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Text-Musik/Musik-Text
Musikalische Poetik in Romanen der 90er Jahre
Hausarbeit zur Erlangung des Magistergrades der Philosophischen Fakultt zu Mnster (Westfalen)
I N H A L T
1. Einleitung..................................................................................................1 2. Theoretische Grundlagen im musik-literarischen Feld.....................................5
2.1 Konzeptbereiche der Musiksthetik .......................................................... 5 2.1.1 Musik und Gefhl ........................................................................ 6 2.1.2 Musik und Form .......................................................................... 7 2.1.3 Musik und Ideologie .................................................................... 8
2.2 Musik und Literatur Vorstellung des Feldes aus zeichentheoretischer Sicht ... 9 2.2.1 Musik und Sprache ...................................................................... 9 2.2.2 Musik und Literatur ................................................................... 13 2.2.3 Musik in der Literatur ................................................................ 15
3. Zum Begriff Pop ................................................................................... 18
3.1 Popmusik als kulturelle Praxis ............................................................... 19 3.2 Soziale Funktionen von Popmusik .......................................................... 23
3.2.1 Identittsbildung durch Popmusik................................................ 23 3.2.2 Pop als sinnlich-lustvolle Erfahrung.............................................. 26
3.3 Zur Tradition der Popliteratur................................................................ 29 4. Musikalische Poetik in Romanen der 90er Jahre .......................................... 33
4.1 Zum Verstndnis des Musikalischen in der Literatur ............................... 33 4.2 Musik als Struktur und Kompositionsprinzip............................................. 35
4.2.1 Titel und Paratext Musikalische Form als Setzung des Autors.......... 36 4.2.2 Linguistische Annherung an musikalische Effekte und Muster.......... 44
4.3 Das Sprechen ber Musik als Wertung ..................................................... 56 5. Funktionen der Musikalisierung ................................................................. 64
5.1 Identittsbildung und Positionierung der Romanfiguren ............................ 64 5.2 Musik als Befreiung vom Diskursiven ...................................................... 67 5.3 konomische Funktionen...................................................................... 72
6. Fazit........................................................................................................ 76 7. Literaturverzeichnis.................................................................................. 80
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Text-Musik/Musik-Text ... Einleitung, Seite 1
1. Einleitung
Talking about music is like dancing about architecture.1
... doch warum wird immer wieder der Versuch gemacht, ber Musik zu sprechen oder zu
schreiben? Der Schwierigkeit, ja Unmglichkeit ist man sich offenbar bewut, wie das
geflgelte Wort zeigt. Seit Jahrtausenden bedienen sich Menschen der Musik, um ihrer
Sicht von Welt, ihrem Glauben und Schmerz Ausdruck zu verleihen, um Rituale zu feiern
und auf diese Art und Weise Gesellschaft zu erfahren. Musik scheint eine archaische Kraft
zu besitzen, die dem geschriebenen Wort nicht eigen ist, daher vielleicht der atavistische
Wunsch der Literatur, in den unschuldigen Zustand der Musik zurckzugelangen, sich von
der Referenz zu lsen und der Performanz nachzuspren.
Die Koexistenz von Text und Musik im Lied ist weitaus lter als die Einzelgattung Litera-
tur. So ist es nicht verwunderlich, da die Diskussion ber das Verhltnis von Musik und
Literatur seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr abgerissen und heute scheinbar aktueller
denn je ist. Musikzeitschriften thematisieren die Songkrise2, den fortschreitenden Ver-
zicht auf Text in der Popmusik, die Musikmesse PopKomm bringt ein eigens dem (Pop-
)Text zugedachtes Ressort hervor, die WortKomm, Schriftsteller produzieren in Zusam-
menarbeit mit Musikern sowohl Tontrger als auch Texte3, Lesungen werden zunehmend
von musikalischen Acts begleitet, Musiker sind schriftstellerisch und Schriftsteller musi-
kalisch ttig. Der Blick auf die Literaturlandschaft der letzten Jahre zeigt, da berall
Bcher ber das Aufwachsen mit Pop erscheinen, die wohl durch Nick Hornbys HIGH
FIDELITY ausgelste Welle der auflagenstarken Verffentlichung sogenannter Popliteratur
ist augenfllig.
Das feuilletonistische Schreiben ber solche Bcher weist verstrkt musikalische Meta-
phern auf, die als Beschreibung einer neuen Textpraxis dienen sollen. Die Rede ist von
Bchern, die sein wollen wie Schallplatten4, von Autoren, die ihre Texte wie ein DJ
zusammengemixt5 haben, von bersetzungsversuchen von Musik in Text6, von akusti-
1 Pilz, Michael: Wie Literaten sich plagen, Pop zu erzhlen. In: Die Welt, 13.04.1999 (hier: WWW-Dokument (18.12.1999), URL: http://www.welt.de/daten/1999/04/13/0413ku64520.htx, Abs. 6).
2 Vgl. Kirchner, Barbara: Rettung des Songs als Programm. Blumfeld, das denkende Herz. In: Spex. Das Magazin fr Popkultur (hrsg. von Diedrich Diederichsen u.a.), Kln, 02/99, S. 30-34 sowie Bsser, Martin: Ich ist eine Textma-schine. In: testcard. Beitrge zur Popgeschichte (hrsg. von Martin Bsser u.a.), Mainz: Ventil, #6: Pop-Texte, 1998, S. 6-21.
3 Z.B. Westbam (Maximilian Lenz): Mix, Cuts and Scratches. (Internationaler Merve Diskurs #204) Berlin: Merve 1997, oder auch die 3 CDs WORD von Rainald Goetz (mit Oliver Lieb, Stevie B Zet), Eye Q Records (hrsg. von BMG UFA & Moonquake Musikedition Discoton) 1994.
4 Mensing, Kolja: Endlich einmal alles gut finden. Der Tagesspiegel 08.11.1998. S. W7. 5 Schrder, Christian: Fr immer jung. Rainald Goetz erfreut sich an der Wirrnis und Wirklichkeit der Techno-Szene.
WWW-Dokument (01.03.1999), URL: http://www.tagesspiegel.de/archiv/1998/ 05/15/li-bl-7789.html, Abs. 4, vgl. auerdem Mensing, 1998, S. W7.
6 Vgl. Schrder, 1998, Abs. 2.
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Text-Musik/Musik-Text ... Einleitung, Seite 2
scher Mimesis7, vom Groove dieser Texte8 und davon, da jeder Absatz ein kleiner
Song9 sei. Auch positionieren sich Autoren solcher Texte durch Selbstaussagen als
musiknahe Schriftsteller.
Die vorliegende Arbeit untersucht, ob und inwiefern solche Metaphern und Schlagworte
tatschlich auf eine Textpraxis verweisen, die musikalisch genannt werden kann. Es
soll weniger festgestellt werden, ob diese Erzhlstrategien literaturgeschichtlich gesehen
neu sind, sondern ob in den Texten Musikalisierungen vorgenommen werden und welche
Funktionen sie erfllen. Auf der anderen Seite soll geprft werden, ob das Labeling durch
den Begriff Pop nicht lediglich dazu dient, die Bcher als modern und zeitgem zu
kennzeichnen, um sie so gerade in popinteressierten Szenen besser verkaufen zu
knnen, ganz der Devise Pop statt Flop entsprechend.
Die Romane GUT LAUT von Andreas Neumeister, RAVE von Rainald Goetz und SOLOALBUM von
Benjamin von Stuckrad-Barre wurden hier gewhlt, da sie schon allein durch ihren Titel
und ihre Bewerbung in den Medien als Musikromane und Popliteratur gekennzeichnet
sind. Unabhngig von ihrer literarischen Qualitt sind sie nicht als randstndige, mi-
noritre oder subkulturelle Phnomene zu behandeln, da sie eben als serise Literatur
behandelt werden: Sie erscheinen in renommierten Verlagen, die Lesungen der Autoren
sind zumeist ausverkauft, und ihre Urheber beteiligen sich aktiv und medienwirksam am
ffentlichen Diskurs ber das Leben mit/im Pop.10
Es ist nicht zu bestreiten, da jede Form von Kunst ber ihre Grenzen hinausweist und
wie es der Komparatist Peter V. Zima ausdrckt - als pars pro toto der Gesamtkunst11 zu
sehen ist. Die Gefahr der rein assoziativen Verknpfung musikalischer und literarischer
Werke liegt aber in einem Subjektivismus, der durch zumeist vage Analogien in den Kn-
sten verschleiert, da es sich bei Musik und Literatur um verschieden funktionierende,
heterogene Zeichensysteme handelt, die eben nicht durch ein einheitliches Vokabular
beschrieben werden knnen. Um das Verhltnis von Wort und Musik in der ausgewhlten
zeitgenssischen Literatur untersuchen zu knnen, drfen Probleme dieser Art nicht un-
bercksichtigt bleiben. Ein Blick in die Literatur zeigt, da die Semiotik die fhrende
Rolle als Trend und Methode in musik-literarischen Kontexten bernimmt, dennoch 7 Vgl. Schfer, Andreas: Echt nmlich: Jeder ist ein Star!, WWW-Dokument (28.03.1999), URL:
http://www.BerlinOnline.de/kultur/lesen/belle/.html/belle.199905.02.html, Abs. 5. 8 Vgl. Schrder, 1998, Abs. 4. 9 Mensing, 1998, S. W7. 10 Zwei Beispiele: (1) Benjamin von Stuckrad-Barres Mitarbeit an TRISTESSE ROYALE, einem Text des sich selbst so nen-
nenden popkulturelle[n] Quintett[s], das Sittenbild einer Generation sein will (vgl. Broder, Henryk M./Mohr, Reinhard: Die faselnden Fnf. Mit einem Sittenbild ihrer Generation wollen fnf junge Autoren brillieren doch ihr Werk Tristesse Royale kndet nur von Arroganz und berdru. In: Der Spiegel #49, 06.12.1999, S. 264f.), (2) Dath, Dietmar (im Gesprch mit Diedrich Diederichsen und Rainald Goetz): Politik frs Publikum? in: Spex 12/1999/01/2000, S. 94-99.
11 Zima, Peter V.: Vorwort. In: Zima, Peter V. (Hrsg.): Literatur intermedial. Musik Malerei Photographie Film. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. IX.
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Text-Musik/Musik-Text ... Einleitung, Seite 3
schlgt Steven Paul Scher vor, gerade die mglichen, aber noch kaum erforschten ge-
genseitigen Berhrungspunkte der Semiotik und sthetik12 fr dieses Grenzgebiet
fruchtbar zu machen. Zwar kann diese Arbeit eine solche Forderung kaum erfllen, soll
aber einen ersten Schritt in diese Richtung markieren.
So werden in Kapitel 2 zunchst Konzeptbereiche der klassischen Musiksthetik darge-
stellt, damit darauffolgend das Denken und Sprechen innerhalb des Grenzgebietes zwi-
schen Musik und Literatur zeichentheoretisch spezifiziert werden kann. Hierzu werden
sowohl Texte einer eher formalistisch geprgten Musiksthetik (Theodor W. Adorno, Peter
Faltin, Albert Gier) als auch weitestgehend semiotisch angelegte Studien zu Rate gezo-
gen. Aspekte der hier vorgestellten Semiologie Roland Barthes sowie Vladimir
Karbusickys berlegungen zur Zeichenhaftigkeit von Musik lassen (im Gegensatz zur klas-
sischen Musiksthetik) auermusikalische Komponenten von Musik nicht unbetrachtet
und bilden somit einen bergang zu den von den Cultural Studies geprgten berlegun-
gen (Peter Wicke, Simon Frith) in den folgenden Kapiteln.
Whrend Musiksthetik und Semiologie sich weitestgehend auf klassische Musik und
deren Beziehungsmglichkeiten mit Texten konzentriert, bedarf Popmusik und ihre Ap-
proximation im Text weiterer Untersuchungskategorien, die historische, gesellschaftliche
und marktwirtschaftliche Bedingtheiten nicht unbercksichtigt lassen. Vernderungen
der Konstruktion (Komposition) musikalischer Werke sei es nun in Schrift oder Ton
gehen nicht zuletzt auf die Tendenz zu Paradigmenwechseln zurck, die gemeinhin mit
dem Begriff Pop verbunden werden. Problematisch ist hierbei die Ambiguitt dieses
Begriffes. So bezeichnet er in unserem Kontext mindestens zweierlei: die Affinitt zu und
das Interesse fr Popmusik einerseits, andererseits das Gegenstck zur sogenannten
Hochkultur, eine Kultur des Alltglichen, Lebensnahen, der Oberflchen und Waren.
