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Tatort Alltag
S U S A N N E L OAC K E R
TATORT ALLTAGSo schützen Sie sich vor
Übergriffen, Trickbetrug, Gewalt und Kriminalität
EIN RATGEBER AUS DER BEOBACHTER-PRAXIS
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Dank
Martin Boess (SKPPSC) für zahllose Tipps und Starthilfen; Bernd Borchard, Jérôme
Endrass, Frank Urbaniok für viele Gespräche und wertvolle Informationen; Käthi Zeugin
für Adleraugen, Mitdenken und endlose Geduld; Urs Gysling für die Idee.
Beobachter-Edition
© 2014 Axel Springer Schweiz AG
Alle Rechte vorbehalten
www.beobachter.ch
Herausgeber: Der Schweizerische Beobachter, Zürich
Lektorat: Käthi Zeugin, Zürich
Umschlaggestaltung und Reihenkonzept: buchundgrafik.ch
Umschlagfoto: Plainpicture, Hamburg
Fotos: Seite 12: Design Pics/Plainpicture, Seite 46: Goto-Foto/Plainpicture,
Seite 94: Readymade-Images/Plainpicture, Seite 186: Wickedberlin/iStockphoto,
Seite 222: Ralf Brocke/Plainpicture
Bildredaktion: Mena Ferrari
Satz: Bruno Bolliger, Losone
Druck: Grafisches Centrum Cuno GmbH & Co. KG, Calbe
ISBN 978-3-85569-818-9
ePDF ISBN 978-3-85569-875-2
Inhalt
Vorwort .................................................................................................... 11
1 Kriminalität in der Schweiz – Zahlenund Fakten ................................................................................... 13
Ängste und Realitäten ........................................................................... 14
Es kann jeden treffen ................................................................................ 15
Wovor fürchten sich die Menschen in der Schweiz? ............................ 17
Erwin Brühlmann:«Manche Szenen vergisst man nie mehr» ......................................... 20
Wie gefährlich ist die Schweiz? .......................................................... 22
2000 Straftaten pro Tag ........................................................................... 22
Auf europäischem Niveau ........................................................................ 24
Filipp N.: «Angst habe ich nie» .............................................................................. 26
Wie entsteht Kriminalität? .................................................................. 28
Was heisst eigentlich «kriminell»? ........................................................... 28
Fünf Faktoren, die Kriminalität begünstigen ......................................... 29
Prävention, Deeskalation und Strafverfolgung .............................. 33
Gar nicht erst geschehen lassen – Prävention ........................................ 33
Niederschwellige Prävention: die Broken-Window-Theorie ................ 34
Vorsichtig ist nicht feige ........................................................................... 35
Damit ein Konflikt nicht ausartet: Deeskalation ................................... 38
Welche Delikte werden wie verfolgt? ..................................................... 39
Martin Boess: «Es braucht beides: Repression und Prävention» ......................... 40
So nicht! Zivilcourage und Gegenwehr ........................................... 42
Zivilcourage: ja, aber richtig .................................................................... 42
Gegenwehr – ja oder nein? ...................................................................... 43
2 Übergriffe, Betrug und Gewalt im privaten Umfeld ................................................................ 47
Einbruch ................................................................................................... 48
Machen Sie es den Einbrechern schwer .................................................. 48
Risikofaktoren für Einbrüche ................................................................... 50
Massnahmen gegen Einbrüche ................................................................ 51
Urs Brönnimann: «Die Gewaltbereitschaft ist gestiegen» ............................................ 56
Betrug ........................................................................................................ 58
So funktioniert Trickbetrug ...................................................................... 58
Enkeltrick – eine Falle vor allem für ältere Menschen .......................... 61
Teerbetrüger .............................................................................................. 63
Trickdiebstahl an der Wohnungstür ....................................................... 65
Seniorenfahrten ......................................................................................... 65
Sie haben gewonnen! ............................................................................... 67
Schneeball- oder Pyramidensysteme, Schenkkreise ............................... 69
Dubiose Stellenangebote .......................................................................... 70
Nutzlose Einträge: Registerhaie .............................................................. 71
Scharlatane – das Geschäft mit der Angst .............................................. 72
Urs Saner: «Wir Schweizer sind viel zu lieb» ...................................................... 74
Stalking: nicht nur bei Popstars ......................................................... 76
Wer sind die Opfer? ................................................................................. 76
Wie Stalker vorgehen ............................................................................... 78
Häusliche Gewalt ................................................................................... 80
Jede fünfte Frau ist betroffen ................................................................... 80
