Flexibilität des Bewegungsapparates leistet, alsoetwa Informationen zur Position einzelner Knochenund Gelenke oder zu den auf einzelne Muskelgruppeneinwirkenden Kräften. „Vor allem die Arbeit von KeirPearson und seinem Labor“, unterstreicht Büschges,

„hat unser Wissen um die Rolle der sensorischen Rück-kopplung in den vergangenen zwanzig Jahren drama-tisch erweitert.“Am Ende aller dieser Laborversuche steht aber zunächsteines: eine riesige Menge an Daten. Daten, die durchAbleitung der Erregungszustände an jeweils einzelnenNeuronen gewonnen wurden, welche ihrerseits wieder-um unterschiedliche Muskelgruppen bestimmter Seg-mente steuern. Diese Daten lassen zwar eine ganzeMenge an Schlussfolgerungen zu, doch sind sowohl dieexperimentellen Spielräume als auch die Reichweite derHypothesenbildung im Hinblick auf komplexe Bewe-gungsabläufe sehr begrenzt. Schon bei einem einzigenInsektenbein, rechnet Ansgar Büschges vor, kontrollie-ren mehr als ein Dutzend Muskeln die vier größerenBeinsegmente. In vielen Fällen ist es daher gar nichtmehr möglich, die entdeckten Mechanismen experimen-tell zu überprüfen, um festzustellen, ob die gewählteBeschreibung hinreichend ist oder ob die Daten nichteine andere Schlussfolgerung nahe legen würden.„Solange man kein Modell formulieren kann,“ so VolkerDürrs Credo, „kann man sich nie sicher sein.“Die Frage, die sich der Gruppe zu Beginn ihres Aufent-haltes am Wissenschaftskolleg stellte, lautete also: Istmithilfe der vorliegenden Daten ein Modell des Schrei-tens möglich? Die Berliner Forschungsgruppe bot idealeVoraussetzungen, der Beantwortung dieser Frage nach-zugehen, denn in der Person Örjan Ekebergs stand denPhysiologen ein versierter Informatiker zur Seite, derüber jahrelange Erfahrungen in der Computersimulation

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verfügte. „Das ist vor allem bei der Konzeption der Pro-gramme von immenser Wichtigkeit“, unterstreichtVolker Dürr, „denn sie müssen so angelegt werden, dasssie jederzeit erweiterbar sind.“ Ekeberg gelang es vorallem, das bei den 900 vorliegenden Matrixelementenunvermeidliche „Rauschen“ mathematisch in den Griffzu bekommen, indem er sich auf dreißig Matrixelemen-te konzentrierte und die übrigen nur innerhalb engerToleranzen einbezog. „Geplant war zunächst“, soBüschges, „ein Mittelbein der Stabheuschrecke und einHinterbein der Katze im dreidimensionalen Modell zusimulieren.“ Am Ende hatten sie die Modelle eines vier-beinigen und eines sechsbeinigen Bewegungssystems mitjeweils einem dynamischen Beinpaar erstellt. Und dieLeistungen dieser Systeme übertrafen die Erwartungender Forscher erheblich. Allein aufgrund der vorliegen-den Daten wurde eine ganze Reihe von Mehrleistungengerechnet, denen keinerlei zuvor experimentell gewon-nene Daten zugrunde lagen. Lässt man etwa die Katzein der Simulation bergauf gehen, so errechnet das ent-wickelte Programm eigenständig veränderte Beugewin-kel und eine geringere Schrittlänge der Hinterbeine.Interessant war auch der Vergleich der Bewegungssyste-me von Katze und Heuschrecke, von denen man alleineschon aufgrund der großen Gewichtsdifferenz anneh-men konnte, dass sie sehr verschieden sein müssten.Aber auch hier eine Überraschung: die Systeme sind sichüber alle physiologischen Unterschiede hinweg ähnli-cher als angenommen.Der intensive Austausch der vier Forscher während ihrer

gemeinsamen Zeit als Fellows des Wissenschaftskollegsfindet seine Fortsetzung in einer kontinuierlichenZusammenarbeit und einem jährlichen Sommerwork-shop am Kolleg, bei dem Ergebnisse ausgetauscht undneue Forschungsziele formuliert werden. Durch die Ent-wicklung der ersten Modelle war es möglich geworden,systematischer herauszufinden, wo noch Wissenslückenbestanden, und das ursprüngliche Modell dann durchIntegration der auf gezielte Weise neu gewonnenenDaten weiter zu verfeinern. Hieran wird deutlich, wiedie Simulation zu einem integralen Bestandteil derArbeit wird, insofern sie als Schaltstelle zwischen Experi-ment und Hypothesenbildung tritt. Als nächstes steht beider Modellierung der Bewegungsabläufe nun die Fragean, welche neuronalen Mechanismen für die Koordinationder Beine untereinander verantwortlich sind.Mit ihrer Erfahrung in der Umsetzung experimentellgewonnener Daten in mathematische Algorithmen sinddie Biologen mittlerweile gefragte Partner von Ingeni-euren, deren Ziel in der mechanischen Nachbildung vonBewegungsabläufen besteht. Denn Androiden mit halb-wegs fließenden Bewegungen gibt es bislang nur inScience-Fiction-Filmen. Zwar können auch Laufma-schinen mittlerweile schon eine ganze Menge – beispiels-weise den Untergrund auf Unebenheiten abtasten undihre Bewegungen diesen Gegebenheiten anpassen. Abernach wie vor hat selbst die Stabheuschrecke ein größeresBewegungsrepertoire als jedes Artefakt. In „Tarry II“,einem sechsbeinigen Roboter, hatte man bereits die ausder Computersimulation gewonnenen Algorithmen in

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Bewegung umgesetzt. In einem aktuellen Projekt zu„Natur und Technik intelligenten Laufens“ sollen nungemeinsam mit Biomechanikern, Physikern und Ingeni-euren aus Jena und München die gewonnenen Erkennt-nisse an einem zweibeinigen Modell umgesetzt werden.„Lola“ soll noch in diesem Jahr den aufrechten Gangüben. Sie wird mit einer Vielzahl von Sensoren ausge-stattet werden, und ihre Gelenke werden nicht starr,sondern gefedert und gedämpft konstruiert, um aufdiese Weise Elastizität zu erhalten. „Wenn man die Ela-stizität des Muskelskelettystems nutzt“, erläutert Büsch-ges, „kann der neuronale Regelungsaufwand beispiels-weise beim Joggen im Vergleich zum einfachen Gehensogar noch reduziert werden.“Wahrscheinlich wird auch „Lola“ als eine Art „Simulationzweiter Ordnung“ die Fragen der Forscher wieder prä-zisieren helfen und zu neuen Experimenten Anlassgeben. Diese Wechselwirkung von Versuch und Modell,von theoretischer Erkenntnis und technologischerUmsetzung, stand auch schon am Anfang der Bewe-gungsforschung. Um die Bewegungen von Tieren ana-lysieren zu können, erfand Étienne-Jules Marey diesogenannte „chronofotografische Flinte“, einen Fotoap-parat, mit dem bis zu zwölf Aufnahmen pro Sekundemöglich waren und der so zum Urbild der Filmkamerawurde. Nicht nur Roboter, auch die Bilder lernten dasLaufen also schon mit Hilfe von Biologen.

Ansgar Büschges

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Der Kölner Dom, die Kathedrale vom Reims, das Straß-burger Münster: Gotik! Das ist einfach. Aber was habeneine turmhohe Schrottskulptur in den Berliner Frie-drichstadtpassagen, eine Spirale aus rissigem Lehm aufdem ansonsten makellosen Fußboden des Getty ResearchInstitute in Los Angeles und ein in der Gegend verteiltesEnsemble von Kunst-Früchten, die aus Obstschalen und-abfällen zusammengenäht sind, gemeinsam? Schrottplastiken, Erde-, Lehm- und Abfall-Kunst findetman in Einkaufspassagen und anderen halböffentlichenGebäuden überall auf der Welt. Das liegt nicht daran,

dass Investoren und Bauherren abstruse künstlerischeVorlieben haben. „Kunst aus Müll, gealterten Industrie-oder Naturstoffen wird gezielt eingesetzt, um ansonstengeschichtslose Orte mit Historizität zu patinieren“,erklärt die Kunsthistorikerin Monika Wagner. „In über-wachten Gefilden wie Einkaufspassagen und Unterhal-tungskomplexen haben diese Erzeugnisse, die derTradition der Arte Povera zugerechnet werden können,die Funktion, eine Illusion von Öffentlichkeit zu erzeu-gen.“ Der öffentliche Raum: das ist eine politische Utopie.Ein Ort, so fasste es der Ästhetiker und Parlamentarier

