strauss, wolfgang - unternehmen barbarossa

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WOLFGANG STRAUSS

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Unternehmen Barbarossa und der russische Historikerstreit

Mit Dokumenten, Karten und Abbildungen

HERBIG

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Abbildungsnachweis

Alle Abbildungen aus den Archiven des Verfassers und der Buchverlage Langen Müller Herbig,

außer: S. 187,201,202,203 (Sammlung C. Weber)

Gescannt von c0y0te.

——————————————————————————————————— Dieses e-Buch ist eine Privatkopie und nicht für den Verkauf bestimmt! ———————————————————————————————————

1. Auflage Mai 1998

2. Auflage Oktober 1999 – Sonderproduktion 3. Auflage April 2001 – Sonderproduktion

© 1998 by F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung

GmbH, München Alle Rechte vorbehalten

Schutzumschlag: Wolfgang Heinzel Herstellung und Satz: VerlagsService Dr. Helmut Neuberger

& Karl Schaumann GmbH, Heimstetten Gesetzt aus der 12/15 Punkt Minion

Drucken und Binden: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN 3-7766-2028-5

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Inhalt

Statt eines Vorworts 9

Von der mystischen zur revisionistischen Revolution

———— 1 ————

Geheimarchive nicht mehr geheim 19

Über 14 Millionen Dokumente in »Sonder-

verwahrung« 25 Über 5000 Arbeitsvernichtungslager 28

»Arbeits- und Besserungslager« – ein Zeuge erinnert sich 29

———— 2 ————

Stalin plante Angriffskrieg gegen Hitler 34

Der »Mythos von der unbesiegbaren

Wehrmacht« 42 Eine Diskussion im MGFA 45 »Welch ein großes Volk!« 47

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———— 3 ————

66 Millionen Opfer 51

Aufzählung, nicht Aufrechnung 52 Stalin, Retter des russischen Volkes? 55

———— 4 ————

Vom Preis eines Sieges 59

Vernichtungskrieg gegen das eigene Volk 62 An deutscher Seite 67

Ein Sieg der Sklaven 69

———— 5 ————

Täglicher Revisionismus 71

Wer ermordete die Zarenfamilie? 80 Vernichtung durch Arbeit 86

Keine Tabus 89

———— 6 ————

Der Zweite Weltkrieg begann am 19. August 1939 92

Die Stalin-Rede eine Fälschung? 92

Der 22. Juni ein Präventivschlag Hitlers? 99 Der Roten Armee zuvorgekommen? 102

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Der Fall Gorodetsky 106

Eine antifranzösische Fälschung? 106 »So kann Stalin gesprochen haben« 111

»Der Sowjetunion das Rückgrat brechen« 115

———— 8 ————

Überfall oder Gegenangriff 119

Warum Katyn? 120 »Als erste losschlagen ...« 126

Die Katastrophe von 1941 135 Zehnfache Übermacht 145 »Die Seele zerstören« 150

»... die Eroberung ganz Europas« 159 Der Auftakt eines Eroberungskrieges 172

Nachwort 175

Von der inneren Verwandtschaft

des Kommunismus und Kapitalismus

Anmerkungen 182

Anhang 187

Dokumente 188 Bibliographie 204

Personenregister 206

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Statt eines Vorworts

Von der mystischen zur revisionistischen Revolution

ine Schlüsselgestalt der religiösen Wiedergeburt in Rußland ist Tatjana Goritschewa. Lange vor der

Augustrevolution von 1991 erlebte Rußland eine mystische Revolution. Ohne den asketischen Heroismus einer Goritschewa wäre sie undenkbar gewesen. Vom Gottesleugner zum Täufer, so kann ihre Jugend umschrieben werden, die im Schatten der letzten großen Christenverfolgung stand. Anfang der sechziger Jahre hatte Chruschtschow verkündet, es solle kein Christentum mehr geben, die Kirche werde »total ver-nichtet«, er werde dann den »letzten Priester« im Fern-sehen vorführen. Chruschtschow sagte noch etwas Schrecklicheres: die Christen seien »wahnsinnig«. Damit schaffte er die Grundlage für eine neue Ver-nichtungsmethode – die Einlieferung der Gläubigen in psychiatrische Kliniken.1

In dieser dunklen Zeit begann die öffentliche Tätig-keit der Goritschewa. In einem atheistischen System aufgewachsen, stand sie, ein Kind der bolschewisti-schen Nomenklaturaklasse, an der Spitze der Lenin-

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grader Kommunisten, lehrte mit 26 Jahren atheistische Philosophie. In der Unruhe des Herzens und der Suche nach Wahrheit fand die Intellektuelle zum Christen-tum. Zum Damaskuserlebnis wurde die Begegnung mit Neubekehrten, den Neophyten, die aus dem totalitären Nihilismus, aus dem Nichts zu Gott gekommen waren; insofern war es eine Neugeburt, nicht eine Wie-dergeburt. »Das Wunder des Heiligen Geistes ist, daß man die Angst verliert«, erklärte später die Goritschewa das Glück der Bekehrungserfahrung in der Verfolgung. 1974 gründete sie mit ihren Freunden das christliche Jugendseminar in Leningrad, und sie gehörte zu den Initiatoren von »Marija«, der ersten inoffiziellen Frauenbewegung Rußlands,2 eine Untergrundbewe-gung der von GULag und Irrenhaus bedrohten Neu-christen. Ab 1974 war Tatjana einige Jahre mit dem dissidentischen Dichter Viktor Kriwulin verheiratet. Es folgten Entzug der Lehrbefugnis und Berufsverbot. Überfälle, Verhaftungen, Verhöre, Folterungen gehörten zu Tatjanas alltäglichen Erfahrungen. 1980 mußte sie emigrieren.

In ihren Büchern berichtet die Zeitzeugin Goritsche-wa nicht nur von ihrem Bekehrungserlebnis und einer tiefen Gotteserfahrung, sondern beschreibt auch die metaphysischen Wurzeln, die geistigen Kraftquellen des Geschichtsrevisionismus. Rußlands »mystische Revolution« (Goritschewa) führte zur revisionistischen Revolution, lange bevor hierzulande der Begriff »Revisionismus« in den Feuilletons auftauchte.

In den stürmischen russischen Siebzigern begann das Umdenken, das Neudenken auch in der geschichts-

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philosophischen Perspektive. Verbunden mit den An-fängen des religiösen Aufbruchs, mit der Entdeckung der Wege vom Marxismus zum Christentum, stand die Selbstbekehrung zu einem neuen Geschichtsbild, in dem das kommunistische Gesellschaftsexperiment als etwas welthistorisch Singuläres erschien, einmalig in seiner Grausamkeit, seinem Vernichtungsdrang und Vernichtungsausmaß – etwas »Teuflisches«, um mit Tatjana Goritschewa zu sprechen.

Daß trotz aller Leiden und Selbstdemütigungen die Kirche in Rußland eine im Geiste sehr starke Kirche blieb, kann nur aus revisionistischer Perspektive erklärt werden, wie sich überhaupt jedes gesellschaftliche, nationale Trauma, jede Katastrophenepoche nur dem Revisionisten wirklich erschließt. Hinter dem Entsetzen über die Düngerhalden erlittener Geschichte und die Massenfriedhöfe ermordeter Menschlichkeit zieht sich eine doppelte Spur durch das Grauen: eine unbesiegbare Liebe zum Leben und ein unstillbarer Drang zur Wahrheit. Beide bilden den Grundstein für den modernen russischen Revisionismus.

Seit 1990 ist der russische Revisionismus zu neuen fundamentalen Erkenntnissen gelangt:

• Stalins Rede vom 19. August 1939, gehalten vor Politbüro-Mitgliedern vier Tage vor der Unterzeichnung des sowjetisch-deutschen Nichtangriffspaktes.

Stalin wollte den Weltkrieg, der Nichtangriffspakt diente ihm als Initialzündung.

Stalin beabsichtigte die Vernichtung des polnischen Staates und seine territoriale Zersplitterung. Durch

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Eroberung, Okkupation und Annexion sollte das Sowjetimperium nach Westen erweitert werden.

Stalin strebte den gesamteuropäischen Krieg an, einen Erschöpfungskrieg, in dem sich die kapitalistischen Staaten und Systeme zugrunde richten sollten. Auf den Trümmern des kapitalistischen Europa wollte er die Sowjetisierung mit militärischer Gewalt durchführen. Der Schlüsselbegriff »Sowjetisazija« tauchte mehrmals in seiner Rede auf. Ohne Stalin hätte es keine Ausweitung zum Zweiten Weltkrieg gegeben.

• Mit 8000 Panzern wollte die Rote Armee im Juli 1941 einem deutschen Angriff zuvorkommen und ihrerseits einen Überfall starten. Einfall in Polen, Ostpreußen und Schlesien, bis hin nach Breslau, mit dem kriegsentscheidenden Ziel, Deutschland vom Balkan und damit von den rumänischen Ölquellen abzuschneiden. Ein klassischer Aggressionskrieg, dem die von Stalin eingesehenen und gebilligten Generalstabspläne vom 18. September 1940 und 15. Mai 1941 zugrunde lagen. »Nastupatelnije namerenije« hieß der militärisch exakte Begriff: Angriffsabsichten.

Der Nachweis, daß Stalin diese Eroberungen vorbe-reitete, entschuldigt Hitlers imperialistische Politik in keiner Weise. »Barbarossa« kam Stalins Angriff auf Deutschland nur um Wochen zuvor – angelegt war der Überfall auf Deutschland nicht als eine Gegenoffensi-ve auf einen deutschen Vorstoß, sondern als sowjeti-scher Erstschlag. In seiner Rede vor Absolventen sowjetischer Offiziersschulen am 5. Mai 1941 bezeich-nete Stalin den militärischen Vormarsch nach We-

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sten als Fortsetzung der kommunistischen Revoluti-onsdoktrin: die Zerschlagung des kapitalistischen Sy-stems.

• Als Hitler am 22. Juni angriff, befand sich die Rote Armee noch im Zustand der Umgruppierung und Ent-faltung. Die Aufmarsch-Vorbereitungen zum Überra-schungsschlag sollten erst am 15. Juli 1941 abgeschlossen sein. Am 22. Juni war Stalins Armee weder zur hinhaltenden Verteidigung noch zu einem Sofortangriff fähig, woraus sich die vernichtenden Kesselschlachten des Sommers 1941 erklären.

• Die Niederlagen des Sommers 1941 waren aber nicht nur militärisch bedingt, sie trugen auch politischen, psychologischen Charakter. Vielerorts wurden die vorrückenden deutschen Truppen als Befreier begrüßt, insbesondere in den nichtrussischen Gebieten der Sowjetunion (Baltikum, Ukraine). Über drei Millionen Rotarmisten ergaben sich bereitwillig der Wehrmacht. Die Stimmung in der Bevölkerung war extrem antibolschewistisch. Nach 24 Jahren Diktatur mit Bürgerkrieg, Hungerkatastrophen, Massenverfolgung, Säuberungen, Polizeiterror, Bauernlegung und Archigulag hatte sich ein riesiges revolutionäres Potential angehäuft. Millionen von Leidgeprüften erblickten im Krieg eine Chance, sich von einem volks-feindlichen Regime zu befreien. Der Drang, sich der kommunistischen Ketten zu entledigen, äußerte sich auch in der verbreiteten Kollaborationsbereitschaft mit den Eroberern.

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Im Sommer 1941 hätte die Sowjetordnung leicht zusammenbrechen können, wären nicht Hitlers Ras-senwahn und Slawenhaß gewesen. Hitlers unmensch-liche Kolonialpolitik rettete Stalin, der auf dem Höhe-punkt der Schlacht um Moskau den im Volk verhaßten marxistischen Internationalismus durch einen groß-russischen, das heißt panslawistischen »Sowjetpatrio-tismus« ersetzte.

Es ist genau 40 Jahre her, seit Alexander Dallin 1958 in seinem Buch Deutsche Herrschaft in Rußland 1941-1945 überzeugend herausgearbeitet hat, daß die Bevöl-kerung in den eroberten Gebieten zunächst »große Bereitwilligkeit gezeigt hatte, die deutsche Herrschaft zu akzeptieren«. Erst Hitlers »Kolonisationspläne und das Verhalten der Besatzungsbehörden« trieben die Menschen, die Stalins Bolschewismus ebenso haßten wie den Antislawismus Hitlers, zu den Partisanen.

• Stalins »Großer Vaterländischer Krieg« zeigte ein Janusgesicht: Es war einerseits ein Vernichtungskrieg gegen den äußeren Feind und andererseits zugleich eine physische Vernichtung der eigenen Völker. Von Anfang an zeichnete sich die sowjetische Kriegführung durch Brutalität und Menschenverachtung aus. Stalins Armee kämpfte ohne Rücksicht auf Verluste, die Straßen des Sieges waren gepflastert mit den Leichen rücksichtslos geopferter Soldaten. Wenn Angriffe steckenblieben, wurde Division nach Division an derselben Stelle in den Kampf gejagt – mit Feuer von hinten. Minenfelder wurden mit den Füßen gnadenlos vorwärts getriebener Schützen geräumt.

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Stalins Armee verlor bis zu zehnmal mehr Soldaten als die Wehrmacht. Jene Rotarmisten, die in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren, wurden nach dem Krieg als »Vaterlandsverräter« in den GULag gesteckt. Mit der gleichen Menschenverachtung wurden die deutschen Kriegsgefangenen behandelt, zumal die UdSSR der Genfer Konvention von 1929 nicht beigetreten war. Im Sommer 1941 stieß die Wehr-macht bei der Rückeroberung zeitweilig verlorenge-gangener Orte auf Leichen verstümmelter Verwunde-ter. Es waren deutsche Kriegsgefangene, gefoltert und ermordet.

Pogrome gegen die deutsche Zivilbevölkerung beim Einmarsch der Roten Armee in Ost- und Mittel-deutschland charakterisierten Stalins Vernichtungskrieg gegen ein anderes Volk, vergleichbar den Pogromen der Himmlerschen Einsatzgruppen im Rücken der Wehrmacht 1941/42.

• In Stalins sowjetisch-deutschem Vernichtungskrieg verlor allein Rußland ein Fünftel seiner Bevölkerung -31 Millionen! Dörfer wurden total entvölkert, Millionen russischer Witwen blieben in einem wie ausgestorbenen Land zurück. Stalins »Sieg über den Hitlerfaschismus« festigte seine Tyrannei auf Kosten der russischen Volkssubstanz.

• Die 74 Jahre andauernde Herrschaft des Kommu-nismus in Osteuropa und Mittelasien zerstörte den organischen Lebensablauf der Völker, Klassen, Kultu-ren. Alle Verluste, die das russische Volk seit der Zeit der

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Wirren (»Smuta«) im 17. Jahrhundert erlitten hat, lassen sich auch nicht im entferntesten mit dem Aderlaß und dem Niedergang während der bolschewistischen Epoche vergleichen.

• Der Bolschewismus war nichts anderes als der kol-lektive Mord ganzer Ethnien, Kirchen, Klassen, die Lenin und Stalin im Namen der ideologischen Recht-gläubigkeit zum Untergang verurteilt hatten. Das Zen-trum der Vernichtungsmaschine war der GULag. Gulagismus wurde, zu Recht, das Symbol für den Ver-such, Kulturnationen und ihre Wertesysteme und Reli-gionen auszurotten.

Archigulag bleibt das Schlüsselwort für ein Verbre-

chen, das die Menschheitsgeschichte vordem nicht gekannt hat.

Die Kühnheit des Denkens und der Gedanken-führung, die Originalität der Interpretation und die prägnanten Formulierungen verleihen den Ar-beiten russischer Revisionisten eine epochale Bedeu-tung. Die Ideologen haben die Welt nur anders inter-pretiert, es kommt darauf an, die Interpretation zu verändern – durch mutige Revisionisten, die auch der Tabu-Frage nach der Vergleichbarkeit nicht aus-weichen. In ihrer Untersuchung der Genesis des Leninschen und Stalinschen Totalitarismus nähern sich die russischen Revisionisten der Zentralthese Ernst Noltes: daß Hitlers Antibolschewismus als Gegenvernichtung verstanden werden muß, als Ant-wort auf die bolschewistische Bedrohung. Ihren

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Ursprung verdanken die faschistischen Bewegungen der ideologischen Kriegserklärung durch den Bolsche-wismus.

In der überarbeiteten Neuauflage seines Werkes Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 vertieft Nolte seine Kernthese, wonach zwischen dem Bolschewis-mus und dem militanten Antibolschewismus der faschistischen Bewegungen (Italien, Deutschland) ein Verhältnis von Aktion und Re-Aktion, von Heraus-forderung und Antwort bestanden hat, folglich auch ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den Ver-nichtungsmaßnahmen der beiden Regime. Im Brenn-punkt des Nolte-Buches steht die Frage, ob es sich am 22. Juni 1941 um einen Präventivkrieg, einen Überfall oder einen Gegenangriff gehandelt hat. Nolte gelangt zu dem Resultat, daß es sich auf beiden Seiten um einen »unvermeidbaren Entscheidungskampf« gehandelt habe – ideologisch, machtpolitisch, mili-tärisch. »Ein Präventivkrieg kann nicht auf bloß objektiven Tatsachen beruhen; zu seinem Begriff gehört unabdingbar ein Gefühl unmittelbaren Be-drohtseins auf der Seite des Angreifers«, schreibt Nolte. »Aber ein Angriffskrieg ist gleichwohl nicht notwendigerweise schon deshalb ein Überfall, weil er nicht ein Präventivkrieg ist. Er kann ein objektiv begründeter und unvermeidbarer Entscheidungskampf sein.«3

In dem im März dieses Jahres erschienenen Brief-wechsel Francois Furet – Ernst Nolte bestätigt der französische Historiker Noltes Kernaussage von der »dialektischen Beziehung« zwischen Kommunismus

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und Faschismus; die Frage sei, bemerkt Furet im August 1996, inwieweit sich die beiden großen, vom Ersten Weltkrieg gezeugten Massenbewegungen gegenseitig bedingten und verstärkten.4

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Geheimarchive nicht mehr geheim

Jahre nach dem Zusammenbruch Deutschlands zerbrach die Kolonialmacht Sowjetunion unter

dem Ansturm der neuen Nationalbewegungen. Der Nationalismus besiegte den Kommunismus. Ein mul-tinationales Imperium zerfiel in seine nationalen Bestandteile. Der 9. Mai 1945 hatte den Untergang der Siegermacht nicht stoppen können, sondern nur hin-ausgezögert.

Nicht alle Historiker akzeptieren diesen Tatbestand. Als »Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges« bezeichnete Professor Jewgennij Ussenko die von Deutschland geforderte Rückgabe der sogenannten Beutekunst. Als Chefgutachter der Russischen Akade-mie der Wissenschaften berät Ussenko die Staatsduma und den Föderationsrat. Seine Ablehnung formulierte er in einem offenen Brief an Bundeskanzler Helmut Kohl.5

Der Wissenschaftler scheint den August und den Dezember 1991 verschlafen zu haben. In der »Russi-schen Augustrevolution« war die Alleinherrschaft der Bolschewiki wie ein Kartenhaus zusammengestürzt, die KPdSU entmachtet worden, und im Dezember dieses welthistorischen Jahres hatten der Russe Jelzin, der

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Ukrainer Krawtschuk und der Weißrusse Schuschkje-witsch die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken für aufgelöst erklärt.

Kein anderes Ereignis in der modernen Geschichte war ähnlich bedeutsam und durch seine Plötzlichkeit ähnlich überraschend wie die Implosion des Sowjet-imperiums. Vor der Geschichte bedeutet der Zusam-menbruch der Staatsschöpfung Lenins und Stalins die denkbar radikalste Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges. Von diesem Schlag hat sich die westliche Linke bis heute nicht erholt.

Jede Änderung in der Geschichte gebiert automatisch das Lager der Revisionisten und das der Konter-revisionisten: Aus dem Zusammenprall beider Lager entstand der russische Historikerstreit. Zu den Antire-visionisten zählt etwa Ussenko, während Boris Jelzin ins Lager der Revisionisten gehört. Jelzin dekretierte die Ersetzung der roten Sowjetfahne mit Hammer und Sichel durch die petrinische Flagge Weiß-Blau-Rot und den Tausch der Stalinhymne gegen Glinkas »Patriotisches Lied« aus dem 19. Jahrhundert. Als neues Staatssymbol führte er den Doppeladler der Romanows ein. Eine fundamentalere Form des Pa-radigmenwechsels ist geschichtsphilosophisch nicht denkbar: Vom System der Zarenmörder zur Restaura-tion zaristischer Symbole.

Im post-sowjetischen Rußland beschäftigt man sich mit Vergangenheitsbewältigung und Geschichtsaufar-beitung, jedoch nicht mit psychopathologischen Exzeßmethoden. Die russische Öffentlichkeit ist frei von nationalmasochistischen Schuldkomplexen. In

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das Gästebuch der KZ-Gedenkstätte Dachau schrieb der russische General Alexander Lebed am 18. Januar 1997: »Man soll nicht mit Pistolen auf die Vergangen-heit schießen, sonst kommen Kanonenkugeln zu-rück.«

Daß der bolschewistische Klassen- und Völkergenozid ein in der Menschheitsgeschichte beispielloses Phänomen darstellt, ist im Bewußtsein russischer Intellektueller tief verwurzelt. Während Solschenizyn und der Historiker Kurganow von 66 Millionen Men-schenopfern sprechen,6 beziffert Lebed die Zahl der Erschossenen, Verhungerten, durch Zwangsarbeit Umgekommenen, in Bürgerkriegen und Weltkriegen Gefallenen im Zeitraum 1914-1991 auf 75 Millionen.7

Daraus den Schluß zu ziehen, daß alle noch lebenden Kommunisten mit Berufsverbot, Parteiverbot, Druck-verbot, gesellschaftlicher Ächtung oder polizeilicher Verfolgung bestraft werden müßten, ist so absurd, daß der Gedanke daran nicht einmal in der kontroversen Medien-Diskussion auftaucht. Daß der Gulagismus das Böse an sich war, verleitet weder Antikommunisten noch Revisionisten dazu, in jedem Kommunisten den Bösen an sich zu sehen. Das post-kommunistische Rußland kennt weder Verfassungsschutzämter noch Verfassungsschutzberichte. Das Delikt »Gulaglüge« existiert nicht, folglich gibt es auch keine politische Justiz, politische Gefangene gehören der Vergangenheit an, Zensur und Indizierung finden nicht statt. Eine polizeigeschützte Staatsreligion bilden weder der Antistalinismus noch der Antifaschismus.

In Rußland gibt es keine Verbotszonen in Sachen

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Vergangenheitsbewältigung. Als im Oktober 1995 die Moskowskije Nowostij und die Iswestija berichteten, der Generalstaatsanwalt habe ein strafrechtliches Verfahren eingeleitet (Nr. 16-123 666), das die Ermordung der Zarenfamilie im Jahre 1918 erneut aufrollen soll, wurde bekannt, daß die Staatsanwaltschaft eine Version der Ermordung ausgearbeitet hatte, wonach »Juden den Zaren gemartert und einen Ritualmord verübt« hätten. Die Staatsanwaltschaft Rußlands hatte in diesem Zusammenhang den Patriarchen Alexij II. um Amtshilfe gebeten.8 Und die Pressereaktion in Sachen »Ritualmord 1918«? Wütende Aufschreie, Vorwürfe des Anti-semitismus, der Ruf nach dem Kadi? Nichts von alledem.

Der Unterschied zu Deutschland ist eklatant. Beruht die Vergangenheitsbewältigung hierzulande auf Kon-formismus, ist es in Rußland »Differenz«. Folgende Besonderheiten charakterisieren den Revisionismus und den Historikerstreit in Rußland:

• Der Diskurs findet im herrschaftsfreien Raum statt, ohne Einmischung von Staat, Regierung, Justiz.

• Ein Schwerpunkt besteht in der kontroversen Fixie-rung der Opferzahlen (Bürgerkrieg, Kollektivierung, »Große Tschistka«, Zweiter Weltkrieg).

• Ein anderer Schwerpunkt ist die Präventivkriegsthese, also die Frage, ob es sich um einen Angriffskrieg oder einen Gegenangriff gehandelt hat, wobei auch hier auffällt, daß Gegner wie Befürworter dieser These

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bemüht sind, rein wissenschaftlich, nicht ideologisch zu argumentieren, ohne gegenseitige persönliche An-schuldigung.

• Die Herrschaft Stalins in der Authentizität zu erfassen, in ihrer Widersprüchlichkeit (Nationalitätenpolitik, großrussischer Messianismus, Bauernfeindschaft, Kirchenpolitik, Judenfrage, Armeesäuberung) aufzu-zeigen und deren Gründe zu erforschen, beschäftigt beide Lager.

• Die Revisionisten räumen auf mit dem Mythos einer siegreichen, unschlagbaren, integren Roten Armee, die von 1941 bis 1945 einen reinen Verteidigungskrieg geführt habe. Dagegen verteidigen die Antirevisionisten das Dogma vom »Großen Vaterländischen Krieg« als eine lebensgeschichtliche Erfahrung von Millionen Russen.

• Russischer Revisionismus ist strukturell auf eine wohlverstandene Historisierung angelegt, auf das Ver-stehen als einen Verständigungsversuch im konkurrie-renden Diskurs, ungeachtet der Tatsache, daß die sowjetische Klassen- und Völkervernichtung als Modell des modernen Genozids und als das verwerflichste Verbrechen in der russischen Geschichte nicht in Zweifel gezogen wird.

• Der russische Revisionismus berücksichtigt die schwer traumatisierten Verfolgungs- und Kriegsopfer, in der Gewißheit, daß das Verzeihen in den Lagern und

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Schützengräben nicht gestorben ist. Das russische Volk verweigert sich einer Selbstverhöhnung und Selbstverdammung, es will keinen nachträglichen Bürgerkrieg, keine neue »Tschistka«, keine demokrati-sche Entkommunisierung per Ächtungslisten, Publi-kationsverbote, Tribunale.

• Vergangenheitsbewältigung in Rußland kennt keine russophobe Seelenlandschaft. Betroffenheitsfanatiker sucht man vergeblich, Betroffenheitsrituale sind nicht an der Tagesordnung.

• Einig sind sich alle darüber, daß es für die historische Forschung und die öffentliche Debatte keine Tabus geben darf, keine Denkblockaden, keine Gedan-kenverbote, keine juristischen Grenzen der Ge-schichtsinterpretation und auch kein Odium des Anrüchigen.

• Rußlands Vergangenheitsbewältigung bedeutet eine Zäsur in der Geschichte des post-faschistischen und post-kommunistischen Europa: Nichts ist revolu-tionärer, als zu erkennen und auszusprechen, was war.

An seine Verbannung im sibirischen Krasnojarsk zur

Breschnew-Zeit erinnert sich Sergej Kowaljow. Der ehemalige Menschenrechtsbeauftragte in der frühen Jelzin-Ära mußte damals »aus Platzmangel« in einer überfüllten Todeszelle ausharren. Nachts kamen die Henker und führten die Todeskandidaten auf den engen, von Patrouillen bewachten Korridor. Wenn

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einer schrie, verschloß man ihm mit Pflastern den Mund. Die Hinrichtung erfolgte durch einen Genick-schuß, wobei der Kopf des Delinquenten über ein Klo-settbecken gestoßen wurde, damit kein Blut auf den Korridor spritzte. Jede Nacht, erinnert sich Kowaljow, kamen »sie«. Wenn sie die Zellentür verschlossen hat-ten, waren alle erleichtert und schliefen endlich ein. »Dieses Gefühl der Erleichterung vergißt man nie wie-der.«9

Die Henker von damals sind heute, soweit nicht pen-sioniert, immer noch in Amt und Würden, denn auch die Jelzin-Ära kennt Gefängnisse, Straflager, Todeszel-len, wenn auch, und das ist der entscheidende Unter-schied, nicht für »Politische«. Gefangene aus politi-schen, weltanschaulichen, religiösen Motiven – im Rußland von heute unvorstellbar. Der mutige Dissi-dent Sergej Kowaljow hat für die Henker von damals nicht die Todesstrafe als Sühne verlangt. Gefühlsduse-lei, moralische Gleichgültigkeit oder falsch verstande-ne Humanität sind dafür nicht ausschlaggebend. Ein freies Rußland, das mit Galgen und Genickschüssen seine Existenz begründen wollte, wäre kein freies Ruß-land.

Über 14 Millionen Dokumente in »Sonderverwahrung«

Der Zugang zu den früher verschlossenen Justizakten und Geheimarchiven verlieh dem Revisionismus einen mächtigen Schub. Die Nachforschungen konnten sich auf einer breiten wissenschaftlichen Basis entfalten.

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Praktisch jede sowjetische Staats-, Partei- und Mili-tärinstitution besaß eine eigene Geheimakten-Samm-lung: das Zentralkomitee, das Politbüro und das Parteisekretariat ebenso wie das Innen- und Justizmi-nisterium, die Rote Armee, die historischen Institute, die Forschungs- und Lehranstalten, Presse, Gewerkschaft, Komsomol, ganz abgesehen von den offiziellen Geheimdienstorganisationen wie Polizei, KGB, Abwehr, Auslandsspionage. Im Zentrum des Spinnennetzes: der GULag mit seinen Lager-, Sklaven-, Todeslisten. Alles in allem eine schier unabsehbare Zahl von Kellern und Stahlschränken voller Dokumente. Zwischen 1918 und 1991 fielen fast 14 Millionen Dokumente unter eine besondere Geheimhaltungsstufe, die »Sonder-behandlung«.

Nicht alle Aktenverliese des Terrors konnten bis heute »geknackt« werden, noch liegen nicht alle »Geheimnisse« auf dem Schreibtisch der Geschichts-forscher. Gegen die Öffnung von Archiven mit histori-schem Explosivpotential sperrt sich der Präsident. Doch die Methoden, Verbote zu unterhöhlen, haben sich unter den Bedingungen legaler wissenschaftlicher Enttabuisierung verfeinert. In einer korrumpierten Gesellschaft bleiben Geheimnisse nicht lange ver-schlossen, und journalistische Cleverneß fördert den Inhalt der Giftschränke ans Licht einer sensations-hungrigen Öffentlichkeit. Wo alles käuflich geworden ist, kommt auch die Erforschung der historischen Wahrheit zum Zuge. Russischer Revisionismus ist ein Abenteuer mit vielen, manchmal sogar bunten Facetten.

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Ein wichtiges Gebiet des Revisionismus umfaßt das Kapitel »Rehabilitierung«. Unter Chruschtschow waren zwischen 1956 und 1961 fast 740 000 Opfer des Stalinschen Terrors juristisch rehabilitiert worden. Im Jahre 1989, im Endstadium von Glasnost, kam es unter Gorbatschow erneut zu mehr als 800 000 Rehabilitie-rungen, das heißt Aufhebung von Verurteilungen aus politischen Gründen.

Seit dem Erlaß des Gesetzes der Russischen Födera-tion vom 18. Oktober 1991 »Über die Rehabilitierung von Opfern politischer Verfolgung« wurden bis Mitte 1996 bei regionalen und lokalen Stellen des Innenmi-nisteriums, bei den zivilen Staatsanwaltschaften und bei Militärstaatsanwaltschaften 2,6 Millionen Anträge auf Rehabilitierung gestellt. Stattgegeben wurden rund zwei Millionen. »Die hohe Zahl der Rehabilitierungen zeugt vom riesigen Ausmaß der stalinistischen Verfolgung, die seit Ende der zwanziger Jahre bis zu Stalins Tod 1953 in verschiedenen Terrorkampagnen alle Schichten der Bevölkerung in Mitleidenschaft zog.«10

Nach Recherchen des Moskauer Journalistenbundes und der Vereinigung der Verfolgungsopfer leben heute in Rußland rund 60 Millionen Menschen, deren An-gehörige verhaftet, interniert oder erschossen worden sind.11 Was besagt, daß jede zweite russische Familie unter dem stalinistischen Terror unmittelbar zu leiden hatte.

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Über 5000 Arbeitsvernichtungslager

Ein gigantisches Aktengebirge über deutsche Soldaten

und Zivilverschleppte stapelten NKWD, MGB und KGB in ihren Sonderarchiven, insbesondere im Geheimarchiv der Hauptverwaltung für Angelegenheiten von Kriegsgefangenen und Internierten, kurz GUPWI. Über das Schicksal von mehr als vier Millionen Kriegs-gefangenen und Zivilisten zwischen 1941 und 1956 wurde penibel Buch geführt – vier Millionen, darunter auch Frauen und Jugendliche, in ca. 5000 Arbeits-vernichtungslagern des Archipels GUPWI. Zwölf Stunden Arbeit am Tag bei bis zu minus 50 Grad, Hun-gerrationen und Schreibverbot bestimmten die Lei-denszeit, die Hunderttausende nicht überlebten. Ver-nichtung durch Sklavenarbeit, Erschöpfung und Unterernährung.

