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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
Freiburger Institut für tiergestützte Therapie (F.I.T.T)Herrmann-Mitschstrasse 4779106 Freiburg Rainer Wohlfahrt, Bettina MutschlerFortbildung "Fachkraft für Tiergestützte Therapie und Pädagogik"Zur Erlangung des Zertifikats zur „Fachkraft für Tiergestützte Therapie, Pädagogik und Beratung“
Thesis
Tiergestützte Pädagogik und Therapie
bei Kindern und Jugendlichen-
Exemplarische Anwendung eines Therapiehundes
bei Kindern und Jugendlichen mit unterkontrollierendem
Verhalten
Verfasserin:
Baur JenniferGabelsbergerstr. 53
86199 Augsburg
0176/10365726
eingereicht am: 15. Oktober 201
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
Anmerkungen:
Um einen besseren Lesefluss zu gewährleisten wird auf die Unterscheidung der
männlichen und weiblichen Form verzichtet. In der Nennung der männlichen Form ist
somit die Weibliche eingeschlossen.
Tiergestützte Therapie und Tiergestützte Pädagogik sind Eigennamen und werden somit
groß geschrieben.
Wenn von Kindern oder Jugendlichen die Rede ist, sind im allgemeinen beide
Altersgruppen gemeint. Diese werden als eine Zielgruppe zusammengefasst.
Hund ist in dieser Arbeit gleichbedeutend mit Therapiehund, außer wenn es um
allgemeine Wirkungen von Tieren geht.
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
Inhaltsverzeichnis1 Einleitung........................................................................................................................42 Theoretische Grundlagen................................................................................................63 Studien und Praxismodelle der Tiergestützten Therapie und Pädagogik.....................234 Reflexion und Diskussion.............................................................................................315 Ausblick........................................................................................................................366 Literatur und Quellenangaben......................................................................................397 Abbildungsverzeichnis.................................................................................................408 Tabellenverzeichnis......................................................................................................409 Erklärung......................................................................................................................41
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
1 EinleitungDas Ziel der Arbeit ist es, einen tieferen Einblick in den Anwendungsbereich der
Tiergestützten Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen zu geben und
diesen in Theorie und Praxis zu reflektieren. Dazu werden theoretische
Einwirkungsmöglichkeiten eines Therapiehundes bei Kindern und Jugendlichen mit
AD(H)S und Verhaltensauffälligkeiten aufgezeigt, welche durch Studien und
Praxisprojekte belegt werden. Die Kernfragen, welche durch diese Arbeit beantwortet
werden sollen sind folgende:
•Welche Anknüpfungspunkte gibt es bei Kindern und Jugendlichen mit AD(H)S und
Verhaltensauffälligkeiten für die Tiergestützte Pädagogik und Therapie?
•In wie weit ist die Tiergestützte Pädagogik und Therapie in diesem Bereich
wissenschaftlich erforscht? Welche Studien können dazu herangezogen werden?
Wie und in wie weit können diese Studienergebnisse auf die genannten
Störungen übertragen werden?
•Welche Praxisprojekte mit Kindern und Jugendlichen gibt es und stimmen dessen
Resultate mit den Studienergebnissen überein?
•Was sind die Vor- und Nachteile der Tiergestützten Pädagogik und Therapie bei
Kindern und Jugendlichen mit Störungen bei unterkontrollierendem Verhalten?
Um diese Fragen in den einzelnen Kapiteln zu beantworten, ist die Arbeit wie folgt
aufgebaut:
Bevor auf die Entstehung der unterschiedlichen Begrifflichkeit sowie auf die in dieser
Arbeit verwendeten Definitionen eingegangen wird, soll ein Schaubild einen Überblick
über die Tiergestützte Pädagogik und Therapie auf der einen Seite, über AD(H)S und
Verhaltensauffälligkeiten auf der anderen Seite, sowie über deren Verknüpfungspunkt
geben. Dazu werden sämtliche Äste des Baumes übertragen, d. h. Zielgruppen und An-
wendungsgebiete der Tiergestützten Pädagogik und Therapie erwähnt, jedoch nur dem
Thema zugeordnete Äste weitergeführt. Anschließend werden die Tiergestüzte Therapie
und Pädagogik sowie die Anwendungsbereiche AD(H)S und Verhaltensauffälligkeiten
erläutert und definiert. Dazu werden die Störungsbilder beschrieben und schließlich
Anknüpfungspunkte der Tiergestützten Therapie bzw. Pädagogik gefunden. Dabei sol-
len allgemeine Erklärungsmodelle der Tiergestützten Therapie im Hintergrund bleiben,
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
da der Schwerpunkt auf den unterschiedlichen Ansatzmöglichkeiten dieser Therapie an
den jeweiligen Defiziten liegt. Die Wirkung sowie die Möglichkeit einer praktischen
Anwendung werden im Anschluss in Kapitel drei anhand von Studien und begleiteten
Praxisprojekten genauer ausgeführt.
Das vierte Kapitel führt die beiden vorhergehenden zusammen, diskutiert die
Vereinbarkeit von Theorie und Praxis und würdigt die Studien und Praxismodelle
kritisch. Schließlich wird der Mehrwert der Tiergestützten Therapie und Pädagogik bei
der Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen dargestellt, aber auch Probleme der
Umsetzung in der Praxis beleuchtet. Der abschließende Ausblick des fünften Kapitels
beleuchtet das Thema von einer höheren Ebene. Er fasst den Mehrwert zusammen,
ordnet die fokussierte Zielgruppe wieder in den Gesamtzusammenhang der
Tiergestützten Pädagogik und Therapie ein. Der Stellenwert der Tiergestützten
Pädagogik und Therapie in Deutschland wird schließlich bewertet und ein Ausblick in
die Zukunft wird gegeben.
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
2 Theoretische GrundlagenDas Kapitel zwei soll für ein theoretisches Verständnis in Bezug auf das Themengebiet
sorgen und Hintergrundwissen für die anschließende Diskussion mit an die Hand geben:
Es gibt einen Überblick über Zielgruppen und Anwendungsgebiete der Tiergestützten
Pädagogik und Therapie und die Einordnung der Zielgruppe der Kinder und
Jugendlichen mit AD(H)S oder Verhaltensauffälligkeiten in diesem
Gesamtzusammenhang. Anschließend wird die Tiergestützte Pädagogik und Therapie
näher beleuchtet. Definitionen werden zu Grunde gelegt und Einwirkungsmöglichkeiten
aufgezeigt. Mit dem Thema AD(H)S und Verhaltensauffälligkeiten wird ebenso
verfahren. Nach Definitionsversuchen werden Einwirkungsbereiche der Tiergestützten
Pädagogik und Therapie bei AD(H)S und Verhaltensauffälligkeiten genannt.
2.1 Tiergestützte Pädagogik und Therapie
2.1.1 Ein ÜberblickZu Anfang soll ein Gesamtüberblick über das Thema der Tiergestützten Pädagogik und
Therapie gegeben werden (siehe Abbildung 1, linker Baum):
Die Tiergestützte Pädagogik und Therapie kann bei unterschiedlichen Zielgruppen
eingesetzt werden. Hier ist der Bereich der Rehabilitation, die Behindertenarbeit, die
Arbeit mit Senioren und schließlich die mit Kindern und Jugendlichen zu nennen. Bei
Kindern und Jugendlichen gibt es verschiedene Einsatzbereiche. Therapietiere können
z.B. in Form von pädagogischen Projekten, wie einem Hundeführerschein für Kinder,
präventiv eingesetzt werden. Oft steht die Tiergestützte Therapie als unterstützende
Maßnahme, die in eine Fachtherapie integriert ist. Das ist im Bereich der Ergo-, Physio-
und Psychotherapie sowie der Logopädie möglich. Als ein eigenständiger Bereich kann
das Anwendungsfeld der Verhaltensauffälligkeiten bzw. des AD(H)S angesehen werden.
In diesen unterschiedlichen Anwendungsbereichen können wiederum verschiedene
(Therapie-)Tiere zum Einsatz kommen. Für diese Arbeit ist der Therapiehund für den
Einsatz bei Kindern und Jugendlichen exemplarisch ausgewählt worden.
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
Abb. 1: Berührungspunkte Tiergestützte
Pädagogik/Therapie und
ADHS/Verhaltensauffälligkeiten und
Gesamtzusammenhang
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
Der zweite Baum (Abbildung 1) gibt einen Überblick über AD(H)S und Verhal-
tensauffälligkeiten um auch dieses Thema von allen Seiten beleuchtet zu haben. Für das
Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom sowie Verhaltensauffälligkeiten
allgemein gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze. Auf der einen Seite steht die med-
izinische Erklärung, welche von einer genetischen Prädisposition ausgeht. Dem ge-
genüber steht die soziale Erklärung, wie sie in dieser Arbeit genannt wird. Sie meint
zusammengefasst gesagt, dass die Symptome aus einer ungünstigen Umwelt bzw.
Erziehung herrühren. Ansatzpunkte, welche sich daraus für die Tiergestützte Pädagogik
und Therapie mit einem Hund ergeben, sind die psychische, die physische, die emo-
tionale und die soziale Ebene der Kinder und Jugendlichen.
Der Therapiehund, die Kinder und Jugendlichen, die Symptome von AD(H)S bzw. Ver-
haltensauffälligkeiten sind also Teilbereiche des Komplexes der Tiergestützten Pädago-
gik und Therapie. Diese ausgewählte Zielgruppe soll in dieser Arbeit genauer beleuchtet
werden.
2.1.2 DefinitionDie positive Wirkung von Tieren ist schon seit mehreren hundert Jahren bekannt.
Begriffe und Definitionen sind jedoch, durch einen Mangel an Aufzeichnungen, erst
sehr spät entstanden. Als Urvater der tiergestützten Arbeit gilt Boris Levinson, ein
amerikanischer Kinderpsychotherapeut. Er entdeckte die Wirkung seines Hundes bei
einem Kind, während dessen Behandlung im Jahre 1962, eher zufällig. Das Kind
begann beim ersten Anblick des Hundes mit diesem zu kommunizieren, obwohl es
vorher fast nie Kontakt zu seiner Außenwelt aufgenommen hatte.
Mit der Veröffentlichung seiner Beobachtungen und des gezielten Einsatzes des Hundes
in der Kinderpsychotherapie, begannen Wissenschaftler die Wirkung von Tieren auf den
Menschen zu untersuchen. Ein neuer wissenschaftlicher Zweig entstand: Die
Untersuchung der „Mensch-Tier-Beziehung“.