Städtische Räume als soziale Oberflächen

Monika Wagneruntersucht Taktilität und Optizität städtischer Räume Fellow 2005/2006

von Ralf Grötker

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von 1848, Theodor Vischer, zusammen, „der nicht nurjedermann zugänglich, sondern auch jedermann dien-lich“ ist. „Insofern“, ergänzt Monika Wagner, „ist erauch ein Begegnungs- und Versöhnungsort sozialerUnterschiede.“ Ihre ästhetische Entsprechung findetdiese politische Utopie in der Erwartung, die demöffentlichen Raum entgegengebracht wird. Es ist diestets mögliche Begegnung mit Unerwartetem, sogar einegewisse Unübersichtlichkeit, die das urbane Flair unddie Attraktivität „öffentlicher“ Plätze und Straßen aus-macht. In den abgeschlossenen Welten der ShoppingCenter sollen diese Elemente auf der symbolischenEbene durch Abfall-Kunst integriert werden. „Materialien als soziale Oberflächen“: So nennt MonikaWagner ihr kunsthistorisches Projekt. Für ihre Zeit amWissenschaftskolleg hat sie sich vorgenommen, diesesGrundkonzept nicht nur auf Kunst, sondern auch aufArchitektur anzuwenden. Anhand der exemplarischenBeschreibung von Räumen, die als „öffentlich“ konzi-piert wurden, untersucht sie, wie die unterschiedlicheGestaltung von Material und Oberfläche verschiedenepolitische Ideale der Sphäre des Öffentlichen zum Aus-druck bringt.Die Berliner Karl-Marx-Allee ist einer der Ausgangs-punkte ihres Unterfangens. Die Allee verbindet die öst-lichen Arbeiterviertel mit dem Stadtzentrum derehemaligen Hauptstadt der DDR. 1951 wurde die „erstesozialistische Straße“ als erstes großes Bauvorhaben desim selben Jahr ausgerufenen Nationalen Aufbaupro-gramms begonnen. In ihrer Monumentalität, so das ver-

breitete architekturhistorische Urteil, verkörpere dieAllee den zentralistischen, machtbewussten Staat. Selbstdie ornamentale Ausschmückung der Fassaden, dersogenannte Zuckerbäckerstil, wird gemeinhin nicht alsAuflockerung jener Monumentalität verstanden, son-dern als Geste der Referenz an Moskau.

Monika Wagner sieht das ein wenig anders. Die Karl-Marx- oder Stalin-Allee, wie sie früher hieß, sagt sie,verkörpert einen „taktilen Baustil“ – auch wenn dasdamals nicht so genannt wurde. Eine von zehnstöckigenKolossen gesäumte Straße, die als große Verkehrsachsegeplant wurde und als solche auch genutzt wird, ausge-rechnet mit dem Tastsinn in Verbindung zu bringen,scheint doch recht ungewöhnlich. Man muss schon denKopf in den Nacken legen und die Fassaden genauer

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betrachten, um diesem Gedanken folgen zu können.„Die Kacheln, die verschieden geformten Balkongelän-der, die Einlegearbeiten und Reliefs, die Gliederungendes Gebäudekomplexes, die Lisenen, die Kanelluren inden Travertinsäulen der Eingänge – solche Sachen sindes, die immerfort neue Plastizität schaffen“, erklärt

Monika Wagner. Oder, an den Eckgebäuden am Frank-furter Tor, „diese fast arabischen Ornamente über demSteinsockel, und – fast postmodern – diese wahnsinnigdünnen Säulchen in der Attika, und da drüber der soge-nannte laufende Hund, also eine griechische Ornament-form. Da wird der Wunsch, eine reiche Oberfläche zuschaffen, ganz deutlich.“Geschaffen wurde die Stalin-Allee als sozialistischerGegenentwurf zur im Osten als kapitalistisch deklarier-ten Architektur, die im Westen den Wiederaufbau präg-te und sich an der Architektur des Neuen Bauens ausden 1920er Jahren orientierte. In Berlin waren das dieHochhaussolitäre des Hansaviertels, der Breitscheid-platz am Bahnhof Zoo oder das Kulturforum am Pots-damer Platz. Als „optische“ Architektur bezeichnetMonika Wagner diese Art des Bauens, bei der Glas,

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Beton und geputzte Oberflächen großflächig zum Ein-satz kommen – eine stromlinienförmige Architektur, dieden gleitenden Blick des Betrachters, wie sie sagt, „wieeine gigantische Leitplanke“ aufnimmt. Über das Neue Sehen und das Optische als unterschätz-te Form spontaner Erkenntnis ist viel geschrieben wor-den in der großen Zeit des Neuen Bauens in den 1920erJahren. Es war die Zeit der beginnenden Automobilität,aber auch der Fotografie und vor allem des Films. FürArchitekten wie Gropius, die den Augensinn ausdrück-lich voranstellten, ging es auch um eine Strategie derAufwertung der eigenen Arbeit. „Denn traditionellwurde die Architektur in der Hierarchie der Künste,wie man sie beispielsweise bei Hegel findet, immer alseine ‚niedrige’ Kunst eingestuft, wegen der Gebunden-heit an ihre Materialität“, erklärt Monika Wagner.Indem nun die Architekten des Neuen Bauens began-nen, vor allem für das Auge zu entwerfen, versuchten siemit neuen Baumaterialien diese Bindung an das Materi-al optisch zu überwinden.Während die Kategorie des Optischen in der Kunst-und Wahrnehmungsgeschichte eine große Rolle spielt,ist sie eigentümlicherweise in der Architekturtheoriekaum verankert – ganz zu schweigen von Taktilität, diein Bezug auf die Architektur bislang wenig behandeltwurde. Die Stalin-Allee ist, wie der Alexanderplatz, nicht als„Tummelplatz für reiche Müßiggänger“ konzipiertworden, sondern als ein Ort „für die Muße des arbeiten-den Menschen“, schrieb der Ostberliner Chefarchitekt

Joachim Näther 1971. „Auch die ,Sechzehn Grundsätzedes Städtebaus der DDR’ von 1950“, erklärt MonikaWagner, „erwähnen in hoher Priorität, dass die soziali-stische Stadt für den Fußgänger geschaffen wurde.“ DerFußgänger, das ist nicht der Flaneur, sondern der„Demonstrant“: so bezeichnete man in der DDR dieTeilnehmer von Paraden und Umzügen. „Die Alleewurde nicht einfach für den Durchgangsverkehr konzi-piert, sondern als Aufmarschachse. Alles ist deshalb aufAbwechslung und Vielgliedrigkeit angelegt, nicht aufden visuellen Sog, der im Vorbeifahren entsteht.“

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Abgesehen von den figürlichen Darstellungen, die aufden Fassadenreliefs und auf Mosaiken in den Hausein-gängen zu sehen sind, verweist auch die Sprache der beimBau verwendeten Materialien auf das sozialistische Idealdes „arbeitenden Menschen“. Für dessen Bedürfnissewurde die Allee als öffent-licher Raum konzipiert .„Bei den Tonreliefs undschmiedeeisersernen Git-tern, den MeissenerKacheln an der Fassade,aber auch bei den Mosai-ken handelt es sich umErzeugnisse aus traditio-nellen Verfahren“, erläu-tert Monika Wagner –„auch wenn alle dieseDinge damals bereitsquasi-industriell herge-stellt wurden. Dies alles isteine zur Schau gestellteMaterialvielfalt. Reichsollte das erscheinen! Unddas wurde über das ange-zeigt, was den Reichtum in der Gesellschaft traditionellausmachte: die verschiedenen Handwerksberufe mitihrem Know-how. Das ist ganz anders als in der optischenArchitektur, wo Arbeit als individuelle Tätigkeit völligverschwindet und wo der funktionsbewusste Bau sich ander industriellen Produktion orientiert und die traditio-

nellen Gestaltungsmittel der Architektur verdrängt hat.“ Unter Bauhistorikern gibt es eine lange Debatte darüber,inwiefern Hermann Henselmann, der wichtigste Archi-tekt der Stalin-Allee, vom Regime gezwungen wordenwar, sich den Vorstellungen des „Sozialistischen Realis-

mus“ anzuschließen.Schließlich kam Hensel-mann ursprünglich ausder Tradition des NeuenBauens. Monika Wagneraber interessieren eher dieGründe dafür, warumdamals auf eine Weise ge-baut wurde, die sie „taktil“nennt – inwiefern Mate-rialien und Oberflächen,mit denen der öffentlicheRaum gestaltet wurde, alsSymptome gesellschaftli-cher Selbstbilder gelesenwerden können. In der Neugestaltung desAlexanderplatzes Mitteder 60er Jahre, sagt Moni-

ka Wagner, wurde das taktile Konzept unter veränder-ten Bedingungen beibehalten. Dort gab es, zumindestvor der Umgestaltung nach 1989, eine ebensolche Varia-tionsbreite der Oberflächentexturen wie in der Stalin-Allee – ganz anders als in den Entwürfen für dieNeugestaltung des Platzes in der Weimarer Zeit aus der