Rund 30 000 deutsche Kriegsgefangene sind zwischen 1941 und 1950 als angebliche Kriegsverbrecher verurteilt worden. Tausende von Todesurteilen wurden vollstreckt, die meisten von den Verurteilten zur Zwangsarbeit in die Todeslager der Polarzone geschickt. »Die Beschuldigungen vieler verurteilter Kriegsgefangener sind abstrus und oft nachweislich erfunden. Meist wurden festgestellte Zerstörungen und Menschenverluste auf die ausgesuchten Angeklagten aufgeteilt; nicht selten beglichen NKWD-Mitglieder persönliche Rechnungen mit renitenten Kriegsgefangenen. Der sogenannte ›Ukas 43‹ vom April 1943 öffnete der Willkür Tür und Tor. Er befahl,

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alle Schuldigen zu verurteilen, sie im Falle des To-desurteils aufzuhängen und zur Abschreckung drei Tage hängen zu lassen. Zwischen Mai 1947 und Januar 1950, als die Todesstrafe in der UdSSR abgeschafft war, wurden alle Todesurteile automatisch in 25 Jahre Lagerhaft umgewandelt.«12

»Arbeits- und Besserungslager« – ein Zeuge erinnert sich

»Als ich im Mai 1945 in sowjetische Gefangenschaft

gehen mußte, habe ich die Fragen nach Truppenteil und Einsatzorten wahrheitsgemäß beantwortet. Die Sowjets bemühten sich, aus über 3 000 000 deutschen Kriegsgefangenen möglichst viele Verbrecher heraus-zufinden und zu verurteilen. Als ich im Mai 1949 in das berüchtigte Untersuchungsgefängnis in Stalino-gorsk eingeliefert wurde, weil ich mich gegen die unmenschliche Behandlung in der Gefangenschaft zur Wehr gesetzt hatte, lief die Kampagne gegen die deut-schen Verbrechern auf Hochtouren. Mit Folterungen wollte man Geständnisse erzwingen, und durch Gegenüberstellungen mit Zivilisten, wo die Verbrechen angeblich begangen wurden, sollten die Verbrecher überführt werden. Aber die russischen Menschen, denen ich in Krieg und Gefangenschaft immer mit größter Hochachtung begegnet bin, hatten den Mut, die Wahrheit zu sagen und die Anschuldigungen nicht zu bestätigen, jedenfalls in der Masse der Fälle. Auch mich versuchte der Untersuchungsrichter wegen

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Kriegsverbrechen zu überführen, aber er gab es bald auf und klappte die Akte, die über meine Division angelegt war, wieder zu. Statt dessen wurden auf Befehl Stalins etwa 30 000 deutsche Kriegsgefangene wegen angeblicher Kriegsverbrechen ohne jede rechtsstaatliche Ermittlung zu 25 Jahren ›Arbeits- und Besserungslager‹ verurteilt. Stalin brauchte Geiseln. Nach seinem Tod konnten seine Nachfolger diese Ungeheuerlichkeit vor der Weltöffentlichkeit nicht länger aufrechterhalten, und so wurden die Geiseln 1953 und 1955 endlich repatriiert. Die Heimat hat uns damals mit Erleichterung, tiefer Dankbarkeit und überwältigendem Jubel empfangen. Keiner fragte nach den Urteilen, es war bekannt, daß sie das Papier nicht wert waren, auf dem sie geschrieben waren.«13

Im Oktober 1955 beschloß das Bundeskabinett, die in der Sowjetunion gefällten Urteile nicht anzuerken-nen. Dennoch wurde dieses Terrorkapitel von den Bonner Außenministern v. Brentano bis Brandt und Genscher als so explosiv (»friedensgefährdend«) ein-gestuft, daß man es aus der historisch-öffentlichen Diskussion verbannte – deutsche Revisionisten beka-men keine Chance. Der unabhängigen Wissenschaftli-chen Kommission für deutsche Kriegsgefangenen-geschichte unter Federführung des Zeithistorikers Professor Dr. Erich Maschke, die zwischen 1962 und 1974 eine Dokumentation über deutsche Kriegsge-fangene im Zweiten Weltkrieg in 22 Bänden herausgab,14 wurde es sogar verboten, das Schicksal der unter Stalin verurteilten Soldaten und Offiziere der Wehrmacht zu publizieren.

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Zu den verurteilten Deutschen gehörten mehrere zehntausend Zivilisten, Jugendliche und Frauen, die vor allem in der Sowjetischen Besatzungszone verhaftet, nach der Verurteilung erschossen oder in den Archigulag deportiert wurden. Selbst Zwölfjährige waren von der Verurteilung als »Kriegsverbrecher« nicht ausgenommen. Nach der Wiedereinführung der Todesstrafe in der UdSSR 1950 wurden die in der DDR von sowjetischen Militärgerichten zum Tode verurteil-ten Deutschen zur Erschießung in die Sowjetunion gebracht. In zahlreichen Fällen blieben Ort und Datum der Hinrichtung unbekannt. Im Zentralarchiv des russischen Innenministeriums in den Kellern der Lubjanka lagern heute insgesamt 25 Millionen (!) Strafprozeßakten der Sowjetzeit, im ehemaligen Son-derarchiv des KGB befinden sich etwa 33 000 Personalakten verurteilter Deutscher. Eine unbekannte Zahl von Prozeßdokumenten liegt noch in den Bunkerregalen des Geheimen Militärarchivs der ehemaligen UdSSR.

1993 konstituierte sich in Moskau eine Sonderabtei-lung der Militärstaatsanwaltschaft zur »Rehabilitie-rung ausländischer Staatsbürger«, eine Kommission von 47 Mitarbeitern unter Leitung von Oberst Kopa-lin. Diese rehabilitierte im Verlauf von drei Jahren 4875 verurteilte Deutsche, größtenteils Zivilisten. 417 Anträge von ehemaligen Kriegsgefangenen wurden abgelehnt, 750 Anträge mußten eingestellt werden, da man die entsprechenden Akten nicht finden konnte. Ein furchtbares Erbe des stalinistischen Staats-terrors – Hunderte von Geheimarchiven, Millionen von

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Prozeßakten, aber es sind weder Personal noch finanzielle Mittel vorhanden, um diesen »singulären« Schrecken nur einigermaßen dokumentarisch aufzu-arbeiten.

Vor dieser Aufgabe stehen die Forscher des russi-schen Revisionismus. Sie graben die Wurzeln des Schreckens aus. Ihre Erkenntnis: Der Bolschewismus war von Anfang an ein Regime des Massenverbre-chens. Bestätigt wird diese Interpretation durch einen 850 Seiten starken Sammelband, der 1997 in Frank-reich erschien.15

Herausgeber Stephane Courtois schrieb das brisante Vorwort, in dem es u. a. heißt: »Der Tod eines ukraini-schen Bauernkindes, das vom stalinistischen Regime vorsätzlich dem Hunger überlassen wurde, zählt genausoviel wie der Hungertod eines Kindes im War-schauer Ghetto.«

Die Kernthesen des Historikers Courtois lauten:

• In der Sowjetunion und in den übrigen kommu-nistischen Regimes wurden rund 100 Millionen Menschen ermordet. Erschossen, erhängt, verbrannt, durch Hunger und Zwangsarbeit zu Tode gemartert.

• Die Kommunisten haben das Massenverbrechen zum Regierungssystem gemacht.

• Der Terror hatte schon mit Lenin begonnen.

• Die von Lenin erprobten, von Stalin systematisierten

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Methoden des Klassen- und Völker-Genozids gingen der Diktatur Hitlers voraus.

• Stalin war im Vergleich zu Hitler der größere Ver-brecher.

• Die Mitverantwortung Stalins für die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges ist unbezweifelbar.

Courtois sieht im Kommunismus das blutigste Mör-

dersystem in der Geschichte der Menschheit, der »Schrecken der Schrecken«, die grausamste Tyrannei, die je die Welt entstellt hat.

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Stalin plante Angriffskrieg gegen Hitler

ie Aufarbeitung der Geschichte des ehemals kom-munistischen Rußland ist vor allem angewiesen auf

biographische Literatur, Presse- und Archivmaterial. 14 000 handgeschriebene Manuskriptseiten hinter-

ließ etwa Lasar Mojsejewitsch Kaganowitsch, einer der engsten Vertrauten Stalins und einer der Hauptverant-wortlichen für den Massenterror der Stalin-Epoche. In den dreißiger Jahren nannte man ihn den »Henker der Ukraine«. Fast drei Jahrzehnte lang stand der Duzfreund Stalins in der ersten Reihe der bolschewistischen Führung. Er war Sekretär des ZK der KPdSU, stellvertretender Ministerpräsident, Volkskommissar für Verkehr und Industrie. Während der »Großen Tschistka« gehörte er zum inneren Kreis des Politbüros. Vier Jahre nach Stalins Tod, im Juni 1957, wurde Kaganowitsch von Chruschtschow entmachtet, aus dem Politbüro und dem Zentralkomitee entfernt, 1961 aus der Partei ausgeschlossen.

Sechs Jahre nach seinem Tod im Alter von 97 Jahren erschienen seine Memoiren 1996 in einem Moskauer Verlag unter dem Titel Pamjatnije sapiski (Erinnerun-gen). Selbstkritische Bemerkungen, Zweifel oder Reue

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sucht man auf den 570 Seiten vergeblich. Die zehn Millionen Opfer der Kollektivierung und der Hun-gersnot der Jahre 1928 bis 1933, die Ermordeten (mindestens zwei Millionen) des »Großen Terrors« 1936-1938, der Archipel GULag mit 7 Millionen Arbeitssklaven im Jahre 1939 – das unvorstellbar Grauenvolle ist dem Sohn eines jüdischen Tagelöhners aus einem Dorf im weißrussisch-ukrainischen Grenz-gebiet unweit von Tschernobyl keine Zeile wert. Statt dessen rechtfertigt er die Genozidpolitik Lenins und Stalins, verflucht alle »Klassenfeinde des Sozialismus« als »Agenten, Saboteure, Spekulanten, Kulaken«. Ka-ganowitsch verherrlicht den »großen Führer der Sowjetunion« Stalin, nennt ihn »Vater der Völker«.

Aus den 1996 zugänglich gemachten Besucherlisten von Stalins persönlicher Kanzlei geht hervor, daß nach Molotow keiner so häufig von Stalin empfangen wurde wie Kaganowitsch. Was Stalins Protege in seinen Erin-nerungen nicht erwähnt: Eine Schwachstunde im Oktober 1941, als die deutschen Panzerdivisionen den großen Riegel der 1. Moskauer Schutzstellung gesprengt hatten – noch 100 Kilometer Autobahn, und die Moschaisker Chaussee führte direkt zum Roten Platz. In seinem dokumentarischen Roman Moskau schreibt Theodor Plievier, der in die Sowjetunion emigrierte deutsche kommunistische Schriftsteller, über eine Politbürositzung. »Stalin selber war vollkommen verzweifelt und gab den Krieg schon verloren.« Und seine Berater? Der Moskauer Parteisekretär Schtscher-bakow forderte die Verteidigung der Hauptstadt. Die anderen schwiegen. Marschall Woroschilow, Wirt-

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schaftskommissar Wosnjessenskij, Verkehrskommissar Kaganowitsch – völlige Ratlosigkeit herrschte unter der Kremlkuppe.

Molotow schlug vor, Moskau zu räumen und mit Hitler zu verhandeln. Und immer noch schwieg Stalin, schwieg Kaganowitsch. Zaghaft unterstützt vom Wol-garussen Malenkow, forderte allein der Armenier Mikojan den Endkampf in den Straßen Moskaus. Mit einfacher Mehrheit beschloß man, den Krieg fortzu-setzen, obwohl an einen Sieg schon niemand mehr glaubte. Plievier schrieb: »Moskau lag wehrlos vor den Deutschen. Sie hätten durch rechtzeitigen Einsatz einer kampfkräftigen Division die Hauptstadt erobern und einen zumindest partiellen Sieg über die Sowjetunion davontragen können.«16

Als Moskau 1952 erschien, stießen Plieviers Thesen im Westen auf Skepsis, in der Sowjetunion auf Empörung. Nur vier Jahre später sollte Chruschtschow in seiner Geheimrede auf dem XX. Parteitag die Darstellung des deutschen Kommunisten bestätigen.

Bis zuletzt hatte Kaganowitsch an den Sowjetkom-munismus leninistischer und stalinistischer Prägung geglaubt. In seinen Memoiren glorifiziert der Altbol-schewik den »genialen Lehrer Lenin«, über den seit Beginn der Glasnost-Ära eine schier unüberschaubare Fülle von Enthüllungen hereinbrach. Hier erscheint Lenin als grausamer, zynischer Machtpolitiker.

»Hängt (aber so, daß es die Leute sehen) mindestens hundert Kulaken, Reiche und Blutsauger auf. Veröf-fentlicht ihre Namen. Nehmt ihnen alles Getreide ab, bestimmt Geiseln«, schrieb Lenin im August 1918 an

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Parteifunktionäre in der Provinz Pensa, wo ein Bau-ernaufstand entbrannt war. Drei Jahre später, nachdem Tscheka und Rote Armee die Bauernerhebung im Blut erstickt hatten und eine Hungersnot fünf Millionen Menschenleben dahinraffte, rief Lenin zur Liquidierung der Kirche und Priesterschaft auf: »Jetzt, wenn in den Hungergebieten die Leute Menschenfleisch essen und Hunderte, wenn nicht Tausende Leichen auf den Straßen liegen, können (und müssen) wir die Beschlagnahme der Kirchenschätze mit der wildesten und erbarmungslosesten Energie durchführen, ohne vor irgendeinem Widerstand haltzumachen ...« Beide Briefe und weitere 120 bisher unbekannte Dokumente Lenins hatten russische Historiker 1995 in Zusam-menarbeit mit dem amerikanischen Osteuropaexperten Richard Pipes im ehemaligen Zentralen Parteiarchiv entdeckt.17

Wenn von Vernichtungspolitk und Weltanschauungs-

krieg die Rede ist, wenn Unterwerfungs- und Vernich-tungspraxis, Massenexekutionen und Säuberungsak-tionen thematisiert werden, kann das Kapitel Lenin nicht fehlen. Diesem Thema widmen die russischen Wochenzeitungen und Monatszeitschriften breiten Raum, von links bis rechts. Keine Nummer seriöser russischer Zeitschriften ohne einen relevanten Beitrag mit neuen geschichtswissenschaftlichen Erkenntnis-sen.

Aus Anlaß einer Denkmalsenthüllung in der KZ-Kolonie Kolyma erinnert der Schriftsteller Leonid Schuchwitzkij an den »stalinistischen Holocaust« in

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den ostsibirischen Goldminen. Drei Millionen Tote allein in den dreißiger Jahren – verhungert, erfroren, erschlagen, erschossen. Die Industrialisierung des Massenmordes, eine Errungenschaft des Kommunis-mus, liest man in der Moskauer Literaturzeitung vom 3. Juli 1996.

Lenins Verhältnis zu den Februarrevolutionären 1917 und seine Hasardstrategie untersucht der Historiker Professor W. T. Loginow in der Prawda vom 15. März 1997.

Über diskriminierte Dichter, Geistesunterdrückung, Verfolgung der Frühdissidenten unter Chruschtschow berichtet aus eigenem Erleben der russisch-jüdische Schriftsteller Daniil Granin in Literaturnaja Gaseta vom 12. März 1997.

Der Historiker Stanislaw Tarasow recherchierte über Stalins Terroristentätigkeit im Kaukasus vor 1917 und die Gründe der Todfeindschaft zwischen dem Men-schewikenführer Julij Martow alias Zederbaum und Stalin in der Prawda Fünf vom 21. März 1997.

Stalins manische Furcht vor der Popularität eines Schukow und die Intrigenversuche des Diktators, den Marschall noch vor der Kapitulation Deutschlands als einen politischen und militärischen Versager hinzu-stellen – »Warum haben Sie Hitler nicht lebendig bekommen?« –, schildert eine Zeitzeugin, die Schukow-Vertraute Elena Rschewskaja in Literaturnaja Gasetavom 27. November 1996.

In einem neuen Licht erscheinen auch die letzten Tage Stalins; in den Tod getrieben von seinen nächsten Mitarbeitern, gehaßt von Malenkow, Chruschtschow,

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Bulganin, vor allem jedoch von dem Geheimpolizei-chef Berija, der schon damals, im März 1953, eine Palastrevolution anstrebte. Angeblich sei der 73jähri-ge Diktator völlig gesund gewesen, bis zu der Nacht des 2. März, als er aus medizinisch unerklärlichen Gründen eine Gehirnblutung mit Schlaganfall erlitt, behauptet der Historiker Michail Dokutschajew im national-russischen Schriftstellerorgan Literaturnaja Rossija vom 11. Oktober 1996.

Aus bis vor kurzem verschlossenen Archiven schöpft

der Revisionist Oleg Chlewnjuk sensationelle Er-kenntnisse über die Zerschmetterung des von Alt-Leninisten besetzten Politbüros im Zuge des »Großen Terrors«.18

Chlewnjuk weist nach, daß sich mit der physischen Liquidierung der allermeisten Politbüromitglieder das sowjetische Machtzentrum zur Regierung verschob, zum Rat der Volkskommissare (Sownarkom), dessen Vorsitzender im Mai 1941 Stalin selbst wurde. Dieses Amt hatte er bis zu seinem Tode inne. Nach dem »großen Sprung« während des 1. Fünfjahresplanes –terroristische Bauernlegung durch die Kollektivierung und beschleunigter Aufbau einer gigantischen Schwer-und Rüstungsindustrie – wagte Stalin ab 1934, nach der Ermordung des Rivalen Kirow, einen zweiten »großen Sprung«: Entmachtung des internationalisti-schen Führungszentrums der alten Garde zugunsten eines großrussisch orientierten Regierungszentrums. Anders ausgedrückt: vom altbolschewistischen Par-teimythos zur Realität der neuen Sowjetstaatlichkeit;

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vom überflüssigen Internationalismus zum nationalen Sozialismus stalinscher Prägung. Der Diktator wechselte nicht nur die Prioritäten aus, sondern auch die Motive und Ziele. Im neuen Koordinatensystem war für die Bucharin, Sinowjew, Kamenjew kein Platz mehr. Ab 1938 war das Politbüro zu einer rein bera-tenden Instanz degradiert, ungeachtet der Tatsache, daß Stalin wichtige Entscheidungen zuerst dem Polit-büro mitzuteilen pflegte. So wurde das Politbüro zu einer Art Schattenkabinett, besetzt von Regierungs-mitgliedern.

Stalins »Rechtsschwenk« in den Jahren 1936 bis 1938 – »rechts« aus der Sicht der alten Internationalisten –untersucht ein anderer Revisionist, Anatolij Iwanow. Der Autor des Buches Logik des Alptraums, das 1993 auf russisch erschien, stützt sich in erster Linie auf Primärquellen.19 In diesem Standardwerk des russi-schen Revisionismus werden erstmals die ideologi-schen, vor allem jedoch die ethno-psychologischen Hintergründe der Erschießung Marschall Tuchatsche-wskijs und seiner Generäle wissenschaftlich durch-leuchtet. Warum »enthauptete« Stalin seine Armee? Nach Iwanow hatte der Diktator dafür mehrere Gründe: Zum einen organisierten die führenden Militärs einen Parteiputsch gegen Stalin, zum anderen bestand die Generalität zu 90 Prozent aus Nichtrussen – »sie spuckten auf Rußland« –, altgedienten Internationali-sten-Leninisten, die nach 1933 einen Präventivkrieg gegen das nationalsozialistische Deutschland befür-worteten, nach den Vorstellungen Tuchatschewskijs sogar im Bündnis mit England und Frankreich. Der

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»Nationalkommunist« Stalin stand ihnen im Wege. Die Motive des Georgiers 1936/37: Russifizierung der Sowjetarmee und Anknüpfung an zaristische Militär-traditionen, Glorifizierung autoritärer Herrscher wie z. B. Iwan den Schrecklichen, Peter den Großen, Liqui-dierung der internationalistischen Linksopposition, Abkehr von den Dogmen »Weltproletariat« und »Weltstaat«, Hinwendung zum moskowitischen Im-perialgedanken, Aufbau des Sozialismus in einem Land. In den Geheimprozessen wurden die angeklagten Militärs als Einflußagenten des Faschismus denunziert – nach Iwanow eine propagandistische Farce, bestand doch ein wesentlicher Teil der Beschuldigten aus jüdischen Bürgerkriegshelden. Auch die Säube-rungsopfer Sinowjew und Kamenjew gehörten zur jüdischen Avantgarde des Leninismus; sie waren Anti-faschisten der ersten Stunde, bedingungslose Feinde Hitlers und Hitler-Deutschlands. Ausgerechnet den jüdischen Altbolschewiken eine Kollaboration mit dem judenfeindlichen Regime in Deutschland zu unterstellen, hätte, so Iwanow, jeglicher Glaubwürdig-keit entbehrt.

Eine Publizierung des politischen wie intim persön-lichen Briefwechsels zwischen den Führern der Bol-schewiki war, mit Ausnahme der meisten Briefe Lenins, bis 1991 verboten. Nach der »Russischen Au-gustrevolution« hat der vorhin erwähnte Revisionist Oleg Chlewnjuk, in Zusammenarbeit mit dem Histo-riker Alexander Kwaschonkin, die bislang geheimen Personalunterlagen des Zentralen Parteiarchivs sich-ten können. Aus den Materialien wählte Chlewnjuk

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232 Briefe und Telegramme aus. Zu den Verfassern gehören neben Stalin und Kalinin auch Kirow, Molotow, Ordschonikidse, Trotzkij und Dzerschinskij. 1912 richtete ein gewisser Koba aus Krakau einen Brief an Lenins Freund Leo Kamenjew, der damals im Exil in Genf lebte: »Ich küsse Dich mit der Nase, nach Eski-moart. Ohne dich langweile ich mich höllisch. Keinem, keinem kann ich hier mein Herz ausschütten, zum Teufel auch.« 25 Jahre später wurde der Altrevolutionär Kamenjew nach einem Schauprozeß als »Volksfeind« erschossen – das Todesurteil hatte jener Koba unter-schrieben, Josif Dschugaschwili, genannt Stalin. Freund-schaften wie Feindschaften wurden buchstäblich mit Blut besiegelt.20

Der »Mythos von der unbesiegbaren Wehrmacht« Eine Bresche in die Mauer von Geschichtslügen und

Geschichtsklitterungen bezüglich des 22. Juni 1941 schlägt ein Buch, das 1995 in Moskau erschienen ist: Plante Stalin einen Angriffskrieg gegen Hitler? heißt der Titel des Sammelbandes, dessen Titel eigentlich kor-rekt lauten müßte: Angriffskrieg gegen das deutsche Volk.21

In dieser Publikation kommen Revisionisten wie auch Kritiker der Revisionismusschule zu Wort, doch läuft im Endeffekt das Ergebnis auf das gleiche hinaus: Die antifaschistische Legitimation der Kriegspolitik Stalins ab 1939 wird zerstört. Die Version, der Zweite Weltkrieg sei ausschließlich ein »vom nationalsoziali-

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stischen Deutschland verschuldetes Verbrechen«22

gewesen, kann so nicht mehr aufrechterhalten werden. Die historische Wahrheit aus der Sicht russischer Revi-sionisten dokumentiert, neben den Sammelband-Her-ausgebern Grigorij Bordjugow und Wladimir Newe-schin, der renommierte Kriegshistoriker Michail Meljtjuchow, wissenschaftlicher Mitarbeiter am All-russischen Forschungsinstitut für Dokumentation und Archivwesen.

Dieses vorläufig jüngste Standardwerk des russischen Revisionismus vertieft die Kenntnisse über Stalins Vorbereitungen zu einem militärischen Erstschlag gegen Deutschland im Sommer 1941. Der strategische Aufmarschplan, am 15. Mai 1941 von Stalin bei einer Konferenz mit Generalstabschef Schukow und Vertei-digungskommissar Timoschenko gebilligt, sah einen Blitzkrieg vor:

Ausbruch der Panzerdivisionen und Mechanisierten Korps aus dem Brester und Lemberger Balkon, mit Vernichtungsschlägen aus der Luft. Der Auftrag bestand darin, Ostpreußen, Polen, Schlesien und das Protektorat zu erobern und Deutschland vom Balkan und damit vom rumänischen Öl abzuschneiden. Lub-lin, Warschau, Kattowitz, Krakau, Breslau, Prag galten als Angriffsziele.

Ein zweiter Angriffskeil zielte auf Rumänien mit der Einnahme von Bukarest. Erfüllung des Nahauftrages, die Masse des deutschen Heeres vor der Weichsel, Narew, Oder zu zerschlagen (»rasgromitj«), bildete die Voraussetzung für den Hauptauftrag, Deutschland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen. Das in Polen

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und Ostdeutschland stehende Hauptkontingent der Wehrmacht sollte in kühnen Operationen unter weitem Vorantreiben von Panzerarmeen eingekesselt und vernichtet werden.

Drei Begriffe tauchen im Mobilmachungsplan vom 15. Mai mehrmals auf, die den Aggressionscharakter der Absichten Stalins enthüllen: »Überraschungsschlag« (»wnjesapnij udar«), »Vorwärtsentfaltung der sowjetischen Streitkräfte« (»raswertiwanija«), »An-griffskrieg« (»nastupatelnjaja woina«). Von 303 an der Westfront zusammengezogenen Divisionen waren 172 für die erste Angriffswelle bestimmt. Für die Totalmo-bilisierung war ein Monat eingeplant, der Zeitraum 15. Juni – 15. Juli. Michail Meljtjuchow: »Davon ausgehend, erscheint es glaubhaft, daß die Kriegshandlungen gegen Deutschland im Juli beginnen mußten.« (S. 106)

Ein anderer Schwerpunkt des Sammelbandes ist die Analyse der Stalin-Rede vom 5. Mai 1941, gehalten vor Absolventen sowjetischer Kriegsakademien. In dieser Rede rechtfertigte Stalin seine außenpolitische Wende im Zeichen des beschlossenen Überfalls auf Deutsch-land. Aus kommunistischer Sicht sei ein sowjetischer Angriffskrieg ein »gerechter Krieg«, diene er doch der Erweiterung des »Territoriums der sozialistischen Welt« und der »Zertrümmerung der kapitalistischen Welt«. Wobei es Stalin an diesem 5. Mai vor allem darauf ankam, den, so wörtlich, »Mythos von der unbe-siegbaren Wehrmacht« zu entzaubern. Die Rote Armee wäre jetzt stark genug, jeden beliebigen Feind zu schla-gen, auch die »scheinbar unbesiegbare Wehrmacht«.

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Eine Diskussion im MGFA

Der eben erwähnte Sammelband, immerhin das

Hauptwerk des russischen Geschichtsrevisionismus nach 1991, ist bis heute nicht in deutscher Übersetzung erschienen. Das hängt auch – oder sogar im wesentli-chen – mit der Revisionismus-Verteufelung hierzulande ab. Am Nachmittag des 12. Mai 1993 wurde im Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Freiburg23 ein Fachgespräch zwischen dem russischen Militär-historiker Viktor Suworow und dem wissenschaftlichen Direktor Dr. Joachim Hoffmann über die Frage des »Präventivkrieges 1941« von einem Moskauer Fern-sehteam aufgenommen. Anwesend waren neben den Genannten der Regisseur Sinelnikow, ein Dolmetscher und sieben russische TV-Operateure. Sinelnikow richtete zunächst das Wort an Dr. Hoffmann. Auf seiner Deutschlandreise habe er u. a. auch Richard von Weizsäcker, Marion Gräfin Dönhoff, Egon Bahr, Hein-rich Graf von Einsiedel (heute PDS-Bundestagsabge-ordneter) und andere Persönlichkeiten aus Politik und Publizistik zum Thema »Präventivkrieg« befragt. Und man hätte ihm geantwortet, daß, selbst wenn Viktor Suworow recht hätte, und Hitler Stalin nur um Wochen zuvorgekommen wäre, dies nicht gesagt werden dürfe, weil damit Hitler ja entlastet würde. Um seine Meinung dazu befragt, antwortete Dr. Hoffmann darauf sinn-gemäß, daß diese Reaktion bezeichnend wäre für die in der Bundesrepublik verbreitete Unmoral. Die Deut-schen in ihrem Egoismus merkten schon gar nicht

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mehr, was sie hier von den Russen eigentlich verlangten. Denn das hieße doch nichts anderes, als die Meinung, die Russen könnten ja ruhig mit den stalinistischen Propagandalügen weiter leben, wenn nur sie, die Deutschen, ein Alibi in Hitler hätten. Die negative Erscheinung Hitler aber brauchten sie, um der Welt -und das auf Kosten der Russen – zu demonstrieren, was für gute und edle Menschen sie doch heute geworden seien. Im Gedächtnisprotokoll Dr. Hoffmanns vom 12. Mai 1993 heißt es ergänzend dazu: »Hitler ist einem mit überwältigenden Kräften vorbereiteten Angriff Stalins erwiesenermaßen nur kurzfristig zuvorgekommen. Das sagt aber natürlich nichts über seine eigenen Kriegsziele in Rußland aus.«

Auf dieses Kapitel kommt Dr. Hoffmann in seiner Stellungnahme in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 11. Mai 1996 drei Jahre später zurück: »Am 12. Mai 1993 nahm das Moskauer Fernsehen im Militär-geschichtlichen Forschungsamt eine Diskussion zwi-schen meinem Freunde Viktor Suworow und mir über diese Fragen auf. Der Regisseur erbat eingangs in ziemlicher Fassungslosigkeit von mir eine Erklärung zu dem, was einige prominente deutsche Persönlichkeiten ihm zuvor gesagt hatten, nämlich daß, selbst wenn Viktor Suworow recht hätte und Hitler Stalin zu-vorgekommen wäre, dieses niemals gesagt werden dürfe, weil damit ja Hitler entlastet werden würde. Vielleicht ist dies eine Erklärung für die Penetranz, mit der die Verfechter überholter Anschauungen an den längst widerlegten Thesen festhalten.«

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»Welch ein großes Volk!«

1944 besuchte de Gaulle das Schlachtfeld von Stalin-grad. Beim Anblick der Ruinenlandschaft rief der General aus: »Welch ein großes Volk!« Nachdem sein Dolmetscher, der spätere Diplomat Jean Laloy, diesen Satz übersetzt hatte, applaudierte die sowjetische Begleitung. De Gaulle bemerkte das Mißverständnis und korrigierte: »Ich meine nicht die Russen, ich meine die Deutschen.« Jean Laloy unterließ es wohlweislich, die Worte des Generals ins Russische zu übersetzen ...24

Heute würde eine russische Begleitung dem belegten Ausspruch des großen Franzosen vorbehaltlos zustim-men. Im russischen Deutschlandbild von heute hat die militärische wie menschliche Tugend der deutschen Soldaten ihren festen Platz. Das gilt nicht nur für die Revisionisten; sie vor allem aber erinnern an die Moral und Härte, den Todesmut, die Standfestigkeit und Opferbereitschaft der einstigen Eroberer und der später Geschlagenen. Die Tragödie der deutschen Stalin-gradkämpfer steht stellvertretend für ein ganzes Volk: Spricht man heute von »den« Deutschen, meint man das »Volk von Stalingrad«. Eine Legende, ein Mythos -und Mythen sterben nicht im Geschichtsbewußtsein der Russen. Die Tatsache, daß die soldatischen Tugenden der Wehrmacht sich im sowjetisch-deutschen Krieg mit dem Nationalsozialismus verbanden, mit Hitlers Kolonialpolitik, schmälert nicht den Respekt, sogar den Respekt der Russen für den früheren Gegner.

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Am 2. Februar 1943 hatten die ersten Sowjetsoldaten den Divisionsgefechtsstand der ostpreußischen 24. Panzerdivision im Nordkessel von Stalingrad erreicht. General von Lenski ließ seine überlebenden Pan-zergrenadiere zusammenkommen, Offiziere wie Mann-schaften. Nach einem Abschiedswort erklang ein dreifaches Hurra auf Deutschland. Die Russen, schon in der Bunkertür stehend, ließen es schweigend geschehen. 53 Jahre später, am 8. Juni 1996, wurde im Wolgograder Steppenvorort Pestschanka ein Denkmal für »alle Opfer der Schlacht um Stalingrad« enthüllt, aufgestellt mit Unterstützung russischer Behörden und der Bevölkerung selbst.

Die vom Wiener Architekten Wilhelm Holzbauer entworfene zehn Meter hohe Halbpyramide aus Stahl, in der eine Öffnung zu einem Holzkreuz führt, entstand auf Initiative eines »Personenkomitees 50 Jahre Stalingrad«, dem der frühere Wiener Bürgermeister Helmut Zilk vorsteht, ein Sozialdemokrat. Rund 50 000 Soldaten aus Österreich hatten in der 6. Armee gekämpft, darunter die 44. ID, die Reichsgrenadier-division »Hoch- und Deutschmeister« aus dem Wehrkreis Wien mit dem traditionellen Divisionswap-pen Rotweißrot. Die 44. ID hatte verbissen um das Halten des Flugplatzes Pitomnik gekämpft und war am 10. Januar 1943 beim sowjetischen Entscheidungs-angriff in den Untergangsstrudel hineingerissen wor-den.