Hilfe für die Opfer .................................................................................... 83
Susan Peter: «Wir machen mit besten Absichten Sisyphusarbeit» .................... 86
Exkurs: Suizid ......................................................................................... 88
Dreimal mehr Tote als im Strassenverkehr ............................................ 88
Prävention rettet Leben ............................................................................ 89
INHALT
Vladeta Ajdacic-Gross: «Jeder möchte weiterleben» ................................................................. 92
3 Übergriffe und Gewalt im öffentlichen Raum ........................................................... 95
Verbrechen gegen das Vermögen: Diebstahl und Raub .............. 96
Die Maschen der Trickdiebe .................................................................... 96
Fahrrad weg! ............................................................................................. 98
Skimming & Co. ....................................................................................... 99
Raub: Diebstahl mit Gewalt .................................................................. 102
Raubüberfälle auf Geschäfte .................................................................. 103
Schwester Iniga: «Ich kann nur mein Ohr leihen» ...................................................... 106
Drohung, Erpressung, Gewalt .......................................................... 108
Je schlimmer, desto seltener ................................................................... 108
Mit Drohung und Erpressung konfrontiert .......................................... 110
Vorsichtsmassnahmen für den Alltag ................................................... 111
Drohungen und Gewalt gegen Berufsleute .......................................... 113
Mobbing – auch eine Form von Gewalt ............................................... 114
Gewalt gegen Kinder .............................................................................. 118
Martin Wild: «Kinder sollen so selbständig wie möglich sein» ........................ 122
Sexuelle Gewalt und sexuelle Ausbeutung .................................... 124
Sexuelle Gewalt an Frauen ..................................................................... 125
Exhibitionismus – auch eine Form von sexueller Belästigung ........... 126
Sexuelle Ausbeutung von Kindern ........................................................ 127
Bernd Borchard: «Man muss so gut wie möglich zwischen Mensch und Tat trennen» .................................................................................. 130
Exkurs: Opferhilfe – Schutz für Betroffene ................................... 132
So ist die Opferhilfe organisiert ............................................................ 132
Nicht immer genug ................................................................................. 134
Frank Urbaniok: «Ich hoffe auf Zivilcourage» .............................................................. 136
Extremisten, Hooligans, Fanatiker – gefährliche Gruppen ...... 138
Vandalismus – so fängt es an ................................................................ 138
Hooligans und Ultras ............................................................................. 139
Christoph Vögeli: «Den klassischen Hooligan gibt es kaum mehr» ......................... 142
Demonstrationen, die in Gewalt münden ............................................ 144
Rechtsextremismus und Rassismus ....................................................... 146
Marco Cortesi: «Die Social Media stellen uns vor neue Probleme» .................... 148
Religiöser Fanatismus und Sekten .......................................................... 150
Hugo Stamm: «Offene Fragen erträgt der Mensch nicht» .................................... 154
Gewalt auf Strasse und Schiene ....................................................... 156
Kriminelle Verkehrsteilnehmer .............................................................. 157
Übergriffe in Zug und Bus ..................................................................... 161
Benjamin Schubiger: «Der öffentliche Raum ist für alle da» ........................................... 164
Jugend und Gewalt .............................................................................. 166
Weshalb die Zunahme der Jugendgewalt? .......................................... 167
Was lässt sich gegen Jugendgewalt unternehmen? ............................. 169
Lothar Janssen: «Wir möchten eine Kultur der Wertschätzung fördern» ........... 172
INHALT
Unheimlich und unfassbar: Amoklauf ........................................... 174
Kurze Begriffsgeschichte ......................................................................... 174
Die grosse offene Frage: Weshalb? ...................................................... 175
Trotz allem: nicht die Flöhe husten hören ........................................... 176
Manuela Müller: «Die Frage ist nicht ob, sondern wann» ........................................ 178
Gefahren auf Reisen ............................................................................ 180
Informationen sammeln ......................................................................... 180
Sicherheit vor Ort ................................................................................... 181
Mitbesitzer eines Hotels? ....................................................................... 184
4 Tatort Internet ......................................................................... 187
Sicher unterwegs im World Wide Web ......................................... 188
Sicherheit durch Wissen ......................................................................... 188