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Hand der modernen Architekten, die mit fließenden,für den fahrenden Blick geschaffenen Formen undtransparenten Fassaden einen Sehraum schaffen woll-ten, der den Betrachter optisch einschließt.Von der taktilen Gestaltung des Alexanderplatzes sindheute nur noch Reste zu sehen. Der „Brunnen der Völ-kerfreundschaft“, der sich über siebzehn sukzessivansteigende kupferne Wasserschalen in die Höheschraubt und in einem fünfzackigen Stern endet, war inder ursprünglichen Anlage der Höhepunkt einergroßen, in Spiralform konzipierten Fläche, die durchschmale Streifen aus Granitpflaster und farbig vonein-ander abgesetzten Waschbetonplatten zusammengesetztwurde. Eine Reihe von Bäumen und eine über alleMaßen lange Sitzbank setzten das Spiralmotiv fort. Heute ist die Architekturpolitik hier und auch anderswonicht durch die Gegensätze zwischen dem taktilen unddem optischen Bauen bestimmt, wie Monika Wagner siein Berlin exemplarisch nicht nur für die Architektur derNachkriegszeit, sondern als Symptom für Gesellschafts-strukturen in Industrienationen herauszuarbeiten ver-sucht. „Standortfaktoren, die Erzeugung von Singu-larität“, sagt Monika Wagner, „das spielt heute eineRolle. Und die Schaffung kontrollierter Zonen“ – Wel-ten aus Marmor, Granit und Glas, die sich nicht mitDarstellungen und Oberflächen schmücken, die auf diesozialistische Welt der Arbeit verweisen, sondern mitpatinierten Blechhaufen, Lehmgebilden und Abfallin-szenierungen.

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Oftmals ist es nur eine kleine Wendung des Blicks, dieeine ganz neue Perspektive erschließt. Zu jenen Wissen-schaftlern, deren Aufmerksamkeit nie ausschließlich aufdas gerade beackerte Forschungsfeld gerichtet ist, gehörtder Zürcher Zoologe Rüdiger Wehner. Das war schonam Anfang seiner Karriere so. Denn eigentlich wollte erEnde der sechziger Jahre das Sehvermögen der Bienenerforschen, und damit ein Thema seiner vor Jahresfristabgeschlossenen Doktorarbeit im Freiland vertiefen.Doch die Zeiten für Feldforschung orientieren sich nuneinmal am akademischen Kalender, und als Wehner in

den Winter-Semesterferien mit einem VW-Bus vollerGeräte an der Mittelmeerküste erschien, standen dortdie Mandel- und Orangenbäume in üppiger Blüte. DieBienen, angelockt vom betörenden Duft, interessiertensich nicht für Forschungsapparaturen. Wehner hinge-gen war sofort fasziniert von einer anderen Erschei-nung: einer schlanken, langbeinigen Wüstenameise, die– wie sich später herausstellen sollte – den klangvollengriechischen Namen Cataglyphis trägt. In weiten,gewundenen Läufen sucht sie nach Beute, kehrt jedochnachher schnurstracks zu ihrem Nest zurück.

Am Ariadnefaden der WüstenameiseRüdiger Wehner ist ein Pionier der Theoretischen Biologie.

Seine Forschungen führen ihn aus dem Zürcher Permanent Fellow Labor regelmäßig in die Wüsten Nordafrikas

von Sonja Asal

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Wehners Forschungen setzten bei einer verhaltensbiolo-gischen Frage an: Woher weiß die Ameise, wo ihr Aus-gangspunkt liegt, und vor allem, wie findet sie denkürzesten Weg dorthin? In den ariden Zonen, die siebewohnt, ist es überlebenswichtig, möglichst wenig Zeitaußerhalb des unterirdischen Nests an der Sonne zu ver-bringen. Cataglyphis besetzt hier eine ökologischeNische. „Unter allen Wüstenbewohnern“, erläutertRüdiger Wehner, „ist sie der einzige, der auch im Som-mer tagsüber auf Beutefang geht.“ Die nachtaktivenInsekten fallen der Tageshitze bei bis zu 70° C Boden-temperatur unweigerlich zum Opfer, wenn sie nichtrechtzeitig im Boden abtauchen. Ihre Kadaver werdendann von Cataglyphis, die mit einer enormen Hitzetole-ranz ausgestattet ist – mit dem besonderen Expressions-muster ihrer Hitzeschockgene, wie Wehner heute weiß–, auf langen Suchwegen gefunden und eingesammelt.Hunderte von Metern legen die kaum einen Zentimetergroßen Tiere dabei zurück. Auf menschliche Dimensio-nen bezogen, rechnet Rüdiger Wehner vor, würde dasbedeuten, nach einem mäandernden Lauf von etwa 50Kilometern durch strukturloses Gelände in weniger alseiner Sekunde Richtung und Entfernung zum Aus-gangspunkt angeben zu können. Menschliche Navigatoren verfügen dazu über einganzes Arsenal an technischen Hilfsmitteln: über Kom-pass und Landkarte auf festem Boden, über Sextant undkomplizierte Berechnungsmethoden in der unstruktu-rierten Weite des Meeres – und jüngst zu Wasser und zuLande über GPS-Satellitennavigation. Der Ameise steht

dagegen wenig mehr zur Verfügung als ein Paar Facet-tenaugen und ein Gehirn, das nicht mehr als 0,1 Milli-gramm auf die Waage bringt. „Damit besitzt sie“, soWehner, „nur ein Millionstel der Zahl an Nervenzellen,die wir in unserem Gehirn vermuten.“ Trotzdem kannsie ihren jeweiligen Aufenthaltsort relativ zum Aus-gangspunkt jederzeit genau bestimmen. Sie ist, wie esWehner gern bildhaft verdeutlicht, zu jedem Zeitpunktüber einen straff gespannten virtuellen Ariadnefadenmit dem Nest verbunden. Die Rechenoperation, die dazu erforderlich ist, könnteman als Vektornavigation bezeichnen, denn Cataglyphismuß die eingeschlagenen Richtungen und zurückgeleg-ten Distanzen zu einem einzigen Vektor integrieren.Hierzu benötigt die Ameise drei elementare Systeme:eine Art Kompass, einen Entfernungsmesser undschließlich ein Steuerungssystem, das die jeweiligenMessergebnisse verrechnet. Wie diese Komponentenfunktionieren, erforscht Wehner seit Ende der sechzigerJahre gemeinsam mit immer neuen Generationen vonDiplomanden und Doktoranden in seinem Labor inZürich ebenso wie an der von ihm begründeten Feldsta-tion im südlichen Tunesien. Dort finden auf einer miteinem weißen Raster überzogenen Salztonfläche Frei-landversuche statt, die dann in den Zürcher Laborräu-men computertechnisch ausgewertet und nachbereitetwerden und zu neurophysiologischen UntersuchungenAnlass geben.Wie der nobelpreisgekrönte Bienenforscher Karl Rittervon Frisch schon vor Mitte des vergangenen Jahrhun-

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derts zeigte, können Bienen das polarisierte Himmels-licht zur Orientierung verwenden. Doch wie das mög-lich ist, welche sinnesphysiologischen und neuro-biologischen Leistungen von Auge und Gehirn dabei imSpiel sind, blieb lange ein unbeackertes Forschungsfeld.Wehner entwickelte mit seinen Mitarbeitern neueMethoden, um für die Ameisen im Feld – etwa mit Kon-taktlinsen oder anderen optischen Instrumentarien – dasHimmelslicht zu verändern und aus den resultierendenNavigationsfehlern der Ameisen zu schließen, welcheMuster die Tiere wie am Himmel sehen. Dabei zeigtesich zum Beispiel, dass Cataglyphis das Himmelslichtnur im für uns unsichtbaren Ultraviolett-Bereich ver-wertet: eine, wie Wehner meint, „aus physikalischerSicht sehr sinnvolle Leistung der Evolution.“Noch hat Cataglyphis ihre Geheimnisse erst teilweisepreisgegeben. Denn der Kompass zeigt ihr ja nur dieRichtung des Heimwegs an. Um den Nesteingang zufinden, der nicht mehr ist als ein winziges Loch imWüstenboden, muss sie auch die Entfernungen messenkönnen, die sie zurückgelegt hat. Wie jüngste Experi-mente in Zusammenarbeit mit einer Ulmer Arbeits-gruppe ergeben haben, verfügen die Tiere über einenSchrittzähler, der natürlich konstante Schrittlängen vor-aussetzt. Auch diese Bedingung ist erfüllt, wie Hochfre-quenzaufnahmen an Ameisen zeigen, die in schmalenKanälen laufen. Beides, Richtungs- und Entfernungs-messung, gelingt Cataglyphis auch in hügeligemDünengelände. Zusammen mit Berliner Mitarbeiterngelang in Bergauf-Bergab-Kanalsystemen – von Weh-