»Dieses Denkmal ist allen Opfern der Schlacht um Stalingrad gewidmet«, besagt eine Inschrift in deut-scher und russischer Sprache. »Es erinnert an die Lei-

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den der hier gefallenen Soldaten und die der Zivilbe-völkerung. Für die hier Gefallenen und in Gefangen-schaft Verstorbenen erbitten wir den ewigen Frieden in russischer Erde.«

Ein halbes Jahr zuvor hatte Rußlands oberster Kir-

chenführer die Deutschen um Vergebung gebeten, in einem ökumenischen Gottesdienst im Berliner Dom am 21. November 1995. Es dürfe nicht mit Schweigen übergangen werden, sagte Patriarch Alexij II., daß die DDR von der Sowjetunion errichtet worden sei und daß »viele meiner Landsleute diesen kommunistischen Staat durch ihre falsche Handlungsweise gestützt haben«. Viele Deutsche hätten darunter zu leiden gehabt. Dafür wolle er sich beim deutschen Volk entschuldigen. Der Patriarch bewies Mut zum Revisionismus, bestätigte er doch die von altlinken Historikern bestrittene Tatsache, daß die SED eine von der KPdSU geleitete Partei gewesen war, die gegen den Willen des deutschen Volkes die Etablierung eines kommunistischen Separatstaates betrieb.

Heute sollten die Deutschen und die Völker der untergegangenen Sowjetunion »für immer die tragischen Seiten in ihren Beziehungen umblättern«, forderte das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche. Aus der Vergangenheit von Deutschen und Russen sei nur das Beste zu behalten, die geistige und politische Zusammenarbeit, die gemeinsamen Erfolge auf dem Gebiet von Kultur und Wissenschaft. »Gebe Gott, daß niemals mehr zwischen uns eine verderbliche Feind-schaft aufkomme!«

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Die tragischen Seiten im deutsch-russischen Ge-schichtsbuch: Auf der einen Seite Hitlers Slawenhaß und sein »Weltanschauungskrieg« im Osten, auf der anderen Stalins Deutschlandhaß und sein Feldzug der »kollektiven Strafmaßnahmen« gegen Kriegsgefangene und Zivilisten.

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66 Millionen Opfer

lebten laut sowjetischen Regierungsan-gaben auf dem Territorium der UdSSR 194

Nationen, Völker, Stämme, Minoritäten, in der Amtssprache »etnitscheskije obschtschinij« – ethnische Gemeinschaften. Bei der Volkszählung im Jahre 1937 waren davon nur noch 109 übriggeblieben!

Dem grauenvollen Hintergrund der Volkszählung vom Januar 1937 widmet der Historiker Anatolij Rubi-now eine Analyse, erschienen in der Kulturzeitschrift Literaturnaja Gaseta vom 27. November 1996, mit der Überschrift: »Eine schicksalhafte Volkszählung«. Auf dem XVII. Parteikongreß 1934 hatte Stalin ein rasantes biologisches Wachstum vorausgesagt und den Anstieg der Sowjetbevölkerung von derzeit 168 Millionen auf 180 Millionen im Jahre 1937 verkündet. Die amtliche Auswertung der Volkszählung vom 5. und 6. Januar 1937 widerlegte Stalins Prognose: Anstelle der einge-planten 180 Millionen lebten tatsächlich von den 168 Millionen von 1934 nur 162 Millionen in der Sowjet-union. Womit war das Minus von sechs Millionen zu erklären? Stalin verlor darüber kein Wort. Rubinow schlüsselt den Verlust folgendermaßen auf: Rund fünf Millionen während der Kollektivierung in der Ukraine

1926

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verhungert beziehungsweise erschossen und 1,7 Millio-nen Gulaghäftlinge zwischen 1930 und 1936 umge-bracht. Stalins Reaktion auf den Bevölkerungsrückgang durch Genozid: Er ließ den Vorsitzenden des Zentralen Statistischen Amtes, Iwan Adamowitsch Krowalj, ver-haften und mit seinen Mitarbeitern erschießen.

Die Zahl der unter dem sowjetischen Kommunismus Ermordeten ist astronomisch. Es gibt für diesen Ver-nichtungsfeldzug in der Menschheitsgeschichte keinen Vergleich. »70 Jahre der Selektion haben das Land 70 Millionen Menschenleben gekostet«, stellte die Mos-kauer Tageszeitung Moskowskij Komsomolez am 24. November 1995 fest. Während seines Amerikabesuchs im Herbst 1996 sagte General Lebed u. a.:

»Stalin sah in jedem Menschen nur ein Schräubchen der Staatsmaschinerie ... Was die Grenzen des Blut-vergießens betrifft, mit Blick auf die Todesstrafe, so hat Rußland diese Grenze nicht nur in diesem Jahrhundert überschritten. Eine Grenze unvorstellbaren Leidens, und immer war unser Volk das Opfer. Die Verluste in beiden Weltkriegen und die Verluste in der Zwischenkriegszeit, als Folge von Kollektivierung, Säuberungen, Massen-verfolgungen, all dies löschte mehr als 75 Millionen Menschenleben aus.«25

Aufzählung, nicht Aufrechnung

Das Unvergleichbare im Vergleichsversuch zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus bildet einen Schwerpunkt im russischen Revisionismus. In seinem

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Essay Die russische Frage am Ende des 20. Jahrhun-derts26 erwähnt Solschenizyn den Zeitgeschichtler und Soziologen Professor I. A. Kurganow, der die Opfer des »ständigen inneren Krieges der Sowjetregierung gegen das eigene Volk« auf 66 Millionen berechnet hat, bezogen auf die Epoche zwischen 1917 und 1947. Erstmals erscheint hier Kurganows Aufschlüsselung der Opfer-Zahlen im singulären Ereignis des bolsche-wistischen Holocaust:

3 Millionen im Bürgerkrieg 1917-1921 50 000 im Krieg gegen Finnland 1918 110 000 im Krieg gegen die baltischen Staaten 1918/19 600 000 im Krieg gegen Polen 1920 20 000 im Krieg gegen Georgien 1921/22 30 000 im Krieg gegen Japan 1938/39 3000 im Krieg gegen Polen 1939 400 000 im Krieg gegen Finnland 1939 20 Millionen im Zweiten Weltkrieg

Roter Terror 1917-1923: 160 000 Akademiker, Schriftsteller, Künstler, Studenten 50 000 Offiziere, Unternehmer, Beamte, Gutsbesitzer 40 000 Geistliche 1,3 Millionen Bauern und Arbeiter 6 Millionen während der ersten Aushungerung 1921/22 2 Millionen während der zweiten Terror-Welle 1923-1930 7 Millionen in der zweiten Hungerwelle 1930-1933

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750 000 getötete Kulaken 1.6 Millionen in der Terror-Welle 1933-1937 1,005 Millionen in der Jeschowschtschina 1937/38 2.7 Millionen in den Vor- und Nachkriegsjahren 1937-1947 20 Millionen KZ-Häftlinge, Opfer von Zwangsarbeit, Exekution, Folter, Seuchen, Hunger Kurganows Opfer-Aufschlüsselung besteht aus 21 Rubriken, darunter auch der Hinweis: »20 Millionen im Zweiten Weltkrieg«. Diese Angabe verwirrt, sie kann mißverstanden werden. Handelt es sich dabei um Kriegsverluste in der Zivilbevölkerung, um gefallene Rotarmisten an der Front, erschossene Deserteure, Verschollene, an ihren Verwundungen gestorbene Sol-daten? Sind darin eingeschlossen auch die Kriegsge-fangenen, umgekommen in deutschen Lagern? Auf wen konkret beziehen sich Kurganows »20 Millionen im Zweiten Weltkrieg«?

Seine Zählmethode ist eher moralisch zu werten. Die Art, wie Stalin im Krieg die eigenen Soldaten und Zivi-listen behandeln ließ, wie er die eigene Truppe ins Feuer schickte, gnadenlos und menschenverachtend, deutet der Historiker Kurganow als ein Verbrechen des Kommunismus, wobei er sich auf das Urteil des front-erfahrenen Artillerie-Oberleutnants Solschenizyn be-rufen kann. »Anders als eine physische Vernichtung des eigenen Volkes kann man auch die rücksichtslose, unbarmherzige Art nicht nennen, mit der die Straßen des Sieges in Stalins sowjetisch-deutschem Krieg mit den Leichen der Rotarmisten übersät wurden«,

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schreibt der Literaturnobelpreisträger 1994. »Die Mi-nenräumaktionen mit den Füßen der vorwärts getrie-benen Infanterie sind nicht einmal das krasseste Bei-spiel.«27 Solschenizyn beziffert die Kriegsverluste sogar auf 31 Millionen.

Dies sei die blutigste Periode der russischen Ge-schichte gewesen, kommentiert der Historiker W. W. Isajew die Zahlen.

»Getötet wurden von der Sowjetmacht 66 818 000 Menschen, mehr als 40 Prozent der Bevölkerung. Wahrlich eine ›Errungenschaft‹, von der kein anderes Land träumen konnte. Vernichtet die intellektuelle, geistig schöpferische Lebensbasis einer Nation, liquidiert die Fleißigsten ihrer Arbeiter und Bauern! Und ruft man nicht heute wieder diese Macht zurück – unter Hammer und Sichel und unter den Bildern von Marx, Engels, Stalin?«28

Stalin, Retter des russischen Volkes?

Im russischen Historikerstreit steht die historische Potenz Stalins außer Zweifel, sie stellt sich für die Revi-sionisten jedoch in einem negativen Licht dar. Im kommunistischen Oppositionslager sei heute die Mei-nung verbreitet, Stalin sei Verteidiger und Retter des russischen Volkes gewesen, bemerkt der oben erwähnte Historiker Isajew – »hätten wir wieder einen Stalin, gäbe es Ordnung im Lande«. Isajew führt weiter aus: »Betrachten wir doch einmal, was Stalin in verschie-denen Perioden sagte und schrieb.«

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• Stalin telegraphierte nach dem Revolverattentat auf Lenin am 6. August 1918 an das damalige Staatsober-haupt Swerdlow: »Der Kriegsrat der Nordkauka-sischen Front erfuhr vom Anschlag der Bourgeoisie auf den größten Revolutionsführer der Welt und Lehrer des Proletariats, den Genossen Lenin. Darauf gibt es nur eine Antwort: offener, massenhafter, systematischer Terror gegen die Bourgeoisie und ihre Agenten.« Unterschrieben von Stalin und Woroschilow am 31. August 1918. Damit schloß sich Stalin der Meinung von Sinowjew an, der als Vergeltung die Liquidierung von »mindestens« zehn Millionen Russen verlangt hatte.

• Stalin forderte und unterstützte ab 1918 die Be-kämpfung der Kosaken, die Säuberung der Intelligen-zija, die Ausrottung des Bürgertums, die Verfolgung der Kulaken, die Entwurzelung der Kleinbauernschaft, die Kollektivierung der Dörfer. »Terror ist absolut not-wendig, absolut nützlich im Kampf mit unserem Klas-senfeind«, schrieb Stalin in Band 12 seiner gesammelten Werke auf Seite 209.

• Stalins Haß in jener Zeit galt vor allem der inner-russischen Opposition. Er verachtete das russische Volk und stand damals auf der Seite der russophoben Parteiführer Bucharin und Sinowjew. Isajew: »Im Au-gust 1918 erschoß in Petrograd der jüdische Student Kanegisser den jüdischen Tschekisten Uritzki, was, nach einem Aufruf des Petrograder Tscheka-Chefs

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Jakob Peters, den ›Massenterror‹ auslöste. 10 000 Geiseln wurden sofort erschossen. Ihre Namen wurden auf Plakaten veröffentlicht. Was sofort auffiel: Es waren ausnahmslos russische Namen. Unter den Exekutierten befand sich kein einziger Jude.«29

Was der Revisionist Isajew nicht erwähnt: Jüdische

Namen tauchten auf Liquidationslisten zwanzig Jahre später massenhaft auf, worüber der englische Geno-zidforscher Robert Conquest 1990 in seinem Stan-dardwerk The Great Terror ausführlich berichtet.30

Während der dreißiger Jahre fanden im Ziegeleilager von Workuta Massenerschießungen statt. Spezialkom-mandos des NKWD liquidierten mit Maschinenge-wehren Zehntausende von Trotzkisten – in der Mehr-zahl Juden. Nachdem der Russe Nikolaj Jeschow den jüdischen GPU-Chef Genrich Jagoda 1936 abgelöst hatte, verübten Tausende von Jagoda-Freunden Selbst-mord, ausnahmslos Juden. Die GPUisten stürzten sich aus dem Fenster, erschossen oder erhängten sich. Familienangehörige folgten ihrem Beispiel. So weiß man von einem Massensuizid, den eine Gruppe von 13- und 14jährigen Kindern hingerichteter GPU-Offiziere verübte; die Leichen fand man im Prosorowski-Wald bei Moskau.

Das Ausmaß des Terrors der slawenfeindlichen Expansionspolitik Hitlers – Himmlers Einsatzgrup-pen, Hitlers »Kommissarbefehl« vom 13. Mai 1941 – wird von russischen Revisionisten weder verschwiegen noch bagatellisiert. Eine revisionistische Schrift von 1996 behandelt dieses Thema ausführlich. Sie erschien

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unter dem Titel Die Wahrheit über das Schicksal der Juden im Zweiten Weltkrieg im Verlag der monarcho-slawophilen Wochenzeitung Russkij Westnik (Russischer Bote), die vom Internationalen Fonds Slawischer Sprache und Kultur gegründet wurde.31 Der Militärhi-storiker Oleg Platonow schrieb die Einführung. Er erinnert daran, daß als Folge der verbrecherischen Ostpolitik Hitlers »mehr Slawen als Juden umgekom-men sind«. Im Vorwort der russischen Ausgabe wird daraufhingewiesen, daß »27 Millionen Sowjetbürger« und »9 Millionen Deutsche« im Laufe des Zweiten Weltkrieges getötet wurden.

Nach Platonow betrug die Zahl der in den Kriegsge-fangenenlagern umgekommenen Slawen nicht weniger als 3,3 Millionen.

Unvorstellbar groß ist die Zahl slawischer Sklavenar-beiter, die ab 1941 nach Deutschland deportiert wurden. Nach Recherchen von Franz W. Seidler, Professor für Sozial- und Militärgeschichte der Neuzeit an der Universität der Bundeswehr in München, wurden allein aus der Ukraine über zwei Millionen Menschen – Männer, Frauen, Jugendliche – als Zwangsarbeiter ins Reich transportiert.32

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Vom Preis eines Sieges

er Historikerstreit in Rußland hat mit dem Histo-rikerstreit in Deutschland vieles gemeinsam,

unterscheidet sich jedoch durch eine andere Aus-gangslage, eine andere Motivation. Der Weg zur Wahr-heitsfindung ist der gleiche: Revisionismus, Hinterfra-gung, Dogmenzertrümmerung, Mythenzerstörung. Im russischen Historikerstreit spielen Totalitarismus-theorien, die Frage nach der Vergleichbarkeit von Hit-lers Diktatur und Stalins Terrorherrschaft, also auch die Frage nach einer System-Verschiedenheit oder System-Gleichsetzung, eine untergeordnete Rolle. »Das Resultat der Verschwörung gegen Rußland, das Resultat des Genozids am russischen Volk in diesem Jahrhundert war, daß unser Land mehr als hundert Millionen Menschen verlor«, liest man in einer oppo-sitionellen Petersburger Zeitung. »Allein im Krieg gegen Hitler-Deutschland verloren wir rund 26 Mil-lionen unserer Väter und Großväter. Dies war nicht einfach ein Krieg gegen die Deutschen, es war ein Krieg gegen die Deutschen bis zum letzten Russen. Und wie viele wurden nicht geboren, ermordet im Mutterleib oder abgetrieben aus Furcht vor dem alltäglichen Grauen ... Ganze Klassen wurden vernichtet, die Le-

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bensbedingungen für Millionen zerstört, die Nation ihrer Elite beraubt und dann in die Sklaverei getrie-ben.«33

Was soll, angesichts des weltgeschichtlich Einmaligen, eigentlich noch verglichen werden? Genozidumfang, Opferzahlen, traumatische Folgen? Wo hört jede Vergleichbarkeit auf?

Im moralischen Visier des russischen Revisionismus steht die Frage nach dem Preis des Sieges im »Großen Vaterländischen Krieg«. War es überhaupt ein Sieg? Und wenn ja, für wen? Auf wessen Kosten? Beim Aus-bruch aus dem Bialystok-Kessel Ende Juni 1941 – vier Sowjetarmeen, eine halbe Million Mann waren einge-schlossen – stürmten die Rotarmisten in breiter Front in unübersehbaren Schützenketten, untergehakt, vier, fünf, zehn Reihen hintereinander, gefolgt von T 26, und auf den Panzern fuhren Politkommissare mit Maschinenpistolen. Regimenter, ganze Divisionen zwischen deutschen MGs und sowjetischen MPs. Das wiederholte sich Wochen später in der Höllenschlacht im Jelnjabogen östlich von Smolensk, wo Regimenter dicht aufgeschlossen Welle um Welle ins deutsche Artilleriefeuer liefen, berittene Offiziere hinter den russischen Infanteristen. Es gab kein Zurück. Immer wieder jagten Offiziere und Kommissare ihre Männer gegen das befohlene Ziel. Rücksicht auf den Menschen war der Stalinschen Angriffstaktik völlig fremd.

Der Schriftsteller Wladimir Kristoforow schildert, anhand jüngst aufgefundener Tagebücher und Solda-tenbriefe, den Untergang des 22. Schützenregiments der 32. Armee im Kessel von Wjasma im Oktober 1941.

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Mit Stalin-Gedichten ausgestattet schickte man halb-verhungerte, miserabel bewaffnete Reservisten in die Schlacht. »Das war die Hölle«, heißt es im Tagebuch eines Gefallenen. »Eine ganze Armee wurde abgeknallt, von Panzern zermalmt. Warum? Wofür?« 1996 konstatiert der russisch-jüdische Militärhistoriker Lasar Lasarjew, Stalins Militärdoktrin beruhe auf dem Raskolnikow-Prinzip »Der Mensch ist eine Laus« (aus dem Dostojewskij-Roman »Schuld und Sühne«). Der einzelne zählt nichts – eine Doktrin der absoluten Menschenverachtung. Daß die Zahl der Toten auf sowjetischer Seite so ungeheuer hoch war, viel höher als auf der deutschen, die den Krieg schließlich doch verloren hat, hat nach Lasarjew hierin seinen Haupt-grund.

In der damaligen sowjetischen Felddienstordnung heißt es: »Allein der Angriff, der mit der wilden Ent-schlossenheit geführt wird, den Feind im Nahkampf zu vernichten, gibt den Sieg.« So stürmten und starben Hunderttausende, in der Winterschlacht an der Wolga bei Rschew 1942, in den Wolchowsümpfen 1942, bei der gescheiterten Charkow-Offensive im Frühjahr 1942, zwischen Kertsch und Feodosia im Wintersturm 1942, am Westufer der Wolga im September 1942, als General Lopatin Stalingrad schon aufgeben wollte. Und 1945 beim Sturmlauf über Weichsel und Oder. Die Armee ist alles, der Muschik selbst ist nichts. Keine Zeit zum Einsammeln der Erkennungsmarken oder zum Bergen der Toten und Verwundeten, die noch einem Zweck dienen: Brustwehr für die nachfolgenden Reihen. In Mitteldeutschland gibt es ca. 600 sowjeti-

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sche Soldatenfriedhöfe, eingerahmt von monumentalen Obelisken, Statuen, Sowjetsternen. Ehrenhaine mit Namensdenkmälern verbot Stalin schon frühzeitig, sollte doch die wahre Zahl der Toten geheim bleiben. Der Gefallene, ein Namenloser. Kollektiv gestorben, kollektiv geehrt. Klassische Soldatengräber sind in Rußland eine Seltenheit.

Vernichtungskrieg gegen das eigene Volk

Solschenizyn, der sich auf Ergebnisse des russischen Revisionismus beruft, beziffert die Kriegsverluste unter Soldaten und Zivilisten auf 31 Millionen: »Eine erdrückende Zahl – ein Fünftel der Bevölkerung! Wann hat welches Volk so viele Menschen in einem Krieg verloren?«34 Andere Historiker bezweifeln diese Zahl, werfen Solschenizyn Übertreibung vor und meinen, er entehre dadurch die Opfer des »Großen Vaterländischen Krieges«.

Immer noch, Jahre nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums, existierten »Lügenlabors« in Rußland, behauptet der ukrainische Militärhistoriker Leonid Woloschin. So würde man die Legende verbreiten, die Verluste der Sowjetarmee bei Kriegshandlungen wären verhältnismäßig gering gewesen, geringer als die Opfer der Zivilbevölkerung, während die Wehrmacht viermal mehr an Soldaten verloren haben soll.

Mut, Härte und Todesverachtung des russischen Sol-daten sind sprichwörtlich. Stalin genügte das nicht. Die Toten sollten den angreifenden Feind förmlich

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erdrücken. Um die Faktoren Schlagkraft, Einsatzbe-reitschaft, Kampfgeist wußte der andere »größte Feld-herr aller Zeiten«, höher aber wertete er den Faktor »Masse« – tot oder lebendig. Nur 32 000 Russen über-lebten als Gefangene die Schlacht am Wolchow, Mai 1942. Zehntausende lagen in den Sumpfwäldern -verhungert, verblutet, ertrunken. So opferte Stalin seine Elitetruppe, Wlassows 2. Stoßarmee. Aus der Wolchow-Hölle ging einer als Todfeind Stalins hervor: der ehemalige Vorzeigebolschewik Andrej Wlassow, ein petrinischer Russe, stolz und tapfer, operativ hoch begabt, ein hervorragender Offizier. Er war der Ober-befehlshaber der 2. Stoßarmee und sprach Stalin für ihren Untergang schuldig. In den Leichensümpfen des Wolchow wurde Wlassow zum Antibolschewiken. In den Augen der Konterrevisionisten gilt dieser Mann immer noch als »Vaterlandsverräter«; anders sieht es der ehemalige Artillerieoffizier Solschenizyn, der diesem tragisch gescheiterten slawischen Andreas ein Ruhmeskapitel in der russischen Freiheitsgeschichte prophezeit.

Aus der Sicht ukrainischer Revisionisten war Moskau die Zentrale der Vernichtungsmaschinerie, und folglich war der »Große Vaterländische Krieg« auch ein anti-ukrainischer Krieg. Sprechen die russischen Revi-sionisten von Russophobie, so taucht in den Schrif-ten ukrainischer Revisionisten die »Ukrainophobie« auf, Hauptmerkmal der Stalinschen Nationalitäten-politik in bezug auf das zweitgrößte Slawenvolk. Die von Moskau inszenierte Hungersnot 1932/33 identifi-

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ziert man als Genozid bzw. Ethnozid, als einen Versuch der KPdSU (B), nicht nur die Bauernklasse, sondern ein ganzes Volk, seine Kultur und Religion auszurotten. Innerhalb von zwei Jahren verlor das ukrainische Volk ein Viertel seiner biologischen Substanz. »1933« bleibt für diese Slawennation das Schlüsselwort für ein Verbrechen, das die europäische Geschichte vordem nicht gekannt hat. »Golodomor« sagen dazu die Ukrainer. Massenmord durch Aushungerung.

Davon ist in Woloschins Beitrag auch die Rede, doch steht im Vordergrund die wissenschaftlich fundierte Entlarvung der Legende von der angeblichen Über-legenheit der Stalinschen Armee im sowjetisch-deut-schen Krieg. Woloschins Forschungsergebnisse er-schienen 1995 unter dem Titel Welchen Preis bezahlte die Sowjetunion für den sogenannten Großen Vaterländischen Krieg.35

Leonid Woloschin ist ein junger Historiker aus Jalta, der aus Guderians Erinnerungen eines Soldaten und Halders Tagebüchern genauso zitiert wie aus Wolkogo-nows Triumph und Tragödie und Karpows Marschall Schukow. Er schöpft aus der russischen Kriegsge-schichtsforschung und den Geheimarchiven. Seine Studie kommt zu folgenden Ergebnissen: • Vom ersten Kriegstag an betrieb Moskau Desin-formation – auf diesem Gebiet erwies sich Stalins Pro-pagandazentrale als unschlagbar. An der Spitze der Fälscherwerkstatt »Sowinform-Büro« stand S. Loso-wski alias Salomon Dridso, gleichzeitig Stellvertreter von Außenminister Molotow. Zu »Sowinform« be-merkte Solschenizyn einmal ironisch, man habe nie

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erfahren, ob sich die Rote Armee auf dem Vormarsch oder auf dem Rückzug befinde. Losowski kam sieben Jahre nach dem »Sieg« auf unnatürliche, nicht eben soldatische Weise ums Leben. Erschossen auf Befehl Stalins, liquidiert als Führungsmitglied des Jüdischen Antifaschistischen Komitees (JAK). • Stalin stand Losowski in nichts nach. Wörtlich erklärte er am 6. November 1941: »In vier Monaten Krieg verloren wir 350 000 Tote und 378 000 Verschol-lene. In der gleichen Zeit büßte der Feind 4,5 Millionen ein, gefallen, verwundet, gefangen.« Eine kommu-nistische Planübererfüllung um 1,3 Millionen, betrug doch das deutsche Kontingent bei Beginn von »Barba-rossa« rund 3,2 Millionen Mann. Die eigenen Verluste verkleinerte Stalin um das zweieinhalbfache. Laut Sta-wka (Sowjetgeneralstab) verlor die Rote Armee an Gefallenen 651 065 Mann allein im Juni und Juli 1941, 692 924 im August, 491 023 im September. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich 3,8 Millionen Soldaten und Offiziere der Roten Armee auf deutscher Seite, als Gefangene oder Überläufer. Nachzulesen ist dies in W. Karpows großer Biographie Marschall Schukow. Der Historiker zitiert aus Halders Angaben bezüglich der deutschen Verluste zwischen dem 22. Juni 1941 und dem 31. März 1942: 23 541 Offiziere und 799 389 Sol-daten verwundet, 8827 Offiziere und 225 553 Soldaten gefallen sowie 855 Offiziere und 51 665 Soldaten ver-schollen. • Den 3,2 Millionen deutschen Soldaten standen am 22. Juni 1941 ca. 13 Millionen Rotarmisten gegenüber, darunter drei Millionen Mitglieder oder Kandidaten

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der KP und 3,5 Millionen Komsomolzen. 1943/44 betrug die Überlegenheit der Sowjetstreitkräfte: 11:1 bei der Infanterie, 7:1 bei den Panzern, 20:1 bei der Artillerie und den Granatwerfern. Nach Aussagen Guderians besaß die Rote Armee 1944 eine 15fache Überlegenheit beim Heer, auf ein deutsches Flugzeug kamen 20 sowjetische Flugzeuge. • Stalins Ukas Nr. 227 vom 28. Juli 1942 ordnete die sofortige Erschießung aller Rotarmisten an (vom Rekruten bis zum Kommandeur), die der Panikmache, Fahnenflucht oder Befehlsverweigerung verdächtig waren. Im Verlauf des Krieges wurden 158 000 exeku-tiert, in den meisten Fällen vor angetretener Mann-schaft. In die Strafbataillone »versetzte« man 400 000 Mann. • Beim Sturm auf Berlin, verteidigt von einer 100fach unterlegenen deutschen Truppe (Volkssturm, Arbeiter, Hitlerjungen, europäische Freiwillige), mobilisierte Marschall Schukow 2,5 Millionen Mann – und erlitt, gemessen an Menschenopfern, die nach Kiew und Brjansk größten Verluste. Das war ihm jedoch gleichgültig, denn Stalin hatte befohlen, auf das eigene Menschenpotential keine Rücksicht zu neh-men. • Zwischen Juni 1941 und April 1945 gerieten 5,754 Millionen Soldaten und Offiziere in deutsche Gefangenschaft. Rund 1,1 Millionen Sowjetbürger meldeten sich freiwillig zum Kampf auf deutscher Seite. • Aufgrund der schweren Verluste im ersten Kriegs-jahr wurden an Frontsoldaten keine Adressenkapseln

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mehr ausgegeben (im Landserjargon »Medaillons«), die im Falle des Todes für die Verwandten bestimmt waren. Die millionenfach Gefallenen wurden also als »Verschollene« geführt.

Leonid Woloschin zieht den Schluß: »An der Ost-front verloren die Deutschen 1,5 Millionen Soldaten und Offiziere, vierzehnmal weniger als die Rotarmisten. Seinen ›Sieg‹ bezahlte das kommunistische Imperium mit der Auslöschung von 46 Millionen Menschenleben, einem Viertel der UdSSR-Bevölkerung von 1941, darunter 22 Millionen Soldaten und Offiziere, also zwölf Prozent der Bevölkerung. Wer will hier noch von Sieg sprechen?«

An deutscher Seite Die genaue Zahl der Gefangenen, Überläufer,

Hilfswilligen, Freiwilligen aus der Roten Armee läßt sich noch nicht ermitteln. Franz W. Seidler vertritt folgenden Standpunkt: »Aus der Roten Armee liefen in zwei Jahren mehr als eine Million Soldaten zu den Deutschen über. Etwa 800 000 – berichtete die Iswestija vom 23. Juni 1995 – kämpften in deutscher Uniform aktiv an der Niederringung des Kommunismus und für die Befreiung ihrer Völker.«36

Nach Solschenizyn ergaben sich in der Anfangsphase des Krieges über drei Millionen »bereitwillig« den Deutschen.

Helmut Heiber beziffert die Zahl der Osttruppen für Anfang 1943 auf rund 400 000 (ohne Hiwis) und auf

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knapp eine Million wenige Monate vor Kriegsende. Das Hauptmotiv für sie war nationale Selbstbefreiung mit Hilfe der Wehrmacht.

Rußlands bekanntester Militärhistoriker, der als Revisionist 1995 im Alter von 67 Jahren starb, ist Dmi-trij Wolkogonow, war als Generaloberst in der Armee-Politverwaltung stellvertretender Chef für psychologi-sche Kriegführung. Er gehörte 40 Jahre lang der KPdSU an, war hochdekorierter Kriegsveteran, aber wurde schon lange vor der »Russischen Augustrevolution« von 1991 zu einem kritischen, parteiunabhängigen Oppositionskämpfer.

Wolkogonow spricht von 4,5 Millionen Kriegsge-fangenen in deutschen Lagern, von denen nach Kriegs-ende nur 1,836 Millionen in die Heimat zurückgekehrt seien. Von diesen wurde die eine Hälfte wieder der Truppe eingegliedert, während die andere Hälfte im GULag verschwand oder Strafbataillone auffüllte. Während des Krieges kämpfte fast eine halbe Million an vorderster Front in Strafeinheiten als »Panzerfutter«. Wolkogonow, dessen Lenin- und Stalin-Biographien jeder russische Offizier und jeder russische Geschichtsstudent kennt, beruft sich auf Stalins Tages-befehl Nr. 227 vom 28. Juli 1942, in dem die Aufstellung von Strafbataillonen angeordnet wurde – Todeskom-mandos, gesondert für Mannschaften, Unterführer, Offiziere und sogar Kommandeure. Laut Wolkogonow wurden rund 158 000 Rotarmisten, vom Rekruten bis zum General, auf der Stelle erschossen.37

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Ein Sieg der Sklaven

Kein Geringerer als Rußlands berühmtester Frontro-

mancier, der heute 75jährige Grigorij Baklanow, bestätigt die verbrecherische Kriegführung Stalins. Die Rote Armee sei objektiv das Instrument des Diktators gewesen. »Den inneren Feind, das heißt das eigene Volk, hat die Sowjetmacht stets mehr gefürchtet als den äußeren Feind«, schreibt Baklanow, der durch seine ungeschminkte Schützengrabenprosa Ein Fußbreit Erde, Die Toten schämen sich nicht, Juli '41 populär geworden ist.

Zum 50. Jahrestag des Sieges über das nationalsozia-listische Deutschland bemerkt Baklanow: »Sogar während des Krieges fuhr diese Macht fort, das eigene Volk in den Konzentrationslagern zu vernichten. Wie die Sowjetmacht das eigene Volk in den Untergang trieb, dafür gibt es in der Weltgeschichte keine Parallele. Wir siegten nur kraft unserer Masse. Vor dem Krieg wurden 43 000 Offiziere liquidiert... Nach dem Krieg jagte man die Kriegsgefangenen aus den faschistischen Lagern in die sibirischen Lager. Die Atmosphäre der Nachkriegsjahre war erfüllt von Angst und Verrätertum. Und wir, die Heimgekehrten, die Sieger, fühlten uns im eigenen Vaterland als Besiegte, besiegt von jenem System, das wir an 1418 blutigen Tagen ver-teidigt hatten ... Und heute müssen wir uns fragen: Was waren wir 1945 eigentlich – befreite Menschen oder Sklaven? ... Der Vernichtungskrieg gegen das eigene Volk hatte schon nach dem Bürgerkrieg begon-

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nen, mit der Errichtung der ersten Lager. Aus den Erin-nerungen von Marschall Woronow wissen wir, daß im Herbst 1941, als die Deutschen vor Moskau standen, allen Ernstes die Frage erörtert wurde, wem man die knapp gewordenen Maschinengewehre geben soll – den zur Front rückenden Russen oder den Berija-Divi-sionen, die in den Vernichtungslagern die eigenen Rus-sen in Schach hielten.«38

Die Zahl der Opfer, lediglich eine quantitative Größe? 31 Millionen (Solschenizyn), 20 Millionen (Chru-schtschow) oder »nur« sieben Millionen Menschen (Stalin), was steckt dahinter? Worum geht es im Zah-lenkrieg?