Im Zuge dessen entstanden im anglo-amerikanischen Raum die ersten Definitionen zur
Tiergestützten Arbeit: Versuche, Tiere, auch Haustiere, in Therapien zu integrieren,
wurden „Pet Therapy“ genannt. Dieser Begriff wurde schnell durch „Pet-Facilitated
Therapy“ abgelöst, welcher beinhaltet, dass das Tier ein „Hilfsmittel“ einer Fachkraft
und kein Therapeut ist. Als die Wirkung der Tiere auf die Psyche erkannt wurde,
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
entwickelte sich der Begriff „Pet-Facilitated Psychotherapy“, welcher eine Sonderform
bezeichnet. „Pet“ wurde schließlich durch „Animal“ ersetzt: „Animal-facilitated
Therapy“ schloss auch nicht-domestizierte Tiere, wie Lamas und Delphine, ein.
Mit der Gründung der Delta Society 1977 - eine noch heute weltweit führende
Organisation in Bezug auf die Mensch-Tier-Beziehung – kristallisierten sich zwei heute
noch gültige Begriffe heraus: Die „Animal-Assisted Activities“ (AAA) und die
„Animal-Assisted Therapy“ (AAT). AAA bezeichnet zusammengefasst Aktivitäten
durch eher weniger qualifizierte Personen, z.B. Ehrenamtliche, welche keine konkreten
Ziele anstreben und ihre Aktivitäten auch nicht dokumentieren. Sie erhoffen sich eine
Steigerung der Lebensqualität der Betroffenen, da sie von möglichen positiven Effekten
der Tiere auf den Menschen ausgehen. „AAT (hingegen) ist eine zielgerichtete
Intervention, bei der ein Tier, welches spezifische Merkmale aufweist, integraler
Bestandteil des Behandlungsprozesses ist. AAT ist (…) gebunden an qualifizierte
Experten (…) mit spezifischer Ausbildung, die das Tier in ihrem Berufs-/Praxisfeld
einsetzen.“ (Vernooij, Schneider 2007, S. 31; Ergängzung JB) Diese Art der Therapie
muss im Vergleich zu AAA dokumentiert und auf das gesetzte Ziel hin evaluiert werden.
Im deutschsprachigen Raum gibt es keine offiziell festgelegten Begrifflichkeiten.
Jedoch gibt es im Kern folgende vier Begriffe:
•die Tiergestützte Aktivität (TGA)
•die Tiergestützte Förderung (TGF)
•die Tiergestützte Pädagogik (TGP)
•die Tiergestützte Therapie (TGT)
Diese werden im Folgenden in Abgrenzung zueinander erläutert.
Tiergestützte Aktivitäten haben das Ziel die Lebensqualität, d.h. das allgemeine
Wohlbefinden, zu verbessern. Sie können, nach Schneider, auch von Personen ohne
einschlägige Berufsausbildung durchgeführt werden, die lediglich Spaß und einen
reflektierten Umgang mit Mensch und Tier haben sollen. Als Grundvoraussetzung solle
jedoch zumindest der artgerechte Umgang mit dem Tier beherrscht und Stresssignale
des Tieres erkannt werden. Um dieses Wissen zu erwerben, sollte eine Einführung oder
Fortbildung, z.B. von Vereinen, besucht werden. Die eingesetzten Tiere sollten geeignet
sein, d.h. spezielle Merkmale aufweisen, wie z.B. nicht aggressiv sein. Ein Beispiel aus
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
der Praxis ist der Tierbesuchsdienst durch Ehrenamtliche in Seniorenheimen oder
Krankenhäusern.
Die Tiergestützte Förderung kann, nach Schneider, von unterschiedlich qualifizierten
Personen durchgeführt werden, d.h. zum Beispiel von (Sozial-)Pädagogen,
Sprachtherapeuten oder Personen mit Fachwissen über Hunde. Bei der TGF geht es im
Schwerpunkt um Förderung. Förderung wird definiert, Impulse zur Entwicklung zu
geben, um diese auf Basis vorhandener Ressourcen zu verbessern oder zu unterstützen.
Hierzu muss von der Fachkraft ein Förderplan mit genau festgesetzten,
klientenorientierten Zielen erstellt werden. Der Durchführende sollte, wenn nicht selbst
fachkundig, vom Fachmann eingewiesen werden. Schneider kritisiert hier jedoch, dass
es auch für Deutschland erstrebenswert wäre wie in Amerika die Voraussetzung einer
Fortbildung im Bereich tiergestützten Arbeitens einzuführen, denn das Tier sollte für
den Einsatzbereich trainiert sein.
In der Tiergestützten Pädagogik ist eine berufliche Qualifikation im pädagogischen
Bereich unabdingbar. Lernprozesse, welche auf der Basis der Ressourcen des Klienten
aufgebaut sind, sollen ermöglicht, unterstützt und angeregt werden. Schneider spricht
von der sozialen und emotionalen Intelligenz, welche im Mittelpunkt der Förderung
steht. Konkrete Zielvorgaben müssen in einem Konzept erstellt, sowie die einzelnen
Sitzungen dokumentiert werden. Das Tier muss für den Einsatz spezifisch trainiert sein.
Dazu muss der Pädagoge umfangreiches Fachwissen und Kompetenzen im artgerechten
Umgang mit dem eingesetzten Tier haben.
Die Tiergestützte Therapie wird von speziell ausgebildetem Fachpersonal (Therapeuten)
oder in Zusammenarbeit mit diesen durchgeführt. Methoden, Ziele, Teilziele und
Förderpläne mit zeitlichem, inhaltlichem und organisatorischem Einsatz des Tieres sind
Kriterien für die TGT. „Der Schwerpunkt (liegt) in der Tiergestützten Therapie eher auf
der gezielten Einwirkung auf bestimmte Persönlichkeits- oder Leistungsbereiche, auf
Verarbeitung von Erlebnissen, auf der Lösung von emotionalen Blockaden, auf der
Reduzierung sozialer Ängste.“ (Schneider, S. 43, Anpassung JB)
Das Tier sollte, wie bei der TGP, spezifisch auf seinen Einsatzbereich trainiert bzw.
ausgebildet sein.
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
Zusammengefasst kann gesagt werden, dass im anglo-amerikanischen Raum die
„Animal Assisted-Activities“ (Tiergestützte Aktivitäten) und „Animal Assisted
Therapy“ (Tiergestützte Therapie) offiziell anerkannt sind und durchgeführt werden. In
Deutschland werden die Begriffe eher uneinheitlich verwendet. Jedoch zeichnen sich
laut Schneider drei Begrifflichkeiten ab, welche auch die Praxisfelder repräsentieren:
Die Tiergestützte Aktivität, die Tiergestützte Pädagogik und die Tiergestützte Therapie
(siehe Tabelle 1). In dieser Arbeit werden die Begriffe Tiergestützte Pädagogik und
Tiergestützte Therapie verwendet, da es um die professionelle Anwendung bei Kindern
und Jugendlichen geht.
(Vernooij/Scheider 2008, S. 26-53)
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
Interventions-form
Durchführende Zielgruppe Ziel Zeitraum
Tiergestützte Aktivität
Laien
ehrenamtliche Personen
geeignetes Tier
Menschen jeden Alters (sehr allgemein)
Verbesserung des Wohlbefindens
bzw. der Lebensqualität
sporadische Aktivitäten,
z.B. Tierbesuchsdienst
Tiergestützte Pädagogik
Personen mit
Berufsqualifikation im
pädagogischen Bereich
spezifisch trainiertes Tier
Kinder und Jugendliche mit Proble-
men im sozialen und emotionalen
Bereich
eigenständige Maßnahme mit dem
Ziel des Lernfortschrittes:
Initiierung von Lernprozessen im
sozio-emotionalen Bereich
unter Berücksichtigung
vorhandener Ressourcen
anhand konkreter Zielvorgaben
festgelegte Zeiten
mehrmalig oder über längeren Zeitraum
Tiergestützte Therapie
qualifizierte Therapeuten
bzw. Zusammenarbeit mit
diesen (Berufsqualifikation
im sozialen Bereich)
spezifisch trainiertes Tier
Kinder, Jugendliche oder
Erwachsene mit einer psycho-
physischen Störung oder Erkrankung
in eine Fachtherapie integrierte
Maßnahme, als Unterstützung,
mit dem Ziel der
Lebensgestaltungskompetenz:
Behandlung nach Therapieplan
regelmäßige Sitzungen zu festgelegten
Zeiten
längerer Zeitraum
Tab. 1: Überblick über Formen tiergestützter Intervention (abgewandelt durch JB nach Vernooij/Schneider 2008, S. 46, 47, 50)
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
Um die Begriffe Tiergestützte Therapie und Tiergestützte Pädagogik klar voneinander
abgrenzen zu können, wird die Dimension der Eigenständigkeit der jeweiligen
Maßnahme herangezogen. Der Unterschied zwischen Tiergestützter Therapie und
Tiergestützter Pädagoik wird in dieser Arbeit deshalb, wie in Tabelle 1 dargestellt,
darüber definiert, dass die Tiergestützte Pädagogik als eigenständige Maßnahme
durchgeführt wird und die Tiergestützte Therapie direkt in eine Fachtherapie, z. B.
Psychotherapie oder Ergotherapie, eingebunden ist.
2.1.3 Anwendungsbereiche der Tiergestützten PädagogikDie Tiergestützte Pädagogik bietet unterschiedliche Ansatzpunkte. Da sie dem Prinzip
der Ganzheitlichkeit Rechnung trägt, werden auch andere Bereiche indirekt mit
beeinflusst.
Vom Allgemeinen zum Speziellen können folgende Bereiche beeinflusst werden: das
ganzheitliche Lernen, die Selbststeuerung, die nonverbale Kommunikation, die sozialen
und emotionalen Kompetenzen, Verhaltensauffälligkeiten bzw. -störungen.
Tiere sprechen Menschen ganzheitlich an, d.h. den Körper (z.B. Blutdrucksenkung), den
Geist (z.B. Konzentrationstraining) und die Seele (z.B. Wohlbefinden). Vernooij nennt
zusätzlich noch den sozialen Bereich, d.h. soziale Kompetenzen, die durch das
ausgeprägte Sozialverhalten, einschließlich der Kommunikation der Tiere verbessert
werden können. Um das ganzheitliche Lernen bei Kindern und Jugendlichen zu
veranschaulichen, erläutert Vernooij das Beispiel des Spieles mit einem Hund. Durch
das Spielen mit einem Hund kann das Kind seine Körperfunktionen trainieren, z.B.