ner scherzhaft Toblerone-Versuche genannt – der Nach-weis, dass die Tiere alle im dreidimensionalen Terrainzurückgelegten Wege auf die Ebene, also auf einen vir-tuellen zweidimensionalen Raum projizieren.Hier zeigt sich schon, wie Cataglyphis inzwischen zueinem neuroethologischen Modellsystem avanciert ist,an dem mehrere internationale Forschergruppen tätigsind. Andererseits arbeiten Wehners Cataglyphis-Dok-toranden, in alle Welt verstreut, heute auf den verschie-densten Gebieten der Neurobiologie. Zwölf von ihnenbekleiden Professuren in den USA, Deutschland undder Schweiz; und einer schlug eine akademische Lauf-bahn aus, um bei Novartis schließlich zum Head ofResearch and Development aufzusteigen.Rüdiger Wehner erzählt von „seiner“ Cataglyphis miteiner Begeisterung, die seine Faszination über ihreerstaunlichen Navigationsleistungen unmittelbar aufden Zuhörer überträgt. Im Mittelpunkt seiner For-schungen und Überlegungen steht immer der lebendeOrganismus in seiner natürlichen Umwelt. Daher wirktes ganz selbstverständlich, dass Wehner bei aller Vernet-zung mit näher oder weiter entfernten Disziplinen stetswieder auf die Wüstenameise Cataglyphis mit ihremnoch weitgehend unbekannten Artenspektrum zurück-kommt und dabei auch die Evolution dieser Ameisen inden Wüsten der Alten Welt ins Visier genommen hat.Dazu untersucht er die Cataglyphis-Formen mit mor-phometrischen und molekularbiologischen Methoden,kartiert ihre Verbreitungsgebiete anhand detaillierterProbenentnahmen in den Ländern Nordafrikas, des

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Nahen und Mittleren Ostens und hat dabei zusammenmit seiner Frau – einer seiner ersten Studentinnen undseither ständigen Mitarbeiterin in der „Cataglyphologie“– eine einzigartige Sammlung von Spezies-Exemplarenzusammengetragen, die er demnächst dem Forschungs-institut Senckenberg in Frankfurt am Main übergebenwill. Schließlich verdankt er seiner Faszination für dieelegante Wüstenschönheit, die ihn jahrzehntelang ihrenverschlungenen Wegen folgen ließ, den hochdotiertenMarcel-Benoist-Preis, die höchste Auszeichnung, die einWissenschaftler in der Schweiz erlangen kann. Dass dieAltwelt-Cataglyphis auch jenseits des Atlantik wahrge-nommen wird, zeigt seine jüngst erfolgte Wahl zumForeign Honorary Member der American Academy ofArts and Sciences und fürs kommende Jahr eine Gast-professur an der Harvard University.Aber bei aller Begeisterung für die Wüstenameisenwird auch deutlich, dass Wehner der Entschlüsselungihres Verhaltens und der ihm zugrunde liegenden neu-robiologischen Vorgänge nur deshalb um so vieles näherkommen konnte, weil er sich ihnen aus unterschiedli-chen, aber konvergierenden wissenschaftlichen Per-spektiven annähert. Das zeigt sich am Beispiel desAmeisenkompasses. Die verhaltensbiologischen Experi-mente im Feld machen nur einen Teil der Analyse aus.Sie werden im Zürcher Labor zunächst um neurophy-siologische und -anatomische Untersuchungen ergänzt,die unter anderem zeigten, dass Cataglyphis das polarisierte, ultraviolette Himmelslicht nur mit einemspeziellen Augenteil wahrnimmt, der über besondere

Fotorezeptoren verfügt, die wiederum auf spezielleNervenzellen mit riesigen Verzweigungsbäumengeschaltet sind und ihre Informationen an einen Satzvon Kompassneuronen weitergeben. Anhand derneuro- und verhaltensbiologischen Daten postulierteWehner, dass Cataglyphis nicht über einen ganzen„astronomischen Almanach“ verfügt, in dem alle mögli-chen Himmelsmuster mit allen möglichen Polarisati-onsrichtungen gespeichert sind, sondern dass sie hierganz anders vorgeht als beispielsweise Physiker sichdem Problem nähern. Hier beginnt allerdings ein Bereich, an dem die Grenzedes im neurobiologischen Experiment Nachweisbarenerreicht ist. Voraussagbar waren aufgrund der Erkennt-nis zwar die systematischen Navigationsfehler, die imFreilandversuch auftraten, wenn man den Tieren bei-spielsweise einen Teil des Lichtspektrums vorenthielt.

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Aber ob die neurobiologischen Prozesse tatsächlich soablaufen, wie verhaltensbiologisch postuliert, lässt sichnaturgemäß am Tier nicht vollständig auf allen Stufenelektrophysiologisch ableiten. Den Nachweis über dieGültigkeit der entwickelten Hypothesen hätte Wehneralso entweder schuldig bleiben müssen oder aber erbrin-gen müssen, indem er die neurobiologische Ebene prak-tisch übersprang. Für die tonangebenden Professoren inder Anfangszeit seiner Karriere, seine biokybernetischenGurus, an die er sich gern erinnert, war das ein Ding derUnmöglichkeit. Rüdiger Wehner dagegen tat sich mitInformatikern zusammen, simulierte die Erregungsab-läufe im Ameisenhirn am Computer und setzte diepostulierten Prinzipien schließlich in einem Roboter um.Das Gefährt heißt Sahabot, verfügt über drei Makro-Polarisationsanalysatoren und einen nachgeordnetenelektronischen Schaltplan, der den physiologischenDaten nachempfunden ist. Es ist faszinierend zu sehen,wie Sahabot als „autonomer Agent“ kompassgerichtetanhand des Polarisationsmusters am Himmel über denWüstenboden rollt. Das ist zwar noch nicht der Beweisdafür, dass das in den Roboter implantierte System demder Ameise voll entspricht, aber das multidisziplinärentwickelte Modell funktioniert zumindest. Rüdiger Wehner gehört zu den Pionieren einer biologi-schen Disziplin, die zwar heute immer noch nicht anallen biologischen Instituten fest verankert ist, sichjedoch - auch dank seines jahrelangen Engagements inForschungsgremien - zunehmend etabliert: der Theore-tischen Biologie. Wissensfortschritt, davon ist Wehner

überzeugt, kann nicht über eine ständige Vermehrungvon Beobachtungen, Messungen und der sich darausergebenden Flut von Daten und bedrucktem Papiererfolgen. „Solange nicht theoretische Konzepte neueWege weisen“, so Wehner, „dürfte auf vielen Gebietenvon einer weiteren Vermehrung der experimentellenDatenbasis kein Wissensfortschritt zu erwarten sein. Anmeinem eigenen Forschungsgebiet habe ich das hautnaherfahren.“ Mit anderen Worten heißt dies, dass neuewissenschaftliche Erkenntnisse über die Vielfalt biologi-scher Phänomene eines theoretischen Zugriffs bedürfen,der sich aus einer Öffnung gegenüber ihren Nachbardis-ziplinen ergibt.Neu ist diese Erkenntnis von der Notwendigkeit inter-disziplinären Herangehens nicht für jemanden, der sichwie Rüdiger Wehner auch eingehend mit der Geschichteseines eigenen Fachs beschäftigt. In der Wissenschafts-geschichte ist das Phänomen der „Modellübertragung“zwischen den Disziplinen seit langem bekannt. Einhistorisches Beispiel bietet der französische Physiokratund praktizierende Mediziner François Quesnay, der1736, bevor er sein berühmtes Modell des wirtschaftli-chen Kreislaufs von Geld und Waren entwickelte, einWerk über den Blutkreislauf und die Schädlichkeit desAderlasses verfasste. Hier stand eine medizinischeErkenntnis am Ursprung einer Theorie des menschli-chen Wirtschaftens. Umgekehrt bediente sich CharlesDarwin im folgenden Jahrhundert Einsichten derNationalökonomie, um daraus - und eben nicht allein,wie Rüdiger Wehner betont, aus seinem reichhaltigen