Für die Anti-Revisionisten um den Versuch der Widerlegung einer Kernthese der Revisionisten, daß Stalin den »Großen Vaterländischen Krieg« als einen Vernichtungskrieg geführt hat, nicht nur gegen ein fremdes Volk, die Deutschen, sondern auch gegen das eigene Volk. Das Menschenleben unter dem Wert einer Patrone.

Solschenizyn bringt es auf den Punkt: »Anders als eine physische Vernichtung des eigenen

Volkes kann man ... die rücksichtslose, unbarmherzige ... Art nicht bezeichnen, mit der die Straßen des Sieges in Stalins sowjetisch-deutschem Krieg mit den Leichen der Rotarmisten übersät wurden ... Unser ›Sieg‹ von 1945 wirkte sich als eine Festigung der Diktatur Stalins aus ...39

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Täglicher Revisionismus

ie Flut revisionistischer Veröffentlichungen in russischen Buchverlagen, Zeitschriften und Nach-

richtenmagazinen ist kaum mehr zu überschauen. Eine Auflistung des alltäglichen oder gewöhnlichen Revisio-nismus (russisch »obiknowjennij«, »powsednewnij«) würde Bände füllen. Zum gewöhnlichen Revisionismus gehört u. a. der Kultursektor: Das Petersburger Marins-kij-Theater, das vor 1991 den Namen »Kirow« trug, wird umbenannt, und getilgt werden die Begriffe »sowjetisch«, »kommunistisch«, »marxistsich-lenini-stisch« bei sämtlichen Vereinigungen der Komponisten, Künstler, Philosophen, Schriftsteller, Journalisten.

Der Krieg steht im Zentrum des alltäglichen Revi-sionismus. Zu einer »endgültigen Aussöhnung des deutschen und des russischen Volkes« ermahnte im April 1997 der Wolgograder Gouverneur Nikolaj Maksjut. Wolgograd hieß früher Stalingrad, und vor 1925 Zaryzin. Drei Namen für eine Stadt, die zum Symbol der deutsch-russischen Tragödie wurde.

Stalingrad wurde im Herbst 1942 von der 6. Armee angegriffen und, bis auf einen Uferbezirk, von deut-schen Truppen erobert. Seit 1995 wird in Deutschland die Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der

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Wehrmacht 1941-1944« gezeigt, deren Initiatoren behaupten, die 6. Armee habe auf ihrem Vormarsch »Verbrechen« begangen. Entspricht das der Wahrheit? Konkret: Bestand die Besatzungspolitik der Wehrmacht tatsächlich nur aus Geiselerschießungen, Galgen, Brandschatzung?

Zwei russische Historiker, renommierte Geschichts-professoren aus Wolgograd, unternahmen den Ver-such einer wissenschaftlichen Beantwortung dieser Frage. Viktor Lomow ist dort Professor am Lehrstuhl für Theorie und Geschichte des Staates und des Rechts, der Zeithistoriker Alexander Epifanow war dort in der Glasnost-Ära Geschichtspädagoge für Untersuchungsrichter des damaligen sowjetischen In-nenministeriums (MWD).40

Die 6. Armee wurde auf ihrem Vormarsch von Män-nern, Frauen und Jugendlichen des Kosakenvolkes als Befreierin vom stalinistischen Joch begrüßt – der Haß der Okkupierten galt dem inneren Feind. Zehntausende von Kosaken wechselten zu den Paulus-Truppen und boten den deutschen Landsern ihre Dienste im Kampf gegen den Bolschewismus an. Als erste größere Einheit trat das kosakische 436. Infanterieregiment unter Major Iwan Nikitsch Kononow geschlossen zur Wehrmacht über, und zwar schon am 22. August 1941.

Anhand dokumentarischer Unterlagen aus ehemals geheimen NKWD-Archiven untersuchten die Profes-soren Epifanow und Lomow die Besatzungspolitik der Wehrmacht und das Verhalten der Zivilbevölkerung im Stalingrader Gebiet einschließlich Stalingrad, das von Einheiten der 6. Armee im Sommer/Herbst 1942

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erobert wurde. Ende August 1942 hatte die 6. Armee 16 Landbezirke des Stalingrader Gebietes und folgende Stadtviertel von Stalingrad besetzt: Traktorenwerk, Er-manwerk, Woroschilowsk, Roter Oktober, Rote Barri-kade, Dzerschinski. In der Riesenregion zwischen Donez, Don und Wolga lebten damals 785 000 Men-schen – Russen, Ukrainer, Kosaken. Die meisten waren nicht evakuiert worden. Was spielte sich in der Wehr-machts-Etappe ab? Repressalien ohne Ende? Brutale Unterdrückung? Zwangsverschickung? Militärischer Terror?

Keineswegs, meinen Epifanow und Lomow. Sie listen auf: Burgermeister wurden in freier, direkter Wahl von den Dorfbewohnern bestimmt – ohne Einmischung der Wehrmacht. Komsomolzen, das heißt Jungkom-munisten aus der Arbeiterjugend, verbrannten öffentlich ihre Mitgliedsbücher und meldeten sich freiwillig zum Dienst in der Wehrmacht oder Hilfspolizei. Bauern nahmen die Auflösung der Kolchosen in die eigene Hand, indem sie den Boden unter sich aufteilten. Parteimitglieder arbeiteten mit den Deutschen zusam-men und rückten in Selbstverwaltungsorgane auf. Junge Frauen heirateten deutsche Offiziere. Gläubige der russisch-orthodoxen Kirche erhielten von der Wehrmacht ihre Gotteshäuser, religiösen Schätze, sogar ihr Gemeindeeigentum zurück.

Und ihre Motive? Aus den Untersuchungsunterlagen der sowjetischen Geheimpolizei beziehungsweise des Volkskommissariats für Inneres (NKWD) kristallisie-ren sich folgende Hauptbeweggründe heraus: Der militante Haß auf den bauern- und arbeiterfeindli-

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chen Kurs Stalins, der Wille zur Selbstbefreiung – mit Hilfe der Wehrmacht – und die Überzeugung von der Unbesiegbarkeit der deutschen Armee. Laut Epifanow und Lomow erkannte die Bevölkerungsmehrheit im Bolschewismus einen permanenten Vernichtungskrieg gegen die eigene nationale und soziale Identität.

Insgesamt sechs Monate lang befand sich die Wehr-macht auf Stalingrader Gebiet. In dieser relativ kurzen Zeit gelang es den Deutschen, ein dichtes Netz von ein-heimischen Selbstverwaltungsorganen aufzubauen, besonders in den am Don gelegenen Kosakenbezirken. Zu den ersten Maßnahmen der deutschen Eroberer zählten die Abhaltung von Dorfversammlungen, auf denen die Dorfältesten gewählt wurden, die Aufstellung einer russischen Hilfspolizei, die Öffnung von Kirchen, die Wiederbelebung des religiösen Lebens mit Gottesdiensten, Taufen, Eheschließungen – und arbeitsfreien Sonntagen. In einigen ländlichen Bezirken duldete die Wehrmacht die Liquidierung der kom-munistischen Staatsgüter und die Gründung privater Bauernbetriebe.

Welche Schichten waren vom ersten Tag der Beset-zung an entschlossen, mit den Deutschen freiwillig zusammenzuarbeiten? Epifanow und Lomow nennen folgende Gruppen:

Die von der Sowjetmacht enteigneten, diskriminierten Klein- und Mittelbauern,

ehemalige Weißgardisten und ihre Nachkommen; die Kosakenschaft, bekennende gläubige Christen, vor allem Frauen und

Priester,

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von der Stalinschen Verfolgung Betroffene, Terror-opfer der dreißiger Jahre wie ehemalige GULag-Häft-linge,

antistalinistisch ausgerichtete, aber keineswegs anti-sozialistische Jugendliche aus der Arbeiterklasse.

Die russischen Historiker verschweigen nicht Partisa-

nenerschießungen, Razzien sowie Verhaftungen von Juden und andere »Strafaktionen«. Für Diebstahl und Brandstiftung wurden Geldstrafen verhängt, oder es erfolgte eine »zeitweilige Inhaftnahme«. Trotz dieser Maßnahmen erfaßte die »Kollaborationsbereit-schaft« auch die einstigen Träger des sowjetischen Regimes – Komsomolzen und Kommunisten, darunter altgediente Parteimitglieder. Epifanow stellt fest: »Die deutschen Besatzer führten gegen die verbliebenen Kommunisten und Komsomolzen keine offenen Repressalien durch ... Das NKWD mußte feststellen, daß die meisten von ihnen den Deutschen aktiv hal-fen ...«

Lomow zitiert aus einem geheimen Sonderbericht der NKWD-Leitung des Stalingrader Gebietes vom 15. April 1943: »Es ist beachtenswert, daß anstatt von Massen-repressalien die Deutschen gerade die Komsomolzen zu antisowjetischer Propaganda heranziehen.« Her-vorgehoben wird das »große Ausmaß« der Zusam-menarbeit zwischen proletarischer Komsomoljugend und Wehrmacht. Ausdrücklich heißt es, deutsch-freundliches Benehmen und prodeutsche Haltung, im Privaten wie im Politischen, seien typisch gewesen bei den »meisten« Jugendlichen in den besetzten Bezirken

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Stalingrads und des Stalingrader Gebietes. Wörtlich heißt es im Geheimdossier des NKWD:

»Es wurde ein Sonderaufruf an die Jugendlichen gerichtet, freiwillig der deutschen Armee beizutreten. Als Ergebnis dieser Kampagne traten über 50 Jugendliche im Bezirk Kotelnikow in die deutsche Armee ein ... In der Stadt Stalingrad befanden sich für Wach-und Konvoidienste Einheiten mit 800 ukrainischen Jugendlichen im Alter zwischen 16 und 19 Jahren ... Allein 30 Prozent der Komsomolzen, die auf dem besetzten Gebiet verblieben waren, arbeiteten in den Verwaltungsorganen, vorwiegend in den deutschen Kommandanturen, in Bezirks- und Dorfverwaltungen ..., und mehr als 50 Prozent aller Komsomolzen haben demonstrativ ihre Mitgliedsbücher verbrannt.«

Und die russischen, ukrainischen Gefangenen in Sta-lingrad? Sie liefen nicht zu den »Befreiern« über. Die meisten dienten als Hilfswillige (Hiwis). Nach den in US-Archiven aufbewahrten Kriegstagebüchern befanden sich Mitte Dezember 1942 – laut Meldungen über die Verpflegungsstärke – rund 230 000 Deutsche und Rumänen im Kessel, außerdem rund 20 000 slawische Hiwis. Die Kapitulation der 6. Armee von 31. Januar bis 3. Februar 1943 überlebte kein Hiwi!

Selbst auf dem Höhepunkt der Stalingrader Schlacht, als Ende November 1942 die Stadt eingekes-selt war und die sowjetische Offensive im Rücken der 6. Armee ein 200 Kilometer breites Loch gerissen hatte, bewährte sich die »Kollaborationsbereitschaft« (der Terminus stammt von den beiden Autoren). Gehalten wurde die aufgerissene Front nicht nur von verspreng-

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ten deutschen und rumänischen Einheiten, sondern auch von den Freiwilligeneinheiten der Russen, Ukrai-ner, Kosaken. Sie wußten, warum sie dies taten. Im Ver-band der 4. Panzerarmee (Hoth) unterstützte eine kosakische Kampfgruppe unter Führung des Schle-siers Hellmuth von Pannwitz die Entsatzoffensive, indem sie in den eisigen Stürmen der Kalmückensteppe die Flanken der 6., 17. und 23. Panzerdivision sicherte. Dafür erhielt Pannwitz am 24. Dezember 1942 das Eichenlaub zum Ritterkreuz. »Ich gebe die Aus-zeichnung an meine Kosaken weiter«, soll Pannwitz gesagt haben. Mit den Überlebenden formierte Pannwitz im Juni 1943 die 1. Kosakendivision. Ihre Heimat an Don, Wolga, Kuban, Terek sollten die Kosaken nie wiedersehen.

War die Wehrmacht im allgemeinen, die 6. Armee im speziellen, eine »Vernichtungsmaschinerie«? Nein, behaupten die beiden russischen Historiker. In der Einleitung zu Kapitel 8 schreiben Epifanow und Lo-mow:

»Die von der sowjetischen Propaganda verbreiteten Darstellungen des Besatzungsregimes der deutschen Wehrmacht, die nach ihrem tatsächlichen Charakter nichts mit Greueltaten und Verbrechen zu tun hatte, waren eines der verlogensten Themen der traditionellen sowjetischen Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg. (...) Die Aufklärung hat nicht nur der historischen Wahrheit und der Objektivität zu dienen, sondern auch der moralischen Befreiung von den negativen Erscheinungen, die unter den Bedingungen des Stalinschen Totalitarismus hervortraten.«

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Nach der Kapitulation gerieten Pannwitz und die ihm anvertrauten rund 30 000 Kosaken in Kärnten in englische Gefangenschaft. Die Briten lieferten die Kosaken entgegen den getroffenen Vereinbarungen am 9. Mai 1945 an die Rote Armee aus. General v. Pannwitz, eine deutsch-slawische Legende im Zweiten Weltkrieg, der »große Pan«, wie er von seinen Soldaten gerufen wurde, begab sich freiwillig in sowjetische Gefangenschaft. Von seinen Kosaken konnte und wollte er sich nicht trennen. Am 16. Januar 1947 meldete Ulbrichts ADN aus Moskau:

»Vor dem Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR fand ein Prozeß gegen die verhafteten Agenten des deutschen Spionagedienstes statt. Angeklagt waren: der Führer weißgardistischer Truppenteile während des Bürgerkrieges 1918-1921, Ataman P. N. Krasnow, der Generalleutnant der Weißen Armee A. B. Skuro, der Kommandeur der ›Wilden Division‹ und Generalmajor der Weißen Armee Sultan Girej Klytsch, der Generalmajor der Weißen Armee S. N. Krasnow, der Generalmajor der Weißen Armee T. I. Domanow und der SS-General der deutschen Armee Hellmuth von Pannwitz. Sie waren als Agenten des deutschen Spionagedienstes tätig gewesen, kämpften während des Zweiten Weltkrieges mit den von ihnen zusam-mengestellten weißgardistischen Truppenteilen gegen die Sowjetunion und übten eine aktive Spionage-, Diversions- und Terrortätigkeit gegen die Sowjetunion aus ... Gemäß § 1 des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. April 1943 verurteilte das Militärkollegium sämtliche Angeklag-

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ten zum Tode durch den Strang. Das Urteil ist bereits vollstreckt worden.«

In der Urteilsbegründung war General von Pannwitz die Erschießung von 15 Partisanen zur Last gelegt worden. Ein vorgeschobener Grund. Stalin wollte das Ideal einer deutsch-russischen Waffenbrüderschaft und die Idee eines freien Kosakentums endgültig ver-nichten.

49 Jahre später wurde Pannwitz rehabilitiert. Am 23. April 1996 erklärte Rußlands Generalstaatsanwalt, das Urteil gegen ihn sei unbegründet. »Es liegen keine Be-weise vor, daß von Pannwitz oder die ihm unterstellten Einheiten Greueltaten oder Gewalt gegen die sowjetische Zivilbevölkerung und die gefangengenommenen Rot-armisten zugelassen haben.«

Natürlich beinhaltet die politische wie moralische Rehabilitierung des Deutschen auch den ideologischen Freispruch der antibolschewistischen Kosaken und ihrer Führer (die beiden Krasnow, Sultan Girej, die Weißgardistengeneräle Domanow, Skuro und andere). Ein historischer Wendepunkt und ein Triumph des praktischen Revisionismus, dieser 23. April 1996. Ein Signal an Deutsche und Russen!

Rehabilitierung und Wiedergeburt des Kosakentums erleben seit dem Untergang der Sowjetunion stürmi-sche Höhepunkte. Es gibt wieder (bewaffnete!) Kosa-kenheere, Atamane, Selbstverwaltungsorgane, eine eigenständige Kosaken-Kultur mit Schulen, Radiosta-tionen, Buchverlage, Presse. Zwischen Amur und Terek erscheinen heute rund 200 kosakische Zeitungen, Mo-natsblätter, Literaturmagazine. In fast jeder Duma-

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Fraktion gibt es eine starke »Kosaken-Lobby«. Alexan-der Lebed, geboren in einer Staniza bei Nowotscher-kask am Unterlauf des Don, entstammt einer Donko-sakenfamilie, sein Vater schmachtete im GULag. »Kosak« und »Weißgardist« gelten heute als Ehrentitel, Synonyme für Tapferkeit, Härte, Opferbereitschaft und Todesverachtung, denn auch das Weißgardisten-tum erlebt eine Renaissance im Bewußtsein des russischen Volkes, wovon Theateraufführungen, Fernsehserien, Spielfilme, Ausstellungen, Bildbände zeugen.

Unter Pannwitz kämpften Kosken vom Don, Kuban, Terek, Ural, aus Sibirien und Fernost. Unter deutschen und slawischen Reiteroffizieren: Graf Kottulinsky, Graf Eltz, Graf von Rittberg, v. Eisenhardt-Rothe, Frei-herr von Nolcken, von Baarth, Graf von Schweinitz, von Scharfenberg, von der Heyde, von Bosse, Graf Bis-marck-Bohlen, Freiherr von Wolff, v. Elmayer-Vesten-brugg, Prinz zu Solm-Horstmar – in einer Reiterfront mit Oberst Kononow, Major Sacharow, Oberstleut-nant Borissow, Rittmeister Bondarenko, Rittmeister Tscherkakow ... Wer heute als Deutscher in einer Kosakenheimat erscheint, wird wie 1941 und 1942 mit Salz und Brot, mit Kreuz und Bruderkuß empfangen.

Wer ermordete die Zarenfamilie? Schwerpunkte des alltäglichen Revisionismus sind,

neben dem Genozid an den Kosaken, der GULag-Komplex, die Judenverfolgung, die Ermordung der Zarenfamilie.

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Am 17. Juli 1998 jährt sich zum 80. Mal die Erschießung der Zarenfamilie, nach Ansicht national-konservativer und christlich-orthodoxer Historiker Rußlands ein »Ritualmord«. Vorbereitungen zu diesem schwarzen Jubiläum laufen seit langer Zeit. Hinführungen publizistischer wie wissenschaftlich-historischer Art sind geplant. Hinzu kommen die Bemühungen an der Basis der Gläubigen, Unterschriften für eine Kanonisierung des Zarenpaares zu sammeln. Angeblich sollen es bereits Millionen sein. Patriarch Alexij II., den Umfragen als einen der zehn mächtigsten Politiker Rußlands ermittelten, wird dem Druck von unten wohl kaum widerstehen können.

Gesammelt wurde für den Bau einer Jahrhundert-Sühnekathedrale in Jekaterinburg, dem ehemals kom-munistischen Swerdlowsk. Sie soll auf den gesprengten Fundamenten des Ipatjew-Hauses als »Kirche aller erstrahlenden Heiligen Rußlands« errichtet werden. Rehabilitierung der Romanows, Kanonisierung der Märtyrer, Renaissance des monarchischen und reichi-schen Ideals, Geschichtsrevisionismus radikal. Das sind nur einige Erscheinungsformen des auf den Juli 1998 zusteuernden Gesamtphänomens. So schlug das Regierungsorgan Rossijskaja Gaseta vor, das geplante, von Jelzin zum Wettbewerb ausgeschriebene Mam-mutdenkmal für die »Opfer von Revolution und Terror« in der Art des von General Franco bei Madrid geschaffenen Mahnmals »Tal der Gefallenen« zu er-richten ...

Unterstützt wird die Kanonisierung der ermordeten Zarenfamilie nicht nur von Monarchisten, der Russi-

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schen Adelsvereinigung, den Kirchengemeinden, dem Lager der »Nationalpatrioten«, der Kosakenschaft, den meisten Duma-Abgeordneten, dem Gouverneur von Jekaterinburg, Eduard Rössel. Auch viele »neue Demo-kraten« stehen hinter dieser Kampagne.41 Am 12. Juni 1991 hatten sich mehr als 55 Prozent der Einwohner Leningrads in einem Referendum für die Umbenennung ihrer Stadt in den alten Namen »Sankt Petersburg« entschieden.

Die Heiligsprechung würden die gläubigen Russen als Signal verstehen: Georgij Romanow, der heute 16jährige Kadett der Petersburger Marine-Offiziers-schule, ein Ur-Ur-Ur-Enkel des »Befreierzaren« Alex-ander II., hätte dann gewissermaßen den Segen der Kirche, den seit 1917 verwaisten Kaiserthron zu bestei-gen und die vom einfachen Volk verhaßte Parteiende-mokratie durch eine Volksmonarchie abzulösen. Für die Entscheidungsfindung plädiert medienwirksam der im Volk beliebte Metropolit Juwenalij, ein wortge-waltiger Kirchenfürst in den traditionell prozaristischen Gebieten Nordrußlands, seitdem April 1992 der Vorsitzende der Kanonisierungs-Kommission der Heiligen Synode. Das letzte Wort hat die erzbischöfliche Versammlung.

Georgij ist aber nicht der einzige lebende Romanow. Der kalte Krieg um die Nachfolge ist voll entbrannt. Die Ansprüche ihrer Romanow-Linie vertrat am 25. September 1995 Olga Nikolajewna Kulikowskaja-Ro-manowa, verheiratet mit einem nahen Verwandten des ermordeten Zaren, Tichon Nikolajewitsch. Olga ver-teidigte den Standpunkt dieses Romanow-Zweiges vor

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einer speziellen Regierungskommission, die am 23. Oktober 1993 zu dem Zweck gegründet wurde, die endgültige Bestattung der »Zaren-Märtyrer« zu regeln. Im Falle einer Kanonisierung kämen zwei Got-teshäuser in Frage: die wiederaufgebaute Christus-Erlöser-Kathedrale in Moskau oder die Peter-und-Paul-Kathedrale in St. Petersburg, die Grabkirche der Romanowzaren.

Die Wiedereinführung der Monarchie wäre die nach der Februar-Revolution von 1917, dem Leninschen Oktober und der »Russischen Augustrevolution« von 1991 geschichtsträchtigste und folgenschwerste Wende in Rußland, ein Revisionismus-Sprung. Sogar ehemalige kommunistische Blätter sind auf den »Zaren-Zug« aufgesprungen. Das auflagenstärkste Boulevardblatt Rußlands, der Moskowskij Komsomolez, veröffentlichte ein Interview mit Oberstaatsanwalt Wladimir Solowjow, der als leitender Kriminalist der Generalstaatsanwaltschaft seit Anfang der neunziger Jahre mit Ermittlungen in Sachen »Zarenmord« befaßt ist. Im Mittelpunkt des Interviews steht der leiden-schaftlich diskutierte Fragenkomplex, ob Großfürstin Anastasija und ihr Bruder Alexej, der Thronfolger, das Gemetzel im Keller des Ipatjew-Hauses überlebt haben, ferner, ob dem erschossenen Kaiser der Kopf abgeschnitten und einem inneren Kreis bolschewisti-scher Führer im Kreml als Beweis der vollzogenen Exe-kution präsentiert wurde.42 In beiden Fällen wollte sich Oberstaatsanwalt Solowjow noch nicht festlegen.

Vor stets ausverkauftem Haus läuft seit 1996 im Aus-stellungssaal der Moskauer Manege das Theaterstück

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Die letzte Nacht des letzten Zaren. In der Rolle Niko-lajs II. agiert Rußlands populärster Bühnenstar, Alex-ander Sbrujew, der von sich sagt, er fühle sich seinem tragischen Helden nicht nur menschlich, sondern auch politisch verwandt. »Ich war nie ein Pionier, Komsomolze oder gar ein Parteikommunist. Ich bin der Sohn eines Volksfeindes. Mein Vater wurde erschossen, meine Mutter steckte man ins Lager.«43

Eine Zeitschrift trommelt für die Heiligsprechung und die Wiedereinsetzung der Romanow-Monarchie: die einzige kirchliche Illustrierte Osteuropas – Ducho-wnaja Niwa (Geistliches Feld) – mit aktuellen Re-portagen und historischen Beiträgen. Sie ziert ihre farbige Titelseite stets mit einem Porträt aus der Za-renfamilie und bringt Auszüge aus dem Tagebuch der Zarin Alexandra in Fortsetzungen.44 Alexandra Fjo-dorowna (1872-1918), eine gebürtige Prinzessin Alix von Hessen und bei Rhein, Rußlands Kaiserin von 1894 bis 1917, widmet Alexander Solschenizyn in seinem Kriegsepos Das Rote Rad bewegende Kapitel, aus denen Bewunderung und Stolz sprechen.

»Es wächst das Verständnis für die Rolle, die die Dynastie der Romanows, die Aristokratie und die herrschenden Klassen bei der Entwicklung der natio-nalen Kultur, ihrer geistigen Basis und der künstleri-schen Ausdruckskraft des russischen Volkes gespielt haben«, schreibt Alexander Schkurko, Generaldirektor des Staatlichen Historischen Museums Moskau, im Vorwort des Katalogs für die Ausstellung Prunkvolles Zarenreich, die 1996/97 auch in Deutschland (Köln, Gotha, Rosenheim) zu sehen war.

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Ein Bestseller auf Dauerflamme ist das Buch des Bri-ten Robert Wilton The Last Days of the Romanovs. How Tsar Nicholas II und Russias's Imperial Family were Murdered,45 wurde 1993 neu aufgelegt vom Institute for Historical Review in den USA. Aus dem auf Augen-zeugenaussagen basierenden Bericht geht u. a. hervor, daß das Exekutionskommando vom 17. Juli 1918 aus Letten, Ungarn und Juden bestand; Russen waren darin nicht vertreten. Im Anhang der Ausgabe von 1993 wird auch die ethnische Zusammensetzung der 556 wichtigsten Parteiführer für den Zeitraum 1918-1919 wie folgt aufgelistet: 17 Russen, zwei Ukrainer, 11 Armenier, 35 Letten und Litauer, 15 Deutsche, ein Ungar, zehn Georgier, drei Polen, drei Finnen, ein Tscheche, ein Mittelasiate, 457 Juden.46

Aus dieser Zusammensetzung entspringt die Debatte über die »nichtrussischen Wurzeln« der bolsche-wistischen Revolution, die durch immer neue For-schungsergebnisse russischer Revisionisten aus nahezu allen weltanschaulichen Lagern angeheizt wird. Nach Recherchen einer Moskauer Monarchisten-Zeitschrift wurden die tödlichen Schüsse in der Nacht des 17. Juli 1918 von Soldaten einer »internationalen Brigade der Roten Armee« abgegeben: Jankel Jurowski, Anselm Fischer, Istvan Kolman, A. Chorwat, Isidor Edelstein, Imre Nagy, Viktor Grinfeld, Andreas Wergasi, S. Farkasch. Kommentar: »All das spricht für die nichtrussische Herkunft der Mörder.«47

In der slawophilen Wochenzeitung Russkij Westnik schreibt 1996 der Militärhistoriker Oleg Platonow:

»Die Schöpfer des Holocaust-Mythos verkleinern

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vielhundertfach die Opfer des russischen Volkes – 27 Millionen. So wird in der Enzyklopädie des Holo-caust behauptet, daß in den deutschen Lagern drei Millionen Juden getötet wurden und ›außerdem einige zigtausend Zigeuner und sowjetische Kriegsgefangene‹. In Wirklichkeit jedoch betrug die Zahl der in den deutschen Lagern umgekommenen Kriegsgefangenen, in der Mehrzahl Russen, nicht weniger als 3,3 Millionen Menschen. Der Mythos vom Holocaust beleidigt das Gedenken an Millionen Russen, Todesopfer einer neuen Weltordnung. Schlimmer noch, nicht eine einzige Zeile der Enzyklopädie des Holocaust erwähnt die vielen Millionen Genozid-Opfer im russischen Volk in den ersten beiden Jahrzehnten nach 1917, umgebracht unter der Verantwortung jüdischer Führer (der Bolsche-wiki).«48

Historiker, die nicht zum konservativen oder slawo-philen Lager gerechnet werden dürfen, wehren sich gleichfalls gegen die Dogmatisierung des Begriffs »Einzigartigkeit«, bezogen auf ein bestimmtes Ereignis außerhalb der russischen Leidensgeschichte: Eine derartige Begriffs-Monopolisierung beleidige die Opfer anderer Völkermorde und impliziere, daß diese weniger Aufmerksamkeit verdienen.

Vernichtung durch Arbeit

In Workuta, dem nördlichsten Kohlenrevier Rußlands, entsteht ein unterirdisches »Museum des Bergmanns«, gewidmet den drei Millionen Gefangenen, die seit den

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vierziger Jahren hier Zwangsarbeit leisten mußten, darunter nicht nur Angehörige der Völker der UdSSR, sondern auch Deutsche, Polen, Rumänen, Slowaken, Finnen, Ungarn. Die meisten derer, die in der Tundra Schächte in den gefrorenen Boden trieben und Kohle mit nackten Fäusten förderten, überlebten die Eishöl-le nicht.49 In Massengräbern verscharrt, erinnert an sie kein Name. Viele begrub der Berg bei Methangasex-plosionen.

Als Hitler in Europa noch ein politisches Nichts war, in den zwanziger Jahren, arbeiteten die sowje-tischen Sklavenvernichtungslager bereits auf Hoch-touren. Plan-Überfüllung der Staatlichen Lager-Administration, russisch GULag, war Gesetz, Glanz und Glück der »Paradieserbauer«. Leichen über-schwemmten den im Bau befindlichen Weißmeerkanal. Fünf Jahre vor Hitlers Machtergreifung entstanden hier die ersten Massenvernichtungslager. Die Massen-mörder ließ Stalin zu »Helden der Arbeit« erklären. Ginge es nach Solschenizyn, müßten auf den Böschungen des Weißmeerkanals die Namen der sechs Hauptaufseher eingraviert und hinter jedem Namen etwa 40 000 Leben aufgeführt werden: Semjon Firin, Matwej Berman, Naftali Frenkel, Lasar Kogan, Jakow Rappoport, Sergej Schuk. Hinzuzufügen wären noch der Chef der militärischen Bewachung, Brodski, der Kurator des Kanals vom Zentralen Exekutivkomitee, Solz, die GPU- bzw. NKWD-Sonderführer Jagoda, Pauker, Spiegelglas, Kaznelson, Sakowski, Sorensen, Messing, Arschakuni – »mit einem Wort: eine unheimliche Organisation« (Anatolij Iwanow). Eine

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nichtrussische Organisation, wie die Namen bewei-sen.

Über den GULag sind inzwischen rund zehntausend Bücher erschienen, in Rußland ebenso wie in den anderen Nachfolgestaaten der UdSSR. Memoiren, Tagebücher, Sterbelisten, wissenschaftliche Untersu-chungen – Zeugnisse des täglichen, gewöhnlichen Re-visionismus.

In diesem terroristischen Wirtschaftsimperium wa-ren Arbeit und Tod Synonyme.50 Die Konzentrations-lager des GULag waren keine »Arbeitsstraferziehungs-lager«, wie es offiziell hieß: Es waren Stätten der gezielten Massenvernichtung durch Zwangsarbeit. Der Massentod war eingeplant, von vornherein beabsich-tigt, generalstabsmäßig vollzogen durch die Techno-kratie des Todes. Schon die Verurteilung zu 15 oder 25 Jahren Sklavenarbeit bedeutete ein Todesurteil. Es gab Arbeitsvernichtungslager für Männer, Heranwachsen-de, Frauen ohne Kinder, Frauen mit Kindern, für 10-bis 15jährige, Invaliden, Greise. Förderung von Kohle, Nickel, Uran, Kupfer, Eisenbahn- und Straßenbau –ganze Industriezweige, technische Großprojekte und Städte entstanden buchstäblich auf den Knochen der Lagerhäftlinge, im Gleichklang von Terror, Hunger, Arbeit und Tod. Leben und Arbeitskraft waren nichts wert, es gab ja Millionen: Starb ein Sklavenlager »aus«, wurde es wieder aufgefüllt. Erschießungen waren an der Tagesordnung. Den Toten wurden die Schädel ein-geschlagen, bevor man sie in Taiga, Tundra oder Wüste ins Massengrab kippte.

Die Schätzungen über die Zahl der Zwangsarbeiter in

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den Jahren 1936 bis 1954 schwanken zwischen 30 und 40 Millionen, rund ein Viertel der UdSSR-Bevölkerung in Stalins Todesjahr 1953. Die Zahl der Ermordeten – getötet durch Hunger, Kälte, Arbeit, Seuchen, Exekutionen, sadistische Folterungen, Vergewaltigung, Terror der kriminellen Lagermafia – beläuft sich auf mindestens 15 Millionen, aber es sind wahrscheinlich mehr, denn wichtige Geheimarchive des früheren Innenministeriums NKWD müssen noch aufgearbeitet werden. Für Rußlands Revisionisten eine Herkules-arbeit, und für Rußlands Zeitungsleser ein täglicher Schrecken.