Trojanische Pferde im 21. Jahrhundert ................................................ 189
Achtung, Hacker! .................................................................................... 192
Sichere Passwörter .................................................................................. 193
Cybermobbing – noch fieser als Mobbing ........................................... 193
Guido Rudolphi: «Read the fucking manual!» .............................................................. 196
Trickbetrug im Internet ...................................................................... 198
Alte und neue Tricks ............................................................................... 198
Phishing ................................................................................................... 199
Partnersuche im Internet ................................................................... 202
Geschützt durch das Gesetz, aber … .................................................... 202
Besonders fies: Romance Scam ............................................................. 204
Einkaufen im Internet ......................................................................... 207
Richtig virtuell shoppen ......................................................................... 208
Medikamente aus dem Internet ............................................................. 210
Einer Fälschung aufgesessen .................................................................. 212
Betrug bei Online-Auktionen ................................................................. 213
«Dienstleistungen» online ....................................................................... 214
Kinder und Jugendliche im Internet ............................................... 216
Sex im Cyberspace .................................................................................. 216
Ich google dich ........................................................................................ 217
Begegnungen im Netz ............................................................................. 220
Regeln für Kids im Internet ................................................................... 220
Anhang .......................................................................................... 223
Nützliche Links ........................................................................................ 224
Literatur .................................................................................................... 227
Stichwortverzeichnis ............................................................................... 228
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VORWORT
Vorwort
Verschiedenste Faktoren müssen zusammenwirken, damit Sicherheit mög-
lich wird. Bildung und Arbeit gehören dazu, genauso wie Hilfe bei exis-
tenziellen Bedrohungen wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit. Sicherheit
hängt massgeblich ab von Chancengleichheit, Existenzsicherung, sozialer
Sicherheit und der Integration aller in die Gesellschaft, aber auch von
Rechtsstaatlichkeit und der Wahrung der Grundrechte.
Absolute Sicherheit kann jedoch kein Staat garantieren. Trotz aller Be-
mühungen von Justiz und Polizei ist es notwendig, dass die Menschen in
unserem Land informiert sind über mögliche Risiken und Gefahren und
dass sie wissen, was sie dagegen unternehmen können. Viele haben eige-
ne Vorsichtsmassnahmen und Strategien entwickelt, die sie im Alltag ein-
setzen, um nicht Opfer eines Verbrechens zu werden. In der nationalen
Opferbefragung von 2011 gaben zwei Drittel aller Befragten an, dass sie
Vorsichtsmassnahmen treffen. Die häufigste Strategie besteht darin, ge-
wissen Leuten aus dem Weg zu gehen; viele Menschen meiden auch Stras-
sen, Plätze oder Unterführungen, die auf sie gefährlich wirken.
Doch Gewalt findet nicht nur im öffentlichen Raum statt. Auch im pri-
vaten Bereich kann man mit kriminellem Verhalten konfrontiert sein: mit
Diebstahl und Einbruch zum Beispiel, mit häuslicher Gewalt, sexuellen
Übergriffen, aber auch mit Betrügereien im Internet oder mit Missbrauch
von Kreditkarten und Bankdaten.
Dieser Ratgeber bietet aktuelles Wissen über die Gefahren, die den
Menschen in unserem Land begegnen können. Und vor allem enthält er
eine Vielzahl praktischer Tipps, wie man sich im Alltag gegen die viel-
fältigen Formen von Kriminalität und Gewalt schützt. Wir danken der
Beobachter-Edition für das informative und hilfreiche Buch.
Martin Boess
Geschäftsleiter der Schweizerischen
Kriminalprävention (SKP)
im April 2014
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Kriminalität in der Schweiz – Zahlen und Fakten
Wovor fürchten wir uns und weshalb fürchten wir uns
davor? Sind unsere Ängste begründet oder nicht?
Oft haben Menschen vor recht Unwahrscheinlichem Angst,
dafür aber zu wenig Respekt vor wirklich Gefährlichem.
1
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Jeder Mensch hat Ängste. Manche davon haben einen realen
Hintergrund, manche sind irreal. Angst existiert schon so lange,
wie der Mensch existiert.
Hätten unsere Vorfahren nie Angst gehabt, gäbe es uns Menschen heute
vermutlich nicht mehr. Während sie sich noch vor Mammuts, Säbelzahn-
tigern und vielleicht auch vor Spinnen ängstigten, fürchten wir uns heute
vor Naturgewalten, technischen Grosspannen, zu viel Überwachung, der
Umweltzerstörung und kriminellen Taten. Und vor Spinnen noch immer,
auch wenn diese im Lauf der Evolution verdankenswerterweise sehr viel
kleiner geworden sind.
Damit Ängste entstehen, braucht es grundsätzlich drei Faktoren: Man
muss wissen,
dass etwas passieren kann,
dass man diesem Ereignis nicht gewachsen ist
und dass dieses Nichtgewachsensein negative Folgen hat.