Kondition, es kann seine kognitiven Fähigkeiten trainieren, z.B. Handlungsplanung, es
kann sein (soziales) Verhaltensrepertoire ausbauen durch die Erprobung neuer Rollen,
es kann Energie und Konflikte abbauen, was zu seinem Wohlbefinden beiträgt.
Dadurch, dass das Tier verschiedene Sinneskanäle anspricht, wird der Lernfortschritt
ebenfalls enorm gesteigert. Die genannten Aspekte werden im Folgenden näher erklärt.
Zum ganzheitlichen Lernen und zur Persönlichkeitsentwicklung gehört Entscheidungs-
und Handlungskompetenz, welche auf der kognitiven Ebene angesiedelt sind. Durch das
Lebewesen Hund werden diese Kompetenzen in besonderer Weise gefördert. Das Kind
muss sich vor bzw. während des Spiels mit dem Tier einige Fragen beantworten, wie
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
zum Beispiel, ob der Hund lieber spielen oder ruhen will, welches Spielzeug er wann
bevorzugt, wann der Hund genug hat, welches Spiel für den Hund zu leicht oder zu
schwer ist usw. Hierzu benötigt das Kind Entscheidungskompetenz.
Die Körperfunktionen werden beim Spiel mit dem Hund ebenfalls in besonderer Weise
gefördert. Dadurch, dass der Hund agiert und reagiert, wird Geschicklichkeit im
Umgang trainiert. Schnelligkeit ist besonders bei dem Tier Hund, welcher ein Jäger ist,
gefragt. Aber auch Koordination wird gefordert. Durch das körperliche Spiel können
Kräfte gemessen und somit bewusst gemacht werden. Der emotionale Bereich wird
unmittelbar angesprochen. Das Kind lässt sich auf den Hund ein, bezieht diesen und
dessen Handlungen, in das eigene Verhalten mit ein. Kommunikation findet statt, das
Verhalten muss aufeinander abgestimmt werden. Verhaltensformen müssen erkannt,
Verhaltensregeln eingehalten werden. Es besteht die Möglichkeit neue Verhaltensmuster
zu testen. Der Hund kann geführt werden oder das Kind kann sich vom Spiel und
Verhaltens des Hundes leiten lassen. Es wird eine Beziehung aufgebaut zwischen Kind
bzw. Jugendlichem und Tier. In der Beziehung kann der Jugendliche das Spiel vorgeben
oder auf gleicher Ebene den Partner Hund gleichrangig mit einbeziehen.
Durch die speziellen Eigenschaften des Tieres – es (be)wertet nicht, belehrt nicht,
beurteilt sich, verurteilt nicht – kann das Kind oder der Jugendliche angstfrei agieren.
Das Tier stellt keine Erwartungen, wie Menschen es oft tun. Der Jugendliche muss sich
nicht beweisen, er wird vom Tier so angenommen wie er ist. Dieses freie Gefühl ist eine
Grundvoraussetzung für Lernen und somit für die Entwicklung seiner Stärken und
Persönlichkeit.
Neben dem Ganzheitlichen Lernen fördern Tiere die Selbststeuerung bzw. das
selbstgesteuerte Lernen. Selbststeuerung im Lernen heißt, entscheiden zu können, was
man wann, wie und wie lange lernt. Dazu wird Eigenmotivation benötigt. Tiere
motivieren durch ihren Aufforderungscharakter und durch die positive und angstfreie
Atmosphäre. Kinder werden motiviert kreativ zu sein, neues auszuprobieren. Am
Beispiel des Hindernisparkours kann die Selbststeuerung und das selbstgesteuerte
Lernen am besten veranschaulicht werden. Eigene Kompetenzen müssen abgeschätzt
werden, ein Handlungsplan und eine Reihenfolge zur Erstellung des Parkours entworfen
werden, die Tauglich- und Bewältigbarkeit des Parkours getestet und bewertet, evtl.
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
Alternativen gefunden werden.
Bei der gemeinsamen Bewältigung des Parkours gibt der Hund Rückmeldung, welche
vom Jugendlichen beurteilt und bewertet werden müssen, um den Parkour evtl.
anzupassen. Im Anschluss kann die eigene Leistung zur gesamten Aufgabe beurteilt und
eingeschätzt werden.
An dritter Stelle ist, neben dem ganzheitlichen und selbstgesteuerten Lernen, die
nonverbale Kommunikation zu nennen. Diese macht in der Gesamtkommunikation den
Löwenanteil aus, 75-80%. Die Stimme steht an zweiter Stelle und das gesprochene Wort
an Letzter. Unter nonverbaler oder analoger Kommunikation versteht man
Körpersprache, Mimik, Gestik, Haltung und je nach Auffassung die Stimmlage. Die
analoge Kommunikation wird auch die ehrliche und authentische Kommunikation
genannt. Nonverbale Kommunikationsprozesse „sind die Hauptträger
zwischenmenschlicher Beziehungsbotschaften und das Zusammenleben bzw.
Zusammensein zwischen Menschen basiert zu großen Teilen darauf, wie genau
Elemente der nonverbalen Kommunikation – wie Gestik, Mimik, Körper- und
Blickkontakt oder das Nähe- und Distanzverhalten – wahrgenommen werden und ob
entsprechend darauf reagiert werden werden kann“ (Vernooij/Schneider 2008, S. 123).
Vor allem Hunde – auch Pferde – besitzen von Natur aus ein großes Spektrum an
analogen Kommunikationsprozessen, die diese auch in der Kommunikation zu
Menschen benutzen. Deshalb kann gesagt werden, dass der Umgang mit Tieren,
insbesondere Hunden, die Fähigkeit zur nonverbalen Kommunikation, d.h. sowohl die
bewusste Beobachtung, als auch den bewussten Einsatz von Körpersprache, bei
Menschen fördert. An dieser Stelle kann die Methode der freien Begegnung eingesetzt
werden, z.B. wenn Kind und Pädagoge zwei spielende Hunde in Hinblick auf Formen
der Verständigung genau beobachten und versuchen, diese herauszufinden. Aber auch
im gemeinsamen Spiel von Hund und Mensch wird das Kind oder der Jugendliche
versuchen durch Versuch und Irrtum eine gemeinsame wortlose Sprache zu finden, um
zu verstehen, was der andere will oder nicht will. Ziel ist es, den Kindern und
Jugendlichen Sicherheit in der analogen Kommunikation zu geben, um diese schließlich
mit Hilfe des Pädagogen auf zwischenmenschliche Verständigung übertragen zu können
bzw. die Anwendung zu erproben und umzusetzen.
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
Die vorletzte Einwirkungsmöglichkeit durch Tiergestützte Pädagogik, welche für das
Thema AD(H)S von Bedeutung ist, bietet der Bereich der sozialen und emotionalen
Kompetenzen. Diese können sowohl der Sozial- als auch der Selbstkompetenz
zugeordnet werden. Vernooij/Schneider dröseln beide Bereiche in Teilkompetenzen auf,
welche durch die Tiergestützte Pädagogik gesondert bearbeitet bzw. trainiert werden
können:
• Selbsteinschätzung, Selbstwertgefühl
• Selbstvertrauen
• (emotionale) Selbststeuerung
• Kompromissbereitschaft
• soziale Sensibilität
• Empathie
• soziale Zuverlässigkeit
• Fairness
• Authentizität
Die eigenen Stärken und Schwächen werden mit der pädagogischen Arbeit mit Tieren
bewusst und die Selbsteinschätzung dieser trainiert. Durch eine Steigerung der
realistischen Einschätzung steigt das Selbstwertgefühl. Dies ist auch ein Baustein des
Selbstvertrauens, welches durch Erfolge und das Vertrauen-Können in die eigenen
Fähigkeiten, gestärkt wird. Die Kenntnis eigener Fähigkeiten, Stärken und Schwächen
ist wiederum eine Voraussetzung für die emotionale Selbststeuerung. Wenn der
Jugendliche im Stande ist, seine Gefühle zu kennen und zu steuern, ist er auch eher im
Stande sich anzupassen und Beziehungen einzugehen. Kompromisse fallen leichter.
Durch das Eingehen einer Beziehungen zum Hund, wird automatisch die soziale
Feinfühligkeit trainiert, wie schon bei der nonverbalen Kommunikation beschrieben. Es
steigt die Fähigkeit zur Empathie, d.h. sich in andere Lebewesen hineinzuversetzen.
Durch die immer bessere Kommunikation, Selbsteinschätzung und Selbstwertgefühl
durch die Tiergestützte Arbeit, steigt schließlich die soziale Zuverlässigkeit, d.h.
Eindeutigkeit und Glaubwürdigkeit im eigenen Handeln und in Bezug auf Erwartungen.
Zusammengefasst kann gesagt werden, dass „das Zusammensein, die Kommunikation
und Interaktion mit dem Tier, (…) dem Kind eine positive Rückmeldung (bieten), sich
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
seiner eigenen Gefühle, Wünsche, Bedürfnisse und Fähigkeiten (wieder) bewusst zu
werden, sie angstfrei auszuleben und beispielsweise im Spiel mit dem Tier zum
Ausdruck zu bringen.“ (Vernooij/Schneider 2008, S. 127, Anpassung durch JB)
Man sieht, dass die Bereiche ineinander übergehen und sich gegenseitig direkt oder
indirekt beeinflussen.
(Vernooij/Schneider 2008, S. 117-130)
2.2 Störungen mit unterkontrollierendem Verhalten
2.2.1 DefinitionNach Prothmann (2008, S. 213-225) lassen sich das Aufmerksamkeits-Defizit-
Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) sowie Verhaltensstörungen den Störungen mit
unterkontrollierendem Verhalten unterordnen. AD(H)S und Verhaltensstörungen sollen
im Folgenden genauer ausgeführt und definiert werden.