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Datenmaterial - die Grundprinzipien seiner Evolutions-theorie abzuleiten. Gegenwärtig stehen Verfahren derBioinformatik, der nicht-linearen Dynamik oder spiel-theoretischer Ansätze im Vordergrund des theoretischenDenkens. Aber, so warnt Wehner wieder: „Man musssich theoretisch stets an einem konkreten Problem dieZähne ausbeißen.“Wehners konkretes Problem heißt Cataglyphis, und dieFrage lautet: Wie kann ein so kleines Hirn derartschwierige Probleme lösen, wie sie die Navigation imkargen Wüstengelände stellt? Die Antwort kann nursein: durch eine Kombination relativ einfacher neurona-ler Netzwerke, von denen jedes evolutiv auf die Lösungeiner ganz speziellen Teilaufgabe angelegt ist. Hirnphy-siologische Untersuchungen der Schweizer Forscher-gruppe bestätigen diese Hypothese. Und Ver-haltensversuche wiederum zeigen im ständigen Ping-Pong-Spiel zwischen Feld- und Laborarbeit, dassCataglyphis je nach Bedarf einzelne Systeme mit ihrenin getrennten Gedächtnissen gespeicherten Informatio-nen aufrufen kann. Versagt zum Beispiel der Kompassund führt der Integrator nicht zum Ziel, kann sie sich ansignifikanten „Landmarken“ orientieren; fällt auch dieseMöglichkeit aus, kommt ein systematisches Suchpro-gramm zum Einsatz, das in seinem Rechenmodus ver-blüffend jenem gleicht, wie es die US Navy bei derSuche auf See verwendet. Die Fehlerhaftigkeit jedes ein-zelnen dieser Systeme wird durch die mögliche Kombi-nation aller drei auf ein Minimum reduziert. Komplexität, die Kombination einzelner Elemente zu

einem Ganzen, das leistungsfähiger ist als die Summeseiner Teile, gibt nicht nur eine Antwort auf die Funkti-onsweise eines Ameisenhirns. Komplexitätsphänomenehält Rüdiger Wehner „für die größte Herausforderungder gegenwärtigen Biologie“. Biologie gilt ihm nachge-rade als „Wissenschaft vom Komplexen“. In seinen jün-geren Arbeiten zieht Wehner die Parallele von derArbeitsweise des recht einfachen Insektengehirns zuhöheren Formen der Intelligenz. „Selbst im menschli-chen Großhirn“, erläutert Wehner im Gespräch über dieFunktionsweise menschlichen Denkens, „sind die ver-schiedenen Funktionen auf eine Vielzahl eng vernetzterAreale verteilt.“ Auch Vorgänge der Populationsgene-tik, der Ökologie und Evolutionsbiologie oder das faszi-nierende Funktionieren der Sozietäten höherer Insektenberuhen auf parallel ablaufenden und von keiner Zen-tralinstanz kontrollierten, aber in ihrer Gesamtheithöchst effektiven Prozessen. Diese Systeme im evoluti-ven Sinn „bottom-up“ in den Griff zu bekommen, ist fürRüdiger Wehner, den Sammler moderner Kunst undLiebhaber der mit minimalistisch-repetitiven Elementenspielenden Inszenierungen des Theaterregisseurs Chri-stoph Marthaler, nicht nur graue Theorie.

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Neben den rund 40 Fellows, die jedes Jahr ans Wissen-schaftskolleg berufen werden, prägen die PermanentFellows das wissenschaftliche Profil des Kollegs, reprä-sentieren seinen Anspruch und beraten neben demBeirat den Rektor bei der Berufung der „Jahres-Fellows“.Soweit sie am Wissenschaftskolleg arbeiten, gehen siewie die anderen Fellows ihren selbstgewählten For-schungsaufgaben nach.Rüdiger Wehner ist seit 1990Non-Resident Permanent Fellow. Er hat die Theoreti-sche Biologie am Kolleg initiiert, die inzwischen unterEinbeziehung der Medizin zu den TheoretischenLebenswissenschaften erweitert worden ist. Durch einekontinuierliche Reihe von Schwerpunkten in diesemThemenfeld hat das Wissenschaftskolleg seither wissen-schaftliche Anziehungskraft und Reputation gewonnenund verdankt dies Rüdiger Wehner.

Rüdiger Wehner

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Erleben wir eine „Wiederkehr der Religion“? Keinegrößere öffentliche Bekundung von religiösen Emotio-nen – zuletzt die überraschende Anteilnahme von Hun-derttausenden, vor allem auch junger Menschen an denFeierlichkeiten für den verstorbenen Papst – ohne dassdas Thema in allen Medien aufgeregt diskutiert würde.Stellt man dem Soziologen Hans Joas diese Frage, sowinkt er gelassen ab. „Das mag so scheinen“, meint derDirektor des Erfurter Max-Weber-Kollegs, „weil dieÖffentlichkeit ihre Aufmerksamkeit in den letzten Jah-ren verstärkt auf diesen Themenbereich richtet.“ Aber

Bücher mit diesem oder einem ähnlichen Titel, so Joas,seien auch schon vor zwanzig Jahren auf dem Marktgewesen. Tatsächlich waren die Religionen als Akteureim Bereich der Zivilgesellschaft nie verschwunden. JoséCasanova, der an der New Yorker New School for SocialResearch lehrt und sich seit Jahrzehnten in vergleichen-der Perspektive mit religionssoziologischen Fragestel-lungen beschäftigt, hat dies Mitte der neunziger Jahre ineiner grundlegenden Studie an den Beispielen nicht nurder USA und Brasiliens, sondern auch mehrerereuropäischer Länder nachgewiesen. Und der kanadische

Säkulare Moderne? Korrektur eines Selbstbilds

José Casanova, Hans Joas, Astrid Reuter und Charles Taylor gehen den verschiedenenFormen von Religion in modernen Gesellschaften nach Fellows 2005/2006

von Sonja Asal

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Philosoph Charles Taylor ergänzt diese Feststellungen:Wenn man durch eine säkularistische Brille schaue undkeine Religionen mehr wahrnehme, dann habe diesmöglicherweise wenig mit der tatsächlichen Vitalität derReligionen zu tun, aber sehr viel mit der gewählten Per-spektive. Gerade in westeuropäischen Staaten, und hiervor allem in Deutschland und Frankreich, herrscht inder Öffentlichkeit ein starkes säkulares Selbstbewusst-sein vor. Denn gerade in diesen Ländern mussten indivi-duelle Freiheitsrechte in der anbrechenden Moderne inmassiven Auseinandersetzungen gegen die religiös legiti-mierten politischen Mächte durchgesetzt werden. Allerdings lässt sich die Grenze zwischen politischerÖffentlichkeit und privater Religiosität auch in unserensäkularen Gesellschaften nicht absolut bestimmen. InFrankreich wurde vor einhundert Jahren mit dem heftigumkämpften Gesetz zur Trennung von Kirche und Staateine Demarkationslinie gezogen, an der es immer wiederzu Abgrenzungsschwierigkeiten kommt – zuletzt in derFrage, ob muslimische Schülerinnen im staatlichenSchulunterricht Kopftuch tragen dürfen. Bis zu wel-chem Punkt ist Religion Privatsache, und welche Formvon öffentlicher Artikulation wird ihr zugestanden?Gerade die Schule, so die ReligionswissenschaftlerinAstrid Reuter, bietet immer wieder Anlass zu solchenKlärungsversuchen, da sie auf der Schwelle zwischenstaatlichem und zivilgesellschaftlichem Bereich einenbesonders „religionssensitiven Raum“ darstellt. Dochauch innerhalb der bürgerlichen Öffentlichkeit beobach-tet die ebenfalls am Erfurter Max-Weber-Kolleg for-

schende Religionswissenschaftlerin in den letzten Jahreneine Veränderung im Umgang mit Religion. Zum Bei-spiel, wenn die „Tagesthemen“ -Moderatorin Anne Willin einem „Spiegel“-Interview darüber nachdenkt,warum sie in der katholischen Kirche bleibt: Politikeroder Prominente sprechen in zunehmendem Maßeöffentlich über ihre individuelle Haltung zur Religion.Nicht nur für Intellektuelle und Wissenschaftler gewinntdas Thema an Reiz, sondern auch für viele andere, dieder Religion gegenüber tendenziell distanziert sind: „Sieist“, wie es Astrid Reuter in zahlreichen Gesprächenerlebt hat, „niemandem wirklich gleichgültig.“Die vier Forscher gehen am Wissenschaftskolleg unterder thematischen Überschrift „Religion und Kontin-genz“ den Möglichkeiten und Formen von Religion ineiner modernen Welt nach. Ihnen schließen sich als Dis-kussionspartner in den regelmäßigen Gesprächsrundender Würzburger Rechtsphilosoph Horst Dreier und derZürcher Theologe und Philosoph Ingolf Dalferth an, diein diesem Jahr am Wissenschaftskolleg zu ähnlichenThemenbereichen forschen. Im Gegensatz zu naturwis-senschaftlichen Projekten, so erläutert der Initiator derSchwerpunktgruppe, Hans Joas, verfolgen die Mitglie-der dieser Arbeitsgruppe ihre gemeinsame Fragestellungin individuellen Forschungsvorhaben auf eine nicht-arbeitsteilige Weise. Gemeinsam ist den Beteiligten aller-dings die Überzeugung, dass die Entwicklung modernerGesellschaften nicht notwendig auf eine Situationzusteuern muss, in der die Religionen aus dem öffentli-chen Raum mehr oder minder verbannt sind. Das heißt