Dabei ist dieses «Wissen» keine objektive Grösse: Viele Menschen leiden
unter Flugangst, obwohl statistisch gesehen das Risiko, durch ein Flugzeug-
unglück zu sterben, kleiner ist als dasjenige, durch die Hand des Ehegatten
umzukommen. Doch davor ängstigt sich kaum jemand vor dem Traualtar.
Ebenso wenig fürchten sich die beiden Frischvermählen in den Flitterwo-
chen vor den Palmen, unter denen sie am Strand liegen. Ein statistischer
Fehler: Es ist wahrscheinlicher, dass ein Mensch von einer herunterfallen-
den Kokosnuss erschlagen wird, als dass er beim Baden durch einen Hai-
angriff umkommt. Ein anderes Beispiel: Eltern in Amerika haben viel mehr
Angst davor, ihr Kind bei Freunden spielen zu lassen, in deren Zuhause
eine Waffe vorhanden ist, als bei Kindern, die einen Swimmingpool im
Garten haben. Doch in den USA ertrinken jährlich etwa 550 Kinder unter
zehn Jahren, während bei Spielen mit Waffen rund 175 Kinder im glei-
chen Alter umkommen.
Ängste und Realitäten
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1 KRIMINALITÄT IN DER SCHWEIZ – ZAHLEN UND FAKTEN
Es kann jeden treffen
Grundsätzlich lebt der normale Mensch im Glauben, Schlimmes passiere
den anderen. Sich selber sieht man kaum je in der Opferrolle. Doch eine
kriminelle Tat – das muss nicht gleich Mord und Totschlag sein – kann
grundsätzlich jeden und jede treffen.
Respekt ja, Panik nein
Panik ist fehl am Platz, Respekt aber kann Leben retten. Dazu gehört zum
einen, dass man seine Feinde und ihre Verhaltensweise so gut wie möglich
kennt, und zum andern, dass man sich einmal überlegt, wie man wohl in
dieser oder jener Situation reagieren würde. Erkannte Gefahren sind halbe
Gefahren! Und: Wer meint, nie und nirgends Angst haben zu müssen,
lebt gefährlicher als jemand, der auch mal einen Umweg in Kauf nimmt,
um einer unheimlichen Ecke in der Stadt auszuweichen. Das ist nicht
feige, sondern clever. Wer nie Angst hat, hat keine Fantasie und damit
auch kein Sensorium für mögliche Gefahren. Das gilt sowohl für Frauen
als auch für Männer.
Das Gefühl für gefährliche Situationen
Im Allgemeinen haben Frauen ein sehr viel höheres Sicherheitsbewusst-
sein als Männer, obwohl sie über alle kriminellen Taten gesehen nicht
häufiger Opfer werden – sie machen sich bloss mehr Gedanken über ihre
persönliche Sicherheit. Das negative Sicherheitsgefühl von Frauen beruht
weniger auf eigenen Erfahrungen, sondern wird vor allem von einschlägi-
gen Ereignissen aus dem persönlichen Umfeld und von Medienberichten
genährt. Erzählt also das befreundete Ehepaar beim gemeinsamen Abend-
essen von einem Einbruch durch die Kellertür, ist es bestimmt die Frau,
die, sobald der Besuch weg ist, in den Keller geht und die Tür kontrolliert
– und nicht der Mann.
Die meisten Menschen haben sehr wohl ein Gefühl dafür, welche Situ-
ationen heikel werden könnten. Viele merken instinktiv, wenn sich Gefahr
ankündigt. Zum Beispiel wirkt eine Gegend mit viel Graffiti und Littering
auf die meisten Menschen beängstigend. Dieses Gefühl trügt nicht: Ist ein
Raum völlig versprayt und verdreckt, kümmert sich offensichtlich nie-
mand darum. Und das wiederum bedeutet, dass sich auch niemand küm-
mert, wenn einem hier etwas passiert.
16
Viele Leute haben auch Angst, allein in den Wald zu gehen. Darüber
wird oft gespottet, allerdings nicht ganz zu Recht: Zwar gibt es in den
Wäldern weniger mögliche Opfer und damit auch weniger Delinquenten.
Aber wenn doch einmal etwas passiert, ist weit und breit niemand da, der
helfen könnte. Die Vorsichtsmassnahme, zum Morgen- oder Abendlauf ein
Handy mitzunehmen, ist also durchaus vernünftig.