Sogenanntes musikalisches Schreiben ist bisher grtenteils im Hinblick auf die lite-
rarische Epoche der Romantik und der klassischen Moderne untersucht worden, vor allem
da Pop als Gegenposition zum wissenschaftlichen Diskurs in diesen nur zgernd Ein-
zug hlt. Die Vernderung des musikalischen Erzhlens geht mit Reformen der Musik-
produktion und des kulturellen Umgangs mit Musik sowie mit den Neuerungen bezglich
des Schreibens und der Rezeption einher. Popliteratur steht bereits in einer bestimmten
Tradition, deren Bezugssystem nicht mehr die abendlndisch tradierte, sondern die po-
pulre Kultur ist. Pop-Referenzen dringen seit den 60er Jahren verstrkt in zeitgenssi-
12 Scher, Steven Paul: Einleitung. Literatur und Musik Entwicklung und Stand der Forschung. In: Scher (Hrsg.): Literatur und Musik. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebiets. Berlin: Schmidt 1984, S. 22. Im Vergleich hierzu schlgt Weisstein eine Vergleichende Wissenschaft der Knste (Comparative Arts) als Superdisziplin vor (vgl. Weisstein: Die wechselseitige Erhellung von Literatur und Musik. Ein Arbeitsgebiet der Komparatistik? In: Scher, 1984, S. 45.).
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Text-Musik/Musik-Text ... Einleitung, Seite 4
sche Texte ein.13 In Kapitel 3 der vorliegenden Arbeit wird der Begriff Pop in seiner
musikalischen Ausprgung, seiner gesellschaftlichen Funktion und in seinem Einflu auf
Literatur spezifiziert.
In Kapitel 4 werden die untersuchten Romane auf ihre Musikalitt hin analysiert. Da
die bertragung musikalischer Termini hufig zu Unsicherheiten hinsichtlich ihres Ge-
brauchs in der jeweiligen Disziplin fhrt, stellt Kapitel 4.1 das Musikalische in der Li-
teratur als diskursiv konstituiert dar und macht deutlich, welche Formen von Musikali-
tt im Nachfolgenden untersucht werden. Die Analysen in Kapitel 4 stellen keinen An-
spruch auf Vollstndigkeit, vielmehr werden bestimmte Aspekte der Einwirkung musikali-
scher Muster in die Literatur untersucht, die in unterschiedlichem Mae fr die vorlie-
genden Bcher relevant sind.
Schlielich fat Kapitel 5 noch einmal die Ergebnisse der Analyse zusammen und arbeitet
die Funktionen der Musikalisierung der vorliegenden Texte heraus. Hierdurch werden die
Bcher zurckgebunden an die in Kapitel 3 thematisierten sozialen Funktionen von Pop-
musik. Zudem wird berprft, was die Musikalisierung fr den Text leisten kann, d.h. ob
sie erzhltechnische und/oder sprachimmanente Probleme zu lsen imstande ist.
Textauszge aus der Primrliteratur werden im Flietext durch nachgestellte Seitenan-
gaben belegt, wobei die Siglen R, GL und SL jeweils fr RAVE, GUT LAUT und SOLOALBUM ste-
hen. Absatzwechsel werden hier (wie in der Lyrik die Versgrenzen) durch Virgeln gekenn-
zeichnet. Die Herkunft von Zitaten aus Forschungsliteratur oder Presse wird in den Fu-
noten angegeben.
13 Vgl. Schfer, Jrgen: Pop-Literatur. Rolf Dieter Brinkmann und das Verhltnis zur Populrkultur in der Literatur der sechziger Jahre. Stuttgart: Metzler 1998., S. 9.
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Text-Musik/Musik-Text ... Theoretische Grundlagen im musik-literarischen Feld, Seite 5
2. Theoretische Grundlagen im musik-literarischen Feld
Words? Music? No: its whats behind.14
Der Versuch, Text und Musik in ihren Beziehungen zueinander und Erzhltexte auf ihre
Musikalisierung und deren Funktionalitt hin zu untersuchen, macht eine Auseinan-
dersetzung mit der Basis des Denkens und Sprechens ber Musik15 unumgnglich. Die
Bedingungen, Intentionen und Funktionen musikalischen Erzhlens, vor allem die neu-
este Popliteratur betreffend, sind vielschichtig und daher nur im Nachvollzug verschiede-
ner theoretischer, historischer und gesellschaftlicher Diskurse zu verstehen. Die zur Ver-
fgung stehenden Begrifflichkeiten bleiben in diesem Grenzfeld problematisch, sollen
aber im folgenden kritisch hinterfragt und so weit wie mglich konkretisiert werden.
Hierzu soll zunchst das Feld Text und Musik unter musiksthetischen Gesichtspunkten
(Kap. 2.1) vorgestellt und anschlieend zeichentheoretisch aufgearbeitet und abstrahiert
werden (Kap. 2.2).
2.1 KONZEPTBEREICHE DER MUSIKSTHETIK
Erst im Laufe des Mittelalters konnte sich Musik als eigene Kunstform emanzipieren.16 Die
Dichotomisierung von Sprache und Musik kann als Resultat von Wahrnehmungsvernde-
rungen betrachtet werden, durch die der Musik erstmals ein ihr eigener Raum und eine
ihr eigene Zeit zugesprochen wurde. Im Mittelalter wurde Musik erstmals als nicht-
semantisches Abstraktum17 verstanden, das sich fortschreitend verselbstndigte. Eine
groe Rolle spielte der Beginn der Notation, die Differenz zwischen Sprache und Musik
trat erst als visuelle ins Bewutsein, nicht als auditive18. Sprachhnlichkeit blieb jedoch
Charakteristikum der Musik. Zwar hatte sich Musik vom Zusammenklang mit der Sprache
schon so weit abgelst, da das 16. Jahrhundert die Instrumentalmusik als eigene
Kunstform (aner)kannte19, gleichwohl wurde diese Musik als eine Art harmonischer
Sprache20 rezipiert. Auch die Musiksthetik des 20. Jahrhunderts problematisiert zu
groen Teilen (zunehmend kritischer) das Diktum der Sprachhnlichkeit von Musik. Um
die wichtigsten Denkmodelle der Musiksthetik vorzustellen, wird, die Konzeption Hubers 14 Joyce, James: Ulysses. London: Bodley Head 1937, S. 261. 15 Huber, Martin: Text und Musik. Musikalische Zeichen im narrativen und ideologischen Funktionszusammenhang
ausgewhlter Erzhltexte des 20. Jahrhunderts. Mnchener Studien zur literarischen Kultur in Deutschland #12. Frankfurt am Main u.a.: Lang 1992, S. 14
16 Die Antike kennt Musik als eigene Kunstform nicht. Die bergnge zwischen gesprochener Sprache, rezitierender Aussprache und gesungener Sprache waren flieend, terminologisch wurde nicht zwischen Sprache und Musik unterschieden; anstatt als Dichotomie, wurden Sprache und Musik als integrierte Einheit empfunden (vgl. Walter, Michael: Musik und Sprache: Voraussetzungen ihrer Dichotomisierung. In: Walter, Michael (Hrsg.): Text und Musik. Neue Perspektiven der Theorie. Mnchen: Fink 1992, S. 9 sowie Brown, Calvin S.: Theoretische Grundlagen zum Stu-dium der Wechselverhltnisse zwischen Literatur und Musik. In: Scher, 1984, S. 28-39.
17 Vgl. Walter, 1992, S. 10. 18 Walter, 1992, S. 12. 19 Vgl. Brown, C.S., in: Scher, 1984, S. 28. 20 Vgl. Scher, Steven Paul: O Wort, du Wort, das mir fehlt! Der Realismusbegriff in der Musik. In: Scher, 1984, S. 90.
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Text-Musik/Musik-Text ... Theoretische Grundlagen im musik-literarischen Feld, Seite 6
verfolgend und ergnzend, die historische Darstellungsweise mit einer systematisieren-
den verquickt.
2.1.1 Musik und Gefhl
Die Anfnge musiksthetischen Denkens sind in inhaltsorientierten Musikdeutungsversu-
chen begrndet, die weiterhin das Problem der Sprachhnlichkeit thematisierten. Zwar
fhlte man sich einerseits noch immer dem Mimesis-Erbe verpflichtet, doch schon im 17.
und verstrkt im 18. Jahrhundert wurde dieses zunehmend in Frage gestellt. Nun trat
der Glaube an die Ausdrucksfhigkeit der Musik, vornehmlich in bezug auf
Empfindungen und Leidenschaften, in den Vordergrund (musica movet affectus)21. Die
Akzentverschiebung vollzog sich stufenweise: War zunchst Musik Naturnachahmung, so
ist Musik nun natrlich, wenn sie die Welt menschlicher Affekte widerspiegelt und zur
unmittelbaren Sprache der Gefhle wird. Sprachhnlichkeit wird also gleichbedeutend mit
Naturhnlichkeit22. Die Instrumentalmusik emanzipiert sich hierdurch vllig von der
Vokalmusik, und der Wandel von der musikalischen Nachahmungssthetik zu einer
radikal antimimetischen Konzeption23 geht schrittweise voran. Seit Mitte des 18.
Jahrhunderts gilt Musik als erste nicht-mimetische Kunstgattung, da sie auer in der
trivialen Echowirkung bestimmter Stellen [...] keinen Aspekt der sinnlich wahrnehmbaren
Natur [verdoppelt], und man [...] auch nicht von ihr behaupten [kann], sie beziehe sich
auf irgendeine Begebenheit auerhalb ihrer24. Durch ihre Dunkelheit wird Musik als
gefhlsangemessener angesehen als ihre Schwesterknste.25 Im 19. Jahrhundert wird die
Ausdrucksfhigkeit noch totaler gesetzt: Whrend bislang die Musik etwas ausdrcken
sollte, nmlich den jeweils gewnschten Affekt, gilt nun die Forderung: in der Musik sich
selbst auszudrcken26. Die Folgen dieser romantischen Musikauffassung sind weitrei-
chend. Erstens fhrte dies zur Umwertung des Subjekt-Objekt-Verhltnisses: Whrend die
Affektenlehre den Menschen noch als von der Musik bewegtes Objekt betrachtet hatte,
wurde die Musik nun selbst zum Medium des menschlichen Ausdrucks, durch das sich der
Musiker artikuliert. Zweitens wurde die Musik psychologisiert, nachdem das traditionelle
Mimesis-Prinzip der Affektenlehre berwunden war. Zwar wurde der Musik seit jeher eine
transzendente Qualitt zugesprochen; dies erreicht aber nun einen neuen Hhepunkt: Sie
wird als die stoffloseste und zugleich ursprnglichste Kunst zur Ursprache der Natur
[...,] zur kosmischen Macht, in der sich das sehnschtig erstrebte Einssein mit dem Un-
21 Scher: O Wort ..., in: Scher, 1984, S. 90. 22 Scher: O Wort ..., in: Scher, 1984, S. 91. 23 Gier, Albert: Musik in der Literatur. Einflsse und Analogien. In: Zima, 1995, S. 76. 24 Abrams, Meyer H.: Spiegel und Lampe. Romantische Theorie und die Tradition der Kritik. Mnchen: Fink 1978, S.
71. 25 Vgl. Abrams, 1978, S. 122. 26 Huber, 1992, S. 16.
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Text-Musik/Musik-Text ... Theoretische Grundlagen im musik-literarischen Feld, Seite 7
endlichen erahnen lt27. Die romantische Musiksthetik basiert wesentlich auf dem
dichterischen Unsagbarkeits-Topos [...]: Musik drckt aus, was in Worten nicht mitgeteilt
werden kann28. Durch Musik soll nun das Unbewute selbst fabar werden.29 Eine wei-
tere Folge dieser Auffassung ist die vernderte Hierarchisierung der Knste: Musik lst
die Dichtung in ihrer Spitzenposition unter den Knsten ab und wird zu derjenigen
Kunst, durch die sich Gemt und Emotion am unmittelbarsten ausdrc??ken lieen, da
sie Pulsschlag und Wesen aufgebrochener Leidenschaft selbst konstituiert30. Musik,
insbesondere Instrumentalmusik, wird zum Sinnbild fr Kunst schlechthin. Ihre
Psychologisierung und metaphysische berhhung basiert nicht selten auf religiser
Ergebenheit der Knstler. In dieser Spitzenposition wirkt Musik zunehmend auf andere
Kunstbereiche ein.