Keine Tabus Das Schicksal Wlassows und der Russischen Befrei-

ungsarmee ROA ist für die Revisionisten sowenig ein Tabu wie der Verbleib des Bernsteinzimmers. Wo Archive noch verschlossen oder »verschüttet« sind, dringen Erinnerungen ins Innere der bislang gehüteten Geheimnisse vor. So auch im Fall Wlassow mit den jüngsten Enthüllungen des Schauspielers Wassilij Lanowoj und des Kriegsromanciers Wladimir Bogo-molow (Im August vierundvierzig).51

Der Historiker Wladimir Lapskij berichtet 1995: »Nach der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes rief Stalin den Dichter Graf Alexej Tolstoj zu sich und fragte ihn, was man Hitler zum bevorstehenden Jahrestag dieses Abkommens zum Geschenk machen könnte. Tolstoj schlug vor, eine

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Kopie des Bernsteinzimmers anfertigen zu lassen, vom damals berühmtesten Bernsteinkünstler Rußlands, Anatolij Baranowskij. Im Mai 1941 hatte Baranowskij seine Arbeit vollendet. Gleichzeitig hatten seine Schüler noch eine Kopie hergestellt.«52

Nach seinen Recherchen soll die zweite Kopie im Oktober 1941 den Deutschen in die Hände gefallen sein, die das originalgetreue Modell »nach Königsberg transportierten«. Das Original des Bernsteinzimmers, so Lapskij, befindet sich in den USA, ausgeflogen im November 1941 – mit Genehmigung Stalins – vom »besten amerikanischen Freund der Sowjetunion«, Armand Hammer, Kunstmäzen und Multimillionär. Laut Lapskij befindet sich die erste Kopie, die ursprünglich als Geschenk für Hitler bestimmt war, immer noch in einem zugemauerten Geheimkeller des Katharinenpalais in Zarskoje Sjelo ...

Gewöhnlicher Revisionismus allerorten. Mit Unter-stützung der monarchistischen Zeitschrift Russkij Westnik fand im November 1995 in Sewastopol eine »Woche der Erinnerung« statt; Atamane und Kosaken-offiziere gedachten der Verteidigung der Krim durch General Wrangel 1919/20 am »Ende eines brudermor-denden Krieges«.53

Ganz im Sinne eines »vaterländischen« Revisionis-mus wurden neue Geschichtsbücher für Mittelschu-len, Hochschulen und den interessierten Leser publi-ziert. Eine zehnbändige Reihe präsentierte Anfang 1997 die historische Fakultät der Lomonossow-Uni-versität, in Zusammenarbeit mit der Moskauer Städti-schen Archivvereinigung. Was der Wählerblock Sem-

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skij Sobor als Losung für die »Wiedergeburt Ruß-lands« formulierte, zieht sich wie ein roter Faden durch diese neuen Geschichtsbücher: der Dreiklang von »Prawoslawije, Samoderschawije, Narodnostj« –christliche Orthodoxie, monarchische Autokratie, soziale Volkstümlichkeit. Der Semskij Sobor, heute General Lebed nahestehend, ist ein Zusammenschluß von slawophilen Bürgerinitiativen, Neumonarchisten, Kosakenverbänden, rechtgläubig-patriotischen Orga-nisationen.

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Der Zweite Weltkrieg begann am 19. August 1939

August 1945. Das Abkommen von Potsdam, mit dem die Deutschenaustreibung sanktioniert wird,

unterzeichnet auch ein Mann, der nach dem Urteil russischer Revisionisten zu den Hauptschuldigen am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gehört: Stalin. »Den Krieg begann Hitler mit dem Angriff gegen Polen, doch derjenige, der ihn dazu provozierte, war Stalin«, schreibt die Historikerin I. W. Pawlowa. Stalins Ambi-tionen am Vorabend des Kriegs könne man als nichts anderes bezeichnen als ein »Verbrechen an der Menschheit«.

In dieser Erkenntnis manifestiert sich der aktuelle Stand des russischen Revisionismus. Ein Forschungsre-sultat voller Sensationen, entlarvt es doch die Erklä-rungsversuche der meisten westlichen Historiker als Vorurteile, Verniedlichungen, ja sogar als Fälschungen.

Die Stalin-Rede eine Fälschung? Nach dem Urteil russischer Revisionisten muß die

Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges neu geschrie-

2.

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ben werden. Einer der Gründe ist die Veröffentlichung der Stalin-Rede vom 19. August 1939, von sowjeti-schen wie westlichen Historiographen lange Zeit als »Fälschung« ausgegeben. Entdeckt wurde die Rede Stalins, gehalten vor Politbüromitgliedern vier Tage vor der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffpaktes, von der Historikerin T. S. Buschu-jewa im Geheimfonds des Sonderarchivs der UdSSR, jetzt »Aufbewahrungszentrum der historisch-doku-mentarischen Sammlungen«.54

Versehen mit einem Kommentar der Buschujewa, publizierte das renommierte, Solschenizyn nahestehende Moskauer Literaturmagazin Nowij Mir (Neue Welt) den sensationellen Fund 1994.55

Was zwischen Stalins Rede vom 19. August 1939, Hit-lers »Barbarossa« vom 18. Dezember 1940 lag und die Welt veränderte, liest sich heute wie ein Horrorthriller. Kernsätze der Stalinrede lauten:

»Unsere Wahl ist klar. Wir müssen den deutschen Vorschlag annehmen und die anglo-französische Mis-sion höflich nach Hause schicken. Unser erster Vorteil besteht in der Auslöschung Polens und in der Gewin-nung eines Teils von Polen bis nach Warschau, ein-schließlich des ukrainischen Galizien.«

Auf der Grundlage der Veröffentlichung in Nowij Mir starteten Historiker an der russischen Elite-Universität Nowosibirsk eine Untersuchung der gesamten Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges. Ihre For-schungsergebnisse erschienen am 16. April 1995 unter der Überschrift »1. September 1939-9. Mai 1945. Aus Anlaß des 50. Jahrestages der Vernichtung des faschisti-

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schen Deutschland im Kontext mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges. Materialien des Geschichtswissen-schaftlichen Seminars.« Gedruckt wurde die Publikation in Zusammenarbeit mit dem Nowosibirsker Gebietsvorstand von MEMORIAL, einer gesamtrussi-schen Gesellschaft für Fragen der Zeitgeschichte, Rechtsverteidigung, Menschenrechte.

Einer der Verfasser, W. L. Doroschenko, spricht be-züglich der Stalinrede von einem »phänomenalen Text«, der nun endgültig die Behauptung der Sowjethistoriker, eine solche Sitzung habe gar nicht stattgefunden, als »Lüge« entlarve. Doroschenko wörtlich:

»Eine Analyse zeigt, daß der Text, bei allen möglichen Entstellungen, auf Stalin zurückgeht und ihm daher der Charakter eines der grundlegenden Dokumente zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges zuerkannt werden muß.« (S. 17)

Auf die Anklagebank im Nürnberger Prozeß hätte auch Stalin gehört, »er und sein kommunistisches Regime und sein Staat, die UdSSR«. Der Hauptschuldige am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, der Kriegs-brandstifter sui generis, hieße Stalin, stellt Doroschenko fest: Der Krieg sei für ihn notwendig und nützlich gewesen. Wörtlich:

»Nicht nur, daß er Hitler half; es lag in Stalins urei-genem Interesse, den Krieg zu entfachen, einmal mit dem allgemeinen Ziel der Machteroberung in Europa, zum anderen mit einem unmittelbaren Gewinn, der sich aus der Vernichtung Polens und der Eroberung Galiziens ergab. Das wichtigste Motiv Stalins war aber der Krieg selbst (...), der Sturz der europäischen Ord-

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nung und die sich daraus ergebende Möglichkeit, unter solchen Bedingungen seine Diktatur zu etablieren, wobei er sich zunächst aus dem Konflikt heraushalten wollte, um dann in einem günstigen Moment in den Krieg einzutreten. (...) Mit anderen Worten, der Nichtangriffspakt machte die Hände Hitlers frei, pro-vozierte Deutschland zur Kriegsauslösung. Als Stalin den Pakt schloß, stand für ihn fest, das Abkommen zu brechen, beabsichtigte er doch von Anfang an, dem Konflikt nicht fern zu bleiben, sondern, im Gegenteil, zu einem für ihn vorteilhaften Zeitpunkt in den Krieg direkt einzugreifen.« (S. 10 f.)

Diese Feststellung steht im Widerspruch zu der Behauptung Rudolf Augsteins, Stalin hätte sich ledig-lich als »Schiedsrichter« gesehen. In der »Barbarossa«-Titelgeschichte (Spiegel 6/1996) geht Augstein mit kei-nem einzigen Satz auf den Inhalt der Stalinschen Politbüro-Rede vom 19. August 1939 ein. Immerhin ein Text, der nach dem Urteil der Historiker der Universität Nowosibirsk zu den »grundlegenden Dokumenten« zur Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges gehört, folglich welthistorische Bedeutung besitzt.

Stalin als Provozierer des Zweiten Weltkrieges, so der Titel des Doroschenko-Beitrages, der die Kernthesen folgender revisionistischer Militärhistoriker bestätigt: von Viktor Suworow (Der Tag M), Joachim Hoffmann (Stalins Vernichtungskrieg 1941-1945) und Walter Post (Unternehmen Barbarossa).

Unerwähnt läßt Augstein Eberhard Jäckel, der von russischen Revisionisten als Fälscher unter die Lupe genommen wird. 1958 hatte Jäckel in den Vierteljahrs-

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hefte für Zeitgeschichte«, Nr. 4, in französischer Spra-che (ohne deutsche Übersetzung) den Text der »angeblich« von Stalin gehaltenen Rede veröffentlicht, über die im September 1939 die Pariser Nachrichten-agentur Havas berichtet hatte. Jäckel hatte sie als eine antikommunistische Fälschung abgetan.

Die angebliche Fälschung war indes so heiß, daß Stalin sich aufgrund der Havas-Veröffentlichung zu einem Dementi in dem berühmten Prawda- Interview vom 30. November 1939 genötigt sah, in dem er darauf hinwies, daß schließlich England und Frankreich Deutschland den Krieg erklärt hätten und nicht umge-kehrt.

In der Sowjetunion wurde weder die Stalinrede noch der Havas-Text veröffentlicht. Nach Ansicht russischer Revisionisten war es Stalin selbst, der Havas seinen Redetext zuspielen ließ, offenkundig mit dem Ziel, den bezüglich der Landstreitkräfte mächtigsten Gegner Deutschlands in »Desorganisazija« (Desorganisation) zu stürzen: Frankreich (S. 9).

Ein halbes Jahrhundert lang wären Parteihistoriker damit beschäftigt gewesen, bemerkt die Historikerin I. W. Pawlowa in dem erwähnten Werk, Vorgeschichte und Verlauf des Zweiten Weltkrieges zu fälschen, unter einem Berg von Lügen zu begraben, Tatsachen abzu-streiten, darunter eben diese Stalin-Rede vom 19. August 1939 oder die geheimen Zusatzprotokolle zum Nichtangriffspakt. Der Artikel der Pawlowa trägt den Titel: Ausbruchsversuche aus dem Lügen-Labyrinth.

Das Fazit der Stalin-Rede am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, ihre Deutung durch junge russische Hi-

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storiker, all dies bedeutet einen Triumph des euro-päischen Revisionismus, signalisiert eine Wende in der Grundlagenforschung. Die neuen Erkenntnisse hei-ßen:

• Stalin wollte den Weltkrieg, der Nichtangriffspakt diente ihm als Initialzündung. • Stalin beabsichtigte die Vernichtung des polnischen Staates, der polnischen Selbständigkeit generell, und Polens territoriale Zersplitterung. Eroberung, Okku-pation, Annexion hießen die Etappen der Westerwei-terung des Sowjetimperiums. • Stalin strebte den gesamteuropäischen Krieg herbei – ein Erschöpfungskrieg, in dem sich die Staaten und Systeme zugrunde richten sollten. • Stalin plante den Kriegseintritt, mit dem Ziel, auf den Trümmern des »kapitalistischen« Europa die Sowjetisierung per Diktat und mit militärischer Gewalt durchzuführen. Der Schlüsselbegriff »Sowjeti-sazija«, bezogen auf ein niedergekämpftes Frankreich und ein abgekämpftes Deutschland, taucht mehrmals in seiner Rede auf. • Stalin bereitete sich auf einen Angriffskrieg gegen Deutschland vor, die Mobilisierung der Hauptmacht seiner Stoßarmeen und ihre Dislozierung entlang der Westgrenze ließen an den offensiven Operationsplä-nen keinen Zweifel aufkommen. Fast die gesamte Luft-

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waffe und die meisten Panzerkorps wurden unmittelbar hinter der Grenze konzentriert. • Stalin setzte auf eine »kommunistische Revolution« in Deutschland nach einem militärischen Sieg der Westmächte, wörtlich: »Im Falle einer Niederlage Deutschlands wird Deutschland sowjetisiert und erhält eine kommunistische Regierung.« Doroschenko resümiert: »Stalin provozierte und ent-fesselte den Zweiten Weltkrieg.«

Gegen eine aus der Sowjetära herrührende brutale Geschichtsverdrehung schreiben die jungen Revisio-nisten Rußlands, wider ein falsches Bewußtsein, wider das gigantische Lehrstück sowjetamtlicher Historio-graphie, in der Stalin, der eigentliche Kriegsauslöser, als eine quasi übergeschichtliche Friedensmacht er-scheint.

Ihren Durchbruchserfolg verdanken die russischen Revisionisten auch deutschen Historikern, etwa Joachim Hoffmann. Seine revisionistischen Thesen werden von der Historikerin Pawlowa ausführlich dargelegt. Sie zitiert Hoffmann:

»Stalin schloß den Pakt vom 23. August 1939, um den Krieg in Europa zu entfachen, an dem er nach dem 17. September 1939 als Aggressor teilnahm. (...) Die militärischen und politischen Vorbereitungen der Roten Armee zum Überfall auf Deutschland erreichten ihren Kulminationspunkt im Frühjahr 1941.«56

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Der 22. Juni ein Präventivschlag Hitlers?

Als der Revisionist Anatolij Iwanow sein Enthüllungs-

werk Logika Koschmara 1992/93 niederschrieb, waren die hier erwähnten Publikationen noch nicht erschienen. Dokumente, Dossiers, Deutungen also, die in einer aktualisierten Neuauflage des Iwanowschen Werkes zu berücksichtigen wären.57

Iwanow behauptete 1993, Stalin habe 1941 nicht mit einem deutschen Angriff gerechnet, er habe sich auf einen Abwehrkrieg fieberhaft vorbereitet, sei jedoch spätestens im November 1940 (Molotow-Be-such in Berlin) das Risiko eingegangen, mit den Balkan-Interessen Deutschland zu kollidieren, politisch wie militärisch.58 Stalin habe den Frieden nicht aus Friedens-liebe gewollt, sondern weil er noch nicht für den Krieg gerüstet gewesen sei: Iwanows Eingeständnis, daß im Kreml keine Pazifisten die Zukunft planten.

So oder so, der sowjetisch-deutsche Krieg schien unausweichlich zu sein. Am 18. Dezember 1940 unter-zeichnete Hitler die Weisung 21 (»Barbarossa«). Für welche Stunde, welchen Tag, welchen Monat, welches Jahr hatte aber Stalin seinen Sprung über die Grenze vorgesehen? Ein halbes Jahrhundert nach der Niederlage Deutschlands, die auch die Niederlage des russischen Rußland einschoß, geht der Historikerstreit in eine neue Runde.

Daß Stalin ein Vergewaltiger war, weiß man. Daß er als Eroberer und Imperialist hauptschuldig wurde am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, mitschuldig neben

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Hitler am ungeheuren Aderlaß der Ostvölker im Ver-laufe dieses Krieges, steht jetzt außer Zweifel.

Was Iwanows Buch hochinteressant macht, ist die von ihm verfochtene These, daß Stalin nicht der Voll-ender, sondern der Überwinder der internationalisti-schen Ideologie gewesen sei, ihr Liquidator. An ihre Stelle sei, so Iwanows kühne Feststellung, ab 1936 ein Nationalkommunismus getreten, sozialistisch im Inhalt, national in der Form, verknüpft mit zaristisch-imperialen Traditionen, zusammengehalten durch Ter-ror.

Iwanows shakespearehafte Palette toter Henker und Helden liest sich wie ein Drama, wobei die Vorge-schichte des Zweiten Weltkrieges einen thematischen Schwerpunkt bildet. Die Gretchenfrage aller russi-schen Revisionisten: In welchem Umfang war Stalin mitschuldig an der Entfesselung des Krieges? Wollte Stalin den Weltbrand? Wenn ja, wann, unter welchen Konstellationen? Plante Stalin einen Angriffskrieg gegen Deutschland, den Überfall?

Antistalinist Iwanow schließt sich der Meinung Chruschtschows an, der in seinen Memoiren behauptete, die Sowjetunion sei 1941 noch schlechter auf den Krieg vorbereitet gewesen als seinerzeit das zaristische Rußland.59 Stalin hätte dies gewußt, folglich wären seine militärischen Vorbereitungen defensiver Natur gewesen.

Damit widerspricht Iwanow der Kardinalthese des Revisionisten Viktor Suworow, Hitlers 22. Juni sei ein Präventivschlag gewesen, weil Stalin Deutschland habe überfallen wollen. Iwanow schreibt:

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»Selbst in den schicksalhaften Stunden, als der Krieg schon begann, hoffte Stalin noch immer, den Frieden retten zu können. Irgendwo im Grunde seines Herzens hegte er die Hoffnung, daß Hitler klug genug sei, nicht in Rußland einzudringen, daß Deutschlands Führer begreife, wem das nütze, daß er, wenn er kein Idiot sei, zu der Einsicht komme, in Rußland nicht siegen zu können.«60

Aktuelle Forschungsergebnisse in Sachen Kriegsent-fesselung stehen allerdings in unaufhebbarem Wider-spruch zur Iwanow-These vom angeblichen Friedens-willen Stalins 1941. So gewinnt der Stalinthriller eine neue Dimension.

Daß die genannten Publikationen in den Feuilletons westdeutscher Weltblätter kein Echo fanden, überrascht nicht. Seine »Fehleinschätzungen« bezüglich der Sowjetunion gestand der Bielefelder Geschichtsprofessor Hans-Ulrich Wehler ein, den Die Welt zu den »bedeutendsten deutschen Historikern« zählt (26. Februar 1996).

Und abermals versündigt sich eine systemloyale deutsche Historikerzunft, indem sie die Sturzflut revi-sionistischen Schrifttums aus Rußland negiert. Anders in Frankreich, wo ein Stephane Courtois nüchtern feststellt: »Ich kämpfe für die Neubewertung Stalins. Er war der größte Verbrecher des Jahrhunderts. Aber er war gleichzeitig sein größter Politiker: der kom-petenteste, professionellste. Derjenige, der am perfek-testen seine Mittel in den Dienst seiner Zwecke zu stel-len verstand.« Zum Beispiel bei der Entfachung des Zweiten Weltkrieges, wie es seine Rede vor dem Polit-

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büro am 19. August 1939 belegt. Courtois spricht von einer »Revolution der Beweise« seit der Öffnung der Moskauer Archive:

»Trotzdem ist man sich des vollen Ausmaßes der Tragödie nicht bewußt. Lenin und Stalin sind für den Tod von mindestens fünfundzwanzig Millionen Menschen verantwortlich. Gewisse Kreise tun alles, um diese Katastrophe zu verniedlichen. Ich zögere nicht, von einem Negationismus zu sprechen. Der Grund ist die Tatsache, daß die Wahrheit einen Teil der französischen Öffentlichkeit, vor allem die Linke, ver-letzt.«

Nun ist Stéphane Courtois alles andere als ein einge-fleischter bürgerlicher Antikommunist. Nach dem Mai 1968 stieß er zu den Maoisten und gehörte zu den Mit-begründern der Zeitschrift Communisme.61

Der Roten Armee zuvorgekommen? Was exakt ist das Neue, das Umwälzende im For-

schungsfundus russischer Revisionisten?

• Stalin wollte den gesamteuropäischen Erschöp-fungskrieg, in den die UdSSR in einem für sie günstigen Moment politisch wie militärisch einzugreifen gedachte. Stalins Hauptbestrebung geht aus seiner vor dem Politbüro gehaltenen Rede am 19. August 1939 eindeutig hervor (auf den Seiten 18 bis 20 der Nowosibirsker Schrift).

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• Als Initialzündung diente Stalin der sowjetisch-deut-sche Nichtangriffspakt, der

a) Hitlers Überfall auf Polen provozierte, b) die Kriegserklärung Englands und Frankreichs aus-

löste.

• Für den Fall einer raschen Niederlage Deutschlands plante Stalin die »Sowjetisierung« Deutschlands ein-schließlich der Etablierung einer »kommunistischen Regierung«, gefährdet allerdings durch eine Interven-tion der siegreichen kapitalistischen Mächte, die ein kommunistisches Deutschland niemals dulden würden. • Für den Fall einer raschen Niederlage Frankreichs sah Stalin auch für dieses Land eine »Sowjetisierung« vor:

»Unabwendbar erscheint dann die kommunistische Revolution, und wir können diese für unsere Ziele nutzen, indem wir Frankreich zu Hilfe eilen und es zu unserem Verbündeten machen. In der Folgezeit werden alle Völker, die unter den ›Schutz‹ der Siegermacht Deutschland fielen, zu unseren Bundesgenossen.«62 • Stalin rechnete von vornherein mit einem Krieg gegen Deutschland und mit einer Eroberung Deutschlands. Für diesen Zweck ließ Stalin an der Westgrenze der UdSSR operative Angriffskräfte konzentrieren, deren Stärke hinsichtlich der Panzer, Flugzeuge und Artillerie die Wehrmacht um fünf- bis sechsmal übertraf.

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• Im Hinblick auf einen Angriffskrieg instruierte die Politische Hauptverwaltung der Roten Armee am 15. Mai 1941 die Truppenkommandeure darüber, daß jeder Krieg, ob Angriffs- oder Verteidigungskrieg, den die UdSSR führen wird, den Charakter eines »gerechten Krieges« hat. • Auffüllung der Truppenkontingente in allen westli-chen Wehrbezirken, Errichtung von Flugplätzen und Nachschubbasen zwecks Vorwärts-Strategie direkt hinter der Grenze, Aufstellung eines Angriffskeils von 60 Divisionen in der Ukraine sowie Neubildung von Gebirgsdivisionen und eines Luftlandekorps für die Angriffsoperationen. • Überführung der 16., 19., 21., 22. und 25. Sowjetar-mee aus dem Landesinneren an die Westgrenze, ihre Dislozierung an Ausfallpunkten der geplanten Offen-sive. • Stalins Rede am 5. Mai 1941 vor Absolventen der Offiziersakademien, in der er den Krieg mit Deutschland als unausweichlich bezeichnete – Krieg nicht nur mit defensivem, sondern offensivem Charakter. • Stalins Absicht, noch im Juli 1941 loszuschlagen, wobei die Ansichten russischer Historiker über den Tag X differieren. Suworow nennt den 6. Juli, Danilow den 2. Juli, während Meljtjuchow schreibt: »Vor dem 15. Juli wären Angriffsmaßnahmen der Roten Armee gegen Deutschland nicht durchführbar gewesen.«63

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Aus juristischer Sicht wäre der Überfall Deutschlands am 22. Juni 1941 »ohne Zweifel« eine Aggression gewesen, resümiert die Historikerin Pawlowa.

»Die Handlungen Hitlers könnte man nur dann als Prävention klassifizieren, wenn sie nur die Vernichtung der an der Grenze aufmarschierten feindlichen Truppen zum Ziel gehabt hätten, nicht aber die Eroberung sowjetischen Bodens, den Vormarsch in die Tiefe des Raumes. So betrachtet, erscheint der Krieg als eine deutsche Aggression, während die sowjetische Seite einen patriotischen Verteidigungskrieg führte. Trotzdem kann von einem objektiven Standpunkt aus dem Überfall Hitlers auf die UdSSR der Präventivcharakter nicht abgestritten werden, weil er einem an militärischer Massierung überlegenen Angriff der Roten Armee zuvorkam.«64

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Der Fall Gorodetsky

Eine antifranzösische Fälschung?

u den bestinformierten militärischen Nach-richtendiensten der Zwischenkriegsepoche zählte

das Pariser Deuxième Bureau. Frühzeitig schon pro-phezeite es, die Deutschen könnten die Ardennen für den Hauptangriff auswählen. Nach dem Urteil des bri-tischen Militärhistorikers Alistair Horne besaß das Deuxième Bureau ein exaktes Bild von den deutschen Angriffsplänen – »ein vollständigeres als das, das Fremde Heere West des OKH von den französischen Streitkräften gewonnen hatte«.65 Der französische Geheimdienst kannte den Standort aller deutschen Panzerdivisionen, ihre massive Anhäufung vor den Ardennen und die Stoßrichtung längs der Achse Sedan-Abbéville. Es beobachtete den Bau von Militär-brücken zwischen Bingen und Bonn und schloß dar-aus, daß der deutsche Hauptstoß weder im Norden noch im Süden durch die Maginotlinie erfolgen würde.

Obwohl der Geheimdienst ihm genaue Angaben machte – die Deutschen würden zwischen dem 8. und 10. Mai angreifen, mit Sedan als Hauptbewegungsachse

Z

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– ignorierte der französische Oberbefehlshaber, General Maurice Gamelin, die Warnungen. Gamelins Gegenspieler, General Gauché, Chef des Deuxième Bureau, hatte bereits 1935 das französische Oberkom-mando vor den im Embryonalzustand existierenden deutschen Panzerdivisionen gewarnt. Gleich nach dem Polenfeldzug legte Gauché mehrere Studien vor, in denen das deutsche Erfolgssystem – Panzervorstöße mit Luftwaffenunterstützung – geschildert wurde. Gauché informierte Gamelin, wie die deutschen Luft-angriffe zur fast völligen Lähmung des polnischen Oberkommandos geführt haben, das dadurch unfähig war, die Mobilisierung zu vollenden, Verstärkungen oder Nachschub nach vorne zu bringen oder koordi-nierte Gegenoffensiven durchzuführen. Gauché wies auch auf die Tatsache hin, daß die Deutschen nicht versucht hatten, Warschau einzunehmen, sondern daß ihr erstes Ziel die völlige Vernichtung der polnischen Armee gewesen sei. Die Reaktion des französischen Oberkommandos? »Wir sind keine Polen, das kann hier nicht passieren.«66 Ausgerechnet dieser effektiv arbeitende militärische Nachrichtendienst Frank-reichs, eine Säule der III. Republik, soll eine antifran-zösische »Fälschung« fabriziert haben, nämlich die Stalin-Rede vom 19. August 1939? Das behauptete Gabriel Gorodetsky in der Berliner Welt vom 31. August 1996.

Welchen Grund sollte das patriotische Deuxième Bureau gehabt haben, ein für Frankreichs Interessen negatives Falschdossier in der Weltöffentlichkeit zu lancieren, mit Konsequenzen, die für Frankreichs Ver-

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teidigung nicht schlimmer hätten sein können? Das ergibt keinen logischen Sinn. Es sei denn, daß man annimmt, sämtliche Mitarbeiter des französischen Geheimdienstes wären 1939 Kollaborateure Stalins bzw. Hitlers (»fünfte Kolonne«) gewesen, einig in dem landesverräterischen Ziel, Frankreichs politische und militärische Niederlage so schnell wie möglich herbei-zuführen. Zwar war ein großer Teil der haute bour-geoisie, deren Losungswort unter der Volksfront der Ruf »Lieber Hitler als Blum!« gewesen war, anti-britisch eingestellt, doch das Offizierskorps des Deuxième Bureau (Nachrichten), Troisième Bureau (Ope-rationen), Quatrième Bureau (Transport und Nachschub) lebte im Glanz der Namen Joffre, Foch, Pétain, Weygand, Poincaré, Clemenceau, wirkte in der Tradition des Quatorze Juilett und des 9. November 1918 (»Nach Berlin!«), im Geist der Union Sacrée vor Verdun, fasziniert immer noch von la gloire und der amour propre mit ihren poilus, die nicht zur Interna-tionale, sondern zum Marche Lorraine marschierten. – Gorodetsky scheinen diese Tatsachen nicht bekannt zu sein.

Der Sowjetologe Gabriel Gorodetsky, Chef des Cum-mings-Instituts für russische Geschichte an der Uni-versität Tel Aviv, ist für jüngere russische Zeithistori-ker ein Unbekannter, auch das Cummings-Institut ist ihnen kein Begriff. Ältere Geschichtsforscher erinnern sich, daß es einen gleichnamigen orthodox-sowjeti-schen Historiographen gegeben hat, einen Apologeten der Stalinschen Außen- und Kriegspolitik, später aus-gewandert. Ein Gabriel Gorodetzsky aus Tel Aviv nahm

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denn auch 1995 an einer Konferenz altstalinistischer Historiker, wie russische Zeitungen meldeten, in Ruß-land teil.

1997 hatte Osteuropa-Spezialist Carl Gustaf Ströhm festgestellt: »In den sowjetischen Geheimarchiven ist jetzt der Text einer Rede Josef Stalins gefunden worden, der neues Licht auf die Geschichte des Zweiten Weltkrieges wirft. Es handelt sich um eine Ansprache, die Stalin am 19. August 1939 vor dem sowjetischen Politbüro in Moskau gehalten hat und in der er klar zu erkennen gab, daß er einen Pakt mit dem nationalso-zialistischen Deutschland schließen werde, um Hitler zum Angriff auf Polen zu ermuntern und damit einen Krieg auszulösen. Sein Kalkül: Würden die Sowjets auf britische und französische Angebote eingehen – eine Militärmission der West-Alliierten verhandelte bereits in Moskau -, dann würde Hitler Polen nicht angreifen, und der Krieg würde nicht ausbrechen. Der Krieg aber sei notwendig, weil sich der Bolschewismus unter Bedingungen des Friedens nicht nach Westen ausbreiten könne.«

Und zu welchem Ergebnis war in der renommierten Fachzeitschrift Osteuropa 1996 Professor Dr. Wolfgang Kasack, bei seiner Rezension des Suworow-Buches Der Tag M gekommen?

»Ausgehend von der sowjetischen Mobilmachungs-theorie untersucht Suworow die Maßnahmen zu ihrer Umsetzung und bringt in 24 Kapiteln konkrete Zahlen und Daten für die gigantische sowjetische Aufrüstung, die am 19. 8. 1939 in einer bis vor kurzem von allen sowjetischen Politikern und Militärführern geleugneten

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Geheimsitzung des Politbüros eingeleitet wurde. Als Folge der am 1. 9. 1939 eingeführten allgemeinen Wehrpflicht und gleichzeitigen Senkung des Einberu-fungsalters von 21 auf 19 Jahre verfügte Stalin bei einer zweijährigen Dienstpflicht im Sommer 1941 über mehr als fünf Millionen Soldaten, darunter eine Million Fall-schirmspringer; er ließ durch extrem verkürzte Ausbil-dungskurse die Zahl der Flugzeugführer emporschnel-len und sorgte allein über eine einzige Tarnorganisation für 121 000 zusätzliche Piloten; er stellte im Frühjahr 1941 mehr Panzerdivisionen auf, als es jemals in sämt-lichen Staaten der Welt gegeben hatte; er erhöhte die Feldartillerieregimenter von 144 auf 314, ebenfalls mehr als in allen Streitkräften der Welt zusammen.«67

Fest steht: Der Entdecker einer angeblichen Fäl-schung ist selbst ein Fälscher, ein schlechter dazu. So legt er das Datum der Pariser Falsifikation auf den 23. Dezember 1939 fest. Nachgewiesenermaßen be-richtete über den Inhalt der Geheimrede Stalins die französische Nachrichtenagentur Havas bereits im September 1939, kurz nach der Unterzeichnung des Molotow/Ribbentrop-Paktes. Aufgrund der Havas-Veröffentlichung, im gleichen Monat auch in einer schweizerischen Zeitschrift erschienen,68 sah sich Stalin zu einem »Dementi« im Prawda-Interview vom 30. November 1939 gezwungen, also Wochen vor dem ominösen »23. Dezember«. War Stalin ein Hellseher? Wer also hat hier was oder wen gefälscht? Stimmt dem-nach Gorodetskys Zeitrechnung weder mit dem Julianischen noch mit dem Gregorianischen Kalender überein?