AD(H)S wird hier beispielhaft für Auffälligkeiten und Störungen im sozialen und
emotionalen Bereich aufgeführt, da dieses an fixen Kriterien festgemacht werden kann
und somit die Anwendung Tiergestützter Therapie und Pädagogik konkrete
Ansatzpunkte aufweist, wie nachfolgend beschrieben. Die Verhaltensauffälligkeiten und
-störungen können aber auch als gesondertes Störungsbild neben AD(H)S gesehen
werden. Die Grenzen sind fließend und je nach Literatur und Definition werden beide
Störungen in unterschiedlichen Verhältnissen zueinander gesetzt. In dieser Arbeit stehen
AD(H)S und Verhaltensauffälligkeiten gleichrangig nebeneinander. Auch wird AD(H)S
von ADS hier nicht unterschieden, da diese Ausführung die Arbeit sprengen würde. Es
steht nicht die Abgrenzung dieser verschiedenen Begriffe zueinander im Blickpunkt,
sondern wie bei Prothmann (2008) ein gemeinsamer Ursprung bzw. eine Einordnung
der Störungsbilder unter Störungen mit unterkontrolliertem Verhalten. So schreibt
Prothmann, dass "zu den Störungen mit unterkontrollierend-externalisiertem Verhalten
(...) das Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (AD(H)S) und die
Verhaltensstörungen zusammengefasst (werden)" (Prothmann 2008, S. 213).
Prothmann (2008) erklärt, dass Kinder mit AD(H)S sich nicht altersentsprechend
verhalten können, z.B. sich in bestimmten Situationen nicht ruhig verhalten können. Sie
bezeichnet das Verhalten dieser Kinder auch als sprunghaft, unorganisiert, taktlos,
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
eigensinnig und herrisch. Prothmann weist auch darauf hin, dass die Grenzen zu einer
krankhaften Störung fließend sind, Kinder mit motorischer Unruhe häufiger eine
Verhaltensstörung entwickeln als Kinder mit einfachem Aufmerksamkeitsdefizit. Dass
die Abgrenzung nicht immer vollständig geschehen kann, bestätigt die Tatsache, dass
zwischen AD(H)S und Verhaltensstörungen eine Überlappung von 30 bis 90% bestehen
kann.
Ein Unterschied den Prothmann nennt, ist in dieser Arbeit lediglich für den Ansatz der
Tiergestützten Therapie von Bedeutung: AD(H)S-Kinder sind von aufgabenirrelevantem
Verhalten - vor allem in Leistungssituationen wie Schule - sowie durch kognitive
Defizite und Leistungsprobleme geprägt. Dem gegenüber sind Kinder mit einer
primären Verhaltensstörung antisozial und feindlich eingestellt und sind von einem
hohen Risiko für Delinquenz geprägt.
Kinder und Jugendliche mit AD(H)S haben durch ihr Verhalten häufig Schwierigkeiten
mit Gleichaltrigen, was die Entwicklung von Freundschaften erschwert und dadurch die
Einsamkeit erhöht. "Die Kinder übersehen häufig subtile Hinweise, erleben viele
Missverständnisse, woraus sich Defizite in der sozialen Kompetenz entwickeln"
(Prothmann 2008, S. 214). Auch führt ihre Impulsivität im Spiel meist dazu, dass diese
ausgegrenzt werden.
Der Ursprung von AD(H)S wird sowohl in Richtung einer Prädisposition, als auch in
Richtung einer ungünstigen Erziehung gesehen. Behandlungsansätze gehen daher meist
beide Wege - der medikamentösen und der psychotherapeutischen/
verhaltenstherapeutischen Lösung. Die Tiergestützte Therapie und Pädagogik kann eine
Alternative zur Medikation oder eine ergänzende Maßnahme im Bereich der
verhaltensorientierten, sozialen bzw. lerntheoretischen Richtung sein.
Die Bundesärztekammer definiert AD(H)S nach dem ICD-10, einem psychologischen
Testungsverfahren: Es gibt drei Grundmerkmale. An erster Stelle steht die Störung der
Aufmerksamkeit, d.h. es herrscht ein Mangel an Ausdauer bei (kognitiven)
Beschäftigungen. Zweitens besteht eine Hyperaktivität, also unruhiges Verhalten,
welches sich häufig in der Unfähigkeit des Stillsitzens zeigt. Drittes Kriterium ist die
Impulsivität, welche durch abrupte, häufig unpassende, motorische oder verbale
Aktionen gekennzeichnet ist.
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
Das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information ordnet AD(H)S
den Verhaltens- und emotionalen Störungen zu. Zusammengefasst kann man also sagen,
dass bei AD(H)S-Kindern verschiedene Bereiche betroffen sind welche, neben einer
fachtherapeutischen Behandlung, durch Tiergestützte Pädagogik positiv beeinflusst
werden können. Diese Bereiche sind Motorik und Körpergefühl, Kognition und Lernen,
Soziabilität und Emotionalität.
"Davison und Neale subsummieren unter Verhaltensstörungen eine Gruppe von
Verhaltensauffälligkeiten, die durch fehlende Impulskontrolle charakterisiert sind:
Aggression, Trotz, Ungehorsam, verbale Feindseligkeit, Lügen, Zerstörungswut,
Vandalismus, Diebstahl, Promiskuität und Substandabusus. All diesen
Verhaltensmustern ist gemeinsam, dass Normen und Rechte anderer verletzt und
missachtet werden." (Prothmann 2008, S. 218)
In dieser Arbeit werden vor allem Ansatzpunkte beim Aufmerksamkeits-Defizit-
Hyperaktivitäts-Sydrom, mit Tendenz zur sozialen Störung, vorgestellt und diskutiert.
Der Bereich der Verhaltensstörungen spielt hier somit nur im Anfangsstadium bzw. im
Übergangsbereich eine Rolle, in der aggressive Verhaltensweisen in milderer Form - im
Vergleich zur Delinquenz - vorkommen. Der Grund ist, dass die Tiergestützte Pädagogik
im Vergleich zur Tiergestützten Therapie bei leichten Formen als eigenständige,
sekundär präventive Maßnahme eingesetzt werden kann, wenn diese im pädagogischen
Bereich ansetzt. Der Einfachkeit halber werden Verhaltensauffälligkeiten und
Verhaltensstörungen nicht weiter unterschieden.
2.2.2 Anwendung der Tiergestützten PädagogikUnter Motorik und Körpergefühl fasst Vernooij erstens die Motorik, zweitens die
Motolität und drittens die Psychomotorik zusammen. Vernooij versteht unter Motorik
die Gesamtheit aller willkürlich gesteuerten Bewegungsvorgänge, die erlernt und
trainiert werden können. Das Gegenstück dazu ist die Motolität, d.h. die (passive)
Beweglichkeit. Die Psychomotorik umfasst bewusste und unbewusste
Bewegungsabläufe, z.B. Mimik, Gestik und Sprache.
Kinder und Jugendliche mit AD(H)S haben in diesen Bereichen Probleme, sind oft
grobmotorisch und haben ein schlechtes Körpergefühl. Hier kann die Tiergestützte
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
Pädagogik ansetzen. Zum Beispiel bei der Kommandoarbeit müssen virtuelle Zeichen
deutlich sicht- und erkennbar für den Hund ausgeführt werden. Hier erkennt das Kind
oder der Jugendliche sehr schnell, dass die sorgfältige und eindeutige Zeichengebung
vom Hund erkannt und ausgeführt wird. Durch den Erfolg wird sich die Konzentration
und Bemühung auf die eigene Motorik verbessern.
Die Motorik (Hyperaktivität) kann durch gezielte und bewusste Bewegungsabläufe mit
Hilfe eines Therapiehundes verbessert werden. Hierzu zählen die allgemeine
Bewegungsfreudigkeit und -koordination, sowie die Erweiterung des
Bewegungsrepertoires. Zum Beispiel durch die gemeinsame Bewältigung eines
Parkours kann die Freude an Bewegung und die Koordination verbessert werden. Durch
die non-verbale Kommunikation mit dem Hund, z.B. ihm zu zeigen, wie man durch
einen Tunnel läuft, wird das Bewegungsrepertoire erweitert. Gleichzeitig wird bei der
Bewältigung eines Parkours unbewusst die Motilität gefördert, da man Bewegungen
ausführt, welche im normalen Alltag eher selten ausgeführt werden, wie über Hürden zu
springen oder durch Tunnel zu robben.
Die Psychomotorik wurde schon angesprochen. Der unbewusste Ausdruck von
Gefühlen in der Körpersprache kann ebenfalls am Beispiel Parkour erläutert werden.
Dadurch dass eine Kommunikation mit dem Hund für die gemeinsame Bewältigung des
Parkours unabdingbar ist, werden Gestik und Sprache, d.h. die körperliche
Ausdrucksfähigkeit, in die Wahrnehmung gerückt und somit verbessert.
Das allgemeine Körpergefühl bzw. die Körperwahrnehmung kann durch die Schulung
des kinästhetischen Sinnes verbessert werden. Das Druck- und Berührungsempfinden
kann durch die bewusste Wahrnehmung des warmen und weichen Fells oder des
Gewichts eines leichten Hundes, der über ein liegendes Kind läuft, gefördert werden.
Kognition und Lernen ist der zweite große Bereich, welcher bei Kindern und
Jugendlichen mit AD(H)S betroffen ist. Vernooij bezeichnet Kognition als Prozesse,
welche mit dem Erkennen der Wirklichkeit, zusammenhängen. Durch Wahrnehmen,
Erkennen und Beurteilen erhält das Kinder bzw. der Jugendliche Kenntnis von sich und
seiner Umwelt. Grundlegend für Kognition sind die emotionale und soziale Intelligenz,
welche wiederum Basis der Handlungskompetenz sind. Kinder und Jugendliche mit
Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätssyndrom können häufig nicht zwischen wichtig und
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
unwichtig unterscheiden und nehmen deswegen zu viel wahr bzw. können sich nicht auf
das wichtige konzentrieren. Auch sind sie häufig nicht in der Lage, Emotionen und das
Ausdrucksverhalten anderer richtig zu erkennen und einzuschätzen, woraufhin sie evtl.
der Situation unangepasst handeln (Impulsivität). Dadurch erzielte Misserfolge lassen
ihr Selbstbewusstsein mindern. Durch einfache Wahrnehmungsübungen, z.B. das
Erinnern an das Aussehen des Hundes, sowie durch den gezielten und erfolgreichen
Einsatz von Körpersprache oder das Planen eines Apportiervorganges, können Erfolge
erzielt werden, Kognition und Konzentration geübt werden, sowie das
Selbstbewusstsein gesteigert werden.
Soziabilität ist der dritte Bereich neben Motorik und Kognition. "Der Begriff umfasst all
jene Eigenschaften und Verhaltensweisen, die ein auf die Gemeinschaft bezogenes,
angemessenes Handeln ermöglichen." (Vernooij/Schneider 2008, S. 113) Das gezeigte
Sozialverhalten spiegelt die Soziabilität eines Menschen wieder. Soziale Normen und
kulturelle Symbole, wie die Sprache, spielen hier eine große Rolle. Ein durch
altruistisches Verhalten ist durch Rücksichtnahme gekennzeichnet. Diese Normen
müssen erlernt werden. An dieser Stelle kann die Tiergestützte Pädagogik wie folgt
ansetzen. Wenn das Grundbedürfnis nach Kontakt verschüttet ist, kann dieses durch
einen Therapiehund reaktiviert werden, weil dieser unsere urältesten Gefühle anspricht.