2.1.2 Musik und Form
Die sthetik des 18. Jahrhunderts war der Ausgangspunkt fr eine Formalsthetik, die in
der 1854 erscheinenden Schrift VOM MUSIKALISCH SCHNEN von Eduard Hanslick ihre ent-
scheidende Bedeutung erhielt. Hanslick wollte die von ihm als pathologisch charakteri-
sierte Gefhlssthetik durch eine autonom-musikalische Vorstellung von Musik31 er-
setzen. Das Kunstwerk wird hier als aus Klngen und Klangrelationen bestehend be-
schrieben, aus Tonreihen und formen, die keinen Inhalt auerhalb ihrer selbst haben.
Wenn Hanslick schreibt: Tnend bewegte Formen sind einzig und allein Inhalt und Ge-
genstand der Musik32, so sind diese nicht leer und einzig zur Fllung eines Vakuums not-
wendige Tonreihen, sondern erfllte, sich von innen heraus gestaltender Geist33. Form
selbst wird als Geist begriffen und als Inhalt und Thema der Musik gedacht. So wird Mu-
sik zum Selbstzweck, zum selbstndig Schnen. Das alte Dogma der Sprachhnlichkeit
wird erschttert, Musik wird nicht als Sprache der Gefhle konzipiert. Die Dominanz der
Formalsthetik ber die Inhaltssthetik ist Ausdruck eines allgemeinen Wandels im sthe-
tischen Bewutsein, markiert den Weg in die Moderne und bleibt bis in unser Jahrhun-
dert vorherrschend.34
27 Huber, 1992, S. 19. 28 Huber, 1992, S. 17. 29 Vgl. Gier, in: Zima, 1995, S. 87. 30 Abrams, 1978, S. 71. Gerade in Deutschland thematisierten romantische Dichter (wie z.B. Wackenroder, Tieck oder
Hoffmann) Musik in ihrer Dichtung. Auch formale Strukturbernahmen werden hufiger (vgl. Scher, Steven Paul: Verbal Music in German Literature. New Haven/London: Yale University Press 1968, S. 152). Dies ist primr ein deutsches Phnomen, da hier die Musik als reinste Ausdruckskunst (Abrams, 1978, S. 122) begriffen wurde, wh-rend in England die Ausdruckskunst vom Gedicht her entwickelt und theoretisch fundiert wurde.
31 Huber, 1992, S. 24. 32 Hanslick, Eduard: Vom Musikalisch-Schnen. Ein Beitrag zur Revision der sthetik der Tonkunst. Unvernd. repro-
graf. Nachdr. der 1. Auflage Leipzig 1854, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991, S. 32. 33 Hanslick, 1991, S. 34. 34 Vgl. Huber, 1992, S. 25 und S. 152: Formalistische/strukturalistische Zugangsmethoden wurden auch in der
Sprache (z.B. bei Saussure) und in der Literatur (z.B. im russischen Formalismus) gesucht. Auch Adornos Hrer-Typologie beschreibt das analytisch-strukturelle Hren als gnzlich adquates Hren (Adorno, Theodor W.: Typen musikalischen Verhaltens. In: Schriften #14, Frankfurt am Main: Suhrkamp 21980, S. 181f.). Auch der
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Text-Musik/Musik-Text ... Theoretische Grundlagen im musik-literarischen Feld, Seite 8
2.1.3 Musik und Ideologie
Der Konzeptbereich Musik und Ideologie umfat jene Anstze, die entweder die Ge-
fhlssthetik oder auch die Formalsthetik in einen weiteren auermusikalischen Bedeu-
tungszusammenhang, nmlich einen ideologisch-weltanschaulichen, einbinden. Ideolo-
gie meint zunchst politisch wertfrei die Tatsache, da Musik Qualitten und Funktionen
zugeschrieben werden, die konstitutiv fr eine damit verknpfte Weltanschauung sind
und deshalb weit ber autonom-sthetische Funktionsbeschreibungen von Kunst hinaus-
gehen.35 Einerseits ist die religis-mythische Besetzung sowohl form- als auch gefhls-
sthetischer Anstze als Ideologisierung von Musik zu betrachten. Schon in der Antike,
vor allem in der Pythagorischen Zahlenmystik, sah man einen natrlichen Zusammen-
hang zwischen Musik und Kosmos, deren Relationen einander entsprachen. Musik hat
durch die ihr innewohnende Gesetzmigkeit Bedeutung an sich und ist Teil der Welt-
harmonie. Auch in der frhen Neuzeit und vor allem im Barock gilt Musik als der Spiegel
der Werke Gottes, der Gesang wird zum Sinnbild fr das Erheben der Herzen von irdi-
schen zu himmlischen Dingen36. Die weitaus politischere Ideologisierung von Musik liegt
wohl in der hier nicht weiter zu verhandelnden propagandistischen Vereinnahmung
durch (Staats-) Systeme, die sie aufgrund ihrer emotiven wie strukturell-systematischen
Eigenschaften37 instrumentalisiert. Aber auch in bezug auf das Wirtschaftssystem des
Kapitalismus fllt der Musik eine zentrale Rolle zu, die von Kritikern propagandistisch
genannt werden knnte: als psychologisch subtil wirkendes Element der Werbung. Musik
und Ideologie sind in unserem Kontext vor allem insofern miteinander zu verschrnken,
als da vor allem Popmusik ihrer Entstehungsgeschichte nach die Chance zu Dissidenz
bot; gerade in den 50er und 60er Jahren wurden Popmusik und Popkultur im Sinne von
Gegenkultur zum utopietauglichen Hoffnungstrger einer Generation. Im weitaus diver-
sifizierteren Pop-Betrieb der 90er Jahre wurde dieses minoritre, gesellschaftskritische,
revolutionre Potential von Popmusik selbst zum werbewirksamen Etikett. Whrend sich
Dissidenz und Abweichung noch in den 80ern des Konsums bedienten, bediente sich
nun der Konsum der Dissidenz38, um den Mainstream selbst als Minderheit zu verkaufen.
Strukturalismus der 60er zielt darauf, ein Objekt derart zu rekonstituieren, da in dieser Rekonstitution zutage tritt, nach welchen Regeln es funktioniert (Barthes, Roland: Die strukturalistische Ttigkeit. In: Kimmich, Dorothee / Renner, Rolf Gnter / Stiegler, Bernd (Hrsg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart: Reclam 1996, S. 216f.).
35 Huber, 1992, S. 27f. 36 Walter, 1992, S. 16. 37 Huber, 1992, S. 30. 38 Holert, Tom / Terkessidis, Mark: Einfhrung in den Mainstream der Minderheiten. In: Holert, Tom / Terkessidis,
Mark (Hrsg.): Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft. Berlin/Amsterdam: Edition ID-Archiv 1996, S. 6.
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2.2 MUSIK UND LITERATUR VORSTELLUNG DES FELDES AUS ZEICHENTHEORETISCHER SICHT
Die Debatte um den Realismus in der Musik ist das ausschlaggebende Moment fr eine
Auseinandersetzung auf einer grundlegenderen Ebene: Da Musik als die abstrakteste un-
ter den Knsten gilt, scheint der Terminus Realismus in der Musik zunchst eine
contradictio in adjecto zu sein. Sind wir daher berechtigt, berhaupt von einem konkreten
musikalischen Ausdruck zu sprechen39, von einem kohrenten System musikalischer Zei-
chen oder sogar von einer Art Sprache? Eben jene Frage nach dem Bedeutungscharakter
von Musik wird in der neueren Forschung zunehmend auf der Folie semiotischer Modelle
gestellt. Im folgenden sollen zunchst berlegungen der an die klassische Musiksemiotik
angelehnten Komparatistik nachgezeichnet, sodann einigen Aspekten der Semiologie
Barthes gegenbergestellt und schlielich durch Karbusickys Studien zur Zeichenhaftig-
keit von Musik erweitert werden. Diesen drei Anstzen ist trotz ihrer Unterschiede ge-
meinsam, da sie den Ursprung der Probleme in der Konzeption von Musik als Sprache in
deren semantischer Unbestimmtheit und geringer Kommunikativitt sehen.
2.2.1 Musik und Sprache
Zwar ist das Wort als phonetische Substanz [...] mit dem Ton der Musik verwandt40, in
beiden Fllen handelt es sich um zeitliche Folgen artikulierter Laute. Diese Folgen seien,
so Adorno, nach bestimmten logischen Gesetzen konzipiert, nach denen es zunchst
richtig und falsch gebe. Insofern sei das Gefge von Sprache und Musik durch
hnliche Prinzipien geregelt (durch Stze, Halbstze, Interpunktion etc.). Allerdings liegt
das grundlegende semiotische Problem der Parallelfhrung von Sprache und Musik im
Fehlen eines gemeinsamen Bedeutungsmodells. Musiksemiotisch nicht eindeutig geklrt
sind die Entstehung und der Ort von musikalischer Bedeutung, die die Grundlage wre
fr ein beiden Knsten gemeinsames Bedeutungsmodell41.
Einen ersten Versuch der Bestimmung des Ortes der Bedeutung liefert die klassische Mu-
siksemiotik. Hier wird (in Anlehnung an Hanslick) Bedeutung als durch die Materialorga-
nisation generierte gefat. Musikalische Ideen sind nicht begriffliche, sondern stheti-
sche Ideen, die auf das musikalische Material ausgerichtet sind und ausschlielich in
tnenden Gestalten und Prozessen artikuliert werden42. Musik hat selbst keinen Begriff,
kein Signifikat im eigentlichen Sinne. Vielmehr fallen Signifikat und Signifikant im
Krper der Musik zusammen. Die Unterscheidung von Signifikant und Signifikat des
39 Scher: O Wort ..., in: Scher, 1984, S. 86. 40 Zima: Vorwort, in: Zima, 1995, S. VII. 41 Huber, 1992, S. 130. 42 Faltin, Peter: Ist Musik eine Sprache? In: Henze, Hans Werner (Hrsg.): Die Zeichen. Neue Aspekte der musikalischen
sthetik II. Frankfurt am Main 1981, S. 41.
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Text-Musik/Musik-Text ... Theoretische Grundlagen im musik-literarischen Feld, Seite 10
sprachlichen Zeichens findet eine Parallele in der Differenz zwischen dem physikalisch
mebaren akustischen Phnomen, das etwa ein gegebener Akkord darstellt und seiner
musikalischen Bedeutung innerhalb eines Strukturzusammenhangs, etwa als Tonika oder
Dominante in der funktionalen Kadenz43. Dieser Auffassung nach wird Bedeutung in der
Musik durch den (innermusikalischen) Kontext generiert, durch die Syntax des Musik-
stckes selbst. Diese Bedeutungszuweisungen beruhen zwar, wie bei der Sprache auch,
auf Konventionen, sind aber weit weniger festgelegt und erstellen sich kurzfristiger, je-
weils vllig neu aus den syntaktischen Beziehungen der einzelnen Elemente untereinan-
der44. Die Identitt und Bedeutung musikalischer Zeichen liegt somit in ihrer eigenen
Beschaffenheit, nicht in einem von ihnen Bezeichneten45. Wenn aber die sinnvoll funk-
tionierende[n] Klang- und Tonkomplexe46 der Musik nichts auer sich selbst bedeuten,
wird der Begriff des Denotats problematisch. Im Vergleich zur Sprache handelt es sich
somit nicht um ein kohrentes Zeichensystem, das auf eine auersprachliche Wirklichkeit
referiert. Es ergibt sich folgendes Schema:
sprachliche Zeichen auersprachlicher Bereich
musikalische Zeichen auermusikalischer Bereich
SIGNIFIKANS (Bezeichnung, Ausdruck)
PRSENTES (akustisch Gegebenes)
SIGNIFIKAT (Sinn, Bedeutung = semantische Valenz)
DENOTAT (Objekt, Sachverhalt d. auersprachl. Wirklichkeit)
REPRSENTIERTES (Funktion = strukturelle, syntaktische Valenz)
Abb. 1: aus: Zima, 1995, S. 64.