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nun nicht, dass sich diese Situation nicht in einigen Län-dern, vor allem in Westeuropa und den ehemaligen kom-munistischen Einflussgebieten, beobachten ließe. Geradeauf dem Gebiet der ehemaligen DDR ist der Anteil anPersonen, die Mitglied in einer Kirche sind, auf einemhistorischen Tiefstand. „Die fortschreitende, wenn auchhöchst ungleiche Säkularisierung Europas“, so José Casa-nova, „ist eine unbestreitbare Tatsache.“ Als fraglichbetrachten es die vier Wissenschaftler jedoch, ob die zuihrer Erklärung als selbstverständlich angenommenenund ungeprüft wiederholten Theorien diese Phänomenenicht in viel stärkerem Maße verschleiern, als dass sie zuihrem Verständnis beitragen würden. Die Säkularisierungstheorie, die seit dem 19. Jahrhun-dert von fast allen Sozialwissenschaftlern in unterschied-lichen Varianten vertreten wurde, besagt im Kern, dassdie Religionen mit fortschreitender Modernisierungnicht nur ihre Bedeutung für das politische Leben verlie-ren, sondern dass sie zu einer reinen Privatangelegenheitwürden und schließlich auf ihren endgültigen institutio-nellen Niedergang zusteuerten. Wenn man von dieserAnnahme ausgeht, dann müssen die öffentlichen Mani-festationen von Religiosität fast zwangsläufig schwererklärbar oder als Atavismen eines überholten Weltver-ständnisses erscheinen. Es sei denn, man unterzieht diezugrunde liegenden theoretischen Annahmen, nämlichden fraglosen Bedingungszusammenhang von Moderni-sierung und Säkularisierung, einer Überprüfung. Genau dies ist der Ansatz der vier Beteiligten. In ihrenProjekten arbeiten sie an alternativen Konzepten zur

Beschreibung der öffentlichen Rolle der Religion in derGegenwart. Einer unvoreingenommenen Beurteilungdieser Rolle von Religion stehen nach ihrer Erkenntnisvor allen Dingen normative Theorien der Modernisie-rung im Wege. Anstatt Moderne als einen einheitlichenund eindeutig zu identifizierenden Prozess vorauszuset-zen, bevorzugt es daher Hans Joas, sie als eine Gesamt-heit von unterschiedlichen und untereinander variablenTeilprozessen zu beschreiben, zu denen etwa zunehmen-de Bürokratisierung, Demokratisierung und Ökonomi-sierung gehören. „Es ist aber nicht gesagt“, so Joas, „dassalle diese Elemente in gleich starkem Maße verwirklichtsein müssen oder überhaupt in einer notwendigen Bezie-hung zueinander stehen.“ Schließlich gibt es genügendBeispiele für moderne Staaten, die weder demokratischnoch marktwirtschaftlich organisiert sind. Wenn mandiese an einem normativ aufgeladenen Begriff vonModerne misst, den sie nicht erfüllen können, bringtman sich in die Verlegenheit, unsere Gegenwart in„moderne“ und „unmoderne“ Phänomene aufspalten zumüssen, wodurch diese Unterscheidung selbst ganzoffensichtlich ad absurdum geführt wird. Die Fragekann also für Joas auch im Hinblick auf die Säkularisie-rung nicht heißen: Sind sämtliche Elemente diesesanspruchsvollen Begriffes von Moderne erfüllt? Sondernvielmehr: Wie verhält sie sich zu einem einzelnen dieserBereiche, also beispielsweise: Führt der zunehmendewirtschaftliche Wohlstand zu einer nachlassendenBedeutung der Religion?Dass dies nicht der Fall ist, lehrt ein Blick über den

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europäischen Tellerrand. Als erste Voraussetzung füreine differenzierte Betrachtung des Phänomens nennendie Wissenschaftler neben einer vergleichenden Heran-gehensweise eine global ausgerichtete Perspektive. „Eineurozentrischer Blick auf Religionsfragen“, so die Ein-schätzung von Hans Joas, „verstellt wichtige Erkenntnis-möglichkeiten.“ Er erläutert das am Beispiel dereuropäischen Expansion im 19. Jahrhundert, die miteiner intensiven Missionierung einherging. Die Auswir-kungen dieser Kolonialisierung waren gerade unterwirtschaftlichen und technischen Aspekten vielfältig.„Aber eines“, so Hans Joas, „trifft als Beschreibung fürsie gewiss nicht zu, nämlich der Begriff ‘Säkularisie-rung’.“ Vielmehr führten, im Gegensatz zur Situation inAfrika, in Asien sogar noch die christlichen Missionie-rungsversuche zu einer Stärkung der vorgefundenenreligiösen Identitäten in einigen missionierten Ländern,und die Innovationen, mit denen die christlichen Missio-nare ihren Glauben propagierten, etwa Buchdruck oderKirchenbau, revolutionierten dort letztendlich auchMedieneinsatz und Bautechnik der nichtchristlichenReligionen.Interessanterweise hat gerade die Situation in vielenaußereuropäischen Ländern, in denen trotz wirtschaftli-cher Modernisierungsschübe traditionelle Einstellungenzur Religion weiterhin eine starke Rolle spielen, zu einerErweiterung der Perspektiven beigetragen. Denn inAnbetracht der vielfältigen Richtungen, in die sich diereligiösen Ausdrucksformen in der jüngeren Geschichteentwickelten, wird deutlich, wie wenig der europäische

Prozess als Maßstab gelten kann und stattdessen viel-mehr in seiner Eigentümlichkeit betrachtet werden soll-te. Er begann, nach der These von Hans Joas, imFrankreich des 18. Jahrhunderts, als sich zum ersten Maleiner kleinen Elite die Option eröffnete, Unglaubenöffentlich zu formulieren. Diese Möglichkeit sollte im 19.Jahrhundert in Teilen der Arbeiterbewegung oder desliberalen Bürgertums zu einem Massenphänomen wer-den, bis dann in der zweiten Hälfte des zwanzigstenJahrhunderts diese Tendenz mit anderen Entwicklungender wirtschaftlichen Modernisierung zu einer Form desSäkularismus konvergierte, die keine aktive ideologischeEntscheidung mehr voraussetzte. Joas betrachtet in die-sem Zusammenhang bestimmte Tendenzen durchauskritisch, wie etwa die breite Rezeption des Marxismusmit seiner intensiven religionskritischen Orientierungoder eine Mythisierung der Aufklärung, die auch gegen-wärtig noch den Maßstab für ein angeblich zeitgemäßesund fortschrittliches Verhältnis zu religiösen Phänome-nen angibt. „Überraschend“, sagt auch José Casanova,„ist nicht der zunehmende Niedergang religiöser Bin-dungen in Europa, sondern die Tatsache, dass dieser Nie-dergang durch die Brille des Säkularisierungspara-digmas gesehen wird.“ Daher werde dieser Niedergangals „normal“ und „progressiv“ interpretiert, also als quasinatürliche Folge davon, ein „moderner“ und „aufgeklär-ter“ Europäer zu sein.Hinter dem Vorgang der Modernisierung sieht auchCharles Taylor keine „eiserne Notwendigkeit“ walten,sondern er benennt in der europäischen Entwicklung seit

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der beginnenden Reformation lediglich eine Anzahl vonKausalverhältnissen, welche zu einer Veränderung derindividuellen und kollektiven Einstellung gegenüber derReligion geführt haben. Gegenüber seinem bekanntenWerk „Quellen des Selbst“, in dem er eine Geschichte dermodernen Individualität entworfen hatte, bietet ihm die-ser Ansatz eine alternative Möglichkeit, die Entstehungund Entfaltung der Moderne zu schreiben. Eine abneh-mende Religiosität insgesamt bestreitet er. Gewiss seien,so Taylor, durch wirtschaftliche Veränderungen und derdaraus resultierenden sozialen Mobilität einige Formender Religiosität destabilisiert worden: insbesondere dieinstitutionalisierte Form der Religion, also die Kirchen.Mit diesem Befund trifft man aber nur einen Ausschnittaus einer Vielzahl von Transformationsprozessen, durchwelche sich Religion den Bedingungen der modernenWelt anpasst. Charles Taylor verwendet für diese Ent-wicklungen den Begriff der „recomposition“, den diefranzösische Religionssoziologin Danièle Hervieu-Légerprägte, um damit die Entstehung neuer Manifestations-weisen nach dem Zerfall überkommener Formen vonReligiosität zu beschreiben. Schon die Destabilisierung der frühmodernen Ordnung,in der Staats- und Kirchenzugehörigkeit praktisch nichtvoneinander zu trennen waren, führte zu einer vielgeringeren Privatisierung des Glaubens, als theoretischanzunehmen wäre. Im Gegenteil wird der Glaube, so dieThese Taylors, durch eine neue Form der Identifikationmit dem Staat sogar gestützt. Zwar wird die Wahl derKonfession innerhalb eines gewissen Rahmens freige-