Sowohl Rücksichtnahme als auch Selbstbehauptung werden einem durch den Umgang
mit dem Hund abverlangt. Wo Menschen soziale Ängste eher verstärken, können Tiere
diese, durch ihre Unvoreingenommenheit, mindern. Durch das angenommen und
gebraucht werden, kann das soziale Selbstwertgefühl gestärkt werden, wodurch eine
Übertragung auf soziale Situationen mit Menschen folgen kann.
Emotionalität ist der letzte wichtige Baustein im Lernen bei AD(H)S. Positive wie
negative Gefühle werden darunter gefasst. AD(H)S-Kinder haben häufig Probleme ihre
Emotionen zu kontrollieren. Auch ist die Frustrationstoleranz meist niedrig. Hier spielt
die subjektive Reizverarbeitung eine große Rolle. "Emotionen werden von Erregung
(Spannung) oder Beruhigung (Entspannung) begleitet." (Vernooij/Scheider 2008, S.
114) Gefühle beeinflussen wiederum Organfunktionen, wie Puls und Atmung.
Ansatzpunkte der Tiergestützten Pädagogik gibt es insofern, dass Tiere Gefühle
auslösen können. Die Anwesenheit eines Hundes hat eine beruhigende Wirkung bei
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
einer hohen Erregbarkeit von AD(H)S-Kindern. Kinder und Jugendliche, welche sozial
unsicher sind, entspannen in der Nähe eines Hundes. Durch diese positive Atmosphäre
können Übungen leichter angesetzt und durchgeführt werden. Die Steuerung der
Emotionen kann durch das Therapietier insofern gefördert werden, als das Tier
unmittelbar und situationsangemessen reagiert.
Auch müssen die Kinder und Jugendlichen lernen, ihr eigenen Bedürfnisse hinter die
des Hundes zu stellen. Wenn der Hund z.B. vom Spielen müde ist und seine Ruhe haben
will, muss das Kind lernen, das zu akzeptieren, auch wenn es gerne selbst weiter spielen
will. Durch das Erlernen von Verantwortung für Lebewesen und das Verständnis dafür,
kann die Frustrationstoleranz erhöht werden.
(Vernooij/Schneider 2008, S. 110-115)
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
3 Studien und Praxismodelle der Tiergestützten Therapie und Pädagogik
Im Folgenden werden Studien und Erfahrungsberichte aufgezeigt, welche die
Wirkungen eines Therapiehundes auf Kinder und Jugendliche untersucht bzw.
beobachtet haben. Insbesondere ist das Augenmerk auf Aspekte des (sozialen)
Verhaltens gerichtet, sowie auf typische Merkmale von Kindern oder Jugendlichen mit
Verhaltensauffälligkeiten bzw. AD(H)S, wie z.B. Konzentration, Aufmerksamkeit,
soziale Integration usw. Um die relevanten Aspekte herauszufiltern, werden die in
Kapitel zwei genannten Definitionen zu AD(H)S und Verhaltensauffälligkeiten
herangezogen. Schließlich werden aus den zitierten Studien und Erfahrungsberichten
Schlussfolgerungen gezogen und diskutiert, welche Wirkung ein Therapiehund auf diese
Zielgruppe hat bzw. haben kann.
3.1 Kotrschal und Ortbauer: Einflüsse auf das Sozialverhalten von Grundschülern
In Otterstedt 2003 (S. 267 ff) beschreiben Kurt Kotrschal und Brita Ortbauer ihre
Wiener Studie zu Kurzzeiteinflüssen von Hunden auf das Sozialverhalten von
Grundschülern. „Unsere Fragen waren, ob und wie die Kinder mit dem Hund
interagieren würden, ob und wie ihre Aktivität, ihr Verhalten und ihre sozialen
Interaktionen beeinflusst sein würden.“ (Kortschal und Ortbauer in Olbrich und
Otterstedt 2003, S. 269). Diese Studie wurde ausgewählt, weil es um den Einfluss von
Therapiehunden auf soziales Verhalten, die Aktivität der Kinder und ihre soziale
Interaktion geht, welches wesentliche Aspekte von Kindern mit AD(H)S und
Verhaltensauffälligkeiten sind.
Der Aufbau der Studie ist wie folgt: Ein Semester lang begleiteten drei verschiedene
Schulhunde dreimal pro Woche für je eine Stunde eine offene Unterrichtssituation in
einer Wiener Volksschulklasse. Die Mädchen und Jungen hatten zu fast 100% einen
Migrantenhintergrund. Insgesamt besuchten zehn Mädchen und 14 Jungen diese Klasse.
Mit Hilfe einer Videokamera wurden die standardisierten, offenen
Unterrichtssituationen festgehalten, in denen jeweils einer der Hunde ruhig im
Klassenzimmer lag, während die Kinder lebhaft ihren Tätigkeiten nachgingen. Zum
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
Vergleich wurden auch offene Unterrichtseinheiten ohne die Anwesenheit eines Hundes
gefilmt. Die gefilmten Verhaltensweisen wurden individuell und quantitativ, d.h. die
Frequenz und Dauer des jeweiligen Verhaltens, dokumentiert und in Statistikprogramme
eingespeist, welche das Verhalten uni- und multivariat analysierten.
Das Ergebnis fassen Kotrschal und Ortbauer in einem Satz zusammen: „Die Hunde
verbesserten den sozialen Zusammenhalt der Klasse, die Aufmerksamkeit in Richtung
der Lehrerin und dämpften lautes, auffälliges und aggressives Verhalten.“ (Kotrschal
und Ortbauer 2003, S. 268). Für diese Arbeit ist vor allem das letztgenannte Ergebnis
von Bedeutung. Vorerst aber eine ausführlichere und allgemeine Beschreibung der
Ergebnisse zum Verständnis des Gesamtzusammenhangs.
Alle Schüler, auch diejenigen, welche den Schulhunden anfangs skeptisch gegenüber
standen, sagten aus, dass sie die Schule lieber besuchten, wenn ein Hund anwesend ist.
Ansonsten fielen die Ergebnisse uneinheitlich aus. Jeder Schüler baute seine
individuelle Beziehung zum Hund auf – der eine beschäftigte sich sehr viel mit dem
Hund, der andere beobachtete ihn nur, wieder ein anderer schien kaum interessiert. Die
Klasse insgesamt wurde jedoch einheitlicher im Verhalten, ruhiger und konzentrierter
auf die Lehrerin. Zurückgezogene Schüler kamen aus sich heraus und integrierten sich
mehr in die Klassengemeinschaft und deren gemeinsames Tun. Auffällige Kinder, vor
allem Jungen, wurden in der Anwesenheit des Hundes deutlich weniger auffällig. Die
Sozialkontakte, sowohl in direktem Zusammenhang mit dem Hund, als auch ganz
allgemein, stiegen an. Die Lehrerin wurde mit der Rolle als Hundetrainerin besser
akzeptiert, was sowohl für den Unterricht als auch für zwischenmenschliche
Angelegenheiten, wie Streitschlichtung, von Vorteil war. Auch nahmen die Kinder
Rücksicht auf das empfindliche Gehör des Hundes – es wurde ruhiger und „es kam zu
einer starken Abnahme aggressiver Auseinandersetzungen“ (Kotrschal und Ortbauer in
Otterstedt und Olbrich 2003, S. 271). Das bemerkenswerteste Ergebnis war jedoch, dass
die stärksten Effekte „bei einer Handvoll verhaltensauffälliger, lauter, bewegungsaktiver
Selbstdarsteller unter den Knaben, und auch dem einen oder anderen Mädchen mit
ähnlichen Neigungen zu bemerken (war).“ (Kotrschal und Ortbauer in Otterstedt und
Olbrich 2003, S. 271, Anpassung durch JB).
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
3.2 Casaulta und Leung: Programm mit AD(H)S-KindernCasaulta und Leung führten ein Programm durch, in dem sie mit AD(H)S-Kindern
tiergestützt arbeiteten. Ihre Beobachtungen und Erfahrungen aus der Praxis werden im
Folgenden erläutert. In diesem tiergestützten Programm wurde ein Hund in einer
Kindergruppe eingesetzt. Die Kinder waren zwischen fünf und sieben Jahren alt, hatten
AD(H)S und besuchten einen heilpädagogischen Unterricht, in welchen der Hund zwei
Wochen lang integriert wurde. Die von den Pädagogen gemachten Erfahrungen waren
folgende: Durch den Hund nahmen die Kinder ihren Körper und den des Hundes
bewusster wahr, verglichen sich mit dem Hund und stellten Unterschiede und
Gemeinsamkeiten fest. „Durch diese Erkenntnis erlebten sich die Kinder als
eigenständige Personen“ (Prothmann 2008, S. 215). Auch begannen die Kinder nach
und nach vermehrt auf die Bedürfnisse des Hundes zu achten und ließen dem Hund
seine Ruhe, wenn er diese brauchte und versuchten herauszufinden, was dem Hund
gerade gefällt und gut tut und was nicht. Auch Auswirkungen auf die Hyperaktivität
konnten festgestellt werden: Nachdem die Kinder den Hund eine viertel Stunde lang
gestreichelt hatten, wurden die Kinder deutlich ruhiger und konnten sich sogar in
Gruppentätigkeiten integrieren. Besonders aber wurde durch das Streicheln und
Betasten des warmen Fells, durch das Fühlen des Herzschlags und das Belecktwerden
durch die Zunge des Hundes der taktil-kinästhetische Sinn geschult und körperbezogene
Wahrnehmungen gemacht.
Aber nicht nur auf der physischen Ebene wurden Wirkungen beobachtet. Auch im
kognitiven und psychischen Bereich erzielte der Einsatz des Hundes Effekte. Die
verbale Kommunikation der Kinder nahm durch den Hund stark zu. Vor allem Kinder
mit Sprachproblemen und Hemmungen schafften es ohne Schwierigkeiten mit dem
Hund zu sprechen. Die ausgeprägte Körpersprache des Caniden regte zu Beobachtungen
und Gesprächen an. Höhepunkt für die Kinder mit wenig Selbstbewusstsein waren
Momente, in denen der Hund ihre „Befehle“ befolgte. Die Kinder erfuhren dadurch
erstmals Selbstwirksamkeit.