Dennoch scheinen die Laute der Musik mehr zu sein als physikalischer Klang, auch sie
sagen etwas47 und werden gemeinhin als Ausdruckstrger betrachtet, wobei sich im
Gegensatz zur Sprache das Gesagte nicht von der Musik ablsen lt. Hierin liegt die
relativ geringe Kommunikativitt von Musik. Adorno siedelt die Musik im Bereich
zwischen Meinen und Nicht-Meinen an. Sie will wahre Sprache sein, in der der Gehalt
selber offenbar wird, aber um den Preis der Eindeutigkeit48. Aufgrund ihrer Ambiguitt
bedarf Musik einstrmender Intentionen (des Komponisten, Musikers und
Rezipienten).49 Musik ist somit direkter, unvermittelter als Sprache und dunkler,
unverstndlicher zugleich, es ist keine meinende Sprache der verbalen Kommunikation,
sondern eine Sprache, die jenseits der eindeutigen Mitteilung, der Nachricht liegt50.
43 Gier, in: Zima, 1995, S. 63. 44 Huber, 1992, S. 130. 45 Adorno, Theodor W.: Fragment ber Musik und Sprache. In: Schriften #16, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978, S.
251. 46 Karbusicky, Vladimir: Zeichen und Musik. In: Zeitschrift fr Semiotik, #9, Heft 3-4: Zeichen und Musik, 1987, S. 227 47 Adorno, 1978, S. 251. 48 Adorno, 1978, S. 252f. 49 Vgl. Adorno, 1978, S. 253. 50 Zima: sthetik, Wissenschaft, Erhellung der Knste. In: Zima, 1995, S. 11.
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Text-Musik/Musik-Text ... Theoretische Grundlagen im musik-literarischen Feld, Seite 11
Die formalistische Musiksthetik betrachtend liegt der Grund fr die geringe Kommunika-
tivitt der Musik in der Behandlung der semantisierten Elemente als Gestalt51. Da ge-
rade Wiederholung und Variation die elementaren Prinzipien der musikalischen Formevo-
lution darstellen, ist Musik als kommunikative Form im Vergleich zur Sprache auf einer
archaischen Stufe stehengeblieben52. Als etwas zeichenhaft Instabiles, das im wesentli-
chen auf Wiederholung basiert, kann es als Zeichensystem in spe betrachtet werden.53
Hier schliet sich Roland Barthes These an, da Musik eben gerade dadurch sprachhn-
lich sei, da sie dem Menschen erst den Eintritt in das Sprachliche ermglicht. Der
Rhythmus und seine intentionale Reproduktion durch den Menschen ist der eigentliche
Eintritt ins Menschliche (= Sprachliche). Er erhebt das Hinhren (vormals lediglich zum
Erfassen von Warnsignalen gebraucht, vgl. Kap. 3.3.1) nun zur Schpfung. Ohne ihn wre
Sprache als Hin- und Herbewegung zwischen dem Merkmaltragenden und dem Merkmal-
losen54 nicht mglich. Whrend sich die klassische Semiotik kaum mit dem Referenten
beschftigt, weil sie diesen als dem musikalischen Zeichen abwesend setzt, ist er fr
Barthes gerade in der Musik unbersehbar, da er hier der Krper ist. Der Krper geht in
die Musik ein ohne andere Vermittlung als den Signifikanten55. Insofern ist auch fr
Barthes die Musik die Sprache des Nichtgesagten, auch wenn er sie im Sinne der Semio-
logie als Translinguistik, die smtliche Zeichensysteme als auf die Gesetze der Sprache
zurckfhrbare untersucht, als sprachliche Qualitt konzipiert. Aber:
Fr diese sprachliche Qualitt sind jedoch in keiner Weise die Wissenschaften von der Sprache (Poetik, Rhetorik, Semiologie) zustndig, da das in der Sprache zur Qua-litt erhobene das Nichtgesagte, Nichtartikulierte ist. Im Unausgesprochenen setzt sich die Lust fest [...]. Die Musik ist zugleich das Ausgedrckte und das Implizite des Textes: was zwar ausgesprochen [...], aber nicht artikuliert wird: was zugleich auerhalb des Sinns und des Unsinns liegt, mitten in dieser Signifikanz.56
Nicht die Bedeutung von Musik ist Kategorie der Barthesschen Semiologie, sondern die
musikalische Signifikanz, die vom Begehren des Krpers durchdrungen ist.57 Bei der Mu-
sikrezeption wird nicht auf ein Signifikat selbst fokussiert, sondern auf die Streuung
schlechthin, das Spiegeln der Signifikanten, die stndig um ein Zuhren wetteifern, das
stndig neue hervorbringt, ohne den Sinn jemals zum Stillstand zu bringen: Dieses Ph-
nomen des Spiegelns nennt man Signifikanz (es unterscheidet sich von der Bedeu-
tung)58. Daher fordert Barthes eine zweite Semiologie, die des Krpers im Zustand der
51 Karbusicky, 1987, S. 240. 52 Karbusicky, 1987, S. 240. 53 Vgl. Karbusicky, 1987, S. 241. 54 Barthes, Roland: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt am Main: Suhrkamp
1990, S. 252. 55 Barthes, 1990, S. 207f. 56 Barthes, 1990, S. 285. 57 Vgl. Barthes, 1990, S. 310f. 58 Barthes, 1990, S. 262f.
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Text-Musik/Musik-Text ... Theoretische Grundlagen im musik-literarischen Feld, Seite 12
Musik; mge sich die erste Semiologie mit dem System der Noten, Tonleitern, Tne, Ak-
korde und Rhythmen herumschlagen und, falls sie es kann, darin zurechtfinden; was wir
wahrnehmen und verfolgen wollen, ist das Gewimmel der Schlge. Durch die Musik erhal-
ten wir einen besseren Einblick in den Text als Signifikanz59.
Die hier zentral gesetzte Streuung der wetteifernden Signifikanten, die Mehrdeutigkeit
der Musik, wird von der (an die Cultural Studies angelehnte) Semiotik Karbusickys
dadurch erklrt, da alles, auch das, was seiner Bestimmung nach zunchst kein Zeichen
ist, zum Zeichen werden kann. Musikalische Bedeutung wird als durch auermusikalische
Kontexte generierte konzeptioniert. So erhlt Musik, deren Zeichenprgung wesentlich
instabiler ist als die der Sprache, Bedeutung, indem sie in Kontexte eingebunden wird,
fr etwas anderes steht (Symbolcharakter) oder auf etwas anderes hinweist (allusiver
Charakter), d.h. von auen semantisiert wird. Diese Semantisierung ist jedoch relativ
flchtig und vernderbar, da Musik als Zeichen stets wieder destabilisiert wird. Syntheti-
sierend knnte man sagen, da eben jene Vielzahl mglicher/flchtiger Bedeutungen das
ausmachen, was Barthes die Signifikanz nennt. Hierbei machen es vier Faktoren so
schwierig, in Musikstrukturen Zeichen authentisch zu identifizieren [...] und sie von
dem tragenden, energetisch gestalteten Musikstrom abzusondern60: Erstens ist die Zei-
chenprgung willkrlicher Zuordnungsakt, bei dem die Konventionen der Decodierung
weniger zuverlssig sind als bei der Sprache. Zweitens ist Musik durch einen freien Um-
gang mit der Zeit geprgt, ber die (musikalisch) modellierte Zeit wechseln sich Seman-
tisierungen und Entsemantisierungen fortwhrend ab, knnen ebenso ein nichts bedeu-
tendes Spiel wie bedeutende Symbole generieren.61 Die Zeichenintensitt ist verschieden
stark und wird durch auermusikalische Kontexte beeinflut. Diese musikalische Praxis
zwischen Spiel und Konstruktion wirkt vor allem das Sprachmaterial betreffend entse-
mantisierend: wo das Musikalische zum Gestaltungsprinzip eines Textes erhoben wird, ist
die zeichenhaft geregelte Bedeutung gelscht, die Semantik bleibt unbestimmt.62 Weiter-
hin ergibt sich durch die unbestimmte Semantik von Musik und die Schwierigkeiten der
Konventionalisierung musikalischer Zeichen eine immense Streuung der Interpretation;
sei es nun der klassische Instrumentalmusiker oder der DJ, beide lassen das Werk erst
(immer neu und verschieden) entstehen. Und viertens kann auch der Rezipient sich
weniger auf feste Decodierungsmglichkeiten von Musik verlassen. Zwar hat er zunchst
die Erwartung, Musik bermittele eine dechiffrierbare Botschaft63, doch selbst Lenkungen 59 Barthes, 1990, S. 311. 60 Karbusicky, 1987, S. 228. 61 Vgl. Karbusicky, 1987, S. 228. Beispielsweise kann sich ein semantisiertes Motiv (Kuckucksschrei, Motorsgenge-
rusch o..) im Zeitablauf zum bloen Strukturelement (Metrum, Beat) verwandeln, also sich von seiner Semanti-sierung frei machen. Andersherum kann ein Motiv, ursprnglich als Strukturtrger gedacht, semantisiert werden.
62 Vgl. Karbusicky, 1987, S. 230. 63 Vgl. Gier, in: Zima, 1995, S. 64.
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Text-Musik/Musik-Text ... Theoretische Grundlagen im musik-literarischen Feld, Seite 13
des Komponisten durch Titel oder Programm sind lediglich anhaftender Gehalt, nicht
eigentlicher Darstellungsgehalt der Musik. Der Rezipientenkontext spielt eine
betrchtliche Rolle, da das Wissen des Hrers, seine Erfahrung, soziale Einbindung und
persnlichen Vorlieben unmittelbaren Einflu auf die (stets verschiedene) Rezeption
nehmen.
2.2.2 Musik und Literatur
Auch wenn hnlichkeiten bezglich des Konstruktcharakters von Musik und Sprache
nachgewiesen werden konnten, macht das Vorausgegangene deutlich, da Musik und
Literatur nicht als gleichartig funktionierende Zeichensysteme betrachtet werden knnen.
Whrend Musik (nicht semantisierte) Laute als Material hat, sind (semantisierte) Wrter
das Material der Literatur. Auch in der Pragmatik gibt es einen grundlegenden Unter-
schied: Literatur differenziert (zumindest traditionell) zwischen literarischer und nicht
literarischer Verwendung von Sprache; whrend jede Form von Gebrauchsmusik immer
noch Musik ist, ist Literatur stets ein Sonderfall sprachlichen Handelns64, der durch
seine poetische Funktion die rein kommunikative Ebene berschreitet. In dieser poeti-
schen Funktion steht Literatur oder Dichtung der Musik schon weitaus nher als die
sprachliche Kommunikation. Dennoch scheint die von der klassischen Semiotik statuierte
Denotatslosigkeit von Musik sie a priori sthetischer als die Wortkunst zu machen, was
ihre Spitzenposition in der Hierarchie der Knste erklrt. Hierin drfte auch ein Grund
fr die Faszination liegen, die das Modell der Musik auf eine Literatur ausbt, welche
sptestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend sich selbst thematisiert65 und
musikalischer zu werden versucht. Zwar gibt es in der Musik einen dem Erzhlen hnli-
chen Vorgang, aber kein Erzhltes. Vom Standpunkt der Musikwissenschaft aus ist die
Botschaft der Musik ihre Form, wodurch sie sich nur auf sich selbst bezieht. Autore-
flexivitt aber ist (zumindest in der Sicht der Moderne) das Kriterium fr die sthetische
Funktion eines Werkes66. Vom Standpunkt der Cultural Studies aus wird (gerade soge-
nannte populre) Musik durch ihre Eingebundenheit in vielschichtige Kontexte bedeu-
tend, hier produziert nicht das Material selbst die Bedeutung, sondern das Zusammen-
spiel zwischen Interpret, Hrer, Markt, Gruppe etc. (vgl. Kap. 3).