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»So kann Stalin gesprochen haben«

Iwanow gehört zu den radikalsten Kritikern des russi-

schen Chefrevisionisten Alexander Suworow. Dennoch zweifelt auch er nicht an der Glaubwürdigkeit der Stalin-Rede vom 19. August 1939. Im tonangebenden intellektuellen Organ der Monarchisten-Bewegung schrieb er:

»Glaubwürdige Informationen über den Auftritt Stalins hat es lange Zeit nicht gegeben, und alle Versuche einer hypothetischen Rekonstruktion bezeichnete man als ›billige antikommunistische Fälschung‹. Nun aber, da uns der Text vorliegt, kann man seine Glaubwürdigkeit nicht abstreiten. Ausgehend von der damaligen internationalen Lage, wie Stalin sie sah, muß man feststellen: Ja, das können seine Worte gewesen sein, so kann Stalin gesprochen haben.«69

Im übrigen ist Iwanow der Meinung, daß nicht im August 1939 die Weichen zum sowjetisch-deutschen Krieg gestellt wurden, sondern im November 1940, als Molotow bei seinem Berlin-Besuch freie Hand für Finnland und den Balkan forderte, was von Hitler nicht hingenommen werden konnte. Iwanow gibt zu, daß sich Stalin seit dem 15. Mai 1941 auf einen »Präventivschlag« gegen Deutschland vorbereitet habe (»falls Hitler als erster angreifen würde«).

Stalin am 19. August 1939: »Gleichzeitig müssen wir eine aktive kommunistische Propaganda führen, und ... hier vorrangig in Frankreich. Wir müssen darauf vorbereitet sein, daß die Partei in diesen Ländern

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während des Kriegs gezwungen sein wird, sich von ihrer legalen Tätigkeit zu verabschieden und in den Untergrund zu gehen. Wir sind uns im klaren darüber, daß diese Arbeit viele Opfer fordern wird, aber unsere französischen Genossen werden keine Bedenken hegen. Zu ihren Aufgaben werden in erster Linie die Zersetzung und Demoralisierung der Armee gehören. Wenn diese vorbereitende Tätigkeit in gebührender Form ausgeführt wird, ist die Sicherheit eines sowje-tischen Deutschland gewährleistet, und das wiederum wird einer Sowjetisierung Frankreichs förderlich sein.«70

Stalin irrte sich nicht – ein weiterer Beweis für die Echtheit seiner 19.-August-Rede. Der Nichtangriffspakt mit Hitler stürzte die französische KP in eine Krise, entfremdete sie der III. Republik, beschleunigte die Demoralisierung von Gesellschaft und Armee.

1922, als die KPD 218 000 Mitglieder zählte, hatte die französische Partei 60 000. Ende 1937 hatte sie die Zahl von 340 000 erreicht. Damit war die KPF die stärkste kommunistische Partei der westlichen Welt. Die Partei war nicht nur an Mitgliederzahl gewachsen, sondern auch an Schlagkraft. Beide Faktoren halfen ihr, den Schock des sowjetisch-deutschen Nichtangriffspaktes zu überstehen und ihrer Offensive gegen die nationalen Kriegsanstrengungen Frankreichs 1939/40 Gewicht zu verleihen. In der patriotisch gesinnten Öffentlichkeit galt sie als Stalins Brigade der »Drückeberger« (embusque). »In einer Fabrik, die die 2,5-Flak herstellte, wurden durch einen Sabotageakt über 200 Rohre zerstört, die normale Ausstattung von vier Divisionen.«71

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Am 27. September 1939, wenige Wochen nach dem Bekanntwerden der Stalin-Rede, verfügte die Pariser Regierung die Auflösung der KPF. L'Humanité wurde verboten; Jugendliche, die kommunistische Flugblätter verteilt hatten, verurteilte man zu Gefängnisstrafen. Zwischen dem 5. und 10. Oktober wurden 35 KP-Abgeordnete verhaftet. Maurice Thorez, der aus der Armee desertiert war, um der Verhaftung zu entgehen, verlor die Staatsbürgerschaft. Zusammen mit den Kommunisten verhaftete die Polizei »verdächtige« Deutsche, darunter Flüchtige aus Hitlers Konzentrati-onslagern. Arthur Koestler, der ebenfalls verhaftet wurde, berichtete, die französischen KZ seien sogar »noch unter dem Niveau derer« gewesen, aus denen er in Deutschland geflohen war.72

Wie Stalin vorausgesehen hatte, trug die Unter-drückung der KPF tatsächlich dazu bei, die Reihen ihrer Parteigänger fester zu schließen. Sozialistenführer Leon Blum meinte, daß nichts der KPF einen größeren Dienst erweise als das Verbot von L'Humanité und der übrigen Parteipresse. Von seinem Asyl in Belgien leitete Thorez die Partei weiter, deren Propaganda-Offensive niemals zuvor wirkungsvoller gewesen war. Kettenbriefe mach-ten in den Bunkern und Schützengräben die Runde, es gab sogar eine Untergrundausgabe der L'Humanité, die speziell für die Armee bestimmt war. In den Front-einheiten machte sich der Kommunismus unter den Mannschaften und bei Unteroffizieren breit, während er für das Offizierskorps und das Deuxième Bureau der »Feind im Innern« blieb.

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Am 1. Oktober 1939 erhielt Edouard Herriot, damals Präsident der Nationalversammlung, einen offenen Brief von verhafteten kommunistischen Funktionären, die als Parlamentsabgeordnete darauf drangen, die Regierung sollte Hitlers Friedensvorschläge ernsthaft prüfen. Damit formulierten sie Stalins August-Anweisungen für die KPF: Untergrabung der Kriegs-moral, Desorientierung und innere Auflösung der französischen Armee. Wenig später wurde ein Manifest von Komintern-Sekretär Dimitroff, das die Beendigung des »Raubkrieges« verlangte, verteilt. Am 9. November 1939 (Waffenstillstandstag) fragten kommunistische Flugblätter: »Wer in Frankreich will für die Wiederherstellung eines Polen unter der Herrschaft von reaktionären Obristen kämpfen?« Auf Flugblättern, die in Rüstungsfabriken auftauchten, las man »Vive Stalin! Vive Hitler!«

Zur gleichen Zeit warfen Görings Flugzeuge Flug-blätter mit Molotows Rede vom 31. Oktober ab, in der sich der sowjetische Außenminister mit den deutschen Friedensvorschlägen identifiziert hatte. Der Todfeind des französischen Proletariats sei die anglo-französi-sche Bourgeoisie, trommelte die Untergrund-KP in ihren Flugblättern: »Fort mit dieser Regierung des Unglücks und der Unterwürfigkeit gegenüber den Bankiers der Londoner City.« Das war Wasser auf die Desorganisazija-Mühlen Stalins. Noch am 1. Mai 1940, als Hitlers Blitz unmittelbar bevorstand, starte-ten die französischen Kommunisten eine Großoffensi-ve gegen den »imperialistischen Krieg« und beschul-digten die Pariser Regierung, Frankreich zu einem

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»englischen Dominion« degradiert zu haben. Stalins August-Saat war aufgegangen.

Ohne Stalins Strategie-Rede vom 19. August 1939 wären alle diese Prozesse nicht eingetreten. Eine Rede indes, die bis heute viele Fragen offenläßt.

»Der Sowjetunion das Rückgrat brechen« Um auf Gorodetsky zurückzukommen: Er verwickelt

sich in Widersprüche über Widersprüche. Eine Polit-büro-Sitzung habe am 19. August 1939 zwar stattge-funden, doch ohne den angeblich gefälschten Vortrag Stalins. Gorodetsky erwähnt ein sogenanntes Sonder-archiv in Moskau, vergißt jedoch zu erläutern, um wel-ches es sich handelt, besaß doch seinerzeit jede Staats- und Parteiinstitution (Zentralkomitee, Politbüro, Geheimdienst, NKWD, Streitkräfte etc.) ein Sonderar-chiv für Geheimakten. Ferner beruft sich dieser Fäl-scher auf den politisch wenig glaubwürdigen Spiona-gering Rote Kapelle; danach soll Hitler schon im September 1939 (!) geplant haben, »die Ukraine zu besetzen«.

Völlig absurd klingt die Erklärung Gorodetskys, die sogenannte Fälschung im Deuxième Bureau hätte der »Rechtfertigung für ein militärisches Eingreifen gegen die Sowjetunion« gedient. Gemeint ist der Fall Finn-land. Das Gegenteil ist wahr. Der militärische Geheim-dienst hatte von Anfang an vor dem »finnischen Aben-teuer« gewarnt, zumal solche Pläne geeignet waren, die UdSSR aktiv an Hitlers Seite in den Krieg zu ziehen, eine

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Torheit, die vom französischen Standpunkt schwerlich zu überbieten gewesen wäre.

Der Hintergrund: Als Stalins Forderungen auf Kon-zessionen zur Sicherung des Landweges nach Leningrad abgelehnt wurden, griff er am 30. November 1939 Finnland an. Im französischen Bürgertum erreichten die Anti-Volksfront-Emotionen einen neuen Höhe-punkt. In den Kirchen betete man für Marschall Man-nerheim, Damen strickten Westen für finnische Solda-ten, in der Oper fanden Festvorstellungen zugunsten der Finnen statt. Als die Finnen der Stalinschen Kriegsmaschinerie Niederlagen bereiteten, beschäftigten sich die Kriegsplaner in Paris und London mit Interventionsplänen. Ein Expeditionskorps, im nor-wegischen Hafen Narvik gelandet, sollte den Finnen durch einen Marsch über Nordschweden zu Hilfe kommen und gleichzeitig Hitler einen tödlichen Schlag versetzen, indem man Deutschland des schwedischen Erzes beraubte.

Am 15. Januar 1940 schrieb Gamelin an Minister-präsident Daladier und schlug ihm die Schaffung einer »skandinavischen Front« vor; dieser gab den Vorschlag an den britischen Premierminister Chamberlain wei-ter. Zuerst begrüßte Chamberlain die Möglichkeit, »zwei Raubvögel mit einem Steinwurf zu töten«. Inzwischen lehnten die norwegische und die schwedi-sche Regierung eine Expedition durch ihr Gebiet jedoch kategorisch ab. Die Briten bekamen kalte Füße. Anfang März war der parlamentarische Druck in Paris aber so stark geworden, daß Daladier, ohne London zu konsultieren, die Finnen informierte, Frankreich sei

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bereit, den Einwand der Norweger und Schweden hin-wegzufegen. Am 11. März sagte er zu Halifax, er werde zurücktreten, wenn England nicht mitmache. Einem Krieg mit der Sowjetunion entging der Ministerpräsi-dent des »drole de querre«, als am 13. März Finnland Frieden mit Moskau schloß.

Am anderen Ende des europäischen Kriegstheaters hatte General Maxime Weygand, Oberbefehlshaber der französischen Orient-Armee, mit Plänen gespielt, die noch irrealer waren als das skandinavische Abenteuer. Weygand wollte die Türkei und Griechenland in den Krieg ziehen, die Salonikifront des Ersten Weltkrieges reaktivieren und mit hundert Balkandivisionen gegen Hitlers »weichen Unterleib« marschieren. Doch weder Türken noch Griechen gingen in die französische Falle. Dann spielte Weygand die finnische Karte aus – Krieg gegen die Sowjetunion, mitten im Krieg mit Deutschland. Weygand schrieb an Gamelin, drängte zur Invasion Finnlands: »Ich halte es für wesentlich, der Sowjetunion in Finnland und anderswo das Rückgrat zu brechen.«

Von diesem Orienttroupier, der am 15. Mai 1940, als Frankreich schon verloren war, zum Oberkomman-dierenden einer sich auflösenden Armee in der Heimat ernannt wurde, stammt die Idee, mit französischen Bombern, die von Damaskus aus starten sollten, Baku und die kaukasischen Ölfelder anzugreifen, die sowohl die Wehrmacht wie die Rote Armee in Karelien mit Benzin belieferten. Dabei muß man bedenken, daß auf Weygands syrischen Stützpunkten nur klapprige Dop-peldecker standen.

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Vor solchen Potemkinschen Plänen warnte eindring-lich das Deuxième Bureau, denn nicht in Karelien und nicht im Kaukasus würde sich das Schicksal Frankreichs entscheiden, sondern in den Ardennen, an der Maas bei Sedan ...

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Überfall oder Gegenangriff?

ir wollen hoffen, daß es Geschichtsforschern ermöglicht wird, alle Dokumente aus dem Archiv

des Zentralkomitees der KPdSU, die sich auf die Zeit zwischen 1939 und 1941 beziehen, komplett einzusehen, und alle Details vom Plan des Überfalls auf Deutschland, den Stalin im Juli 1941 beginnen wollte, zu erfahren«, schreibt einer der führenden Revisionisten Rußlands, Prof. Dr. Boris Sokolow. »Hitlers 22. Juni hatte er nicht erwartet, glaubte er doch an die deutsche Desinformation über eine Landung der Wehrmacht auf der britischen Insel im Sommer 1941, wodurch sich, aus der Sicht Stalins, günstige Bedingungen für einen sowjetischen Einfall in Polen und Deutschland ergeben würden.« Sokolow zählt zu den Autoren des jüngsten Sammelbandes mit zwölf Beiträgen namhafter Zeithistoriker und Publizisten.73

Der strapazierte Begriff »Überfall auf die Sowjetuni-on« impliziert die Vorstellung eines friedliebenden Stalin, dessen Imperium nichtsahnend von Hitler überfallen wurde. Aus russischen Quellen weiß man aber heute, daß Stalin einen Krieg gegen Deutschland geplant hatte. »Der Freundschaftspakt mit Deutsch-land ist abgeschlossen worden, um Deutschland in den

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Krieg hineinzutreiben und von seiner infolgedessen erwarteten Schwächung zu profitieren«, erklärte am 18. September 1941 der führende NKWD-Funktionär Zigunow. »Wenn Deutschland Moskau nicht zuvorge-kommen wäre, hätte die Sowjetunion früher oder später angegriffen.« (Zitiert nach Johannes Schmoll in der WELT vomA. Juli 1996.)

Im von den Deutschen erbeuteten Stabsarchiv von Generalmajor Iwan Karmanow (62. Schützenkorps) befand sich ein Meßtischblatt mit Angriffsmarkierungen Richtung Berlin; die Geländekarte trug den Stempel vom 28. April 194J ...74

Warum Katyn? Kurze Zeit nur nach dem Einmarsch der Roten Armee

in Galizien und Wolhynien (17. September 1939) und dem Erlöschen des letzten militärischen Widerstandes der Polen (6. Oktober) begann Stalin mit den Vorbe-reitungen zum Überfall auf Deutschland. Als erste Maßnahme wurde die Aufstellung von prokommu-nistischen polnischen Einheiten angeordnet. Das Reservoir war ja groß, rund 250 000 polnische Armee-angehörige befanden sich in sowjetischer Gefangen-schaft. Auf das Gros der polnischen Offiziere wollte Stalin allerdings verzichten, aus imperialistischen, ideologischen Gründen. Hier liegt der Schlüssel zum Katyn-Verbrechen.

Diesen ziemlich unbekannten Vorgang rekonstruier-te Boris Sokolow in dem vorher erwähnten Sammel-

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werk. Sokolow, ein promovierter Philosoph und Hi-storiker, hauptamtlicher wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Weltliteratur und Professor an der Akademie für Slawische Kultur, geht dabei von folgen-der Feststellung aus:

»Suworows Hypothese vom geplanten Überfall auf Deutschland am 6. Juli 1941 besitzt heute den Status wissenschaftlicher Wahrheit. Grund hierfür ist die Veröffentlichung von Dokumenten aus dem Archiv des Zentralkomitees der KPdSU über die polnische Anders-Armee in der Zeitschrift Neue und neueste Geschichte, Nr. 2 vom Jahre 1993. Niemand schenkte dieser Veröffentlichung besondere Beachtung, auch ich nicht, bis ich vor einem Jahr wieder nach dem Heft griff und mit nicht geringer Erschütterung las, was in dem Protokoll der Politbürositzung vom 4. Juni 1941 steht. Es handelt sich um einen Auszug des Protokolls, gerichtet an Verteidigungsminister Timoschenko. Punkt 183 bekräftigt den Vorschlag an Timoschenko, im Verband der Roten Armee eine Division aufzustellen, die sich aus Soldaten polnischer Nationalität und Soldaten mit polnischen Sprachkenntnissen zusammensetzt. (Bestimmt zur Aufstellung bis zum 1. Juli 1941 war die in Mittelasien stationierte 238. Schützendivision mit 10 298 Mann.)

Am 2. November 1940, also noch vor dem Berlin-Besuch Molotows, hatte Berija Stalin davon unter-richtet, daß das NKWD polnische Gefangene bezüglich ihrer Kriegsbereitschaft überprüfe. Wozu? »Für den Kampf gegen Deutschland unter Führung der Sowjetunion.« (S. 24) Sokolow konstatiert: »Die For-

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mierung einer polnischen Division bedeutete nicht nur eine flagrante Verletzung der geheimen Vereinbarung mit Hitler, die Wiedereinrichtung eines polnischen Staates nicht zuzulassen, sie mußte Deutschland zu einem Gegenschlag provozieren.«

Der Politbürobeschluß vom 4. Juni 1941 und das Berija-Schreiben an Stalin vom 2. November 1940 be-weisen, so Sokolow, daß Stalin zum Krieg entschlossen war. »Man hat Grund zur Annahme, daß schon zu einer früheren Zeit Pläne zum Überfall auf Polen und Deutschland existiert haben.« Sokolow erinnert an Stalins Überfall auf Finnland am 30. November 1939: Einen Monat zuvor waren zur »Befreiung Finnlands« eine finnische Division und ein finnisches Korps for-miert worden, zwangsaufgefüllt mit Finnen aus Kareli-en und dem Leningrader Gebiet sowie mit Russen, die einigermaßen das Finnische beherrschten.

Stalins Motive für das Katyn-Massaker muß man heute in einem neuen Licht sehen. Auf einer Ver-sammlung sowjetischer Schriftsteller am 10. No-vember 1939 gab Lew Mechlis, Leiter der Politisch-propagandistischen Hauptverwaltung der Roten Armee, unumwunden zu: »Was die polnischen Offiziere in den Konzentrationslagern angeht, so ist an ihre Freilassung nicht zu denken. Sie bekämen sonst Gelegenheit, sich in den Westen abzusetzen, nach Frankreich, um dort die Kader polnischer Legionen zu bilden.« (S. 27)

Den Beschluß zur Erschießung der rund 15 000 pol-nischen Offiziere faßte das Politbüro am 5. März 1940, vollzogen wurde er im April und Mai. »Warum ausge-

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rechnet im Frühjahr 1940«, hinterfragt Sokolow. »Hitler liebte die Polen genauso wenig wie Stalin, trotzdem wurden deutscherseits während des ganzen Krieges gefangene polnische Offiziere nicht erschossen. Stalins Handeln erhält nur dann einen logischen Sinn, wenn man seine Annahme berücksichtigt, die von einer deutschen Westoffensive im Sommer 1940 ausging. Während die Deutschen an der Maginotlinie kämpften, wollte er gegen Polen und Deutschland losschlagen, Berlin erobern, das Reich zerschmettern.« (S. 25) Dazu hätte Stalin eine polnische Armee gebraucht. Nur: Die in den Lagern zusammengepferchten Offiziere der alten Pilsudski-Armee mit ihrer fanatisch anti-kommunistischen Einstellung waren ein Klotz am Bein, also mußte man das Bein abschlagen, rechtzeitig vor Hitlers Westfeldzug. »Die Erschießung der Offiziere mußte spätestens im Frühjahr 1940 stattfinden – nach Beginn der anti-deutschen Offensive wäre es zu spät gewesen.«

Für Stalins Offensivplanung war die Ausgangslage äußerst günstig. Juni 1940 befanden sich in Polen und Ostdeutschland rund 15 Infanteriedivisionen, die meisten nicht vollständig und, so seine Annahme, von geringer Kampffähigkeit. »Stalin dagegen verfüg-te über eine Millionenarmee, die eben erst den Krieg gegen Finnland beendet hatte, außerdem über zig Divisionen in Weißrußland und der Ukraine«, schreibt Sokolow. »Im April und Mai wurde vom Generalstab ein strategischer Aufmarschplan für einen sowjetischen Überraschungsschlag gegen Warschau und Ostpreußen ausgearbeitet, wobei man davon aus-

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ging, daß die Deutschen für ihre Abwehrmaßnahmen zehn bis fünfzehn Tage benötigen würden. Im sowje-tischen Generalstab rechnete man damit, daß Hitler für den Westfeldzug sämtliche Reserven einsetzen würde, ohne eine Entscheidung herbeiführen zu können. Stalin konnte also Mitte oder Ende Juni zu einem vernichtenden Schlag ausholen und jene nur symboli-schen Verteidigungskräfte ausschalten, die Hitler im Osten zurückgelassen hatte, in ihrem Kampfwert mit den finnischen Divisionen nicht zu vergleichen, dazu noch ohne starke Befestigungsgürtel. Nicht zufällig befehligten Anfang Mai kriegserprobte Sowjetgeneräle die Truppen in der Ukraine und Weißrußland, Georgij Schukow und Dmitri Pawlow, während Marschall Timoschenko, der im Finnland-Krieg die Sowjetarmeen kommandiert hatte, Verteidigungskommissar wurde.« (S. 26)

Alle diese Pläne hat Hitler über den Haufen gewor-fen, als er am 10. Mai seine Offensive im Westen star-tete, fährt Sokolow fort. »Innerhalb weniger Tage trieb er die Franzosen auseinander und vertrieb die Briten vom Kontinent. Aus war's mit Stalins Plan, in Polen und Deutschland einzufallen; statt dessen begnügten sich seine Divisionen mit der Besetzung des Balti-kums, Bessarabiens und der Nordbukowina. ›Wer konnte schon voraussehen, daß die Deutschen nur etwas mehr als zwei Wochen benötigen würden, um das Gros der französischen Streitkräfte zu vernichten‹, sollen, nach Aussage des Augenzeugen L. Sandalow, die sowjetischen Militärexperten damals, sichtlich geschockt, erklärt haben. Und man beschloß, daraus

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Lehren zu ziehen und einen neuen Offensivplan sorgfältiger in Angriff zu nehmen.« Als Fehler hätte sich erwiesen, nicht auch rumänische, tschechoslowa-kische, ungarische Einheiten parallel zur polnischen Division aufzustellen – »und sogar eine deutsche Division, wollte man doch auch Deutschland ›befrei-en‹«.

Es verging ein knappes Jahr, bis Stalin mit einem neuen Plan zum Überfall auf Deutschland heraus-rückte. Die politische Ouvertüre bildete seine Rede vom 5. Mai 1941. Stalin sprach vor Absolventen der Kriegsakademien. Nach der Ansprache forderte ein Panzergeneral die Anwesenden auf, das Glas auf die »friedliche Außenpolitik Stalins« zu erheben. Stalin berichtigte ihn. Notwendig sei es gegenwärtig, von der Verteidigungsdoktrin zu einer, so wörtlich, »Kriegspo-litik der offensiven Handlungen« überzugehen und die Rotarmisten durch Propaganda und Agitation in einem »Angriffsgeist« zu erziehen. Für die propagandistische Umschaltung auf Krieg gebrauchte Stalin den Begriff »Perestroika« ...

Damit waren die Weichen gestellt. Stalins Worte gal-ten als Befehl. Die Perestroika-Maschinerie begann auf Hochtouren zu laufen. Die erste Direktive, bestimmt für Politkommissare, jüngere Kommandeure und In-spektoren, lag bereits am 14. Mai vor: »Über die Auf-gaben der politischen Propaganda in der Roten Armee für die nächste Zeit.« Ausgearbeitet wurden die Kriegsvorbereitungsdirektiven vom Hauptkriegsrat (GWS), der Verwaltung für Propaganda und Agitation im Zentralkomitee (UPA), der Hauptverwaltung Poli-

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tische Propaganda der Roten Armee (GUPPKA). Zum engeren Kreis der Befehlsgeber und Autoren gehörten die »eisernen« Ideologie-Mitarbeiter Stalins – Schda-now, Malenkow, Schtscherbakow, Alexandrow, Sa-poroschez, Mitglieder des Politbüros bzw. Kandidaten für das Politbüro. Eine Sitzung folgte der anderen.

»Als erste losschlagen ...« Besondere Bedeutung kam der im Juli 1940 gegründe-

ten 7. GUPPKA-Abteilung zu, verantwortlich für die Propaganda in Bevölkerung und Armee des Feindes, und der hieß Germanija. Am 15. Mai 1941 bestand dieser Apparat aus 104 Spezialisten, von denen jedoch nur 17 die deutsche Sprache kannten, davon vier »choroscho« (gut). Ein Spezialdossier »Deutschland und die Wehrmacht« (»politisch-moralischer Zustand der deutschen Armee«) war Ende Mai fertig; verkürzt auf 35 Schreibmaschinenseiten, ging der Bericht am 9. Juni in Druck, bestimmt zunächst für alle höheren Truppenführer einschließlich der stellvertretenden Divisionskommandeure, später dann auch für die Armee-Presse. Vorangestellt wurde dieser Direktive ein Satz:

»Alle Formen der Propaganda, Agitation, Erziehung dienen einem Ziel – Führung eines gerechten, offensi-ven, zermalmenden Krieges.«

Insbesondere ging es darum, die Gründe für die militärischen Erfolge Deutschlands und die Niederlage Frankreichs aus marxistisch-leninistischer Sicht zu

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erläutern und die in der Roten Armee weit verbreitete Meinung, die deutsche Armee sei »unbesiegbar«, aus-zumerzen. Stalins Ausspruch vom »Übergang zu einer Kriegspolitik der offensiven Handlungen« wurde wörtlich verstanden, buchstabengetreu in die Tat um-gesetzt.

Das war wiederum so neu nicht. Auf einer Schrift-stellertagung am 25. Juni 1940 hatte der Chefredakteur des Armee-Zentralorgans Krassnaja Swesda (Roter Stern), E. Boltin, die Doktrin des Erstschlages, das heißt das Prinzip des Angriffskrieges, so verteidigt:

»Wir müssen bereit sein, als erste loszuschlagen, und nicht abzuwarten, bis man uns einen Schlag versetzt... Unsere Menschen müssen in dem Bewußtsein erzogen werden, daß die Rote Armee ein Instrument des Krieges ist, nicht aber ein Instrument des Friedens. Unseren Menschen muß eingehämmert werden, daß der kommende Krieg mit einem beliebigen kapitalistischen Staat ein gerechter Krieg sein wird, unabhängig davon, wer den Krieg beginnt.«

Am 20. November 1940 erklärte in Leningrad Andrej Schdanow, laut Stalin der erste »nadsiratelj« (Aufpasser) in Sachen Ideologie, die territoriale Ausweitung der UdSSR durch Krieg zum A und O sowjetischer Offensivstrategie:

»Die Politik eines sozialistischen Staates besteht darin, seine Vergrößerung anzustreben, die Position des Sozialismus zu verbreitern, überall, wenn die Umstände dazu günstig sind ... Wir sind erstarkt. Die Kriege mit Polen und Finnland waren nicht Vertei-digungskriege. Beschritten haben wir den Weg einer

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angreifenden Politik. Das Volk muß im Geist eines kriegerischen Angriffs erzogen werden.«

Schlüsselsätze, die Stalin am 9. September 1940 auf einer ZK-Sitzung, im Rückblick auf die Einverleibung des Baltikums, Galiziens und Bessarabiens, so aus-drückte: »Vom Standpunkt des Kampfes zwischen dem Sozialismus und dem Kapitalismus ist sie [die Einverleibung] ein gewaltiges Plus, weil wir damit die Front des Sozialismus erweitern und die Front des Kapitalismus eindrücken.«

Der Historiker Wladimir Neweschin, wissenschaftli-cher Mitarbeiter des Instituts für Russische Geschichte, der diesen Komplex in seinem Beitrag Der Auftritt Stalins am 5. Mai 1941 und der Wechsel in der Propa-ganda behandelte, analysierte die auf Krieg und Aggression ausgerichteten Direktiven für die Rote Armee. Der Vorrang der militärischen vor der politi-schen Ratio sei eindeutig; im Kriegsdenken, in der Expansions- und Unterwerfungsstrategie enthülle sich Stalins neuer Kurs:

»Die Direktive ›Über die Aufgaben der politischen Propaganda der Roten Armee für die nächste Zeit‹ zielte auch auf die Ausmerzung pazifistischer Stimmungen unter Rotarmisten und sogar Kommandeuren, da sie die Vorbereitungen für einen Angriffskrieg behinderten«, urteilt Neweschin.

Der immer wiederkehrende Begriff »Feind« (»wrag«) sei keineswegs abstrakt gewesen; sowohl in der Stalin-Rede vom 5. Mai 1941 wie in den nachfolgenden Prop-Direktiven tauchte dieser Begriff in Verbindung mit Deutschland auf (»Germanija«):

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»In seiner Rede vom 5. Mai 1941 charakterisierte Sta-lin die Wehrmacht als potentiellen Feind der Roten Armee, versuchte jedoch gleichzeitig, die militärischen Fähigkeiten der Wehrmacht herabzuwürdigen, indem er behauptete, die deutsche Armee hätte ihren Elan verloren, statt dessen würden sich ›Prahlerei, Selbstge-fälligkeit, Überheblichkeit‹ breitmachen. Und obwohl Stalin auch von Mängeln und Fehlern hinsichtlich der Kaderausbildung in der Roten Armee sprach, lag der Hauptakzent in den Prop-Direktiven von Mai/Juni 1941 auf der Kritik an der Wehrmacht. Mit besonderer Offenheit bezüglich der Unausweichlichkeit eines Krieges der UdSSR speziell mit Deutschland einen Angriffskrieg zu führen, war im Bericht ›Die aktuelle internationale Lage und die Außenpolitik der UdSSR‹ die Rede« (S. 160).

Dieses Grundsatzpapier, bestellt von der 7. Abteilung GUPPKA als Argumentationsbasis für weitere Kriegs-vorbereitungen, beantwortet die Frage, wer nun 1941 der Primäraggressor war, eindeutig. Bis heute haben westliche Geschichtsforscher von diesem Dokument keine Kenntnis nehmen können. Die Schwerpunkte des GUPPKA-Papiers:75 • Entlarvung des in Teilen der Roten Armee grassie-renden Mythos von der unschlagbaren Wehrmacht, wörtlich: »Unter Rotarmisten, Kommandeuren und Politarbeitern besteht die unrichtige Vorstellung von einer angeblich unbesiegbaren deutschen Armee. Der Wehrmacht muß der Nimbus der Unbesiegbarkeit genommen werden.«

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• Der Nichtangriffspakt war keine sowjetische Nie-derlage, er verbesserte die Chancen für einen Krieg gegen Deutschland. Der Krieg mit dem Hauptfeind wurde durch den Pakt nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben. • Die Erfolge der Wehrmacht im Westen sind darauf zurückzuführen, daß die Deutschen es mit einem Geg-ner zu tun hatten, der ihnen technisch, taktisch und zahlenmäßig unterlegen war. • Die Rote Armee ist der Wehrmacht in jeder Hinsicht haushoch überlegen, in der Zahl der Truppenverbände, in der Kampfbereitschaft, der waffentechnischen, taktischen und strategischen Ausbildung. Beim bevor-stehenden Krieg wird es die Wehrmacht mit einem Feind zu tun haben, den sie bisher nicht gekannt hat. Wörtlich: »Dieser Krieg steht vor der Tür.« Und unter Berufung auf ein Lenin-Zitat vom 26. November 1920: »Woraus folgt, daß nun der Moment gekommen ist, den ganzen Kapitalismus zu zerschlagen und ihn an der Gurgel zu packen.« • Das offenkundige Bekenntnis zu einem militärischen Überfall auf Deutschland ging dem Leiter der Verwaltung Propaganda und Agitation beim Zentral-komitee zu weit, aus geheimdienstlichen wie psycho-logischen Gründen. Georgij Alexandrow versah den Textentwurf an dieser Stelle mit der handschriftlichen Notiz: »Solch eine Formulierung darf nicht gedruckt werden, sie würde bedeuten, daß wir dem Feind unsere

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Karten frühzeitig aufdecken« (Im Buch erscheint der Alexandrow-Satz in Fettdruck). • Die Kriege im Westen lehren, daß eine reine Vertei-digungsstrategie gegen eine supermotorisierte Truppe zur Niederlage verurteilt ist. Wörtlich: »Gegen Deutschland muß eine von mächtiger Kriegstechnik unterstützte Angriffsstrategie angewandt werden.« G. Alexandrow bemerkte dazu: »Woina s Germanijej«. Krieg mit Deutschland. Die deutsche Armee habe ihren Kampf-Elan – oder Schneid – eingebüßt, meinte Stalin am 5. Mai 1941 (acht Wochen vor dem deutschen Panzerraid zur Düna und Beresina). Ihre bisherigen Erfolge verdankten die Deutschen allein dem Umstand, daß ihre Gegner Söld-ner des Kapitalismus, nicht Soldaten des Sozialismus gewesen seien, argumentierte die ZK-Hauptverwal-tung Propaganda/Agitation (acht Wochen vor der massenhaften Kapitulation sozialistischer Soldaten im Minsker Kessel). Der Wehrmacht vom Frühjahr 1941, die gerade in Blitzfeldzügen Jugoslawien, Griechenland und Kreta erobert hatte, »Prahlerei, Selbstgefälligkeit, Überheblichkeit« (O-Ton Stalin »chwastowst-wo, samodowoljstwa, sasnajstwa«) zu bescheinigen, zeugt entweder von totalem Realitätsverlust oder von gigantischer Desinformazija.