Eine weitere Angst, bei der das Gefühl richtig liegt: Obwohl statistisch
gesehen das Risiko, beraubt zu werden, viel grösser ist als das einer Ver-
gewaltigung, fürchten sich Frauen mehr vor einer Vergewaltigung. Kein
Wunder: Die Folgen einer Vergewaltigung sind meist ungleich drastischer
als diejenigen eines Raubes.
Was täten Sie als Täter?
Viele Frauen fürchten sich davor, nachts allein am Bahnhof zu sein. Dabei
geschehen Übergriffe eher nach dem Verlassen des Bahnhofs. Vielleicht
sollte man sich einmal gedanklich in die Rolle eines Täters versetzen: Wo
würden Sie eine Frau eher angreifen, am Bahnhof vor unzähligen – oder
je nach Tageszeit nicht ganz so vielen – Zeugen oder nachdem sie den
Bahnhof verlassen hat und allein ein einsames Trottoir entlanggeht?
Wann würden Sie eher im Wald auf Diebestour gehen, nachts, wenn die
Chance klein ist, dass Sie überhaupt einen Menschen antreffen, oder an
einem sonnigen Nachmittag, wenn auf dem Spazierweg schon fast ein
Gedränge herrscht und Sie relativ ungehindert an Handtaschen oder Ruck-
säcke kommen?
Die Angst vor dem dunklen Wald oder vor dem Bahnhof zeigt einen
äusserst häufigen Denkfehler: Nicht Orte haben das Potenzial für krimi-
nelle Taten, sondern Menschen. Einer kriminellen Handlung geht fast
immer eine Begegnung voraus – gefährlich ist nicht der Bahnhof, sondern
der Fremde, der Sie vor der Unterführung anspricht.
TIPP Es ist hilfreich, sich einnal rein theoretisch überlegt
zu haben, wie man einem Feind am besten aus dem Weg gehen
könnte. Gibt es im Park auf Ihrem Nachhauseweg abends einen
bewachten Durchgang? Nutzen Sie ihn! Haben Sie auf Ihrem Handy
eine Notruf-App installiert? Vergewissern Sie sich, wie Sie sie im
Notfall bedienen müssen. Nehmen Sie zum Joggen eine Trillerpfeife
mit? Prüfen Sie ab und zu, ob sie überhaupt noch funktioniert.
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1 KRIMINALITÄT IN DER SCHWEIZ – ZAHLEN UND FAKTEN
Gewohnheiten sind langlebig
Dass die Medien die Ängste der Bevölkerung massiv beeinflussen, ist – so
Martin Killias, emeritierter Professor für Kriminologie der Universität Zü-
rich – ein Märchen. Zwar wachse zum Beispiel nach einem Sexualmord
an einem Mädchen die Empörung in der Bevölkerung, die Angst jedoch
sei sehr träge. Es brauche massive und wiederholte Ereignisse, bis die
Bevölkerung ihre Verhaltensmuster und Lebensgewohnheiten ändere. Die
meisten Ängste lösten Mordfälle aus, die nicht aufgeklärt werden.
In der Opferbefragung 2011 zeigte sich ein deutlicher Anstieg von kri-
minellen Taten (siehe auch Seite 24). Martin Killias, der die Studie leitete,
führt dies auf zwei Hauptgründe zurück: Im 21. Jahrhundert lebe in der
Schweiz eine 24-Stunden-Gesellschaft, die zudem das Internet rege nutze.
Das biete zum einen mehr Gelegenheiten für Taten, und zum andern gebe
es mit dem World Wide Web ein neues, zusätzliches Feld, in dem sich
Kriminelle tummeln könnten – noch dazu über die Landesgrenzen hinaus.
Doch obwohl Betrugsfälle im Internet besonders häufig vorkommen,
fürchten sich die Menschen recht wenig davor, weil die Bedrohung sehr
abstrakt ist. Im Übrigen ist das Dunkelfeld bei Delikten im Internet grös-
ser als bei anderen kriminellen Taten. Schliesslich ist es peinlicher zuzu-
geben, dass man einer angeblichen nigerianischen Prinzessin aufgesessen
ist, als dass einem zwei Bewaffnete die Handtasche gestohlen haben.
Wovor fürchten sich die Menschen in der Schweiz?
Noch im Jahr 2012 war die Zahl der Befragten, die Angst vor Kriminalität,
Überfremdung und Sittenzerfall hatten, angestiegen; 2013 gingen die
Nennungen wieder zurück. Die Schweizer Bevölkerung fürchtete sich of-
fenbar deutlich weniger als im Vorjahr.