Zunchst sollen Literatur und Musik vergleichend geprft verden: Beide sind auditive
Knste, d.h. sie sprechen den Hrsinn an, gleich ob der Rezipient eines Musik-
stc??kes/Textes selber spielt oder liest, einem Vortrag zuhrt oder die zugehrigen
Laute beim Lesen imaginiert. Weiterhin sind sowohl Musik als auch Literatur dynamische
64 Zima: sthetik ..., in: Zima, 1995, S. 23. 65 Gier, in: Zima, 1995, S. 67. 66 Gier, in: Zima, 1995, S. 67.
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Text-Musik/Musik-Text ... Theoretische Grundlagen im musik-literarischen Feld, Seite 14
Zeitknste: Sie bewegen sich durch eine Reihenfolge von Wrtern und Tnen, die [...]
nie alle auf einmal gegenwrtig sind67. Sie bewahren keine Permanenz oder definitive
Form, da sie sich stets im Mitvollzug neu bilden. Musik und Literatur prsentieren sich
somit eher als Idee denn als Objekt: Der Schpfer eines Gedichts oder einer Sonate er-
zeugt [...] einen Entwurf. Er hlt Zeichen auf dem Papier fest, [...] konventionelle Sym-
bole, die dem erfahrenen Vortragenden ermglichen, Laute zu erzeugen, die die eigent-
liche Musik oder das Gedicht so rekonstruieren, wie es vom Schpfer ursprnglich ent-
worfen war68. Eine solche Rekonstruktion aber wird immer nur Annherung bleiben, da
die Darbietungen nie identisch sein knnen. Und schlielich werden beide Knste in
symbolischen (Schrift-) Zeichen ausgedrckt.
Zwar sind beide Knste in ihrer Zeitlichkeit vergleichbar, der grundlegende Unterschied
aber liegt in der vertikalen Dimension, die die Musik besitzt, aber nicht mit der Literatur
teilt. Harmonie, Mehrstimmigkeit, Kontrapunkt sind genuin musikalische Phnomene, die
die Sprache bestenfalls nachahmen, aber nicht selbst produzieren kann. Harmonie und
Mehrstimmigkeit scheinen [...] ein unerreichbares Ziel der Literatur zu sein: Die zahlrei-
chen Versuche, die kontrapunktische Satztechnik oder die Form der Fuge mit sprachlichen
Mitteln nachzuahmen, entspringen dem (vergeblichen) Bemhen, die Einstimmigkeit zu
berwinden69 und hierdurch offenere, denotatsfreiere, ambigue Literatur zu produzie-
ren.
Zum Verstndnis der hier und im folgenden thematisierten Berhrungspunkte zwischen
Musik und Literatur ist das folgende Schema von Steven Paul Scher dienlich:
Abb. 2: aus: Scher, 1984, S. 14.
Whrend anhand der Programmusik (als Literarisierung von Musik) die Literatur in der
Musik untersucht wird, wird dort, wo Musik und Literatur zusammenfallen, Vokalmusik 67 Brown, C.S., in: Scher, 1984, S. 29. 68 Brown, C.S., in: Scher, 1984, S. 30. 69 Gier, in: Zima, 1995, S. 68.
musikliterarisches Studium
(Literaturwissenschaft) (Musikwissenschaft)
MUSIK LITERATUR
Literatur in der Musik Musik und Literatur Musik in der Literatur
Programmusik Vokalmusik Wortmusik musikalische Form- und
Strukturparal-lelen
verbal music
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Text-Musik/Musik-Text ... Theoretische Grundlagen im musik-literarischen Feld, Seite 15
thematisiert. Allerdings gehrt in diesen Bereich wohl auch die Begleit- oder Hinter-
grundmusik, die am Rande literarischer Werke mitrezipiert wird. Der fr die hier ange-
stellten berlegungen bedeutsamste Bereich Musik in der Literatur thematisiert As-
pekte der Musikalisierung literarischer Werke.
2.2.3 Musik in der Literatur
Die Beschftigung mit dem Themenkomplex Musik in der Literatur hat in erster Linie
das literarische Medium zum Forschungsgegenstand, insofern sollten Versuche einer Mu-
sikalisierung in literarischen Werken als literarische Leistungen rezipiert und bewertet
werden, Musik tritt nur vermittelt in Erscheinung: Das eigentlich Musikalische ist in die-
sen Werken einfach nicht vorhanden und kann auch durch sprachliche Mittel und literari-
sche Techniken nur impliziert, evoziert, imitiert oder sonst mittelbar approximiert wer-
den70. Schers Schema unterscheidet drei Hauptformen des musikalischen Einflusses in
der Literatur, die um das semiotische Dreieck herum konzipiert werden knnen71:
In der Wortmusik fungiert die Musik als Signifikant, d.h. mit sprachlichen Mitteln [...]
wird [...] eine Klangwirkung erstrebt, die die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Aus-
drucksseite der Sprache lenkt72 und die konventionelle Zeichenhaftigkeit von Wrtern
zugunsten einer lautlich-rhythmischen Bedeutsamkeit in den Hintergrund stellt. Diese
literarischen Nachahmungsversuche berufen sich auf eine fundamentale Affinitt, indem
organisierter Ton als Grundmaterial fr beide Knste dient73. Die Techniken der Wortmu-
sik setzen vor allem im Bereich der Rhythmik, der Akzentuierung und der Tonhhe an und
bersteigen das rein Onomatopoetische nicht immer. Diese Dichtung zielt auf die
imitation of the acoustic quality of music74 und geht auf das generelle Einverstndnis
zurck, da Klangmuster in der Dichtung sowie Anstze formaler Muster, die nicht gehrt
werden knnen, uns berhren wie Musik.75
Wo die Musik als Signifikat fungiert, handelt es sich um musikalische Form- und Struk-
turparallelen, die die Nachahmung musikalischer Kompositionstechniken [...] oder
fester Formen [...] in literarischen Texten76 vor Augen haben. Die Basis ist hier die
grundlegende Affinitt der Gestaltungsprinzipien beider Knste (s.o.). Zunchst be-
schreibt dies den Versuch, Groformen (Sonate, Fuge, Rondo etc.) literarisch nachzuah- 70 Scher: Einleitung, in: Scher, 1984, S. 12. 71 Die Betrachtung des Scherschen Schemas auf der Folie des semiotischen Dreiecks folgt Gier, Albert: Parler, cest
manquer de clairvoyance. Musik in der Literatur: vorlufige Bemerkungen zu einem unendlichen Thema. In: Gier, Albert / Gruber, Gerold W. (Hrsg.): Musik und Literatur: komparatistische Studien zur Strukturverwandtschaft. Frankfurt am Main u.A.: Lang, 21997. S. 14-17.
72 Gier, in: Zima, 1995, S. 70. 73 Scher: Einleitung, in: Scher, 1984, S. 12. 74 Scher, 1968, S. 3. 75 Vgl. Scher, 1968, S. 3. Zurckzufhren ist dieses Einverstndnis wohl auf die Psychologisierung der Musik, wie sie
in Kapitel 2.1.1 schon dargestellt wurde. 76 Gier, in: Zima, 1995, S. 70.
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Text-Musik/Musik-Text ... Theoretische Grundlagen im musik-literarischen Feld, Seite 16
men. Daneben gibt es weitere musikalisch zu nennende Techniken, die in zwei Gruppen
gegliedert werden knnen: (a) die Muster, die beiden Knsten eigen sind (Wiederholung,
Variation, Ausgleichs- und Kontrastwirkungen etc.) und (b) diejenigen, die purer musika-
lischer Natur sind (Kontrapunkt, Tonalitt, Modulation etc.), wobei Uneinigkeit darber
besteht, wo diese Grenze zu ziehen sei.77
Schlielich bezeichnet Scher den Bereich, in dem Musik als Referent fungiert, als Ver-
bal Music. Hiermit meint er die literarische Annherung an wirklich vorhandene oder
fiktive Musik, mit dem Ziel, ein quivalent des Musikerlebens zu schaffen78, d.h. ein
Werk oder dessen musikalische Auffhrung und deren Wirkung auf einen Zuhrer wird be-
schrieben. Es handelt sich um den Versuch der transpositions dart, der Reproduktion
eines musikalischen Effektes in Worten. Verbal music kann onomatopoetische Zge ha-
ben, setzt sich aber von der Wortmusik ab.
Im folgenden sollen Beziehungen beider Knste mit gesellschaftlichen Bedingungen ihrer
Entstehung und Rezeption dargestellt werden, denn gerade im Bereich der populren
Musik gehen die parallelen Merkmale von Literatur und Musik auf einen gemeinsamen
Ursprung zurck [...], der weder musikalisch noch literarisch ist79.
77 Vgl. Scher, 1968, S. 6. Einerseits knnte man urteilen, da ein generelles Thema eines literarischen Werkes der Idee der Tonalitt nahe kme, und Stimmungswechsel mit Modulationen von einer Tonart in die andere analogisierbar sei (vgl. Scher, 1968, S. 8.). Andererseits werden durch die unreflektierte bernahme musikalischer Begriffe in literarische Kontexte diese bis zum Verlust ihrer definitorischen Qualitten unscharf (z.B. Leitmotiv oder Kontrapunkt).
78 Gier, in: Zima, 1995, S. 70f. Vgl. auerdem: Scher, 1968, S. 8.; Scher: Einleitung, in: Scher, 1984, S. 13. und Brown, C.S., in: Scher, 1984, S. 35.
79 Brown, C.S., in: Scher, 1984, S. 38.
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Text-Musik/Musik-Text ... Theoretische Grundlagen im musik-literarischen Feld, Seite 17
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Text-Musik/Musik-Text ... Zum Begriff Pop, Seite 18
3. Zum Begriff Pop
Seit Guido Westerwelle Guildo Horn und Gerhard Schrder als Pop-Phnomene parallelisiert hat, geht selbst den gestandensten Intellektuellen beim Begriff Pop vllig das Hirn auf Grundeis.80
Der Begriff Pop wird zunehmend in der journalistischen wie in der wissenschaftlichen
Auseinandersetzung als globaler berbegriff fr alles verwendet, was nicht der soge-
nannten Hochkultur zugeordnet werden kann. Die durch solch unreflektierte Betrachtung
entstandene Diffusitt des Begriffes zeigt sich darin, da Pop gleichermaen als Syno-
nym fr den Begriff der Massenkultur, der Avantgarde oder der populren, modernen,
zeitgemen Kunst/Kultur gehandelt wird. Eine historische Betrachtung zeigt, da unter
dem Begriff Pop schon anfangs eine Vielzahl durchaus heterogener Strmungen subsu-
miert wurde, denen eine gemeinsame Leitperspektive der Annherung von Kunst und
Lebenspraxis81 gemeinsam war. Pop zeichnete sich nicht unbedingt durch ein ihm
neues Material aus, sondern vielmehr durch einen stark vernderten Umgang mit bereits
vorhandenem Material der Alltagskultur. Zwar war die Bezugnahme auf Alltagsgegen-
stnde und gestaltung [...] eine Konstante der ganzen Moderne82, jetzt aber
berschritt das Material bestehende Grenzen und kam jenseits dieser zu neuer
Bedeutung, wurde in anderen kulturellen Kontexten neu codiert. Insofern stellt Pop stets
eine Transformation dar, durch die sich in einem dynamischen Proze kulturelles Material
und dessen soziale Umgebungen gegenseitig stndig neu gestalten.83 Pop wurde gerade
in den Anfngen als Gesamtkunst gedacht, in der verschiedene Knste wie Pop-Art,
Popmusik und Popliteratur als zusammengehrende Phnomene konzipiert wurden.
Diesen heterogenen Strmungen war gemeinsam, da sie den Bruch mit den als Last
empfundenen knstlerischen und literarischen Traditionen ber ein affirmatives
Verhltnis zum alltglichen Material betrieben haben84. Dieses affirmative Verhltnis
drckt sich in einer positiven Beziehung zur wahrnehmbaren Seite der umgebenden
Welt, ihren Tnen und Bildern85 aus, Pop uert sich zunchst durch ein groes Ja! zu
Leben und Welt, verzichtet gleichzeitig aber nicht auf Kritik. Die neue Codierung der
alten Materialien (und kulturellen Verhaltensweisen) hatte kritisches Potential, war
gleichzeitig inklusiv, d.h. Pop war als fr alle gleichermaen zugnglich konzipiert und
somit sozial/politisch. Zusammenfassend knnte man Pop durch die Begriffe
80 Diederichsen, Diedrich: Alles ist Pop. Was bleibt von der Gegenkultur? Sddeutsche Zeitung #181, 08./09.08.1998, S. 14.