Die Wirkung auf Gruppenebene bzw. auf Ebene des sozialen Verhaltens wurde schon
kurz angerissen. Der Hund sorgte nicht nur für gemeinsamen Gesprächsstoff, sondern
festigte auch die Beziehungen der einzelnen Kinder untereinander. Auch das
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
Akzeptieren und Einhalten von Regeln sowie das Setzen eigener Regen erlernten die
Kinder durch den Umgang und die Regelkunde mit dem Hund.
Zusammengefasst nennt Prothmann (2008) die unterschiedlichen Wirkungsebenen auf
die sich der Hund bei Kindern mit AD(H)S ausgewirkt hat: Auf der Ebene der Ich-
Entwicklung fördert ein Therapiehund die Differenzierung zwischen dem Ich und
anderen Individuen, welches wiederum in besonderem Maße durch vielfältige taktil-
kinästhetische Erfahrungen ausgelöst wird. Der Hund schult die Fokussierung und
Aufmerksamkeit auf eine Sache, was durch das Lesen der Körpersprache des Hundes
ausgelöst werden kann. Mit der Beschäftigung damit, was der Hund ausdrücken will,
werden sozioemotionale Kompetenzen geschult, was das Verständnis anderer
Lebewesen und der daraus resultierenden Rücksichtnahme stärkt. Natürlich wird auch
die Beobachtungsgabe durch das „Lesen“ des Hundes und seiner Körpersprache
gefördert. Durch das Gespräch über diese Beobachtungen und den Austausch über das
Thema Hund wird gleichzeitig auch die Sprachkompetenz verbessert, was das Tier
durch seine „Akzeptanz“ von Fehlern, d.h. seiner Nichtbewertung, zusätzlich positiv
bestärkt. Diese Eigenschaft der unbedingten Annahme fördert auch die
Beziehungsfähigkeit der Kinder. Sie sind vermehrt interessiert daran, wie es dem Hund
geht, was er gerade macht und wo er ist. Sie erleben gegenseitiges Vertrauen und
überwinden somit Ängste bzw. lernen mit Angst und anderen Emotionen umzugehen.
Durch diese Basis des Vertrauens und einen angstfreien Raum können Lernfortschritte
gemacht und Selbstbewusstsein aufgebaut werden. Die Kinder werden offener,
akzeptieren auch Grenzen und bauen eigene zum Selbstschutz auf, d.h. erlernen den
Umgang mit Distanz und Nähe. Dies zeigt, dass ein Hund auf verschiedensten
Wirkungsebenen ansetzen kann, physisch, psychisch, emotional, kognitiv und sozial –
alles Kompetenzbereiche, welche bei AH(H)S-Kindern eingeschränkt bzw.
förderungsbedürftig sind.
(Prothmann 2008, S. 223 ff, 167 ff)
In einer Studie von Hergovich et al. wurden ebenfalls Kinder im frühen Grundschulalter
und der Einfluss auf diese durch Schulhunde untersucht. Unter anderem wurden soziale
Integration sowie aggressive Verhaltensweisen der Schüler in einem Lehrerfragebogen
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
beurteilt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Empathie gegenüber den Hunden signifikant
anstieg, die Atmosphäre im Klassenzimmer sich zum Teil verändert hat und die Kinder
geselliger wurden. Es ist anzumerken, dass die Studie u.a. aufgrund fehlender
Randomisierung nicht vollständig dem Gütekriterium der Objektivität genügt.
(Prothmann 2008, S. 217)
Dass die motorische Unruhe bei Kindern durch den Einsatz von Tieren bemerkenswert
nachlässt und Kinder durch die Beschäftigung mit lebendigen Tieren, im Vergleich zum
Spiel mit Stofftieren, wacher und aufmerksamer sind haben Naar et al. gefunden. In
dieser experimentellen Studie, in der ganz allgemein das kindliche Verhalten unter dem
Einfluss eingesetzter Tiere - hier Meerschweinchen - untersucht wurde, konnte auch
festgestellt werden, dass Kinder wachsamer und aufmerksamer sind, wenn sich diese
mit dem lebendigen Tier anstelle eines Stofftieres beschäftigten. Auch hellte sich die
Stimmung der Kinder in der Sequenz mit dem Meerschweinchen auf, welche im
Experiment mit dem Spiel mit künstlichen Tieren abwechselte. Prothmann lässt die
Schlussfolgerung zu, dass Tiere, auch bei kurzzeitigen Kontakten, signifikant kindliches
Verhalten hin zu Offenheit, Neugierde und Fröhlichkeit verändern.
(Prothmann 2008, S. 218 ff)
3.3 Prothmann: Einfluss auf die Befindlichkeit von Kindern und Jugendlichen
Lange Zeit war es nicht anerkannt, subjektives Erleben und Empfinden als Wirkung
einer Therapie anzusehen. Man hat aber schließlich dessen Wichtigkeit herausgefunden,
als nachweisbar hochwirksame Medikamente trotz Wirksamkeit nicht zwingend zu
einem veränderten Erleben beim Patienten geführt haben. Aufgrund dieser Tatsache und
der Tatsache, dass sowohl die Beziehung zwischen Klient und Therapeut/Pädagoge als
auch das subjektive Erleben des Klienten von bedeutender Wichtigkeit sind, sollte die
Studie von Prothmann als relevant eingestuft werden. Diese Studie von Prothmann
untersucht die Veränderung der Befindlichkeit eines Klienten unter dem Einfluss
Tiergestützter Therapie.
An der Studie nahmen in Experimental- und Kontrollgruppe zusammengerechnet 100
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
Kinder und Jugendliche im Alter von elf bis 20 Jahren, die in stationärer psychiatrischer
Behandlung waren, teil. Vier Therapiebegleithunde kamen einmal in der Woche für eine
halbe Stunde in eine nondirektive, freie tiergestützte Spieltherapie. Die Probanden
beurteilten jeweils vor und nach jeder Sitzung ihre subjektive, aktuelle Befindlichkeit
anhand der Basler Befindlichkeitsskala. Die Kontrollgruppe wurde ebenfalls, um
zufällige Stimmungsschwankungen ausschließen zu können, zeitgleich getestet.
Bei den Ergebnissen viel auf, dass sich die Mittelwerte der beiden Gruppen anfangs
nicht signifikant, jedoch am Ende signifikant unterschieden. Die folgenden vier
Subskalen wurden abgefragt: Vitalität, Vigilanz, soziale Extraversion und das
innerpsychische Gleichgewicht, außerdem die Gesamtbefindlichkeit. Diese waren bei
den Probanden der Tiergestützten Therapie um ein vielfaches höher als bei der
Kontrollgruppe. Ebenfalls beachtlich ist das Ergebnis des Zusammenhangs zwischen
dem Ausgangswert der Befindlichkeit und dem Ausmaß der Veränderung. Hier konnte
ein negativer Zusammenhang festgestellt werden, was bedeutet, dass die Veränderung
der subjektiven Befindlichkeit um so stärker war, desto niedriger das Ausgangsniveau
der Befindlichkeit zu Anfang der Therapie war.
Die Forscher interessierte außerdem die Frage, ob es Patienten gab, bei denen die
Tiergestützte Therapie einen gegenteiligen Effekt, nämlich eine Verschlechterung der
Befindlichkeit nach sich zog und was die Ursache dafür war. Eine gemittelte
Verschlechterung der Befindlichkeit war bei 11,5% der Probanden der Fall, das sind
sieben von 61 Probanden aus der Experimentalgruppe. Als Grund gaben die Klienten
die zeitgleiche Videoaufzeichnung, sowie die Unmöglichkeit mit dem Hund im freien
Spielen zu können, an.
Mögliche Bedenken, dass das Evaluationsinstrument - die Basler Befindlichkeitsskala
(BBS), welche für Erwachsene konzipiert wurde - nicht für Kinder und Jugendliche
angewandt werden kann, konnten ausgeräumt werden. Mit dem Anwendungsalter von
mindestens elf Jahren begegnete man möglichen Sprachverständnisschwierigkeiten.
Außerdem wurde der Test mit kindgerechten Umschreibungen im Multiple-Choice-
Verfahren angewandt.
"Wie die Ergebnisse der Vorher-Nachher-Messung zeigen, hatte die Gegenwart eines
Hundes einen hoch signifikanten Einfluss auf alle getesteten Dimensionen der
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
kindlichen Befindlichkeit. Die Änderungen waren drei- bis 16fach stärker ausgeprägt
als in der Kontrollgruppe. Das heißt, die Präsenz eines Hundes steigerte in großem
Umfang die Wachheit und Aufmerksamkeit des Kindes, führte zu mehr Offenheit und
Bedürfnis nach Sozialkontakt und Austausch, förderte die Wahrnehmung gesunder und
vitaler Anteile und beeinflusste das innere seelische Gleichgewicht in Richtung zu mehr
Ausgewogenheit" (Prothmann 2008, S. 153).
Prothamnn (2008, S. 143 ff)
3.4 Allgemeiner positiver Einfluss von (Heim-)TierenÜber diese großen Studien hinaus gibt es noch einige Untersuchungen, welche zu
ähnlichen Ergebnissen kommen bzw. den allgemeinen positiven Einfluss von Tieren im
physischen, sozialen und emotionalen Bereich, sowie im Bereich der Kognition und
Sprache, belegen (Vernooij/Schneider 2008, S. 123 ff, S. 139ff, ). Ergebnisse dieser
sollen im Folgenden kurz umrissen werden:
Bergler (1994), Guttmann/Predovic/Zemanek (1985) belegen in Heimtierstudien zum
Beispiel, dass Kinder, welche mit Haustieren aufwachsen, eine subtilere
Kommunikation erlernen und den menschlichen Gesichtsausdruck genauer
interpretieren und deuten können. Dass Tiere Einsamkeit reduzieren und einen neuen
Anreiz geben, gebraucht und somit wieder aktiv zu werden, belegt Katcher (1980).
Tiere sind Pflegeobjekte, um die man sich gerne kümmert. Sie werden auch durch ihre
Wirkung als Emotions- und Aufmerksamkeitsobjekt bezeichnet. Diese Einflüsse werden
unter dem biologisch-physischem Bereich zusammengefasst.
Den sozialen und emotionalen Bereich decken Untersuchungen von Levionson (1962,
1986, 1969, 1975), Corson/Corson (1975, 1977,1979) und Salomon/Salomon (1982) ab.