stellt. Doch war es für viele Angehörige der christlichenGlaubensgemeinschaften üblich, die dort vermitteltenWerte wie Ordnung, Disziplin und Patriotismus mitdem Christentum gleichzusetzen. „Auf diese Weisesind“, wie Charles Taylor resümiert, „im Laufe derGeschichte konfessionelle Loyalitäten mit dem Iden-titätsgefühl bestimmter ethnischer, nationaler, sozialeroder regionaler Gruppen verwoben worden.“Allerdings wurde diese Form der Identitätsbildung inder westlichen Welt spätestens in den sechziger Jahrenbesonders nachhaltig unterbrochen, als durch die Revo-lution im Konsumbereich nicht nur ein allgemeinerSchub der Individualisierung und Privatisierung statt-fand, sondern sich auch die religiösen Erlebnisweltenentkonfessionalisierten und neue Formen suchten, seiendiese christlich-ökumenischer Art wie in Taizé oder seies die Suche nach spirituellen Quellen in außereuropäi-schen Religionen. „Das Spirituelle als solches aber“, soTaylor, „ist nicht mehr intrinsisch auf die Gesellschaftbezogen. Unser Verhältnis zum Spirituellen wird immerstärker von unserem Verhältnis zur politischen Gesell-schaft abgekoppelt.“Ob es je so weit kommen wird, dass das „post-durk-heim-ianische“ Modell seinen Vorgänger ganz ablöst,und ob das religiöse Leben jemals vollständig fragmen-tiert und individualisiert sein wird, hält Taylor für mehrals fraglich. Wahrscheinlich wird unser Verhältnis zumSakralen immer auf irgendeine Weise durch kollektiveInstanzen vermittelt sein. Aus einer rechtlichen Perspektive nähert sich Astrid

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Reuter aktuellen Religionskontroversen, die sie auch alsAuseinandersetzungen versteht, in denen moderneGesellschaften sich über ihre normativen Grundlagenund ihr Selbstverständnis Rechenschaft ablegen. Am Bei-spiel von Frankreich und Deutschland untersucht sie,wie Kontroversen über religiöse Fragen zunehmend„verrechtlichen“ oder genauer gesagt: vor Gericht ausge-handelt werden. Immer mehr wird ihrer Beobachtungzufolge das Gericht zur „Bühne“, auf der religiöse Kon-flikte im Vorfeld oder parallel zur notwendigen gesell-schaftlichen Diskussion ausgetragen werden. Ob es sichum das Schächten von Tieren handelt, das Kruzifix imKlassenzimmer oder das Kopftuchtragen an der Schule:zunehmend wird auf rechtlicher Ebene festgelegt, waseigentlich Gegenstand eines zivilgesellschaftlichen Aus-handelns sein müsste. Damit kommt dem Recht einedoppelte Funktion zu: es nimmt nicht nur gesellschaftli-che Vorstellungen auf, sondern prägt seinerseits diegesellschaftlichen Vorstellungen von Religion und dieBegriffe dessen, was an religiöser Äußerung in welchemRahmen gesellschaftlich akzeptiert wird oder nicht.Diese Situation entbehrt allerdings nicht einer gewissenIronie. Denn auf diese Weise greift der säkulare bzw. lai-zitäre Staat, der Religionsfreiheit garantieren will, in dasreligiöse Feld selbst ein.Es wird deutlich, dass dieser europäische Sonderwegnicht als Norm für die Beurteilung der Situation in derwestlichen Welt geeignet ist, wenn man ihn mit den Ver-einigten Staaten vergleicht. Dort haben nicht nur zivilre-ligiöse Gesten und Symbole ihren festen und

selbstverständlichen Platz im politischen Leben. Auchdie öffentlichen Bekenntnisse von Politikern, die inEuropa oft mit Befremden zur Kenntnis genommenwerden, werden dort eher als Anerkenntnis der legiti-men Rolle der Religion im öffentlichen Raum empfun-den. Die Religionen hatten, wie José Casanova erläutert,von Anfang an in der amerikanischen Einwanderungs-gesellschaft eine ganz andere Funktion als in Europa.Während in den europäischen Staaten am Ende vonjahrhundertelangen, von Verfolgung und religiösemBürgerkrieg geprägten Auseinandersetzungen nicht nurKirche und Staat zu einem neuen Verhältnis gefundenhatten, sondern die Bürger ihr religiöses Bekenntnis inder Öffentlichkeit meist für sich behielten, war die Situa-tion in der amerikanischen Einwanderungsgesellschaftgenau entgegengesetzt. Dort bildete die Zugehörigkeitzu einer Glaubensgemeinschaft oft das erste Erken-nungszeichen, um einen identifizierbaren Platz in deramerikanischen Gesellschaft zu finden. In dem histori-schen Prozess, innerhalb dessen die europäischen Ein-wanderergruppen zu einer Gesellschaft verschmolzen, soerläutert Casanova, entstand durch die Anerkennungsowohl der Verschiedenheit als auch der substanziellenGleichheit der Religionen ein interner gesellschaftlicherPluralismus. Die kollektiven religiösen Identitäten kon-kurrieren dabei untereinander auf einem relativ freienund pluralistischen Markt, was eine der Erklärungen fürdie religiöse Vitalität in den Vereinigten Staaten darstellt.Im Laufe der Geschichte erfuhren dann zunächst diekatholischen, jüdischen und die protestantischen Bekennt-

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nisse symbolische Anerkennung als Elemente der ameri-kanischen Zivilreligion. In welcher Form sich die ande-ren Weltreligionen in das Bild dieser nationalen Identitäteinfügen werden, wird in den kommenden Jahrzehntenspannend zu beobachten sein. Casanova hält den Islamfür den interessantesten Testfall und ist gleichzeitig opti-mistisch. Er beklagt zwar massive anti-islamische Reak-tionen evangelikaler Christen, die schon vor denAnschlägen des 11. Septembers einsetzten, stellt aberauch fest, dass neben den Vertretern der jüdisch-christli-chen Religionen auch regelmäßig muslimische Imame anöffentlichen Zeremonien in Washington beteiligt sind.Die Debatte darüber, ob der Islam mit Demokratie undmodernen individuellen Freiheiten vereinbar sei, weistfür Casanova auffallende Ähnlichkeiten mit den Vorbe-halten auf, auf die der Katholizismus noch bis in die fün-fziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts stieß. Er istallerdings davon überzeugt, dass diese Diskussionenschließlich dazu führen werden, die Tatsache anzuerken-nen, dass der Islam in den Vereinigten Staaten Wurzelngeschlagen hat und auf dem Wege zu einer wichtigenamerikanischen Religion ist, die in Zukunft eine relevan-te Rolle in der öffentlichen Meinungsbildung spielenwird.Während in den Vereinigten Staaten aber nur etwa zehnProzent der Einwanderer dem muslimischen Glaubenangehören, wie Casanova berichtet, sind in Europa„Immigration“ und „Islam“ nahezu Syonyme geworden.Die Abwehr gegenüber diesen Immigrantengruppendürfte seiner Ansicht nach viel mit dem säkularistischen

Selbstverständnis der europäischen Gesellschaften zu tunhaben, das in einen Druck zur Privatisierung der Religi-on mündet. „Europäische Gesellschaften“, so Casanova,„haben große Schwierigkeiten, die legitime Rolle derReligion im öffentlichen Leben und in der Organisationund Mobilisierung von Gruppenidentitäten anzuerken-nen.“ Daher würden muslimisch organisierte kollektiveIdentitäten zu einer Quelle der Angst – „nicht nur wegenihrer Andersartigkeit als einer nicht-christlichen Religi-on“, wie Casanova betont, sondern vor allem wegen ihrerReligiosität als solcher: „Denn sie ist das Andere dereuropäischen Säkularisiertheit.“

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v.l.n.r.: José Casanova, Astrid Reuter, Charles Taylor, Hans Joas, Ingolf Dalferth, Horst Dreier

Ein allgemeines Modell für den Umgang mit Religionwird sich allerdings wohl kaum finden lassen. Die Wis-senschaftler sind sich darüber einig, dass es nur regionalbegrenzte Lösungen geben kann. Wie der Kapitalismusin anderen Kulturen, in Japan oder China, eine eigeneForm herausbildet, so ist José Casanova überzeugt, wirdauch Religion in den verschiedenen Gesellschaften einejeweils eigene Gestalt annehmen. Alleine schon für dieislamische Welt, so Hans Joas, gibt es zwischen demsäkularen Modell der Türkei und einem Gottesstaatnach iranischem Vorbild eine ganze Fülle von unter-schiedlichen Wegen. Und Charles Taylor kommentiertdie aktuellen Debatten über einen globalen Zusammen-prall der Kulturen mit der nüchternen Feststellung: Manscheine offenbar nicht zu sehen, dass das Los unserereigenen Gesellschaften davon abhängt, dass wir mit denhier lebenden muslimischen Menschen über die Regelnunserer Koexistenz übereinkommen müssen.