Das Angstbarometer
Diese Erkenntnisse stammen aus dem Angstbarometer 2013, einer Lang-
zeitstudie des Forschungsinstituts gfs-zürich, die seit 1978 durchgeführt
wird. Das Angstbarometer dokumentiert die subjektive Bedrohungslage
der Schweizerinnen und Schweizer.
Im Jahr 2012 wurde der Indikator «Angst vor dem Missbrauch persön-
licher Daten» neu in den Fragebogen aufgenommen. Von den 31 abge-
18
fragten Bedrohungen kam diese «neue» Angst auf Anhieb auf Platz sechs,
wobei ältere Bevölkerungsschichten die Bedrohung deutlich weniger stark
wahrnahmen als jüngere.
Im Jahr 2013 liess sich etwas Merkwürdiges beobachten: In fast allen
abgefragten Angstdimensionen ging das Bedrohungsempfinden zurück.
Ob dies daher rührt, dass das Bildungsniveau weiter gestiegen ist? Schon
frühere Studien hatten nämlich gezeigt, dass sich Menschen mit
höherer Bildung weniger fürchten als weniger gut Gebildete.
Viele Ängste sind eben tatsächlich irrational. Ein interessantes
Detail des Angstbarometers: Die Romands sind ängstlicher als
die Deutschschweizer.
Sichere Schweizer Städte 2025
Im Jahr 2013 hat der Schweizer Städteverband gemeinsam mit der Firma
Ernst Basler+Partner sowie 33 deutsch- und französischsprachigen Schwei-
zer Städten die Studie «Sichere Schweizer Städte 2025» durchgeführt. Da-
bei ging es nicht nur um kriminelle Taten, sondern beispielsweise auch um
die Sicherheit vor Naturkatastrophen. Doch die Studie zeigt, dass es ge-
sellschaftliche Gefährdungen sind, die der Bevölkerung im Hinblick auf
die Zukunft am meisten Sorgen bereiten:
LINK
www.gfs-zh.ch
WIE BEDROHT FÜHLEN SICH DIE MENSCHEN IN DER SCHWEIZ?
10
9
8
7
6
5
4
3
2
1
Quelle: gfs-zürich, Angstbarometer, September 2013
Mittelwerte,
1 = keine Bedrohung
10 = grosse Bedrohung
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82
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1 KRIMINALITÄT IN DER SCHWEIZ – ZAHLEN UND FAKTEN
Alkoholmissbrauch in der Öffentlichkeit, Vandalismus und Littering
werden am meisten genannt.
Ebenfalls sehr häufig als bedrohlich angegeben werden: Vermögensde-
likte, Ruhestörung, Betäubungsmitteldelikte, Belästigungen und die
steigende Bevölkerungszahl.
Weniger gefährlich sind nach Ansicht der Menschen in Städten zum
Beispiel Satellitenabstürze, Entführungen, Terroranschläge oder Bom-
bendrohungen.
Die Einschätzungen der Menschen in den 33 Städten unterscheiden sich
zwar nicht grundsätzlich, aber es fällt auf, dass die Anzahl der genannten
Gefährdungen mit hoher Relevanz zunimmt, je grösser eine Stadt ist.
Einzelne Gefährdungen, zum Beispiel gewaltsame Demonstrationen, wer-
den bloss in grossen Kernstädten genannt.
Aus den Ergebnissen der Umfragen leitet die Studie «Sichere Schweizer
Städte 2025» Herausforderungen und Strategien für die Zukunft ab. Im
Zusammenhang mit Kriminalprävention sind vor allem zwei davon rele-
vant:
Die Gesellschaft wird sich mit den Konsequenzen einer wachsenden
sozialen Ungleichheit auseinandersetzen müssen.
Der Umgang mit den negativen Nebeneffekten der mobilen 24-Stun-
den-Gesellschaft wird weiterhin ein wichtiges Thema in der Stadtpolitik
und auch in der praktischen Prävention darstellen, beispielsweise in der
Polizeipräsenz oder bei Überwachungen.
Zahlen aus der Opferbefragung
Die aktuellste Opferbefragung stammt aus dem Jahr 2011 (siehe auch
Seite 24). Darin gaben die Befragten unter anderem auch Auskunft darü-
ber, welches ihrer Ansicht nach die am dringendsten zu lösenden Proble-
me in der Schweiz seien. Sie nannten als grösstes Problem den Vandalis-
mus, gefolgt von herumhängenden Jugendlichen und vom Strassenverkehr.
Einbrüche und Diebstahl, Jugendgewalt sowie Drogenhandel nannten
rund 20 Prozent der Befragten, und jeder Zehnte hielt Nachtlärm für das
dringlichste Problem.