81 Schfer, J.: Pop-Literatur, 1998, S. 12. 82 Diederichsen, Diedrich: Pop deskriptiv, normativ, emphatisch. In: Hartges, Marcel / Ldke, Martin / Schmidt,
Delf: Pop. Technik. Poesie. Die nchte Generation (Literaturmagazin #37). Reinbek: Rowohlt 1996, S. 38. 83 Vgl. Diederichsen: Pop, 1996, S. 38f. 84 Schfer, J.: Pop-Literatur, 1998, S. 13. 85 Diederichsen: Pop, 1996, S. 39.
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Text-Musik/Musik-Text ... Zum Begriff Pop, Seite 19
Transformation, Affirmation, Verfgbarkeit und Selbstreferentialitt beschreiben: Alle
Gegenstnde des Alltagslebens werden fr die Pop-Kunst verfgbar, ihr Dasein positiv
bekrftigt und in neue Kontexte transformiert. Diese Um- und Neucodierung fhrt
schlielich zu einem hohen Grad an Selbstreferentialitt. Im Zuge der Verbreitung
popkultureller Phnomene rckten allerdings (die von vornherein im Pop verankerten)
Aspekte der Massenkonsumierbarkeit und distribution in den Vordergrund und scheinen
heute technische oder kritische Aspekte einer Pop-Praxis zu dominieren.86
3.1 POPMUSIK ALS KULTURELLE PRAXIS
Versucht man, Popmusik vor diesem Hintergrund theoretisch zu konzipieren, stehen sich
grundstzlich zwei Positionen gegenber: Zum einen gibt es die aus der Musikwissen-
schaft generierte Auffassung, Musik erhalte durch ihre Klangstruktur Bedeutung, die aber
nicht ins Auermusikalisch-Gesellschaftliche hineinzuwirken vermag (s.o.). Zum anderen
wird in Anlehnung an die Untersuchungen des britischen Centre for Contemporary
Cultural Studies (CCCS) der Popmusik als Bestandteil jugend- und subkultureller Zusam-
menhnge ein soziales Widerstandspotential87 zugeschrieben. Whrend die eine Seite in
Adornos Nachfolge Popmusik als eine besonders raffinierte Finte des Kapitals zur kultu-
rellen Reproduktion bestehender Machtverhltnisse88 sieht, gibt es auf der anderen Seite
jene, die bereits beim leisesten Vorverdacht auf Jugendkultur ein Widerstandspotential
zu feiern beginnen, das noch aus jeder Geste abweichenden Konsumverhaltens eine Sub-
kultur [...] werden lt89. Das eigentliche Verdienst des CCCS aber besteht darin, da
hier weniger von den kulturellen Materialien als Artefakten ausgegangen wird, in denen
bestimmte Bedeutungen verkrpert werden, sondern vielmehr von den sozialen und kul-
turellen Zusammenhngen der Objekte, die zum Trger von Bedeutungen und Werten
gemacht werden [...]. Kultur konnte so als ein Geflecht von Verhltnissen verstanden
werden, deren Struktur durch soziale Konflikte, Machtverhltnisse, konomische, politi-
sche und ideologische Prozesse geprgt und bewegt wird90. So verbinden die Cultural
Studies soziologische mit sthetischen Untersuchungskriterien. Die Materialien, Objekte
86 Diederichsens politisierender Pop-Begriff unterscheidet daher definitorisch Pop I (als spezifischer Pop der 60er bis 80er Jahre) von Pop II (als allgemeiner Pop, 90er Jahre). Whrend Pop I vor allem als Verstrung und Mglichkeit zu Dissidenz, als Gegenuerung zum hochkulturellen Geschehen betrachtet wird, ist Pop II lngst so sehr Teil marktwirtschaftlicher und systemtragender Prozesse geworden, da er quasi als ausgednnte Hochkultur sein kriti-sches Potential zu verlieren droht. Pop II ist nicht mehr Ausdruck und Programm der einen, minoritren Gemein-schaft, sondern eine Vielzahl hchst flchtiger, sich je neu konstituierender Gemeinschaften, die einen bestimmten Gebrauch von Pop-Bedeutungen machen.
87 Wicke, Peter: Popmusik Konsumfetischismus oder Kulturelles Widerstandspotential? Gesellschaftliche Dimensio-nen eines Mythos. In: Heuger, Markus / Prell, Matthias / Weihrauch, Stefan: Popmusic yesterday today tomorrow. Regensburg: ConBrio 1995, S. 21-35. (hier: WWW-Dokument (17.09.1999), URL: http://www2.rz.hu-berlin.de/ inside/fpm/texte/dimmyth.htm, Abs. 3).
88 Wicke: Popmusik - Konsumfetischismus, Abs. 3. 89 Wicke: Popmusik - Konsumfetischismus, Abs. 2. 90 Wicke, Peter: Populre Musik als theoretisches Konzept. In: PopScriptum. Beitrge zur populren Musik (hrsg.
vom Forschungszentrum Populre Musik, Berlin), #1, 1992, S. 23.
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Text-Musik/Musik-Text ... Zum Begriff Pop, Seite 20
und Symbole (Songs, Filme, Texte, Mode- und Alltagsgegenstnde etc.), die in diesen
Prozessen zirkulieren, haben keine fixierte Bedeutung und treten nur als Produkt einer
kulturellen Auseinandersetzung zutage. Sowohl im Proze ihrer Produktion wie im Pro-
ze ihrer Rezeption bzw. ihres kulturellen Gebrauchs sind Bedeutungen, Sinnstrukturen
und Wertmuster als Resultate konfliktreicher Auseinandersetzungsprozesse mit dem ge-
genstndlichen Universum einer Kultur nur vorlufig verbunden, weil immer wieder neu
in solche Auseinandersetzungen hineingezogen91.
Wesentlich fr das der Arbeit zugrundeliegende Verstndnis von Pop (und Popmusik) ist
die Tatsache, da jede historische Epoche ihre eigenen, ganz unterschiedlichen Bedin-
gungen geschuldeten Popularittskriterien hervorbringt, das Verstndnis des Begriffs
populre Musik somit dem historischen Wandel und darin unter Umstnden gravierenden
Vernderungen unterliegt92. Hier wird der Begriff der populren Kultur als sozialer Raum
konzipiert, in dem sich zwei Variablen das soziale Subjekt und die es umgebende
Symbolwelt, zu der die Musik gehrt zueinander verhalten und sich gegenseitig konsti-
tuieren.
Eine Reduzierung der Popmusik auf ihre klanglichen innermusikalischen Qualitten wrde
ihre kulturelle Funktion weitestgehend auer Acht lassen. Popularitt beschreibt nicht
etwaige Eigenschaften einer Klasse musikalischer Texte (denn Popularitt kann wohl
kaum als isoliertes soziales Faktum definitorisch bestimmt werden93), begrndet sich also
nicht durch das klangliche Material selbst. Ein Musikbegriff, der dieses als Ausgangspunkt
setzt, stammt aus der klassischen musikalischen Praxis, deren soziale Grundlagen der
Produktion und Rezeption kaum verallgemeinert auf Popmusik zu bertragen sind. Dieser
Musikbegriff ist zudem essentialistisch, da davon ausgegangen wird, da hier die Es-
senz, das Wesentliche zu fassen sei nach der deterministischen Logik, die kulturelle
Wirkung mu eine musikalische Ursache haben94.
Bestimmte klangliche Phnomene der Popmusik allein als Resultat einer Weltanschauung
oder aber umgekehrt als Ausgangspunkt einer neuen Haltung zu setzen, greift zu kurz
und erinnert an informationstheoretische Sender-Empfnger-Modelle, die auf die Popmu-
sik bezogen vereinfachend und verzerrend wirken. Die Wechselbeziehungen zwischen den
einzelnen Faktoren, die im kulturellen Proze miteinander wirken und sich erst so immer
neu konstituieren, sind vielschichtiger und komplexer als es ein solches Modell
ausdrcken knnte. Insofern sollte man sich von der Vorstellung verabschieden, da
man nur das klangliche Substrat genau genug in Augenschein zu nehmen habe, um des- 91 Wicke, in: PopScriptum #1, 1992, S. 24. 92 Wicke, in: Popscriptum #1, 1992, S. 18. 93 Vgl. Wicke, in: PopScriptum #1, 1992, S. 25. 94 Wicke, in: PopScriptum #1, 1992, S. 22.
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Text-Musik/Musik-Text ... Zum Begriff Pop, Seite 21
sen potentiellen gesellschaftlichen Wirkungen auf die Spur zu kommen95. Somit ist auch
nicht durch die strukturelle Beschaffenheit oder konkrete Klanggestalt eines einzelnen
Musikstckes determiniert, welche Musikform wann Bedeutung erhlt, sondern durch die
sozial geprgte Spezifik kultureller Verhaltensmuster: Die gegenstndliche Symbolwelt
von Kulturformen [...] ist also weder isoliert von den sozialen Subjekten, die sie gebrau-
chen, noch isoliert von den sozialen Institutionen, die deren kulturelle Verhaltensweisen
vermitteln und prgen, verstehbar. Das Resultat ist eine in sich durch wechselseitige Re-
ferenzen aufeinanderbezogene Symbolwelt, in die knstlerische [...] Materialien auf be-
sondere Weise einbezogen sind96.
In der Popmusik bildete sich (verstrkt seit den frhen 80er Jahren) eine Selbstreferen-
tialitt, die zu einer unterschwelligen Theoretisierung im Pop-Geschehen fhrte. So
wurde den Musikern selbst bald klar, da nicht Klang, Ton, Harmonie etc., sondern der
Verweis kleinste Einheit des Pop-Werks sei97. Das Um- und Neucodieren musikalischen
Materials trat in den Vordergrund und schuf so endlos Material fr wieder neue Codierun-
gen. Musik wurde zunehmend egal ob in Produktion oder Rezeption als kulturelle Pra-
xis verstanden, im Pop zugnglich fr jeden, der an dieser Praxis teilhaben wollte.
Popmusik ist in all ihren heterogenen Ausprgungen schwierig auf bestimmte genrebil-
dende Merkmale festzulegen; vielmehr ist ein musikalischer Eklektizismus zu verzeichnen.
Dies ist vor allem darauf zurckzufhren, da die eigentlich sinnstiftenden Zusammen-
hnge nicht in sie eingeschrieben sind, sich nicht in Klangstrukturen abbilden und selten
nur in den Texten ausdrcken, sondern einem Fluchtpunkt gleich nach auen in die kul-
turellen Formen des Gebrauchs verlagert sind98. Das heit, da Popmusik nicht als Fer-
tigprodukt auf den Markt gebracht wird, sondern erst in der Rezeption innerhalb wech-
selnder Kontexte Bedeutung erhlt. Rezeption ist immer Produktion von Bedeutung, da
das hrende Subjekt im Rckgriff auf das bereits Erfahrene und das Zuknftige erst den
musikalischen Ablauf, den klanglichen Raum generiert: Rhythmus, Melodik, Klangstruk-
turen, Verlaufsmuster entstehen beim Hren durch eine Verbindung des unmittelbar
Wahrgenommen mit gerade vergangenen, erwarteten und antizipierten Klangereignissen,
wobei sequentielle Ablufe in ein Verhltnis der Gleichzeitigkeit gesetzt werden knnen,
visuelle, gestische und krperliche Faktoren ebenso eine Rolle spielen wie vorangegan-
gene Hrerfahrungen99. Das klangliche Substrat eines Songs bleibt unabhngig vom
Rezeptionskontext ob im Auto, im Club, allein oder in Gemeinschaft gehrt wird das 95 Wicke: Popmusik - Konsumfetischismus, Abs. 9. 96 Wicke, in: PopScriptum #1, 1992, S. 25. 97 Diederichsen: Pop, 1996, S. 43. 98 Wicke, Peter: Popmusik als Medium in Klang. In. Wicke, Peter: Vom Umgang mit Popmusik. Berlin: Volk & Wissen
1993, S. 66-88 (hier: WWW-Dokument (17.09.1999), URL: http://www2.rz.hu-berlin.de/inside/fpm/texte/ pomusik.htm, Abs. 30).