Wirklichkeitsleugnung oder Lüge? Die Wahrheit indes ist eine andere. Sie heißt Furcht. Furcht davor, daß der Rotarmist die sieggewohnte Armee des Haupt-feindes tatsächlich als eine »unbesiegbare« (»njepobe-

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dimaja«) einstuft und daher einen Kampf gegen Deutschland von vornherein für verloren hält. Ein Nimbus der Unbesiegbarkeit, an den, wie GUPPKA offen zugibt, auch Offiziere, Truppenkommandeure und sogar Politfunktionäre glauben. Dieses Phänomen jedoch ist nicht militärisch zu erklären, sondern nur psychologisch und moralisch. Also ein Politikum. Warum glaubten Rotarmisten des Jahres 1941 an die Unbesiegbarkeit der Wehrmacht, wollten sie gar, so aberwitzig die Frage klingen mag, von den Deutschen besiegt werden, und wenn ja, warum eigentlich?

Es ist das Manko dieses verdienstvollen, bahnbre-chenden russischen Revisionismuswerkes, daß kein einziger Beitrag dem innenpolitischen Zustand der Sowjetunion am Vorabend des sowjetisch-deutschen Krieges gewidmet ist. Keine Analyse der Sowjetgesell-schaft, kein Kollektivpsychogramm der Menschen in Stalins Staat, keine Untersuchung der vorangegangenen Blutbäder, mit denen der Bolschewismus das russische Volk und die sowjetischen Kolonialvölker nach 1917 überzogen hatte. Nicht einmal der Versuch einer Beantwortung der Frage, warum in den ersten Monaten weißrussische, ukrainische, litauische, lettische Bäuerinnen die faschistischen Invasoren mit Salz und Brot und Christuskreuz begrüßt hatten. Warum?

Der vierjährige Bürgerkrieg nach einem dreijährigen Weltkrieg, der von Lenin und Sinowjew proklamierte Rote Terror von 1918, die Massaker, die Hungersnöte, die von Stalin befohlene Ausrottung ganzer Völker-schaften und sozialer Gruppen, die Unterdrückung von Kirche und Glauben – welches Volk wäre da noch

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willens gewesen, für den institutionalisierten Wahnsinn das eigene Leben zu opfern?

Das russische Volk nicht, die Nichtrussen sowieso nicht. Mußte da nicht jeder Eroberer als Befreier erscheinen? Im Frühjahr 1941 war der GULag-Staat reif für eine antibolschewistische Völkerrevolution. Ein Krieg bedeutete die günstigste, historisch einmalige Gelegenheit, die Ketten zu sprengen. Mochten die Politkommissare noch soviel von den Mängeln, Bruchstellen des äußeren Feindes reden, der einfache Mann wollte es einfach nicht glauben, daß die Armee des potentiellen Befreiers seinen militärischen Kampf-geist verloren habe. (Welcher russische Bauer, welcher russische Proletarier kannte am 22. Juni 1941 Hitlers Kolonialismuspläne? Die stehen leider auf einem anderen Blatt der Geschichte des deutsch-russischen Krieges.)

Diesen politisch-psychologischen Zustand der UdSSR-Bevölkerung im Jahre 1941 erwähnen die Au-toren des Buches mit keinem einzigen Wort, nicht im Ansatz eine Bestandsaufnahme, von einem innenpoli-tischen Situationsbefund ganz zu schweigen. Ähnlich wie die sowjetnostalgischen Konterrevisionisten definieren auch sie die Niederlagen der Roten Armee im Schicksalsjahr 1941 rein militärisch. Der Clausewitz des russischen Revisionismus hat sich noch nicht zu Wort gemeldet.

Ob aus Realitätsblindheit, bewußter Täuschung oder aus Angst, man fuhr fort, den Rotarmisten ein Wehr-machts-Bild einzutrichtern, das mit der Wirklichkeit nichts gemein hatte. Nicht nur, daß die Wehrmacht als

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mittelmäßig, eitel, arrogant karikiert wurde, man behauptete allen Ernstes, 50 Prozent der deutschen Soldaten wären potentielle prokommunistische De-serteure, die Truppendisziplin wäre zum Teufel gegangen, vom Kampfgeist keine Spur mehr, »amora-lische Erscheinungen« unter Mannschaften und im Offizierskorps hätten Massencharakter angenommen. So in den Lageberichten, Direktiven, Denkschriften, Presseartikeln der 7. Abteilung, die damals von einem gewissen Bernikow geleitet wurde. Selbst nach Ausbruch des Krieges, am 2. Juli, als bereits rund 300 000 Rotarmisten zu den »Gitlerowzis« übergelaufen waren, hießen die GUPPKA-Themen, bestimmt zur sieghaften Aufklärung flüchtender Soldaten: »Terrorregime in der deutschen Armee«, »Revolutionäre Stimmung in der Wehrmacht«.

Die antigermanische Propaganda steigerte sich im Mai und Juni zu noch nie dagewesenen Salti. Nicht nur antifaschistisch – antideutsch! Neweschin: »Die Artikel in der sowjetischen Presse waren an eine konkrete Adresse gerichtet – Berlin.« Antideutsche Filme wie Professor Mamlock (nach Friedrich Wolf) und Familie Oppenheim (nach Lion Feuchtwanger) überfluteten die Kinos. Stalin gestattete den Druck des dritten Teils von Ehrenburgs Der Fall von Paris.

Alle Direktiven der propagandistisch-pädagogischen Kriegsvorbereitung im Mai und Juni 1941 hätten einen Begriff ausgeklammert: «Oborona« (»Verteidigung«), resümiert Neweschin. »Im Gegenteil, sämtliche Direk-tiven legten den Hauptakzent auf ›napadenije‹ (›Über-fall‹), mit der Begründung, daß die UdSSR verpflichtet

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sei, die Initiative an sich zu reißen und den Erstschlag zu führen, einen Angriffskrieg zu eröffnen mit dem Ziel, die Grenzen des Sozialismus nach Westen auszuweiten. (...) Unterstrichen wurde in allen Direktiven, daß die Rote Armee kein Instrument des Friedens, sondern des Krieges ist, folglich alle pazifistischem Tendenzen innerhalb der Truppe schärfstens zu verurteilen sind«. (S. 167)

Die Katastrophe von 1941 In einem dreispaltigen Leserbrief in der Leipziger

Volkszeitung vom 22/23. Juni 1996 verteidigte Militär-historiker Dr. Dieter Kürschner noch die KPdSU-These, wonach Stalin die Deutschen niemals zu einem Krieg provoziert hätte, da es sich beim offensiven Auf-marschplan der Roten Armee vom 15. Mai 1941 nur um ein »Planspiel« gehandelt habe, quasi eine »Pflichtaufgabe« des Generalstabs. Daß es sich um einen Aggressionsplan, einen Überfall handelte, wiesen anhand bisher geheimer Archivdokumente Oberst Boris Petrow und Oberst Valerij Danilow in dem erwähnten Sammelband nach:

»Über ›Barbarossa‹ wissen wir viel, doch bedauer-licherweise wenig über die sowjetischen Kriegsvor-bereitungen im Jahre 1941«, konstatiert Petrow, wis-senschaftlicher Mitarbeiter am Kriegshistorischen Institut des Verteidigungsministeriums der Russi-schen Föderation. »Lange Zeit erklärte man die Nie-derlagen der Roten Armee in der Anfangsphase des

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Kriegs mit den Überraschungsschlägen des Aggressors, der hinsichtlich der Kriegstechnik und Kampferfahrung der Roten Armee überlegen gewesen sei. Doch die wahren Gründe sind andere.«

Lange vor dem Nichtangriffspakt und auch danach wurden vom Generalstab militärische Offensivpläne mit Überfallcharakter ausgearbeitet, diskutiert, Stalin vorgelegt. Kriegsvarianten unter dem Stichwort Grundlagen der strategischen Entfaltung der Roten Armee, so im März 1938, am 13. November 1938, Mitte 1940. Die am 18. September 1940 Stalin und Molotow unterbreitete Variante, unterschrieben von Marschall Wassilewskij, dem damaligen stellvertretenden Chef der Operativ-Abteilung im Generalstab, ging bereits ins Detail: Offensivschläge der Panzertruppen von Brest-Litowsk aus in südlicher Richtung (Lublin, Krakau, Breslau) und nach Norden (Ostpreußen). Von Stalin eingesehen und gebilligt zwei Monate vor dem Berlin-Besuch Molotows. Das Ziel bestand a) in der Vernichtung (»poraschenije«) der Hauptkräfte der deutschen Armee in Polen und Ostdeutschland, b) in der Abschnürung Deutschlands von den Balkanländern. (S. 67)

Im Mittelpunkt der Petrowschen Analyse steht der Aggressionsplan vom 15. Mai 1941, im sowjetischen Klartext: Erwägungen für den strategischen Aufmarsch-plan der Streitkräfte der Sowjetunion bei einem Krieg mit Deutschland und seinen Verbündeten., unterzeichnet von Verteidigungsminister Timoschenko und Ge-neralstabschef Schukow. Stalin billigte diesen Plan. Der Historiker Petrow entdeckte die Unterlagen im

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Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums der Rus-sischen Föderation. Aus den Dokumenten gehe ein-deutig hervor, schreibt Petrow, daß die »Sowjetführung eine Angriffsfront formierte« (»nastupatel-naja gruppirowka«). Der Hauptstoß sollte aus dem Raum Kiew-Lemberg erfolgen, mit sechs Mechanisierten Korps, denen rund 4200 Panzer – darunter 761 supermoderne T 34 und überschwere Klementij Wo-roschilow (KW) – zur Verfügung standen. An der Mit-telfront bei Bialystok und Minsk wurden ebenfalls sechs Panzerkorps zusammengezogen.

Der Direktive vom 15. Mai folgte die Verwirklichung, unter anderem in der Sofortmobilisierung von 800 000 Reservisten und in der Westverschiebung von 28 Schützendivisionen und zehn Armeen, darunter die Elite-Armeen 13, 16, 19, 21, 22. (S. 69) Stalin war zum Erst- bzw. Überraschungsschlag entschlossen. Bis zum 24. Juni (!) sollten die sowjetischen Panzerverbände Kaunas (Kowno), Grodno, Suwalki, Lublin erobert haben. Womit man nicht gerechnet hatte: mit dem rasanten Vormarsch der deutschen Panzergruppen 2 (Guderian), 3 (Hoth) und 4 (Hoepner). Sie stießen »wie ein Messer«, so Petrow, in die Aufmarschvorbereitungen der sowjetischen Panzerverbände, sie verwandelten Stalins Angriffspläne in Makulatur:

»Den Deutschen gelang der Durchbruch mit Panzer-gruppierungen und ihrer Massierung an den entschei-denden Vormarschlinien. Aber warum versagten wir mit unserer Überzahl an Mechanisierten Korps gegenüber dem Feind, der höchstens 4300 Panzer in die Schlacht werfen konnte, während wir an den drei

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westlichen Heeresgruppenfronten über 8000 Panzer hatten, darunter 1200 KW und T 34 ... Die Folge davon war, daß die Deutschen Ende Oktober vor Moskau standen.«

Petrow findet für die »Katastrophe von 1941« nur eine Erklärung: Stalins Panzer waren auf Angriff, Vor-marsch programmiert, nicht auf Verteidigung. Stalin plante den Überfall, mit einem deutschen Gegenangriff rechnete er nicht. (S. 74)

Diese Ansicht vertritt auch Oberst i. R. Valerij Dani-low, promovierter Historiker. Die Kernthese Viktor Suworows, wonach Stalin einen Schlag gegen Deutsch-land (»upreschdajuschij udar po Germaniji«) praktisch vorbereiten ließ, sei nicht nur glaubhaft, sondern jetzt auch dokumentarisch nachgewiesen, »nachdem man im Frühjahr 1992 die entsprechenden Archivunterlagen erforscht hat«. (S. 83) Danilow spricht von sechs »Grundlagendokumenten«, die seine und Suworows These bestätigen. Das Hauptdokument vom 15. Mai 1941, adressiert an Stalin, 15 Seiten Maschinenschrift, trägt in der rechten Ecke den Vermerk: »Absolut geheim. Besonders wichtig. Nur persönlich. Nur in einem Exemplar.«

An der Ausarbeitung des Aufmarsch- bzw. Angriffs-planes war Generalleutnant Nikolaj Watutin maß-geblich beteiligt, damals der Erste Stellvertreter von Generalstabschef Schukow. Watutin vermerkte seine Berichtigungen und Ergänzungen mit dem Bleistift, als verantwortlich zeichneten Schukow und Timo-schenko.

Eine Urform des Planes (der Kürze wegen im folgen-

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den als Erwägungen bezeichnet) entstand bereits am 11. März 1941. Eine endgültige Fassung, die Stalins Rede vom 5. Mai berücksichtigte, wurde zwischen dem 7. und 15. Mai 1941 fixiert. Es bestehe kein Zweifel daran, versichert Danilow, daß die Initiative zur Ausarbeitung des »faktischen Kriegsplanes« (»plana woini«) von Stalin ausgegangen sei, wobei sich der Historiker auf eine Aussage Schukows beruft: Die Vorstellung, jemand aus dem Generalstab könnte aus eigenem Entschluß etwas gegen die Absichten Stalins unternommen haben, sei einfach absurd – er hätte den Kreml nicht lebend verlassen beziehungsweise »seinen Kaffee bei Berija trinken müssen«.

Über die näheren Umstände der Billigung des Angriffsplanes durch Stalin am 15. Mai 1941 vermerkt Danilow: »Im Archiv des Politbüros des ZK der KPdSU befindet sich der Text eines Interviews mit Marschall Wassilewskij vom 20. August 1965. Darin bestätigt Wassilewskij, daß er den Plan persönlich in den Kreml geschafft hat, wo er ihn Schukow übergab. Dieser und Timoschenko trugen ihn Stalin vor. Stalin war damit einverstanden, gab sein Plazet ›dobro‹ (›gut‹), worauf Schukow und Timoschenko den nächsten Schritt in Angriff nahmen – maßstabsgerechte Vorbereitung des Schlages gegen Deutschland«. (S. 85)

Von den angelaufenen Vorbereitungen wurden am 24. Mai 1941 in einer Besprechung bei Stalin die höch-sten Militärs detailliert in Kenntnis gesetzt. Anwesend waren neben Schukow, Timoschenko, Watutin, Molo-tow die Heeresgruppenführer der Hauptkampfab-schnitte; die Generäle Pawlow (Westfront), Kusnezow

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(Baltikum), Popow (Leningrad), Tscherewitschenko (Odessa), Kirponos (Kiew). Ein Angriffs-Credo resul-tiert für den Historiker Danilow aus den einleitenden Sätzen der Erwägungen: »Davon ausgehend, daß die deutsche Armee gegenwärtig in der Lage wäre, unseren Aufmarschplan zu stören, ist es dringend notwendig, den Deutschen die Initiative zu entreißen, den Feind zu überraschen, solange er sich noch im Aufmarsch-stadium befindet...« (S. 86)

Was konnte, nach Auswertung durch den sowje-tischen Generalstab, Deutschland, das sich ja immer noch im Krieg mit England befand, an eigenen Truppen im Osten aufbieten? Von 284 Divisionen maximal 120, darunter 19 Panzer- und 15 motorisierte Infante-riedivisionen (»die Masse ihrer Streitkräfte hielten die Deutschen im Zentrum ihres Landes konzentriert, verstreut ferner über Frankreich, Norwegen, Afrika, Griechenland, Italien«). Und die zum Angriff ent-schlossene sowjetische Seite? 303 Divisionen, darunter 198 Schützen-, 61 Panzer-, 31 mechanisierte und 13 Kavalleriedivisionen. Der Hauptschlag sollte an der Südwestfront erfolgen, mit Truppen aus dem Sonderwehrbezirk Kiew: 58 Divisionen. Im einzelnen: 32 Schützen-, 16 Panzer-, 8 mechanisierte, 2 Kavalle-riedivisionen, außerdem 5 Antitankbrigaden und ein Fallschirmjägerkorps. Als Verstärkung aus der zweiten Linie waren 45 Schützendivisionen vorgesehen.

Am 14. Juni (!) notiert Watutin in der endgültigen Ausarbeitung der Generalstabsanweisungen: »Die Rote Armee beginnt ihre Angriffshandlungen mit 152 Divisionen gegen 100 deutsche Divisionen«. (S. 86)

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Danilow zitiert aus den Befehlen des Generalstabs: »A. Der Hauptangriff erfolgt mit den Kräften der

Südwestfront Richtung Krakau, Kattowitz, wodurch Deutschland von seinen Verbündeten abgeschnitten wird.

B. Einen Unterstützungsschlag unternimmt der linke Flügel der Westfront vorwärts Sedlec und Demblin, Einkesselung und Eroberung von Warschau, Vernich-tung der deutschen Heeresgruppe, Vereinigung mit den Vormarschkeilen der Südwestfront und Zertrümmerung der Feindkräfte im Lubliner Kessel.

C. Offensive Verteidigung gegenüber Finnland, Ost-preußen, Ungarn, Rumänien, Bereitstellung zur Inva-sion Rumäniens.«

In seiner Untersuchung verwendet Danilow zwei immer wiederkehrende Operationsbegriffe des Gene-ralstabs, die Topoi »wnjesapnrj udar« (»Überra-schungsschlag«) und »upreschdajuschtschij udar« (»Präventivschlag«) – eine kaum verhüllende Um-schreibung von Aggressionsschlag. Warum Stalins Generalstab ausgerechnet die Südwest-Variante ge-wählt habe, fragt Danilow. Seine einleuchtende Er-klärung:

»Erstens, um Deutschland von seinen Verbündeten abzuschneiden; zweitens, um Deutschland von seinen militärwirtschaftlichen Balkan-Basen zu trennen, ins-besondere vom rumänischen Öl; drittens, um die Wehrmacht daran zu hindern, die für die UdSSR wich-tigste industriell-agrarische Rohstoffregion in Besitz zu nehmen, die Ukraine«. (S. 87)

Das alles geschah im Einklang mit Stalins Kriegsplä-

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nen, mit seiner Zustimmung und im Vollzug seines Befehls, Deutschland anzugreifen. Danilow beruft sich auf die Erinnerungen von W. Wischnewskij, der als Teilnehmer der Absolventen-Feier am 5. Mai 1941 in seinem Tagebuch unter dem 13. Mai Stalins Auftritt wie folgt festhält:

»Eine Rede von grandioser Bedeutung ... Endlich beginnen wir mit dem ideologischen und praktischen Vormarsch. Noch habe ich meine Notizen nicht sortiert, aber in klarer Erinnerung bleibt die Prognose Stalins, daß wir den Kampf mit Deutschland beginnen. Führen werden wir einen gewaltigen Krieg mit dem Faschismus, gegen den gefährlichsten militärischen Nachbarn, im Namen der Revolutionierung Europas und natürlich auch Asiens. Vor uns unser Marsch nach Westen, vor uns die Möglichkeiten, von denen wir schon lange geträumt haben«. (S.91)

Nein, die von Stalin am 15. Mai 1941 abgesegneten Erwägungen für den strategischen Aufmarschplan der Streitkräfte der Sowjetunion waren keine »Plan-spiele«, wie es der Militärhistoriker Dieter Kürschner (Leipzig) zu verniedlichen versucht »Bei einem auf-merksamen Studium der ›Erwägungen‹ gelangt man zu dem Schluß, daß es sich bei ihnen um ein Do-kument zur Handlungsanweisung handelte«, so der Historiker Danilow. Um einen erfolgversprechenden »Überraschungsschlag« zu führen, mußte eine Reihe von konkreten militärischen Vorbereitungsmaßnah-men durchgeführt werden, deren Erfüllung tatsächlich auch geschah:

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• Geheime Mobilisierung aller Truppenverbände, die sich in Lehr- und Übungslagern befanden, Ende Mai 1941 rund 800 000 Rotarmisten. • Konzentration der aus den Lehr- und Übungslagern Entlassenen entlang der sowjetischen Westgrenze, was auch alle Reserve-Armeen betraf. • Mitte Mai erfolgte die Verlegung von vier Armeen aus Innerrußland an Duna und Dnjepr. • Die Dislozierung der Angriffstruppen an der West-grenze, in einem Streifen 20 bis 80 Kilometer hinter den Grenzbefestigungen, sollte zwischen dem 1. und 10. Juni abgeschlossen sein. (Danilow beruft sich auf entsprechende Generalstabsdirektiven für alle westlichen Grenzbezirke; ihre Realisierung meldete am 11. Juni 1941 General Wassilewskij.) • Geheime Verlegung der Luftwaffe auf Feldflugplätze in Grenznähe. Mitte Juni treffen die ersten Fernost-Luftwaffendivisionen ein. • Am 27. Mai befiehlt der Generalstab den Bau von kriegsmäßigen Feldkommandobunkern. • Zwischen den 21. und 25. Juni sollen sämtliche Frontstäbe die grenznahen Befehlsbunker beziehen. • Am 19. Juni die Anweisung, Flugplätze, Panzeran-sammlungen, Truppenkonzentrationen und alle Mi-litärobjekte zu tarnen.

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• Schon am 15. Mai hat die Agitprop-Hauptverwaltung der Roten Armee in einer Direktive festgestellt, daß jeder Krieg, den die UdSSR führen muß, ein »gerechter Krieg« ist, auch ein Angriffskrieg, getreu der Losung Lenins, daß die Rote Armee, sobald sie stark genug geworden ist, den Kapitalismus an der Gurgel packt und ihn ersticken wird.

Das Resümee Danilows: »Es ging also nicht nur um die Abwehr einer ausländischen Aggression, sondern um die Verwirklichung weitgesteckter kommunistischer Ziele einschließlich der Weltrevolution.« Dies sei der ideologische Hintergrund für die Aggressionspläne der Sowjetführung am Vorabend des Krieges von 1941 gewesen. (S. 88)

Daß Stalin mit dem Aufmarsch seiner Armeen im Juni 1941 nicht Verteidigung im Sinne hatte, vielmehr Überfall und Vormarsch, wird durch die »Tragödie des 22. Juni« vollauf bestätigt, so lautet die Schlußfolgerung in der Analyse Danilows. Er konstatiert eine »von Grund auf fehlerhafte Konzeption«. Aus ideologischen Motiven habe man sich für einen »Krieg mit dem Kapitalismus«, das heißt mit Deutschland, entschieden, die Aspekte einer möglichen Verteidigung völlig vernachlässigt, ja gar nicht in Erwägung gezogen. »Die Sache ist die, daß Stalin einfach nicht glauben wollte, daß Hitler die Initiative ergreifen und ihm zuvorkommen könnte.« In Wirklichkeit sei die Rote Armee am 22. Juni noch nicht zum Losschlagen fähig gewesen, doch ebensowenig zu einer Verteidigung. (S. 90)

Ende Oktober schien für Moskau die Stunde gekom-

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men zu sein. Im Norden war es der thüringisch-hessi-schen 1. Panzerdivision gelungen, bei Kalinin (heute wieder Twer) die Wolga nach Osten zu überschreiten. Beiderseits der Autobahn nach Moskau stieß die 10. Panzerdivision über die Moskwa; die Badener und Württemberger wollten die ersten auf dem Roten Platz sein. Nicht Stalins Soldaten, sondern der Schlamm, die »rasputiza«, brachte sie – 70 Kilometer vor dem Kreml – zum Stehen. 70 Kilometer, so weit wie von Nürnberg bis Bamberg! »General Schlamm«, nicht Generalissimus Stalin, stellte ein unüberwindliches Hindernis dar. Auch dieser geschichtsmächtige Umstand wird in dem erwähnten Sammelband erörtert.

Zehnfache Übermacht In den Erwägungen vom 15. Mai 1941 steht im Mittel-

punkt der Vernichtungsschlag an der Südwestfront (Galizien, Wohlhynien). Nach den Weisungen des Ge-neralstabs sollte innerhalb von 48 Stunden die deutsche Front in einer Tiefe von 100 Kilometern durchbrochen und die eingekesselten Feindtruppen vernichtet werden. Stalin und der Genralstab rechneten mit einem Sieg; den rund 100 deutschen Divisionen standen rund 152 sowjetische Stoßdivisionen gegenüber.

Eine Fehlrechnung, denn: »Wie die Erfahrungen des Großen Vaterländischen Krieges zeigen, war solch eine Überlegenheit nicht ausreichend.« Diese Ansicht vertritt Oberst Wladimir Kiseljew, Militärhistoriker und führender Mitarbeiter am Institut für Kriegs-

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geschichte im Verteidigungsministerium der Russischen Föderation. Die Unterschätzung der feindlichen Kampfkraft und die Überschätzung der eigenen hätten zu den »tragischen Mißerfolgen« der Jahre 1941 und 1942 geführt; erst ab 1943 sei man in der Lage gewesen, mit einem weitaus größeren zahlenmäßigen Überge-wicht den Feind zum Rückzug zu zwingen. (S. 81)

Mit anderen Worten: Um die Deutschen zu besiegen, mußte die sowjetische Seite ein Vielfaches, ja ein Zehn-faches an Menschen und Material aufbieten. Oder anders ausgedrückt: Bei einem am 15. Mai 1941 ange-nommenen Kräfteverhältnis 1,5:1 wäre Stalins Armee gewiß nicht bis zur Wilhelmstraße gekommen!

Der Kiseljew-Beitrag in dem Sammelband Plante Stalin einen Angriffskrieg gegen Hitler ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. • Der Autor bekennt sich als Parteigänger der alten sowjetischen Historikerschule. • Der Autor bekennt sich zu einem ideologischen Weltbild, in dem es immer noch ein »faschistisches Deutschland«, eine »deutsch-faschistische Armee« gibt. • Der Autor bestätigt die Aktivität russischer Revisio-nisten schon in der Anfangsphase der Perestrojka. • Der Autor gibt sich als Gegner Suworows, der russi-schen Revisionismusschule insgesamt, und der revi-sionistischen deutschen Geschichtsforscher zu er-

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kennen, negiert jedoch nicht deren Erkenntnisse über einen sowjetischen Überraschungsschlag gegen Deutschland. • Als einziger in diesem Werk rechtfertigt der Autor den Plan Stalins, den Krieg zu eröffnen, Deutschland zu überfallen, die Wehrmacht zu zerschlagen, die Grenzen der UdSSR nach Westen auszudehnen – aus machtpolitischen wie ideologischen Gründen. • Leider sei dieser Plan, resümiert Kiseljew, nicht schon 1941 verwirklicht worden.

An der Existenz des Schlüsseldokuments vom 15. Mai 1941 zu zweifeln, sei sinnlos, stellt Kiseljew fest. Man müsse davon ausgehen, daß der Kriegsplan von Stalin gebilligt wurde. Als Beweis dient ihm die Tatsache, daß alle vom Generalstab vorgeschlagenen Maßnahmen in die Tat umgesetzt wurden.

Hat Viktor Suworow also doch recht, wenn er Stalins Tag X auf den 6. Juli datiert? Suworow-Gegner Kiseljew nennt Befehle und Operationen, die Suworows Hypothese glaubhaft erscheinen lassen:

»Mitte Juni kam es zur vollen Entfaltung des strate-gischen Aufmarschplanes. Entsprechend den Direkti-ven des Generalstabs wurden 32 Schützendivisionen der Reserve in die westlichen Grenzbezirke geworfen. Sie bewältigten das in Nachtmärschen, am 1. Juli soll-ten sie sich 20 bis 80 Kilometer hinter der Grenze befinden. So wurden die in den ›Erwägungen‹ aufge-führten Maßnahmen realisiert, was ohne die Zustim-

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mung der höchsten politischen Führung, das heißt Stalin, nicht denkbar gewesen wäre«. (S. 78)

Also ein uneingeschränktes Ja Stalins zum Erstschlag, Überfall, Vormarsch?

»Von den Offensiworbereitungen der Roten Ar-mee«, schreibt Kiseljew, »zeugen auch die vom Haupt-kriegsrat beschlossenen Aufgaben auf parteipoliti-schem Gebiet für Mai und Juni 1941 ... In Direktiven der Agitprop-Hauptverwaltung der Roten Armee legte man den Hauptakzent auf die Erziehung zu einem alles zermalmenden Angriffskrieg. Alle Rotarmisten müssen von dem Bewußtsein durchdrungen sein, daß die mächtig angewachsene politische, ökonomische und militärische Kraft der Sowjetunion uns in den Zustand versetzt hat, eine angreiferische (nastupatel-jnaja) Außenpolitik durchzusetzen, mit dem Ziel, die Kriegsbrandherde auf dem Territorium des feindlichen Landes zu liquidieren.«

Das feindliche Land hieß Deutschland; den Kriegs-herd liquidieren, hieß Deutschland liquidieren. »Daraus folgt logisch«, bemerkt Kiseljew, »daß sich die Streitkräfte der UdSSR auf den Vormarsch vorbereite-ten« (S. 79). Sowohl die Wehrmacht wie auch die Rote Armee hätten sich auf »Vormarsch« vorbereitet. »Mitte Juni 1941 hatten beide Seiten ihre Kriegsmaschine in Gang gesetzt«, die aufzuhalten politisch nicht mehr möglich gewesen sei. Auf sowjetischer Seite hätte die »Tragik« darin bestanden, daß man mit Blick auf die Angriffsdoktrin der Roten Armee die klassische Verteidigung »vernachlässigte«. Außerdem wären die Angriffsabsichten der Sowjetunion (»Vernichtung der

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Aufmarschtruppen des Aggressors«) »hoffnungslos zu spät« in Gang gesetzt worden.

Also früher losschlagen, schon im Frühjahr 1941 oder gar 1940? Nach Kiseljew: ja. Voll und ganz bejaht er, rückblickend, daß ein totaler Blitzkrieg gegen Deutschland geplant war. Schuld an der »Tragödie« nach dem 22. Juni trügen Stalin, der geglaubt habe, Hitler würde den Nichtangriffspakt nicht schon im Jahre 1941 »verletzen«, und der Generalstab, der von einer Überlegenheit der Roten Armee ausgegangen sei. Was heißt, daß man in Moskau die Kampfmoral und die Führungskunst der Wehrmacht falsch eingeschätzt hatte.

Als Befürworter der Suworow-Thesen argumentiert der Militärhistoriker Michail Nikitin in seinem Beitrag Beurteilung der Ereignisse des Zweiten Weltkrieges durch die Sowjetführung/Ideologie-Dokumente vom Mai und Juni 1941. (S. 122 bis 1946) Auslösendes Moment für den kriegerischen Anti-Deutschland-Kurs sei die Stalin-Rede vom 5. Mai 1941 gewesen, die von den politischen und militärischen Führern sofort aufgegriffen und präzisiert worden sei, in Direktiven, Aufmarschanweisungen, propagandistischen Reden. Nikitin erwähnt diesbezügliche Auftritte von Schda-now, Schtscherbakow, Kalinin, Alexandrow, Timo-schenko. Im Unterschied zu Kiseljew zitiert Nikitin den deutschen Revisionisten Joachim Hoffmann als verläßlichen geschichtswissenschaftlichen Zeugen. (S.123)

Aufschlußreich ist eine Feststellung des damaligen Staatspräsidenten Kalinin, wonach zu den Hauptfein-

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den der Sowjetunion nicht nur die »deutschen Natio-nalsozialisten« zählten, sondern ebenso die »französische und englische Kapitalistenclique« mitsamt den USA, die, so Kalinin, die Welt »aufteilen«, die »Weltherrschaft« anstreben und somit »räuberische Ziele« verfolgen würden. (S. 125)

Politbüro-Kandidat Schtscherbakow fand verständ-liche Gründe für die politischen und militärischen Erfolge Deutschlands 1940; die Entente hätte 1918 Deutschland entwaffnet und erniedrigt und eine Gegenreaktion hervorgerufen, manifest geworden in der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933, die sofort eine mächtige Armee mit moderner Kriegstechnik aus dem Boden gestampft hätten. Schtscherbakow sprach, im Einklang mit Stalin, von der »ersten Etappe des neuen Weltkrieges«. Franzosen und Briten zu besiegen, wäre den Deutschen leicht gefallen, im Krieg gegen die Rote Armee würden sie jedoch von vornherein die Besiegten sein. Und an diesem Krieg zweifelte niemand im Kreml, war es doch der vom Kreml gewollte Krieg – gegen Deutschland.

»Die Seele zerstören« Revisionismus in Rußland beschränkt sich nicht nur

auf Buchveröffentlichungen. Mit Unterstützung der staatlichen Rundfunkgesellschaft Golos Rossii (Stimme Rußlands) und der Moskauer Literaturnaja Gaseta (Literaturzeitung) konnte der in England lebende rus-sische Zeithistoriker Graf Nikolaj Tolstoj-Miloslawaskij,

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ein entfernter Verwandter Leo Tolstojs, Archive des ehemaligen sowjetischen Armeegeheimdienstes GUR in Moskau durchforsten. Ausführlich berichtete dar-über die Literaturnaja Gaseta vom 15. Mai und 3. Juli 1996.