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An apple can tell many stories. This one begins shortlyafter I arrived in Berlin last fall when the Cox Orangefirst appeared at the fruit stand on Westfälische Straße. Itwas, for me, an unexpected delight. I had never seen thedelicious Cox Orange for sale in a market, though it is anapple that I know and love because my family has grownthem on our small apple farm in the Santa Cruz moun-tains of California for many years. The Cox Orange is anold English apple, but it has been grown in Germany forseveral centuries and today it is one of Germany’s fivemost popular apples (along with the Boskoop, the Elstar,the Gravenstein and the Jonagold). As old and as Euro-pean as the Cox Orange may be, the ones on WestfälischeStrasse this year conjured home.Like Joan Didion, I have always thought of myself firstas a „Californian“; one of those rare ones, one who is dee-ply-rooted - in my case apple tree-rooted - in a region ofthe world that most people associate above all with root-lessness and the lure of exotic experimentation. Therewere very few Europeans in California when my great-grandfather – a veteran of the Civil War – walked alon-

gside a wagon train from Somerset, Ohio, over thePlains, the Great Rockies and the High Sierras to esta-blish his apple farm just south of San Francisco in thelate 1870s. And for three generations my family hasremained.During a convivial dinner one evening at the Wissen-schaftskolleg, my German table companions began toshare stories about their home towns. Herr Kleihuesabout his little village on the western plains outside ofMünster where his father was a Beamter, Frau Wagnerabout her tight little Huguenot community near Mar-burg and Herr Dalferth about his life as the son of aLutheran minister on the outskirts of Stuttgart. „Andwhere do you come from?“ they asked. I could only replythat I was about as American as one could be withoutbeing an indigenous person; a real European Mischlingwhose ancestors came from every corner of Europe:from the Mediterranean to the North Sea, the Atlantic tothe Danube. „But“, Herr Dalferth remarked, „yourname is German. Where did the Hesses come from?“ Irealized that I did not really know.

Letter from Berlin:How it took 175 years to get from Mitte to Grunewald

A Fellow traces the footsteps of her great-great-grandparents through Berlin

by Carla Hesse Fellow 2005/2006

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Historian that I am, I have had little interest in genealo-gy – it has been the big stories, not the little ones, thatmattered. Moreover, Germany in the twentieth centuryhad been so much a part of my husband’s family tragedythat I hardly gave the Hesses before 1860 much thought.But just out of curiosity, I decided that weekend to askmy eighty-year-old father if he knew. Here I was afterall. „So do you know where the Hesses came from?“ Iasked. „Yes,“ he said, „Berlin. Your great-great-grandfa-ther, Frederick August Hesse, who was born in 1801 anddied in 1882, lived at 47 Ackerstraße. He was apprenti-ced by his father to be a weaver, though family lore has ithe wanted to be a landscape gardener – fond of flowers.“This made sense, because Ackerstraße, like its neighborGärtnerstraße, are streets whose names reflect the skillsof the people who first settled them: the gardeners andfruit and vegetable growers that Frederick the Greatinvited from the surrounding countryside to landscapeand feed the burgeoning city on the Spree in the lateeighteenth century. Hesses were among them. FrederickAugust Hesse married Johanna Friederike WilhelmineKörner at the Sophienkirche on Große HamburgerStraße on March 28, 1822, and they left Berlin for Ame-rica in 1831, ultimately establishing a farm in Ohio.From there, my great-grandfather, Herman Hesse, wenton to California and grew apples – first the Gravenstein,and later the Cox Orange. So I discovered this year that Iam an Ur-Berlinerin. It took my family 175 years to tra-vel from Mitte to Grunewald, and they took the appleswith them.

Carla Hesse

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Bildnachweise und Bilderläuterungen

1 Rüdiger Wehner

3 Julia Sörgel

7 Janusz Kapusta/Corbis

8 Paul Windolf Absolute Verflechtungsdichte der „Deutschland AG“

12 Paul Windolf Entwicklung der Deutsche Bank-Beteiligungen an deutschen Unternehmen

13 Paul Windolf Verflechtungsdichte der amerikanischen Investmentbank J.P. Morgan

15 Julia Sörgel

16 Fabricius Hildanus/Light Inc. Brustoperation, 17. Jahrhundert

17 Rebecca Floyd/Corbis

20 Robert A. AronowitzPrintwerbung für ein Präparat mit dem Wirkstoff Tamoxifen citrate, das Risikopatientinnen in den USA

als Vorsorgetherapie empfohlen wird. 1.7 ist der Risikoquotient. 36B bezieht sich auf die BH-Größe.

24 Thomas Eakins/picture alliance „The Agnew Clinic 1889“

25 Julia Sörgel

27 Eadweard Muybridge/GettyImages

28 Orjan Ekeberg Stabheuschrecken

31 Ansgar Büschges Ansgar Büschges, Flussneunaugen

33 Rauchwetter/picture-alliance Karl-Marx-Allee Berlin

34 Caro

35 Verlag für Bauwesen(l), Stanislaw Klimek / Campus Verlag(r)

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36 Wassili Luckhardt/Wasmuth Verlag

37 Stanislaw Klimek / Campus Verlag

38 Stanislaw Klimek / Campus Verlag

39 Stanislaw Klimek / Campus Verlag

40 Harald Wolf

44 Rüdiger Wehner Facettenauge der Cataglyphis

45 Rüdiger Wehner Polarisationsroboter „Sahabot“

48 Rüdiger Wehner Ameisenkopfkapsel geöffnet: Blick auf Gehirn mit eingefügtem Bild eines

angefärbten Polarisationsneurons

49 Rüdiger Wehner

51 Marie Dorigny/Editing/Agentur Focus

55 Jeff Haynes/GettyImages

58 entnommen aus: Guillaume Doizy, Jean Bernard Lalanx: A bas la calotte. La caricature anticléricale et la Séparation des

Églises et de l’Etat, editions Alternatives 2005

1891 plädierte der Karikaturist Pepin für die Trennung der „siamesischen Zwillinge“ im Grelot no. 1054

61 Julia Sörgel

62 privat

63 Julia Sörgel

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Impressum

Herausgeber Der Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin

Prof. Dr. Dieter Grimm, LL.M.

Redaktion Katharina Wiedemann, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

Wissenschaftskolleg zu Berlin

Autoren Dr. Sonja Asal, Philosophin und Literaturwissenschaftlerin, arbeitet als freie Dokumentarin und Wissen-

schaftsjournalistin u.a. für die Süddeutsche Zeitung und für Focus

Dr. Ralf Grötker, arbeitet als freier Journalist zu Themen aus Philosophie und den Sozialwissenschaften für

Zeitungen, Magazine und Hörfunk. Veröffentlichungen u.a. in Brand Eins, Frankfurter Rund-

schau, Die Zeit, Telepolis, Deutschlandradio

Bildredaktion Julia Sörgel

Graphik und Layout Juliane Heise / Reiner Will

Druck Druckerei Heenemann Berlin, Mai 2006

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Im Wissenschaftskolleg zu Berlin haben international anerkannte Gelehrte,vielversprechende jüngere Wisseschaftler sowie Persönlichkeiten des geisti-gen Lebens die Möglichkeit, sich frei von Zwängen und Verpflichtungen fürein Akademisches Jahr (Oktober-Juli) auf selbstgewählte Arbeitsvorhabenzu konzentrieren. Die rund 40 Fellows bilden eine Lerngemeinschaft auf Zeit,die durch Fächervielfalt, Internationalität und Interkulturalität gekennzeich-net ist. Die Institution sorgt für optimale Bedingungen, damit die Fellowssich ganz ihrer intellektuellen Aufgabe widmen und dabei von dem Anre-gungs- und Kritikpotential einer herausragenden Gelehrtengemeinschaftprofitieren können.

Die Zeiten, sie sind nicht so, dass in unseren Hohen Schulen ein gelehrterund kreativer Kopf sich in Kontinuität und Konzentration seiner forscheri-schen Aufgabe hingeben kann. Und: Die Zeiten, sie sind nicht so, dass 'dieGesellschaft' gleich welchen Landes und welcher Kultur, es sich leistenkönnte, auf den Ertrag der kreativen Arbeit des gelehrten Kopfes zu verzich-ten."

Peter WapnewskiGründungsrektor 1982 - 1986

Das Wissenschaftskolleg ist ein Experiment im Verstehen, ein hermeneuti-sches Exerzitium, das ein ganzes Jahr lang währt."

Wolf LepeniesRektor 1986 - 2001

Das Wissenschaftskolleg gehört zu jenen - abnehmenden - Inseln des Nicht-Kommerziellen, von denen aus die Konsequenzen der vorherrschendentechnisch-ökonomischen Rationalität überhaupt noch unabhängig beob-achtet und beurteilt werden können."

Dieter GrimmRektor seit 2001

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wissenschaftskolleg zu berlin wallotstraße 19 14193 berlin germanytelefon +49 30/89 00 1-0 fax +49 30/89 00 [email protected] www.wiko-berlin.de