99 Wicke: Popmusik - Konsumfetischismus, Abs. 20.
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Text-Musik/Musik-Text ... Zum Begriff Pop, Seite 22
gleiche; als kulturelle Praxis aber entsteht Musik auf eine stets neue Art aus diesen
Zusammenhngen, wobei diese einander determinieren, beeinflussen und neu konstitu-
ieren. Herkmmliche sthetische Raster (wie Wahrheitsgehalt, Sinn, Bedeutung, ge-
schichtlicher Gehalt) bleiben der Musik uerlich und werden erst durch Kontextualisie-
rung und Diskursivierung in die Musik eingeheftet.100 Der Gebrauch, der von einem Ele-
ment dieses komplex strukturierten symbolischen Systems (Individuum, Gruppe, Markt
usw.) gemacht wird, hngt immer davon ab, wie sich dieses Element innerhalb des
Systems und im Hinblick auf das Systemganze verhlt. Die verschiedenen Rezeptions-
kontexte werden durch die audio-visuellen Massenkommunikationsmittel noch verviel-
facht. Die hierdurch entstehende Variabilitt fhrt zu einer Schwerpunktverlagerung auf
die immer wieder neuen konnotativen Verknpfungen, die auf diese Weise zwischen
Musik und unterschiedlichen Rezeptionskontexten mglich werden101. In letzter
Konsequenz bedeutet das, da es keinen Urtext [gibt], der in den verschiedenen Zu-
sammenhngen nur in verschiedenem Mae realisiert wre, ebensowenig wie [...] den
idealtypischen Hrer102, bzw. ein richtiges oder falsches Hren oder Encodieren.
Allerdings setzen interne musikalische Parameter objektive Grenzen, innerhalb derer die
Musik ihre Bedeutung aus den sozialen Zusammenhngen, in denen sie steht, bezieht.
Insofern haben [wir] nicht die Freiheit, alles was wir wollen in einen Song hineinzuin-
terpretieren103, da stets einige Bedeutungsarten an der Musik haften bleiben. Erst
dadurch, da die von internen Strukturen abhngigen Bedeutungsparameter gegen die
Lebenserfahrung des Individuums oder der Gruppe gerieben werden, werden sie zum Le-
ben erweckt, d.h. semantisch aufgeladen.
Verschiedene disparate Elemente der Songgestalt fgen sich also nicht aufgrund ihrer
klanglichen Strukturen zu einem sinnvollen Ganzen, sondern aufgrund der sehr komple-
xen Zusammenhnge um diese Musik herum. Hierbei werden die Grenzen des einzelnen
Songs weit berschritten: In den vielschichtigen Zusammenhngen des Gebrauchs von
Popmusik wirkt nicht der einzelne Song, sondern es wirken in der Regel immer nur Ele-
mente dessen, die Verbindungen mit Elementen anderer Songs aus diesem endlosen
Strom von Musik eingehen, als der sich Popmusik prsentiert104. Diese Einzelelemente
unterschiedlichster Songs laufen dann zusammen in etwas, das Wicke ein kulturelles
Stereotyp nennt. In diesem Stereotyp ist die Musik immer nur ein Element und es spie-
len gleichermaen auch in Symbole verwandelte Materialien des Alltags, Kleidungs-,
Haar-, Verhaltens- und Sprachstile eine Rolle und erst in der Gesamtheit dessen verkr- 100 vgl. Behrens, Roger: Hauptstrom Zur Krise der Kritik. In: testcard #6, 1998, S. 29. 101 Wicke, in: PopScriptum #1, 1992, S. 31. 102 Wicke: Popmusik - Konsumfetischismus, Abs. 28. 103 Frith, Simon: Zur sthetik der populren Musik. In: PopScriptum #1, 1992, S. 75. 104 Wicke, Peter: Popmusik als Medium..., 1993, Abs. 31
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Text-Musik/Musik-Text ... Zum Begriff Pop, Seite 23
pert sich, was Popmusik [...] jeweils bedeutet105. Im kulturellen Gebrauch fgt sich aus
den einzelnen Songs, gleich einem Film aus Einzelbildern, eine kulturelle Gestalt zusam-
men, die jeweils einen bestimmten Verhaltenscode festlegt.106 Indem aus sprachlichen,
gegenstndlichen und bildlichen Symbolen Sinnstrukturen gebildet werden, werden sie zu
Texten, in denen die Individuen ihre subjektive Identitt ausdrcken, ihrem Verhltnis
zur Welt [...] persnlichen Sinn geben107. Als kultureller Text aber ist Popmusik weniger
kommunikativ als funktional bestimmt. Ihre Kommunikativitt erhlt sie erst durch die
(immer wechselnde) Wirksamkeit der in ihr zirkulierenden Symbole und Gebilde. Der
kulturelle Text wird durch die Anhufung verschiedener, historisch gewachsener
Bedeutungen gebildet, die sinnbildend miteinander verknpft werden mssen und ist
daher stets instabil und kontextabhngig. Deswegen ist die am Kunstwerkbegriff orien-
tierte Vorstellung vom Einzelsong als Bezugspunkt der Analyse aufzugeben108.
3.2 SOZIALE FUNKTIONEN VON POPMUSIK
Popmusik bietet sich zur Erfllung sozialer Funktionen an, da sie einerseits stets beson-
ders intensive emotionale Erfahrungen auslst, und weil andererseits diese musikali-
schen Erfahrungen immer eine gesellschaftliche Bedeutung109 besitzen. Die Hauptfunk-
tionen von Popmusik liegen vor allem in der Beantwortung von Fragen zur Identitt (ei-
nes Individuums oder einer Gruppe) sowie in ihrer lustvollen Erfahrung.
3.2.1 Identittsbildung durch Popmusik
In der Identittsbildung des Jugendlichen, aber zunehmend auch des Erwachsenen, hat
Popmusik eine zentrale Funktion erhalten, da wir diese benutzen, um fr uns selbst eine
besondere Art von Selbstdefinition, einen bestimmten Platz in der Gesellschaft zu schaf-
fen110. Popmusik stellt insofern einen Proze von Inklusion und Exklusion dar; dadurch
da wir uns mit bestimmter Musik (d.h. auch oft mit den Knstlern, den Gleichgesinn-
ten) identifizieren, schaffen wir ebenso Nicht-Identitt mit den/dem anderen.111 Durch
Popmusik werden individuelle Sinnzusammenhnge geschaffen, durch die eigene Le-
bensbedingungen sinnvoll erfahrbar werden, da diese individualisierbare Bedeutungs-
und Bewertungsmuster liefert. Die Identittsbildung wird vor allem durch drei Funktionen
spezifiziert: (a) die Positionierung im sozialen Raum, (b) die Inbesitznahme und das 105 Wicke: Popmusik als Medium ..., 1993, Abs. 31 106 Vgl. Wicke, in: PopScriptum #1, 1992, S. 34, S. 37. Auch Barthes zieht die Analogie zum Bildlichen: Als
leuchtende Schrift (vgl. Kap. 4.2.1) wird Musik dynamisch gestaltet und steht dem gemalten Raum weitaus nher [...] als der Redekette. Im Grunde ist die Musik auf dieser Ebene keine Sprache, sondern ein Bild [...] (Barthes, 1990, S. 300f.)
107 Wicke, in: PopScriptum #1, 1992, S. 33. 108 Wicke, in: PopScriptum #1, 1992, S. 34. 109 Frith, in: PopScriptum #1, 1992, S. 75. 110 Frith, in: PopScriptum #1, 1992, S. 77. 111 Vgl. Dllo, Thomas: Wie wir wurden, was wir sind, indem wir hrten, was die Tontrger uns zutrugen. In: Justin,
Harald / Plath, Nils (Hrsg.): Tonabnehmer. Populre Musik im Gebrauch. Mnster: Daedalus 1998, S. 19.
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Text-Musik/Musik-Text ... Zum Begriff Pop, Seite 24
Inbesitznehmenlassen von Popmusik und (c) die Verbindung zwischen privater und f-
fentlicher Gefhlswelt. Dies soll im folgenden verdeutlicht werden.
(a) Positionierung im sozialen Raum
Da Zuhren auch immer eine Positionierung und eine Aneignung eines sozialen Raums
bedeutet, wird schon in Roland Barthes Typologie des Zuhrens deutlich, da diese erlu-
tert, warum Positionierungen und Identifikationen gerade anhand von klanglichen Ph-
nomenen vorgenommen werden. Er unterscheidet drei Arten des Zuhrens:
Die erste Art des Zuhrens ist ein dem Tier hnliches auf Indizien ausgerichtetes Alarm-
Hren, ein Lauschen auf das Ungewhnliche. Im Zuhren erkennt Barthes die eigentli-
che Genese des Sinns fr Raum und Zeit, dieser bedeutet nmlich zunchst das Erfassen
von Entfernungsgraden und die regelmige Rckkehr der Schallerregung112. Schon auf
dieser niedrigsten Stufe des Zuhrens geht es um eine schallbedingte Aneignung des
Raums, durch die Territorialien abgesteckt werden: Das Horchen ist jene vorausgehende
Aufmerksamkeit, durch die sich alles erfassen lt, was das territoriale System stren
kann [...]; das Material des Horchens ist das Indiz, das entweder die Gefahr offenbart
oder die Befriedigung des Bedrfnisses verheit113.
Die zweite Art des Zuhrens beschreibt einen intentionalen Hrakt, das auf Zeichen ge-
richtete Zuhren, das das lautlich Rezipierte entziffern will. Dieses Zuhren ist bereits
bestimmten Codes der (De-) Chiffrierung unterworfen, durch die das Geheimnis des Ge-
hrten entschlsselt werden kann. Zuhren heit die Stellung einnehmen, in der das
Dunkle, Verschwommene oder Stumme dekodiert wird, um das Dahinter des Sinns [...]
im Bewutsein erscheinen zu lassen114.
Die dritte Art ist das Zuhren im intersubjektiven Raum. Dieses Zuhren verluft von
Unbewutem zu Unbewutem, es schliet nicht nur das Unbewute [...] in sein Feld
ein, sondern sozusagen auch dessen weltliche Formen: das Implizite, das Indirekte, das
Zustzliche, das Hinausgezgerte. Es gibt eine ffnung des Zuhrens auf alle Formen der
Polysemie, der berdeterminierung und der berlagerungen, es gibt ein Abbrckeln des
Gesetzes, das ein geradliniges, einmaliges Zuhren vorschreibt115. Traditionelle, insti-
tutionalisierte Sprecherrollen (als Ranghherer und Rangtieferer) werden durch diese Art
des Zuhrens aufgebrochen, da der Zuhrer im Spiel des Begehrens, wie Barthes diese
unbewute Kommunikation nennt, eine aktive Rolle bernimmt: das Zuhren spricht116.
In diesem unbewuten Hrakt versucht der Zuhrer, die allgemeine Signifikanz zu er- 112 Barthes, 1990, S. 250. 113 Barthes, 1990, S. 251. 114 Barthes, 1990, S. 253. 115 Barthes, 1990, S. 261f. 116 Barthes, 1990, S. 262.
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Text-Musik/Musik-Text ... Zum Begriff Pop, Seite 25
fassen. Diese allgemeine Signifikanz ist nicht in das sprachliche oder musikalische Mate-
rial selbst eingeschrieben, sondern vielmehr im (bewegten) Krper, auf den es verweist.
Jemandem zuhren, seine Stimme hren, erfordert von seiten des Zuhrers eine Auf-
merksamkeit, die fr das Dazwischen von Krper und Diskurs offen ist und sich weder auf
den Eindruck der Stimme noch auf den Ausdruck des Diskurses versteift. Bei diesem Zu-
hren lt sich nun genau das vernehmen, was das sprechende Subjekt nicht sagt117. In
eben jenem Dazwischen manifestiert sich das Nicht-Gesagte, dessen Ursprung immer der
Krper ist.