Schlagworte sind die Katalysator-, Übertragungs- und Brückenfunktion der Tiere, durch
die Kontakt angebahnt werden kann, da sie eine emotional ansprechende Wirkung
haben und für eine positive Atmosphäre sorgen. Auch Lee (1978) hat im sozialen und
emotionalen Bereich herausgefunden, dass durch Tiere Gewalt reduziert wird und
Medikationen verringert werden können.
Im Bereich der Kognition und Sprache fanden Hendy (1984) sowie Limond et al.
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
(1997), dass das Interesse an der Umwelt sowie die Aufmerksamkeitsspanne gesteigert
werden durch den Einsatz von Tieren. Ebenfalls zu Kognition und Sprache stellen Smith
(1984), Nathanson (1989, 1998), Kupper-Heilmann 1998, Kohn/Oerter (2004), sowie
Breitenbach et al. (2006) eine Erhöhung der Interaktionsbereitschaft, eine Erleichterung
der Kontaktaufnahme sowie eine verbesserte verbale Kommunikationsfähigkeit fest.
Dass Tiere eine günstige Basis für pädagogisches oder therapeutisches Arbeiten
schaffen, belegen Katcher (1980, 1981), Friedmann et al. (1983) und Braun et al.
(1984). Sie stellten fest, dass sich die Anwesenheit von Tieren auf Blutdruck, Kreislauf
und Hormonausschüttung positiv auswirken. Durch das Streicheln des Felles wird das
körpereigene Hormon Oxytocin ausgeschüttet, welches stressreduzierend wirkt und das
Vertrauen steigert. Dadurch reduziert sich auch Angst. Außerdem wird der Blutdruck
gesenkt und der Kreislauf stabilisiert.
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
4 Reflexion und DiskussionIn diesem Abschnitt der Reflexion und Diskussion sollen alle Ergebnisse aus Theorie
und Praxis verglichen, zusammengefasst und im Überblick bewertet werden. Zu Grunde
gelegt werden die Fragen nach Vor- und Nachteilen, sowie dem Mehrwert der
Tiergestützten Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen mit Störungen
mit unterkontrollierendem Verhalten.
Die Studien haben gezeigt, dass die Tiergestützte Pädagogik und Therapie vielfältige
Ansatzpunkte für Kinder und Jugendliche mit AD(H)S und Verhaltensstörungen
aufweisen. Zusammengefasst kann man sagen, dass ein Therapiehund, richtig
eingesetzt, sowohl
a) die Grundvoraussetzungen im Kind selbst schafft, sich auf eine Therapie einlassen zu
können, b) die Voraussetzung der pädagogischen/therapeutischen Arbeit zwischen Kind
und Pädagoge/Therapeut schafft, c) eine allgemeine Lerngrundlage bietet bzw.
ganzheitliches Lernen möglich macht, als auch d) konkrete Ansatzpunkte der
Behandlung der spezifischen Störung bietet (siehe Abbildung 2).
d) Spezifische Einwirkung an Problemfeldern
c) Positive Beeinflussung des ganzheitlichen Lernens
b) Atmosphäre und Beziehung zum Therapeuten
a) Einstellung des Kindes zur Therapie
Positiver Einfluss eines Therapiehundes
Abb. 2: Ebenen der positiven Beeinflussung in einer Therapie
31
Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
In anderen Worten bedeutet dies für a), dass der Hund, durch seinen Einfluss auf die
biologisch-physische Ebene, die Voraussetzung einer positiven und vertrauten
Atmosphäre ohne Angst und Stress schafft. Durch die Blutdrucksenkung und die
Ausschüttung des Vertrauenshormons "fährt das Kind runter", beruhigt sich und beginnt
sich auf die Therapiesituation/Maßnahme einzulassen. Egal ob das Kind ängstlich,
traurig oder aggressiv ist, durch das Streicheln des Hundes und dessen Zuwendung kann
jede Emotion "neutralisiert" werden. Durch den Einsatz des Hundes wird folglich eine
essenzielle Voraussetzung überhaupt geschaffen, was ohne die Arbeit mit Tieren
gegebenenfalls auf der Strecke bleiben würde bzw. schlichtweg nicht oder nur schwer
beeinflusst werden kann oder aus kosten- und ökonomischen Gründen zu kurz kommt.
Auf dieser Basis wird wiederum b) eine wichtige Türe durch den Hund geöffnet: die
Kontaktaufnahme. Ein Kind, welches zum Therapeuten geht, hat noch keine
Krankheitseinsicht, weshalb es oft schwierig ist, einen Kontakt herzustellen. Hier kann
die Anwesenheit bzw. die Einbeziehung eines Hundes oder Tieres sehr hilfreich sein.
Durch das Tier kann eine natürliche Beziehung, in einer angstfreien Umgebung zu
Stande kommen. Dieser Vorgang nennt sich „Brückenfunktion“ (Vernooij/Schneider
2008, S. 57). Durch das therapeutische Dreieck Kind - Therapiehund -
Pädagoge/Therapeut (siehe Abbildung 3) hat der Therapeut oder Pädagoge die
Möglichkeit, gerade auch bei beziehungsgestörten Kindern, über das Tier mit diesen in
Kontakt zu treten.
Therapeut/Pädagoge
Kind/Jugendlicher Therapiehund
Abb. 3: Das therapeutische Dreieck
32
Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
Durch die unvoreingenommene Authentizität, die scheinbare Empathie und die
unbedingte Zuwendung des Hundes, fühlt sich das Kind angenommen so wie es ist und
beginnt sich dem Therapiehund gegenüber zu öffnen. Der Therapeut nutzt diese
Brückenfunktion des Hundes nun, um nach und nach selbst mit dem Kind in Kontakt zu
treten (b). Eine nicht unbedeutende Nebenwirkung ist, dass der Therapeut/Pädagoge
durch die Rolle des Hundeführers ganz allgemein vom Kind mehr geachtet wird - ein
weiterer Mehrwert der Tiergestützten Pädagogik. Auch die Tatsache, dass eine
Interaktion mit dem Hund geschieht, lässt oftmals die eigentliche Therapie vergessen
bzw. die Motivation des Jugendlichen steigern.
Drittens bietet der Hund unterschiedliche Ansatzpunkte des Lernens, vor allem aber auf
ganzheitlicher Ebene (c): Tiere, vor allem Hunde, sprechen die biologisch-physische,
psychische, soziale, emotionale und sprachlich-kognitive Ebene Kinder und
Jugendlicher an. Da diese Voraussetzung nun gegeben ist, kann der Therapeut an den
ganz speziellen Problemfeldern des Kindes ansetzen, wobei er natürlich
ressourcenorientiert handeln sollte. Dazu setzt er einen Schwerpunkt auf einer der vier
Kompetenzebenen: Fach-, Selbst-, Sozial- oder Methodenkompetenz. (siehe Abbildung
4)
Abb. 4: Kompetenzbereiche
33
Fach-
Selbst- Methoden- Therapiehund
Sozialkompetenz
Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
Nun sind alle Voraussetzungen erfüllt. Das Kind ist durch den Hund motiviert und hat
zum Therapeuten/Pädagogen eine Beziehung aufgenommen. Die eigentliche Therapie
bzw. Maßnahme kann beginnen. Im Folgenden werden die Kompetenzbereiche
exemplarisch beschrieben und Wirkungsfelder zugeordnet, um einen Überblick zu
geben.
Der erste Schritt ist es, Verhaltensregeln im Umgang mit dem Hund aufzustellen und zu
erlernen. Dies hat einen zweifachen Nutzen. Zum einen ist das richtige Verhalten die
Voraussetzung überhaupt mit dem Hund arbeiten zu können. Das Erlernen der
Hunderegeln gehört zum Bereich der Fachkompetenz. Das Kind erlernt etwas neues,
wird zum "Profi" in Sachen Hunde. Zum anderen werden durch dieses Fachwissen das
Selbstbewusstsein und die Motivation, gemeinsam mit Pädagoge und Hund zu arbeiten,
gesteigert.
Im zweiten Schritt können die geplanten Fein- und Grobziele umgesetzt werden. Der
Vorteil an der tiergestützten Arbeit mit dem Hund ist, dass sämtliche Wirkungsbereiche
angesprochen werden können. Zum Bereich der Selbstkompetenz, welche vor der
Sozial- und Methodenkompetenz stehen sollte, zählen (Körper-)Wahrnehmung,
Selbsteinschätzung, Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl, emotionale Selbststeuerung und
Authentizität. Wenn das Kind im Bereich der Selbstkompetenz gestärkt ist, kann zur
Ebene der Sozialkompetenz gegangen werden. Hierzu zählen Anpassungs- und
Kompromissbereitschaft, soziale Sensibilität, Empathie, soziale Zuverlässigkeit, verbale
und nonverbale Kommunikationsfähigkeit sowie Fairness. Je nach dem welche Methode
der Jugendliche erlernen soll - im Bereich von AD(H)S-Kindern bieten sich motorische
Fähigkeiten an - gehören Koordination, Geschicklichkeit, Handlungsplanung und
Entscheidungsfähigkeit zum Gebiet der Methodenkompetenz.
Nicht zuletzt werden durch Erfolgserlebnisse in Zusammenarbeit mit dem Hund
emotionale und soziale Fähigkeiten verbessert sowie eine stimmige Fremd- und
Selbsteinschätzung. Das Selbstbewusstsein wird durch die Erfahrung von
Selbstwirksamkeit angehoben, Frustrationstoleranz und Lernmotivation aufgebaut.
Diese Ziele können sowohl der Sozial- als auch der Selbstkompetenz zugeordnet
werden. Es gilt sich aus dieser Fülle von Eigenschaften Schwerpunkte herauszugreifen.
34
Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
Bei Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensstörungen oder AD(H)S finden sich genau
jene Probleme im Bereich der sozialen und emotionalen Kompetenzen, an dem
gleichzeitig die Nachteile ansetzen:
AD(H)S-Kinder sind oft rücksichtslos und versuchen ohne Rücksicht auf Verluste ihre
Anschauungen, Wünsche und Vorhaben umzusetzen. Affekthandlungen sind das
Ergebnis eines unüberlegten und unreflektierten Umgangs mit sich und der Umwelt.