20
«In meiner jetzigen Funktion arbeite ich seit gut drei Jahren,
insgesamt bin ich fast 20 Jahre bei der Polizei. Heute bin
ich mit den verschiedensten Aspekten von Kriminalität
im Alltag konfrontiert. Dabei habe ich festgestellt, dass die
Ängste der Menschen oft nicht mit der realen Bedrohung
übereinstimmen. Die Ängste sind zum einen von der Medien-
berichterstattung beeinflusst, zum anderen hängen sie
davon ab, wo jemand wohnt und wie gross die Polizeiprä-
senz dort ist: In Quartieren, in denen relativ viel passiert
und die Polizei oft vor Ort ist, fühlen sich die Leute subjek-
tiv sicherer als in Gegenden, in denen wir weniger präsent
sind – obwohl dort objektiv weniger passiert.
Die grösste Veränderung in diesen zwei Jahrzehnten als
Polizist ist die Verlagerung des öffentlichen Lebens und da-
mit auch der Kriminalität in die Nacht. Zu Beginn meiner Streifenzeit
sah man morgens um ein, zwei Uhr kaum Jugendliche, die von ausser-
halb kamen und in der Stadt herumlungerten – damals gab es noch keine
Nachtbusse. Heute hängen die jungen Leute die ganze Nacht herum,
und Alkohol ist fast rund um die Uhr erhältlich.
Wütend machen mich manchmal die vielen selbst ernannten Richter in
der Bevölkerung. Das ist ähnlich wie beim Fussball: Viele wissen alles
besser, ohne je selber Verantwortung zu übernehmen. Heute sitzen
diese Leute nicht bloss am Stammtisch, sondern sie verfassen auf Blogs
Kommentare, ohne die wirkliche Situation zu kennen.
Im Raum Zürich ist die Kriminalprävention stark ausgebaut worden.
Wir versuchen zum Beispiel, Anhaltspunkte für die Früherkennung eines
drohenden Amoklaufs zu vermitteln, und helfen beim Aufbau eines
Bedrohungsmanagements. Zu diesem Thema halte ich oft Vorträge in
«Manche Szenen vergisst man nie mehr»
Erwin Brühlmann,
stellvertretender Leiter
des Kommissariats Prä-
vention bei der Stadt-
polizei Zürich, weiss,
dass Ängste oft irreal
sind.
21
Betrieben, Schulen und Amtsstellen. Ich habe die Erfahrung gemacht,
dass Menschen, die später zu Tätern werden, sich oft selber als Opfer
wahrnehmen. Hier könnte man rechtzeitig intervenieren, eine Alternative
aufzeigen. Ein Amoklauf ist immer ein Endpunkt; der Täter sieht keine
andere Möglichkeit mehr, fühlt sich in einer ausweglosen Situation.
Von Metalldetektoren an Schulhaustüren halte ich nicht viel. Amokläufe
sind nicht selten akribisch geplant – weiss der Täter, dass Metalldetektoren
montiert sind, wählt er einen anderen Weg. Einen Fluchtplan haben
Amokläufer dafür praktisch nie: Am Ende steht oft der Selbstmord oder
«suicide by cop», die geplante Erschiessung durch einen Polizisten. Ich
selber habe zum Glück noch nie schiessen müssen.
Ich finde, dass man besser einmal zu viel die Polizei ruft als einmal zu
wenig. Zwar erhalten wir unzählige Anrufe wegen Lärmbelästigung,
was auch mal lästig ist. Aber wenn wir dann in eine Wohnung kommen,
in der ein Mord verübt wurde, dem stundenlange Kämpfe vorausgingen,
und die Nachbarn sagen, sie hätten halt gedacht, da würden zwei ein
bisschen streiten oder es träume jemand – dann frage ich mich schon.
Als junger Polizist habe ich oft Einbruchsmeldungen entgegengenomen
und konnte mir nicht so recht vorstellen, was denn abgesehen vom
Verlust der Sachen so schlimm sein soll. Doch seit auch bei uns zu
Hause eingebrochen wurde, kenne ich die Opfersituation selber:
Das Gefühl, dass jemand in meine Privatsphäre eingedrungen ist, ist
wirklich unglaublich beklemmend.
Es gibt bei meiner Arbeit auch viele unspektakuläre Momente, die mich
sehr glücklich machen: Einmal konnten wir zwei Knirpse, die nach dem
Kindergarten auf Wanderschaft gegangen waren, wohlbehalten zu ihren
Eltern zurückbringen. Solche Szenen vergisst man nie mehr.»