Diese Arten des Zuhrens treten durchaus in Verbindung miteinander auf. Gerade bei der
Rezeption von Popmusik wird deutlich, da hier unbewut-emotionale, affektive und
intentionale Hrakte in einem Proze miteinander verschmelzen. Die Aneignung des
Raums und die Positionierung in ihm sind sicherlich schallbedingt, der husliche Raum
[...] ist ein Raum vertrauter, wiederkehrender Gerusche, die zusammen eine Art
husliche Symphonie bilden118, die Positionierung im sozialen Raum ist in ihrer Kon-
textabhngigkeit und Komplexitt aber nur durch Zuhren auf der zweiten und dritten
Stufe mglich. Natrlich ist Popmusik nicht die einzige Mglichkeit zur Positionierung im
sozialen Raum (sie ist nur ein Teil des kulturellen Stereotyps), aber sie ist besonders
wichtig auf Grund ihrer direkten emotionalen Intensitt. Angesichts ihrer abstrakten
Eigenschaften [...] ist Musik eine individualisierende Form. Wir absorbieren Songs in un-
ser eigenes Leben und Rhythmen in unsere Krper; sie haben einen derart losen Bezug,
der sie unmittelbar zugnglich macht. Popsongs bieten sich zur persnlichen Aneignung
an119 Insofern ermglicht das Hren von Popmusik quasi eine zweite Stufe der Aneig-
nung des Raumes als soziale Einordnung.
(b) Inbesitznahme von und das Inbesitznehmenlassen durch Popmusik
Pop ist nicht nur etwas, das man sich aneignet, sondern in Besitz zu nehmen scheint. Als
kulturelle Praxis schwebt der Umgang mit Popmusik stets zwischen Sich-Ausliefern und
In-Besitz-Nehmen120. Zunchst ist Musik aufgrund ihrer Warenform als Objekt besitzbar.
Darber hinaus meinen wir, da wir einen Song selbst besitzen, ein besonderes Konzert,
und den jeweiligen Knstler. Indem wir die Musik in Besitz nehmen, machen wir sie zu
einem Teil unserer eigenen Identitt und bauen sie in unsere Vorstellung von uns selbst
ein121. Andersherum wird Musik nicht nur in Besitz genommen, sondern ergreift auch
vom hrenden Individuum Besitz.
117 Vasse, Denis, zit. nach Barthes, 1990, S. 259. 118 Barthes, 1990, S. 250. 119 Frith, in: PopScriptum #1, 1992, S. 75f. 120 Wicke: Popmusik - Konsumfetischismus, Abs. 20. 121 Frith, in: PopScriptum #1, 1992, S. 81.
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Text-Musik/Musik-Text ... Zum Begriff Pop, Seite 26
(c) Verbindung zwischen privater und ffentlicher Gefhlswelt
Durch die Positionierung im Raum stellt das Individuum einen Zusammenhang zwischen
privater und ffentlicher Sphre her. Es kann seine Gefhle im ffentlichen Raum uern,
ohne das Private (das mglicherweise Zusammenhanglose, Peinliche, Besondere) preiszu-
geben. Wo das Individuum keinen Ausdruck fr das private Gefhl findet, das dem f-
fentlichen Raum adquat wre, findet der (schon ffentliche) Text der Popmusik in die
Privatsphre des Hrers; die Menschen idolisieren Snger nicht, weil sie sie sein wollen,
sondern weil es diesen Sngern irgendwie zu gelingen scheint, ihre eigenen Gefhle of-
fenzulegen es ist, als ob wir uns selbst ber die Musik kennenlernten122. Genau dieses
emotionale Hineingezogenwerden in die Musik und die gleichzeitige Kenntnis darber,
da sie trotzdem etwas ueres, ffentliches ist, macht aus der Musikrezeption und
geschmacksentwicklung eine kulturelle Positionierung des Individuums im Gesellschaftli-
chen. Der einzelne Song setzt, wie jedes Ansprechen einer Person eine Gesprchssitua-
tion voraus, aber dieses Gesprch ist imaginr, in mein tiefstes Inneres eingeschlos-
sen123; d.h. das ffentliche (Text/Musik) wird durch das Privat-Imaginre ursurpiert und
ermglicht so eine Verbindung dieser beiden Sphren.
3.2.2 Pop als sinnlich-lustvolle Erfahrung
Eine weitere und wohl die grundlegendste Funktion von Musik liegt in der Lust (dem
Spa, Wohlgefallen, der Freude), die sie erzeugt. Nach Barthes ist der Krper der eigent-
liche Referent des Musikalischen (s.o.). Fr die Popmusik wird dies auf besondere Weise
deutlich. Das Vergngen an Popmusik wird nicht in erster Linie durch die Phantasie des
Hrenden generiert, sondern es wird direkt erfahren124. Die Popmusik geht auf das afro-
amerikanische Musizieren zurck; deren Wesensmerkmal ist der Krperbezug, die Orga-
nisation des Musikalischen aus der Krperbewegung heraus [...], das den Hrer zum kr-
perlichen Mitvollzug animiert und in der Krpererfahrung eine wesentliche Funktion
hat125. Dieser Krperbezug macht die Sinnlichkeit von Popmusik aus, da das krperliche
Agieren [...] Bestandteil des Klanglichen, die darber vermittelte Lusterfahrung ein inte-
grales Moment musikalischer Praxis126 ist. Mit seiner Forderung nach einer zweiten
Semiologie, der des Krpers im Zustand der Musik, setzt Barthes diese wichtige Kompo-
nente der musikalischen Praxis zentral. Die Krperlichkeit des musikalischen Zeichens, so
Barthes, ist nur durch die dritte Art des Zuhrens zu vernehmen. Die Stimme sowie der
Schlag (Beat) sind Kategorien des Musikalischen, in denen sich der Krper als Referenz-
122 Frith, in: PopScriptum #1, 1992, S. 79. 123 Barthes, 1990, S. 290. 124 Frith, in: PopScriptum #1, 1992, S. 77. 125 Wicke: Popmusik als Medium ..., Abs. 22. 126 Wicke: Popmusik - Konsumfetischismus, Abs. 17.
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Text-Musik/Musik-Text ... Zum Begriff Pop, Seite 27
system am deutlichsten zeigt Stimme und Beat, die grundlegenden Komponenten des
grten Teiles der Popmusik.
Die Stimme bildet den Unterschied zwischen gesungenem und gesprochenem Wort her-
aus. Dieser Unterschied ist zunchst physiologischer Natur, nicht logischer127. Die Stimme
ist der privilegierte Ort des Unterschiedes (sie ist immer verschieden und wird von keiner
Wissenschaft umfassend behandelt, sie bleibt immer der Rest/Mehrwert, der nur auf sich
selbst verweist), in ihr drckt sich psychoanalytisch gesprochen das Begehren aus.
Barthes geht es um die Signifikanz, die zwischen entgegenkommendem und stumpfen
Sinn oszilliert und im Krper des musikalisch Aktiven (z.B. im Gesichtsausdruck)
aufbricht. Sie lt nicht die Seele, sondern die Wollust hervortreten128. Diese Signifi-
kanz zeigt sich nicht als fabare Bedeutung, sondern als flieende Gesamtheit ver-
schiedener Symbole und Empfindungen, die an den Krper und sein Begehren geknpft
sind. Dies wird vor allem auch im Hinblick auf die Megastars der Popmusik deutlich, es
ist das durch die Massenmedien produzierte Substrat aus den stndig wechselnden Er-
scheinungsbildern des Stars sein Krper. Je flieender die Konturen der Persnlichkeit
[...], um so strker rckt die Physikalitt des Krpers als einzig verbleibendes Identifizie-
rungsmerkmal in den Vordergrund129. Referenzsystem der Musik ist aber nicht einzig der
Krper des Musikproduzierenden, sondern ebenso der des Rezipienten. Denn: Welcher
Krper singt also das Lied? Was singt mir in meinem, des Zuhrenden Krper das Lied?
Alles, was in mir widerhallt, mich ngstigt oder mein Begehren weckt130. Das heit, nur
in der Rezeption wird als Referent der Musik der Krper verstehbar (fhlbar), als Stimme
des Begehrens.
Barthes unterscheidet in Anlehnung an Julia Kristeva zwischen Genostimme und Phno-
stimme: Whrend die Phnostimme (oder der Phnogesang) sich all dem zuwendet, was
beim Vortrag im Dienst der Kommunikation, der Darstellung und des Ausdrucks steht131
und somit im Zeichen der Darstellung, Dramatisierung und Kommunikation steht, ist der
Genostimme etwas Unberhrbares zu eigen, das nicht auf die Bedeutung der Wrter
zielt, nicht auf ihre Form oder den Vortragsstil, etwas, was direkt der Krper des Sngers
ist132. Diese Genostimme ist nun aber nicht als das Individuelle, Persnliche einer indi-
viduellen Stimme zu verstehen, vielmehr wird durch die Genostimme ber das Intelligi-
ble und das Expressive hinaus direkt das Symbolische133 befrdert. Der Genogesang ist
der Raum, in dem die Bedeutungen keimen, und zwar aus der Sprache und ihrer Mate- 127 Vgl. Walter, 1992, S. 12. 128 Barthes, 1990, S. 273. 129 Wicke: Popmusik als Medium ..., Abs. 61. 130 Barthes, 1990, S. 288. 131 Barthes, 1990, S. 272. 132 Barthes, 1990, S. 271. 133 Barthes, 1990, S. 271.
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Text-Musik/Musik-Text ... Zum Begriff Pop, Seite 28
rialitt heraus; [...] es ist die Spitze (oder der Grund) der Erzeugung, wo die Melodie
tatschlich die Sprache bearbeitet nicht, was diese sagt, sondern die Wollust ihrer
Laut-Signifikanten134. Eben in der Aussprache, in der Diktion liegt das, was Barthes als
Rauheit der Stimme bezeichnet, jene Materialitt des Krpers, die der Kehle ent-
steigt135. Sie entsteht in dem Raum, in dem Sprache und Gesang aufeinandertreffen.
Diese Rauheit legt, so Barthes, die Signifikanz frei, sie ist die Reibung zwischen der
Musik und etwas anderem, das die Sprache ist (und keineswegs die Mitteilung)136. Das
Gewebe der musikalischen Signifikanz, des vagen Sinns, ist durch den Krper geprgt:
Was tut der Krper, wenn er (musikalisch) aussagt? [...] Er spricht, sagt aber nichts: Denn sobald die Rede oder ihr instrumentaler Ersatz musikalisch ist, ist sie nicht mehr sprachlich, sondern krperlich; sie sagt immer nur folgendes und nie etwas anderes: mein Krper versetzt sich in den Zustand des Sprechens: quasi parlando. [...] diese Stimme spricht, um nichts anderes zu sagen als den Takt (das Metrum), durch den sie als Signifikant existieren, hervortreten kann.137
So wird der Gesang zur praktischen Reflexion ber Sprache138. Barthes generiert sein
Modell der Rauheit aus der Beschftigung mit Vokalmusik, sieht sie aber auch als in der
Instrumentalmusik existent. Sogar lasse der Ersatz der Stimme durch Instrumente noch
mehr Rauheit durchscheinen, er wird wahrer als das Original, die Geige und das Cello
singen besser [...], weil die Bedeutung der Sinnesphnomene [...] in der Verschiebung,
der Substitution, kurz, in der Abwesenheit letztlich immer am glanzvollsten her-
vortritt139. Auch dies ist die Musik des singenden, natrlichen Krpers, die nur Sinn
hat, wenn ich sie immer in mir selbst mit meinem Leib singen kann140. Hier wird die
aktive Rolle des Zuhrens betont.
Barthes berlegungen beziehen sich auf romantische Musik. Fr seine Gegenwart sieht er
die Genostimme und deren Rauheit weitgehend ersterben. In der Popmusik she er eine
rein phnotextuelle Musik, da ihm alle Spielweisen durch das Aufnahmewesen in der
Perfektion abgeflacht und die Rauheit als ffnung der Singnifikanz durch die Aussprache
verloren vorkmen. Aber anders als der phnotextuelle Gesang klassischer Vokalmusik
erstickt die Popmusik zumindest in einigen ihrer Spielarten nicht die Signifikanz unter
dem Signifikat der Seele141. Gerade nicht-vokale Popmusik (Elektropop, Techno-Rave
o..) verzichtet zunehmend auf den Ausdruck von Seele und sogar auf die Melodie ber-
haupt, da diese (in ihrer Reduzierung auf ihre Expressivitt) nur noch als leere Formel 134 Barthes, 1990, S. 272. 135 Barthes, 1990, S. 259. 136 Barthes, 1990, S. 275. 137 Barthes, 1990, S. 305. 138 Vor diesem Hintergrund wre ein Untersuchung der sogenannten Songkrise sicherlich interessant (vgl. Kap 1).
Ger