Wenn jene Affekthandlungen überhand nehmen und sich die Aggression gegen den
Hund richtet, ist Vorsicht geboten und genau abzuwägen, ob die Maßnahme
weitergeführt oder abgebrochen werden muss. Eine wichtige präventive Maßnahme ist
die Auswahl eines geeigneten Therapiehundes. Dieser darf nicht zu sensibel sein bei der
Zielgruppe der AD(H)S- und verhaltensgestörten Kindern. Röger-Lagenbrink formuliert
dies treffend, was Menschen nicht unterschätzen sollten: “Oftmals wird unterschätzt,
welchen negativen und aggressiven Energien, Schwingungen und depressiven
Gefühlslagen die Hunde während einer Therapiestunde ausgesetzt sind. Hinzu kommt
eine eventuell spannungsgeladene oder auch traurige, leidende Atmosphäre in den
fremden Räumen – dies alles spüren Hunde extrem intensiver als die Menschen um sie
herum” (Röger-Lagenbrink 2008, S. 40).
Ein weiteres Problem stellt das Grundprinzip der Freiwilligkeit dar. Eine Voraussetzung
für erfolgreiche Tiergestützte Pädagogik und Therapie ist, dass der Klient freiwillig an
der Maßnahme teilnimmt. Hier zeichnen sich zugleich die Grenzen der Tiergestützten
Therapie ab: Was sich in einer tiergestützten Einzelmaßnahme noch als einfach
herausstellt, wird ein einer integrativen Maßnahme, z.B. der tiergestützten
Psychotherapie, evtl. zum Problem. Während die ergänzende oder alleinstehende
tiergestützte Maßnahme abgelehnt oder angenommen werden kann, besteht bei
bestimmten Therapien ein Zwang. Wenn dieser sich auf den integrativen Teil mit einem
Therapiehund überträgt, sind die Grundpfleiler verletzt.
Ein weiterer Nachteil sind die Ausschlusskriterien. Je nach Art der Aggression ist dies,
wie oben genannt, auch schon ein Ausschlusskriterium. Des Weiteren sind Allergien,
extreme Hundephobien und medizinische Indikatoren, welche eher bei anderen
Zielgruppen und in anderen Bereichen, z.B. im Krankenhaus, zu finden sind.
35
Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
Neben diesen Nachteilen ist grundsätzlich auch die Übertragbarkeit der
Studienergebnisse, welche eine allgemeine positive Wirkung beweisen,
diskussionswürdig. Prothmann´s Studie zur Befindlichkeit zum Beispiel besagt, dass die
Tiergestützte Therapie bei denjenigen Kindern mit dem schlechtesten Ausgangszustand
am besten angeschlagen hat. Nun ist die Frage, ob die besagten Wirkungen auf die
Befindlichkeit auch bei nicht so gravierend gestörten Kindern und Jugendlichen
anschlagen. Denn die Zielgruppe dieser Studie sind, im Vergleich zu ambulant
behandelten Kindern, stationär behandelte Kinder und Jugendliche.
5 AusblickDass die Tiergestützte Pädagogik und Therapie richtig eingesetzt einen großen
Mehrwert mit sich bringt, belegen Theorie und Praxis. Darüber hinaus ergeben sich
jedoch auf einer höheren Ebene einige Faktoren, welche die Tiergestützte Pädagogik
und Therapie in ihrem Vorankommen in Deutschland hindern oder bremsen:
Da die Risikofaktoren für Verhaltensstörungen bei Kindern laut Prothmann (2008, S.
219) ein niedriger sozioökonomischer Status, das Großstadtleben, Arbeitslosigkeit,
Alleinerziehende bzw. Patchwork-Familien sowie ein schlechtes Bildungsniveau sind,
ist es gerade für diese Schicht schwierig, die Tiergestützte Pädagogik und Therapie als
unterstützende Maßnahme zu erhalten. Der Grund dafür ist, dass diese Interventionen in
Deutschland noch nicht von der Kasse anerkannt sind und somit privat bezahlt werden
müssen. Hier besteht von Seiten der Politik dringend Handlungsbedarf, da die
Tiergestützte Therapie zum Beispiel in Amerika einen festen Stellenwert in der Medizin
hat und voll anerkannt ist.
Aber auch im Bereich der Forschung besteht Handlungsbedarf, da es vor allem viele
Studien mit Heimtieren gibt, die zwar die allgemeine positive Wirkung von
(Haus-)Tieren auf den Menschen belegen, aber strenggenommen nichts mit einem
aktiven, professionellen Einsatz von Therapietieren zu tun hat. Wichtig bei Studien ist
darüber hinaus auf die Einhaltung der Gütekriterien Objektivität, Validität und
Reliabiltät zu achten.
Auch die Standardisierung dieser Fachrichtung ist ein weiterer Problembereich.
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
Tiergestützte Maßnahmen werden hierzulande mit ehrenamtlichen Besuchsdiensten
gleichgesetzt, weshalb eine Professionalisierung der Tiergestützten Pädagogik und
Therapie schwierig ist. Auch gibt es vielerlei (unprofessionelle) Anbieter von
Maßnahmen und Fortbildungen im Bereich der Tiergestützten Therapie. Dadurch wird
die Auswahl einer tiergestützten Maßnahme für das eigene Kind oder einer Fortbildung
in diesem Bereich Laien bzw. Interessierten sehr schwer gemacht.
Jedoch ist in positiver Hinsicht festzuhalten, dass mit Hilfe der Tiergestützten
Pädagogik und Therapie – gerade im Bereich der multimodalen Anwendung – sehr viel
erreicht werden kann. Der Grund hierfür ist, dass die Tiergestützte Therapie einen
großen Vorteil im Vergleich zu herkömmlichen Behandlungsansätzen hat: Sie setzt an
der inneren Einstellung, der intrinsichen Motivation an, welches meiner Meinung nach
der größte Mehrwert dieser Methode ist. Prothmann umschreibt diesen Wert mit einem
Satz, welcher auch auf pädagogische Maßnahmen übertragbar ist:
"Die Kinder und Jugendlichen erleben sich in eine Atmosphäre versetzt, die von
Wärme, Akzeptanz und Einfühlungsvermögen in ihre Gefühlswelt geprägt ist; Kriterien,
die über alle Psychotherapieschulen hinweg als Fundament einer tragfähigen, zu
Veränderungen ermutigenden Beziehung zwischen Patient und Therapeut angesehen
werden" (Prothmann 2008, S. 154).
Auch wird von vielen Experten eine multimodale Behandlung als wesentlich effizienter
und sinnvoller eingestuft, als die Behandlung durch eine einzige Methode. Deshalb
kann die Tiergestützte Pädagogik und Therapie grundsätzlich - wenn die Freiwilligkeit
des Patienten gegeben ist - nicht nur als sinnvolle Ergänzung angesehen werden,
sondern als ein Schritt in Richtung der gegenseitigen Befruchtung verschiedener
Wissenschaften und Ansätze. So vermutet Prothmann "dass die hier nachgewiesenen
Effekte in Synergie mit gezielten Interventionen durch einen geschulten
Psychotherapeuten den Therapieprozess erheblich katalysieren und vertiefen kann"
(Prothmann 2008, S. 154).
Nicht zuletzt sind die Vorteile eines Hundes, im Vergleich zu anderen Therapietieren,
von großer Bedeutung: Durch die ihm zugesprochenen Rogers-Variablen der Empathie,
der bedingungslosen Anerkennung und seiner Authentizität ist er, meiner Meiung nach
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
ein Therapietier mit dem man gerade bei Kindern und Jugendlichen sehr viele Effekte
erzielen kann. Dadurch, dass er ein Rudeltier ist, können sozial gestörte und auffällige
Kinder sehr viel von diesem Wesen, welches von Fachkräften gezielt eingesetzt wird,
lernen. Der Canide macht den Kindern und Jugendlichen auf eine angenehme Art und
Weise klar, wenn ihr Verhalten nicht angebracht ist, indem er promt und ohne Urteile
auf unangemessenes Verhalten reagiert. Durch seinen Aufforderungscharakter werden
die Kinder und Jugendlichen trotzdem motiviert, sich mit ihrem eigenen Verhalten
auseinanderzusetzten – auch wenn diese dies gar nicht bemerken, da für sie der Spaß
und die Freude mit dem Tier im Vordergrund steht.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Tiergestützte Pädagogik und Therapie ein
Gegengewicht zu unserer schnelllebigen, von Medien durchfluteten Gesellschaft ist,
welche keine unerwünschten Nebenwirkungen birgt. Sie führt uns wieder zu unseren
urältesten Sinnen und evulutioären Erfahungen zurück, indem essentielle Bedürfnisse
befriedigt und die intrinsiche Motivation wieder in den Vordergrund allen Lernens und
aller Veränderung gerückt werden.
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
6 Literatur und Quellenangaben
[1] Arbeitsgemeinschaft der deutschen Ärztekammern:
www.Bundesärztekammer.de/page.asp?his=0.145, Berlin, letzte Änderung 2006, Abruf
am 2.6.11
[2] Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information:
www.dimdi.de/static/de/klassi/diagnosen/icd10/htmlamtl/fr-icd.htm?gf90.htm+, Abruf
am 2.6.11
[3] Kotrschal K./Ortbauer B. 2003: Kurzzeiteinflüsse von Hunden auf das
Sozialverhalten von Grundschülern in Otterstedt C. 2003, S. 267-272
[4] Otterstedt C. 2003: Menschen brauchen Tiere. Grundlagen und Praxis der
tiergestützten Pädagogik und Therapie. Stuttgart
[5] Prothmann, A. 2008: Tiergestützte Kinderpsychotherapie. Frankfurt am Main
[6] Röger-Lagenbrink, I. 2008: Das Therapiehunde-Team. Ein praktischer Wegweiser.
Lettland
[7] Vernooij M. A. /Schneider S. 2008: Handbuch der Tiergestützten Intervention.
Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder. Wiebelsheim
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
7 Abbildungsverzeichnis
Die Abbildungen und Tabellen stammen, soweit nicht anders angegeben, von der Autorin.
Abbildung 1: Berührungspunkte Tiergestützte Pädagogik/Therapie und
ADHS/Verhaltensauffälligkeiten und Gesamtzusammenhang .................................S. 07
Abbildung 2: Ebenen der positiven Beeinflussung in einer Therapie.......................S. 31
Abbildung 3: Das therapeutische Dreieck.................................................................S. 32
Abbildung 4: Kompetenzbereiche.............................................................................S. 33
8 Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Überblick über Formen der tiergestützten Intervention.....................S. 12
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Tiergestützte Pädagogik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen - Jennifer Baur
9 Erklärung
Hiermit erkläre ich, dass ich diese Arbeit selbständig verfasst und alle verwendeten
Hilfsmittel und Quellen angegeben habe (auch Internetquellen).
………………………………………………………………………………………….Ort, Datum Unterschrift
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