22
Um die objektive Gefährlichkeit von Ereignissen einzuschätzen,
werden unzählige Statistiken geführt. Doch diese Statistiken lassen
sich nur bedingt miteinander vergleichen. Und alles, was nicht
gemeldet wird, ist auch nicht erfasst.
In der Schweiz wird seit 1982 die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS)
erhoben. Allerdings kann diese Statistik nur das Hellfeld abbilden, also
das, was genannt und erfasst wird. Der Rest bleibt im Dunkeln oder lässt
sich nur mit speziellen Studien erfassen, zum Beispiel durch Befragungen
ausserhalb des polizeilichen Umfelds, etwa an Schulen oder via Online-
Umfragen. Je nach Art des Delikts ist dieses Dunkelfeld – besser bekannt
als Dunkelziffer – sehr hoch.
2000 Straftaten pro Tag
In der Schweiz kennt man drei Kategorien von Straftaten: die Übertretung,
das Vergehen und das Verbrechen.
Wie gefährlich ist die Schweiz?
INTERESSANTE ZAHLEN AUS DER PKS 2013
Die PKS listet die Verteilung der Straftaten sowohl in absoluten Zahlen als auch als
Anteil am Total aller erfassten Straftaten auf:
Verbrechen gegen das Vermögen: 413 166 Fälle oder 71,8 Prozent
Verbrechen gegen die Freiheit: 81 504 Fälle oder 14,2 Prozent
Verbrechen gegen Leib und Leben: 25 728 Fälle oder 4,5 Prozent
Verbrechen gegen die öffentliche Gewalt: 8744 Fälle oder 1,5 Prozent
Verbrechen gegen die sexuelle Integrität: 7239 Fälle oder 1,3 Prozent
Gegen drei Viertel aller Straftaten in der Schweiz sind also Verbrechen gegen das
Vermögen, zum Beispiel Diebstahl oder Betrug. Danach folgen mit grossem
Abstand Verbrechen gegen die Freiheit wie Drohung, Nötigung sowie Verbrechen
gegen Leib und Leben.
23
1 KRIMINALITÄT IN DER SCHWEIZ – ZAHLEN UND FAKTEN
Eine Übertretung – zum Beispiel mit übersetzter Geschwindigkeit
fahren, jemanden ohrfeigen – wird mit einer Busse oder gemeinnütziger
Arbeit geahndet. Kann der Täter die Busse nicht zahlen, kommt es al-
lenfalls zu einer Ersatzfreiheitsstrafe.
Auf Vergehen – beispielsweise jemandem den Arm brechen – stehen
Freiheitsstrafen von bis zu drei Jahren, Geldstrafen, gemeinnützige Ar-
beit oder eine Ersatzfreiheitsstrafe.
Wer ein Verbrechen begeht – etwa jemanden erschiesst –, muss mit
einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren rechnen.
Nachdem die Zahl der verzeigten Straftaten über Jahre kontinuierlich ge-
stiegen war, verzeichnete die Polizeistatistik 2013 einen leichten Rück-
gang auf 725 687 Straftaten (2013: 750 371). Das entspricht rund 2000
Straftaten pro Tag. Der Rückgang darf jedoch nicht überinterpretiert wer-
den: Das Total der versuchten Tötungen zum Beispiel ging zwar zurück,
doch die Zahl der Toten nahm zu. Die Diebstähle waren leicht rückläufig,
während die Handlungen gegen die sexuelle Integrität zunahmen. Den
Grossteil der Täter machen nach wie vor die Erwachsenen aus. Und ein
halbes Prozent der Täter wurden 2013 für mehr als zehn Straftaten verzeigt.
Regionale Unterschiede
Um den Vergleich zwischen den Regionen der Schweiz zu vereinfachen,
werden die absoluten Zahlen in der polizeilichen Kriminalstatistik auf die
Quelle: BfS
STRAFTATEN IN VERSCHIEDENEN SCHWEIZER ORTEN
(Anzahl gemeldete Straftaten pro 1000 Einwohner, gerundet)
Lausanne: 209
Bern: 168
Genf: 160
In absoluten Zahlen: In der Stadt Zürich wurden 2013 insgesamt 52 452 Straf-
taten gemeldet, in der Stadt Genf waren es 30 267, in Lausanne 27 245 und
in der Stadt Bern 21 383 Straftaten. Im Kanton Aargau wurden 34 290 Straftaten
registriert, im Kanton Uri 1202.
Montreux: 145
Zürich: 138
La Chaux-de-Fonds: 118
Winterthur: 82
Bremgarten: 70
Entlebuch: 19