Berühmt geworden war der Graf durch sein Buch Die Verratenen von Jalta. Englands Schuld vor der Geschich-te.76 Interessant die Vorgeschichte. Nach einer Repor-tage in der Literaturzeitung (Nr. 20/96, »Handel mit einem Menschenfresser«) bildeten sich spontan meh-rere Tolstoj-Komitees, die eine Öffnung der Geheim-archive verlangten. Ein Hilfskomitee entstand auf Initiative des Redakteurs Armen Oganesjan bei Golos Rossii, und die christlich-orthodoxe Gesellschaft Radonesch solidarisierte sich; letztere publizierte einen offenen Brief an Jelzin.

Vor allem geht es um Geheimdokumente aus dem SMERSCH-Archiv.77 Das Archiv enthält Protokolle von der Unterredung General Kulikows mit britischen Militärs in der Wiener Kommandantur der Briten. Gefällt wurde damals, April/Mai 1945, das Todesurteil für Hunderttausende von Kosaken und Wlassowzis: Deportation mit Hilfe der Engländer. In der Litera-turnaja Gaseta heißt es dazu: »Wie aus dem Steno-gramm hervorgeht, versicherte der englische Befehls-haber in Gegenwart von Kulikow, man werde auch gegen Frauen und Kinder Gewalt anwenden, sollten sich diese der Rückkehr in die UdSSR verweigern«. (27/1996, S. 11)

Ein anderes Beispiel für öffentlichen Revisionismus ist die Enthüllung eines gigantischen Denkmals für die

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»Opfer des Roten Terrors« im ehemaligen Sklavenha-fen Magadan am Ochotskischen Meer. Magadan war bis 1953 das Durchgangslager für die ostsibirische Kolyma-Hölle; im goldreichsten Gebiet Asiens kamen rund drei Millionen Frauen, Jugendliche, Männer ums Leben. Verhungert, erfroren, zu Tode gepeitscht. Ver-nichtung durch Arbeit, Schnee und Eis und Sklaven-rationen. Das Mahnmal (»Maske der Trauer«) aus »Sibiriengranit« schuf Rußlands berühmtester Bild-hauer, Ernst Njeistwestnij, ein Freund Solschenizyns. Magadans Gouverneur Viktor Michailow hatte zur Enthüllung auch russische Schriftsteller aus Moskau eingeladen.

»Man sagt, daß die meisten russischen Familien unter bolschewistischem Terror gelitten haben, durch den Verlust von Angehörigen«, bemerkt Leonid Schuchwitzkij in seiner Magadan-Reportage (Litera-turnaja Gaseta vom 3. Juli 1996). »Das stimmt wohl. Um die Folgen des Genozids an der Intelligenz, den Bauern und Kosaken zu überwinden, benötigt das rus-sische Volk mindestens fünf Generationen. Aber ebenso wahr ist, daß Millionen von Russen nicht im GULag schmachteten, und dennoch Opfer des GULagismus wurden – durch den Verlust der primitivsten morali-schen Prinzipien. Nicht stehlen, nicht töten, nicht ver-raten, nicht lügen, das galt nicht mehr. Man vernichtete den Menschen, indem man seine Seele zerstörte.«

Gegen die »tödliche Hungersnot von 1933« habe es bei der Sowjetbevölkerung »ebensowenig Widerstand und Proteste« gegeben wie bei der von Stalin befohle-nen Vertreibung ganzer Völker (Wolgadeutsche,

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Krimtataren, Inguschen, Tschetschenen, Mescheten, Kalmücken, Balkaren) und bei den »Ausbrüchen des von den Geheimdiensten und ideologischen Behörden gesteuerten Antisemitismus 1948 bis 1949«, bemerkte Lew Kopeljew zur Goldhagen-Debatte in Deutschland. Es habe Pläne der »sowjetischen Endlösung« gegeben, berichtet Kopeljew, Pläne einer »hygienischen Isolierung der kapitalistisch verseuchten jüdischen Nation«; in Ostsibirien sei an einem »sozialistischen Ghetto« gebaut worden.78

Die Wucht des Geschichtsrevisionismus ist so rasant geworden, daß er die Grenzen des rein Wissenschaft-lichen sprengt – in Rußland wie in Deutschland. Das Packeis des alten Denkens schmilzt, selbst in Sjuga-nows Presse. In der Moskauer Samstagzeitung PRAWDA Fünf vom 5. Juli 1996 stehen erstaunliche Sätze:

»Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges wurde Deutschland in 350 Kleinfürstentümer aufgeteilt, und dieser Zustand dauerte bis zur Mitte des 19. Jahrhun-derts, bis Otto von Bismarck das zersplitterte Deutsch-land wiedervereinigte. Nach dem Willen Washingtons soll Rußland in unzählige Kleinstaaten aufgeteilt werden. In bezug auf Rußland spielt Amerika heute die gleiche Rolle wie Frankreich gegenüber Deutschland in der Vergangenheit.«

Die Überschrift des PßAWDA-Fünf-Artikels lautet: »Nam nuschen russkij Bismark.« (›Wir brauchen einen russischen Bismarck.‹) Offensichtlich orientiert sich Sjuganows KPRF nicht mehr an Marx, sondern an einem anderen Deutschen, einem Preußen.

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Ein anderes Beispiel des aktuellen russischen Revi-sionismus: Eine Reportage in der Literaturnaja Gaseta vom 3. Juli 1996, verfaßt vom Schriftsteller Leonid Schuchwitzkij. Aus Anlaß einer Denkmalsenthüllung in der ehemaligen KZ-Kolonie Kolyma erinnert Schuch-witzkij an den stalinistischen Holocaust in den ost-sibirischen Goldminen. Drei Millionen Tote allein in den dreißiger Jahren. Verhungert, erfroren, erschlagen. Treblinka, Maidanek, Auschwitz an der Kolyma, Stacheldraht und Gebein unter sibirischem Eis, dafür ein fünf Meter hohes Denkmal aus Blutgranit. Die Industrialisierung des Massenmordes, eine Errungen-schaft des Bolschewismus – so lesen wir in der Moskauer Literaturzeitung.

Vom 31. Januar bis 3. Februar 1995 fand in Moskau eine Militärhistoriker-Konferenz statt, einberufen von zwei Apologeten, Prof. Gabriel Gorodetsky aus Tel Aviv und Armeegeneral Garejw, dem Präsidenten der Akademie der Militärwissenschaften. Die Konferenz stand im Zeichen der Verteidigung der Stalin-Dogmen über den Zweiten Weltkrieg. Aus diesem Grunde waren die eingeladenen deutschen Revisionisten Joa-chim Hoffmann und Werner Maser erst gar nicht erschienen. Auch ukrainische, estnische, lettische Re-visionisten boykottierten das pseudowissenschaftliche Seminar. Als einziger Vertreter der russischen Revisio-nismusschule nahm Prof. Dr. Boris Sokolow teil und argumentierte wider die Geschichtslügen der KPdSU-Veteranen, was Gorodetsky dermaßen erboste, daß er in einem Interview mit der Moskauer Zeitschrift Neue und neueste Geschichte (3/1995) schwere Geschütze

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gegen alle Revisionisten auffuhr, allerdings mit dem Eingeständnis, daß aufgrund noch nicht ausgewerteter Dokumente die bisher gültigen Forschungsergebnisse hinsichtlich des Zweiten Weltkrieges keineswegs für alle Zeiten unantastbar seien. Das hat der hier bereits besprochene Sammelband von 1995 für Rußland endgültig geklärt.

Die Auseinandersetzung mit der Klassen- und Völ-kervernichtung der Bolschewiki entfachte in der intel-lektuellen Linken Frankreichs schon 1974, als Sol-schenizyns Archipel GULag in Paris erschien, eine bis heute andauernde Grundsatzdebatte, die weit über die Stalinismuskritik hinausgeht. Vergleichbares findet in der politischen Klasse Deutschlands noch immer nicht statt. Wer als Wissenschaftler oder Publizist geschicht-lichen Revisionismus betreibt, rüttelt an den Grund-lagen des westdeutschen Nachkriegsgebildes.

Dennoch schlägt der Geschichtsrevisionismus bereits Breschen in die Jalta-Mauer. Markus Wolf beurteilt den Kommunismus der dreißiger Jahre als »europäische Menschheitskatastrophe«, und er anerkennt den Fakt, daß Stalin mehr Kommunisten umgebracht hat als Hitler.79

Vernichtung durch Arbeit: Dieses Schicksal wider-fuhr russischen und ukrainischen Zwangsarbeiterinnen (2,8 Millionen), die, 1945 »befreit«, in die UdSSR deportiert wurden. Daß man in Deutschland mit den Bauern an einem Tisch essen durfte, daß deutsche Frauen Russinnen aus Mitleid ihre eigenen Lebens-mittelkarten zusteckten, daß »Ostarbeiterinnen« in deutschen Familien das Strümpfestopfen, Pullover-

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stricken erlernten – freimütige Erzählungen wie diese genügten der NKWD-Repatriierungskommission, um die eben »Befreiten« für 25 Jahre ins Kohlebergwerk zu schicken.80

Mitte Oktober 1941 schien das Schicksal der Sowjet-union besiegelt gewesen zu sein, Stalin habe keinen Überblick mehr gehabt, jeden Augenblick hätten deutsche Panzer am äußeren Verteidigungsring auftauchen können, beschreibt 1991 Karl-Heinz Janßen die Endzeitstimmung in Stalins Imperium.81 Janßen, heute ein Revisionistenjäger, beschrieb ohne ver-dammenden Kommentar, daß auf sowjetischer Seite keine Spur von Heroismus vorhanden war, statt Antifaschismus in Aktion Bolschewikenpanik ohne Grenzen:

»Inzwischen hatte das Staatliche Verteidigungskomi-tee die Zerstörung von 1119 Betrieben angeordnet: Rüstungsbetriebe, die Elektroanlagen der Metro ... und das Gebäude der Nachrichtenagentur Tass. Als am 13. Oktober an allen westlichen Zufahrtsstraßen heftige Kämpfe einsetzten, beschlossen die Kommunisten, die halbe Bevölkerung der Vier-Millionen-Stadt zu evakuieren. Die höchsten Partei-, Regierungs- und Militärbehörden und das Diplomatische Korps mußten sofort in das 900 Kilometer entfernte Kuibyschew umziehen. Kaum hatte Radio Moskau gemeldet, die Lage an der Westfront habe sich verschlechtert, war kein Halten mehr in der Stadt. Eine Panik brach aus. Alle Bahnhöfe wurden gestürmt, alle Straßen nach Osten waren verstopft. Zehntausende, mit oder ohne Erlaubnis, flohen mit Autos oder zu Fuß vor den Deut-

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schen. Direktoren ließen ihre Fabriken, Funktionäre ihre Ämter im Stich. Warenhäuser und leerstehende Wohnungen wurden vom Mob geplündert... Andern-tags standen alle Betriebe in Moskau still. Während aus der Ferne das dumpfe Grollen der Geschütze zu hören war und jede Nacht deutsche Flugzeuge ihre Bomben über Moskau abwarfen, schwirrten Gerüchte durch die Stadt: Stalin sei gestürzt, der NKWD aufge-löst, die Regierung geflohen.« Geflohen auch Lenin, dessen Sarkophag in einem Viehwaggon nach Osten rollte ...

»Als die deutsche Wehrmacht bereits innerhalb we-niger Tage in Minsk stand, war Stalin so ›kopflos‹, daß er nach Angaben des sowjetischen Marschalls Kirill Semjonowitsch Moskalenko (Ende Juni/Anfang Juli 1941) mit dem Gedanken gespielt haben soll, zu kapi-tulieren. Demnach wollte er Hitler als Kriegsbeute -über den bulgarischen Botschafter als Mittelsmann -das Baltikum, Moldawien, einen bedeutenden Teil der Ukraine und Weißrußland anbieten.« Das schrieb Prof. Werner Maser in einer Artikelserie. Schon damals fragte dieser deutsche Revisionist: »Wollte Stalin Hitler angreifen?«82

Rudolf Augstein gelangt 1996 zu der ketzerischen Erkenntnis, daß Hitler am 22. Juni 1941 Stalin zuvor-gekommen sei, zu einem Präventivschlag »wäre es ein Jahr später ohne Zweifel zu spät gewesen«.83

Befragt zur Präventivkriegsdebatte, antwortet Hans Mommsen: »Gute Frage. Ich werde das zunächst auf-grund der neuesten Forschung genauer prüfen.« Hit-lers Angriff auf die Sowjetunion sei zwar ein »strategi-

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scher Fehler« gewesen, doch Stalin hätte den Krieg auf jeden Fall begonnen, »jedenfalls ein Jahr später«.84

Aus Augsteins Magazin erfährt man, daß Stalin selbst nach Stalingrad, sogar nach Kursk, um Waffenstillstand und Sonderfrieden mit Hitler bemüht war: »Die Moskowiter sondierten in Stockholm wiederholt einen Separatfrieden mit Deutschland – Vizeaußenminister Dekanosow, ein Vertrauter des sowjetischen Polizeiministers Berija, kam dazu ... extra nach Stock-holm.«85

Relativiert wird auch das Dogma von der Unver-gleichbarkeit. »Ich glaube nicht, daß es Einzigartigkei-ten in der Geschichte überhaupt gibt«, darf Professor Julius H. Schoeps behaupten.86 In Deutschland habe sich der Haß auf die Juden qualitativ nicht von der Feindschaft zwischen Katholiken und Protestanten oder Bayern und Preußen unterschieden, schreibt Prof. Oded Heilbronner von der Hebrew University in Jerusalem.87 Frank Schirrmacher erlebte Goldhagen als einen neuen Rasputin; im Leitartikel der Frankfur-ter Allgemeinen nennt er ihn, wenig schmeichelhaft, einen »Wunderheiler«.88 Lew Kopeljew verurteilte Goldhagens »journalistisch-sensationelle« Anklage-schrift gegen die »riesige Mehrheit einer Nation«: weder wissenschaftlich noch moralisch sei sie an-nehmbar.

Daß es in Hitlers Wehrmacht für Marschälle, Offiziere und Mannschaften die gleiche Verpflegung gab, Friedrich Karl Fromme relativiert das Image einer, so Hannes Heer,89 »Verbrecherorganisation«. Auf der Leserbriefseite erinnert Wittilo Liebmann (Holzmin-

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den) an die Verrohung der Sowjettruppen. »Sie begann mit der Abschlachtung ganzer deutscher Einheiten, die in Gefangenschaft geraten waren, und setzte sich fort zum Beispiel in der Ermordung von Verwundeten der Wehrmacht-Lazarette beim sowjetischen Gegenangriff auf die Krim. Daß derartige Vorfälle auf deutscher Seite nicht völlig ohne Einfluß auf die Mentalität von Vorgesetzten und Untergebenen blieben, liegt auf der Hand. Gleichwohl hält sich die Zahl der nachweislich zu Lasten der Wehrmacht dokumentierten Fälle von Kriegsverbrechen in Grenzen. Wohl auch jeder anderen Armee läßt sich ein mehr oder minder bedeutendes Sündenregister anlasten.«90

«... die Eroberung ganz Europas«

Merkwürdigerweise findet ein Frühwerk des russi-

schen Revisionismus heute keine Erwähnung mehr, obgleich in diesem Werk die Mitschuld Stalins am Aus-bruch des Zweiten Weltkrieges nachgewiesen wurde, erstmals aus russischer Feder. Dies ist um so erstaun-licher, weil der Verfasser der sowjetischen Militär-hierarchie entstammte und gleichzeitig einer der pro-minentesten Dissidenten der sechziger Jahre war: Generalmajor und hochdekorierter Kriegsteilnehmer Pjotr Grigorjenko, bis Mitte der Sechziger Inhaber des Lehrstuhls für Kybernetik an der Frunse-Militär-akademie. Im Samisdat-Untergrund nannte man ihn den »Sowjetgeneral mit Zivilcourage«. Nach seinem öffentlichen Eintreten für die deportierten Krimtataren,

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deren Rückführung er verlangte, ließ Chruschtschow ihn degradieren, aus der Roten Armee ausstoßen und ins Irrenhaus einliefern.

Grigorjenkos Studie, verfaßt vor genau dreißig Jah-ren, im Oktober 1967, an die Zeitschrift Fragen der Geschichte der KPdSU adressiert, erschien nicht. Eine deutsche Übersetzung unter dem Titel Der sowjetische Zusammenbruch 1941 brachte 1969 der exilrussische Possev-Verlag heraus (Frankfurt am Main).91 Wie lau-ten Grigorjenkos Hauptthesen?

• »Nach Ansicht ausländischer Experten war die Rote Armee in der Mitte der 30er Jahre eine der modernsten Armeen der Welt« (S. 64). Auch der Wehrmacht stand sie hinsichtlich der technischen Ausrüstung keineswegs nach. Bezogen auf die Schicksalsmonate Mai und Juni 1941: »Noch besser stand es mit unserer Artillerie. Hinsichtlich der technischen Qualität und der Ausbildung der Mannschaft war die sowjetische Ar-tillerie der deutschen weit überlegen«. (S. 55) Das Kräfteverhältnis, das einen Erstschlag begünstigte: ca. 15 000 sowjetische Tanks, ca. 3700 deutsche Panzer (Verhältnis 4:1), ca. 9000 sowjetische Kampfflugzeuge, ca. 3500 deutsche (2,6:1). »Man darf nicht vergessen, daß unsere Luftwaffe schon über 2700-2800 Kampf-flugzeuge neuester Konstruktion verfügte ... Diese waren ihren Kampfeigenschaften nach den feindlichen Flugzeugen in mancher Beziehung überlegen«. (S. 55) • Zum Sonderfall Panzerwaffe: »Zahlenmäßig waren wir dem Gegner etwa vierfach überlegen, aber alle, die

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über die erste Kriegsperiode schreiben, lassen diese Tat-sache unberücksichtigt und betonen, daß nur 9% der Panzer in unseren westlichen Militärbezirken moderne Panzerkampfwagen waren. Indem sie diese Prozentzahl anführen, vergessen sie auszurechnen, daß die 9% etwa 1700-1800 Panzer bedeuten. Unerwähnt bleibt auch die Frage über die Eigenschaften der deutschen Panzer. Dadurch wird beim Leser der Eindruck erweckt, daß die Panzer des Gegners bedeutend besser waren ... Erst 1943 gelang es den Deutschen, Panzerkampfwagen zu entwickeln, die annähernd so gut waren, wie unsere T 34 und KW, die wir schon am Anfang des Krieges hat-ten (...). Die qualitative Überlegenheit unserer neuen Panzertypen war derart groß, daß die deutschen Panzer auch bei großer zahlenmäßiger Überlegenheit nicht gewagt haben, mit vereinzelten Panzern der Typen T 34 und KW den Kampf aufzunehmen. Wenn diese unsere Panzer, deren Zahl etwa der Hälfte der Gesamtzahl der deutschen Panzer entsprach, zweckmäßig eingesetzt worden wären, so hätte dem Feind weder die doppelte noch die zehnfache Überlegenheit etwas genützt (...). Somit beweist die zahlenmäßige und die qualitative Analyse eindeutig, daß von keinen materiellen Vortei-len des Gegners die Rede sein kann. Wir hatten genü-gend Kräfte, um den Feind ... schon im ersten Kriegs-jahr zu zerschlagen«. (S. 56 f.) • Mehr als die Hälfte der Sowjetarmeen in den west-lichen Sondermilitärbezirken befanden sich unmittelbar vor dem 22. Juni 1941 im Gebiet von Bialystok und westlich davon, das heißt in einem Raum, der tief in das

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polnische Territorium unter deutscher Besetzung hineinragte. Grigorjenko: »Solche Verteilung wäre nur dann begründet, wenn diese Truppen für eine Überra-schungsoffensive bestimmt wären. Beim gegnerischen Angriff waren diese Truppen schon bald umfaßt. Der Gegner brauchte nur kurze Schläge an der Basis unse-res Keils auszuführen, und die Umfassung war voll-ständig. Das bedeutet, daß wir unsere Truppen selbst in einen Kessel hineingezwängt haben. Die für den Kriegsfall bereitgestellten Vorräte an Waffen und Munition waren in der Nähe der Staatsgrenze unter-gebracht, z. T. sogar vor der zweiten Staffel der Trup-pen der Grenzbezirke. Bei Kriegsausbruch konnte der Gegner natürlich fast alle diese Vorräte erobern«. (S. 94 f.) • Der Nichtangriffspakt von 1939 begünstigte geo-politisch, militärisch-strategisch und waffentechnisch einen sowjetischen Überraschungsschlag gegen Deutschland. Grigorjenko und die »positiven Faktoren«: »Die Staatsgrenze wurde um 200-250 km nach Westen verschoben (...). Die Truppenbestände wurden verdoppelt (...). Die Panzerbataillone der Infan-teriedivision wurden aufgehoben, und es wurde mit der Bildung von mechanisierten Korps begonnen. Die für die Mobilmachung benötigten Vorräte an Waffen und Munition wurden in unmittelbarer Nähe der Staatsgrenze konzentriert«. (S. 117 f.) • Eingestellt auf einen Angriffskrieg gegen Deutsch-land, erlitt der sowjetische Militärapparat durch den

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deutschen Gegenangriff am 22. Juni einen politisch-psychologischen Kollaps, der bereits in den ersten Monaten des Krieges zur Niederlage des kommunisti-schen Systems und zum Auseinanderfallen der Sowjet-union hätte führen können. Wenn Stalin jemals Ver-stand besessen habe, so hätte er ihn am 22. Juni völlig verloren, urteilt Grigorjenko. »Am ersten Kriegstag erteilte der Volkskommissar für Verteidigung den westlichen Militärbezirken drei einander völlig wider-sprechende Befehle. Niemand hat sich um ihre Aus-führung bemüht, denn sie entsprachen gar nicht der wirklichen Situation. Die Verwirrung, die diese Art Führung erzeugte, war in jener äußerst komplizierten Situation besonders gefährlich. Schon die Tatsache, daß diese unsinnigen Befehle erteilt wurden, nahm den Kommandanten der Militärbezirke die Möglich-keit, etwas aus eigener Initiative zu unternehmen. Die Gefährlichkeit der Lage nahm zu, weil das stalinisti-sche Regime mit dem Verlust des Verstandes keines-wegs seine Grausamkeit eingebüßt hatte ... Dieses Regime scheute sich nicht, seine Grausamkeit zu demonstrieren. Als Objekt wurde das Kommando und der Stab des westlichen Sonder-Militärbezirkes ge-wählt. In einem Schnellverfahren wurden der Kom-mandant dieses Militärbezirkes, sein Stabschef und der Chef der Übermittlungstruppen zum Tode durch Erschießen verurteilt. Das Urteil wurde unverzüglich vollstreckt (...). Und so wurden die Helden, die nach verzweifeltem Widerstand tagelang unterwegs waren, um aus der feindlichen Umklammerung herauszu-kommen, mit Hinrichtungen empfangen. So wurden

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praktisch ohne Untersuchung viele Soldaten und Offi-ziere der rückwärtigen Dienste, die Frontsoldaten, die Flieger, die ihre Flugzeuge verloren hatten, die Panzer-besatzungen, die sich aus den brennenden Panzern retten konnten, und die Artilleristen, die ihre Geschütze selbst geschleppt hatten, erschossen. Tags darauf kamen jene, die erschossen haben, selbst in die deutsche Einkreisung und konnten mit derselben Behandlung rechnen«. (S. 109 ff.)

Pjotr Gigorjenko war ein klassischer Frührevisionist, das heißt ein Kämpfer des Untergrunds. Im Unter-schied zu den heutigen Revisionisten besaß er, der Geächtete und dann Eingesperrte, nicht die Möglich-keit, Dokumente der einstigen Geheimarchive einzu-sehen. So erklärt sich seine Fehleinschätzung der sowjetischen Panzertruppen und der sowjetischen Luftwaffe am Vorabend des 22. Juni. Heute weiß man, daß im Sommer 1941 der größte Teil der sowjetischen Panzerkampfwagen aus veralteten T 26 und BT mit ihrer schwachen Panzerung und Bewaffnung bestand. 1940 wurden lediglich 358 T 34 und KW produziert, in der ersten Hälfte des Jahres 1941 rund 1100 Panzer T 34 und 393 KW.

Zu Beginn des Krieges gab es in der sowjetischen Luftwaffe eine große Zahl von Kampfflugzeugen mit guten technischen Eigenschaften, die aber bereits ver-altet waren. Zu solchen veralteten Typen gehörten die Jagdflugzeuge I 16 (»Rata«) und I 153 (ein Doppel-decker!). Sie wurden im Laufe des Krieges moderni-siert, waren aber den deutschen Jagdflugzeugen hin-

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sichtlich der Geschwindigkeit und Bewaffnung ein-deutig unterlegen. Von 980 neuen Typen in den west-lichen Militärbezirken waren am 22. Juni nur 886 MiG-3-Jäger. Als Frontbomber wurde das 1934 eingeführte Flugzeug vom Typ SB verwendet, dessen maximale Geschwindigkeit um 50 km/h und die Bombenlast um zweimal geringer war als bei den deutschen Standardbombern Ju 88 und He 111.

Hierzu findet man in dem Nowosibirsker Sammel-band einen Bericht des renommierten Waffenexperten Sergej Isaikin: Arithmetik der Fehler, bezogen auf die angeblich falschen Angaben Suworows. (S. 46 bis 63)

Kriegsteilnehmer Isaikin, Mitglied der Internationa-len Assoziation der Militärschriftsteller und Kolum-nist des Militärhistorischen Journal in Moskau, bestätigt die eben gemachten Angaben zum qualitativen (nicht quantitativen!) Kräfteverhältnis Wehrmacht – Rote Armee, erwähnt die Fehlkonstruktion des sowjetischen Standardpanzers BT, der Mitte der dreißiger Jahre entwickelt wurde. Bestimmt für opera-tiv-taktische Aufgaben, zeichnete sich der BT durch hohe Geschwindigkeit bei schwacher Panzerung und Kanonenbewaffnung (4,5 cm) aus. (S. 49) Bei der 4. Elite-Armee nördlich von Brest-Litowsk, im Zentrum des Bialystoker Balkons, sollen selbst diese Panzer nicht vorhanden gewesen sein, sondern lediglich T 26, die bereits im Spanischen Bürgerkrieg veraltet gewesen sind. (S. 56)

Am 29. Juni 1941 soll Stalin wutentbrannt seinen Generalstabschef angebrüllt haben: »Unsere Truppen verstehen nicht anzugreifen!« Politschulung im An-

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griffsgeist, Planung für Vormarsch, doch gleichzeitig Desorganisation, Chaos, eklatante Mängel, ersetzt durch eine Stalinsche Wunderwaffe: »Grausamkeit«. Suworow-Kritiker Isaikin: »Am 15. Juni berichtete Schukow in einem Gespräch mit Stalin von den jüng-sten Maßnahmen der Deutschen, die ihre Divisionen kriegsmäßig auffüllen würden, von 14 000 auf 16 000 Mann pro Division. Das Maximum einer Sowjetdivisi-on betrug jedoch nur 8000 Mann, praktisch zweimal schwächer als eine deutsche Division.« Laut Isaikin verfügten 172 Sowjetdivisionen im Grenzbereich über höchstens 6000 Mann pro Einheit. (S. 56)

Diese Fakten waren also nicht nur dem Generalstab, sondern auch Stalin bekannt. Daß sich Stalin dennoch zu einem Erstschlag entschloß und sogar mit einem Sieg über die Wehrmacht rechnete, entzieht sich einer rationalen Erklärung. Ideologisches Wunschdenken verdrängte das Kalkül eines verantwortungsbewußten Heerführers. Typisch für das organisierte Chaos war die Flut der Pläne für Auflösung und Neubildung von Panzerverbänden zwischen 1936 und 1941. Mechani-sierte Korps und halbmechanisierte Schützendivisio-nen, reine Panzerdivisionen oder Mot-Divisionen, Panzerbrigaden oder nur Panzerbataillone, selbständige Panzerregimenter oder gigantische Panzerarmeen – als Guderians, Mansteins, Kleists Panzerblitze im Juli die sowjetische Front aushebelten und die bis dahin größten Kesselschlachten einleiteten, stritt man in Stalins Generalstab immer noch über diese oder jene Variante der Panzerkampftaktik, ganz abgesehen davon, daß der fast totale Mangel an Funkgeräten und

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moderner Zieloptik die Führung großer mobiler Ver-bände unmöglich machte. Hinzu kam, daß der Mann hinter der Panzerkanone gar nicht wußte, wofür er eigentlich kämpfen – und sterben – sollte. Der Hinweis Grigorjenkos auf die angebliche Einheit von Volk und Regierung entsprach der orthodoxen sowjetischen Schreibweise, die in diesem Fall dem Autor nicht übel genommen werden kann, wenn man bedenkt, daß der Text in einer Parteizeitschrift publiziert werden sollte.

»Die Liquidierung der Klassen war eine Folge der Industrialisierung und Kollektivierung. Im Lande behauptete sich das sozialistische Regime. Auf dieser Grundlage festigte sich die moralisch-politische Einheit der sowjetischen Gesellschaft und die Freundschaft zwischen den Völkern unseres Landes. Unser sozialistischer Staat war schon einige Jahre vor dem Krieg ein unerschütterlicher Monolith«, schrieb Gri-gorjenko.

Nonsens. Der mutige Dissident Grigorjenko wußte das auch. Da es sich aber bei seiner Studie um eine historische Untersuchung handelt, muß festgestellt werden, daß gerade die von Grigorjenko als angebliche Errungenschaft bezeichnete Kollektivierung auf dem Dorfe eine stark verbreitete antibolschewistische, ja revolutionäre Stimmung in den Völkern der UdSSR erzeugt hatte. Diese mit Wut und Haß aufgeladene Stimmung führte dann nach den Niederlagen der Roten Armee in den ersten Monaten des Krieges zu einem rapiden Sinken der »sozialistischen« Kampfmoral. Nach Minsk, Smolensk, Kiew, Wjasma, Brjansk war von dieser Moral nichts mehr zu spüren.

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Grigorjenko erwähnt diese Tatsache, die den Vor-marsch der Wehrmacht begünstigt hatte, nur indirekt, indem er vom Verfall der Disziplin in der Roten Armee schreibt. Hier besteht ein Widerspruch zu seiner Schil-derung der Haltung der Truppe, die er als »heldenhaft« bezeichnet.

Bialystok, Minsk, Smolensk, Uman, Rosslawl, Kiew, Wjasma, Brjansk – ein Cannae nach dem anderen in vier Monaten des Jahres 1941 und dazu drei Millionen Rotarmisten, die Befehls-, Führer-, Ideologie-verweigerung übten, indem sie sich dem »deutsch-faschistischen Aggressor« ergaben. Sie hatten noch die Worte ihres obersten Politruks in den Ohren, aus-gestoßen und gedruckt in den Wochen vor dem Krieg:

»Die militärischen Siege Deutschlands und die Nie-derlagen seiner Gegner ließen die Legende von einer angeblich unbesiegbaren Armee entstehen. Derartige Ansichten sind unwissenschaftlich, sie widersprechen der geschichtlichen Erfahrung und erst recht den Gesetzen des modernen Krieges. Es gab niemals unbe-siegbare Armeen, es gibt nur gute und schlechte Armeen. Die bisherigen Siege der Deutschen erklären sich alleine aus der Schwäche ihrer Gegner. Infolge die-ser leichten Siege breiteten sich in der Wehrmacht Prahlerei, Selbstgefälligkeit und Arroganz aus ... Prah-lerei und Selbstgefälligkeit sind der Grund dafür, daß es mit der Kriegsdoktrin Deutschlands zu Ende ist – es geht nicht mehr vorwärts, Deutschlands Armee treibt in den Rückstand. Die Deutschen verloren jeglichen Antrieb zu einer Verbesserung der Kriegstechnik. Während zu Beginn des Krieges die Wehrmacht die

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modernste Kriegstechnik beherrschte, erkennt man jetzt, daß die anfängliche militärtechnische Über-legenheit Deutschlands unaufhaltsam zurückgeht«. (S. 128)

Die Worte stammen von einem intellektuellen Deut-schenhasser, von Generaloberst Alexander Schtscher-bakow (1901-1945), während den Vorbereitungen zu Stalins Offensive und im Zweiten Weltkrieg Chef der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee (GUPPKA), nach Behauptungen Stalins durch »falsche ärztliche Behandlung« 1945 ums Leben gekommen. Am 13. Januar 1953 gab die PRAWDA bekannt, daß es dem MGB gelungen sei, eine Ver-schwörung von jüdischen Kremlärzten – Kogan, Feld-man, Grinstein, Etinger und fünf weitere JOINT-Mit-glieder – aufzudecken, diesen Ärzten wurde u. a. die Vergiftung von Schtscherbakow vorgeworfen. Ob Erfindung oder Wahrheit, Tatsache bleibt, daß diese »giftige Schlange« (Chruschtschow in seinen Memoi-ren) zu den willigsten Vollstreckern Stalins in den dreißiger Jahren gehörte, aufgestiegen vom regionalen Leiter für Agitation und Propaganda in der Provinz Gorkij (Nischnij Nowgorod) zu den Gipfeln in der stalinschen Hierarchie: 1934 Sekretär des Sowjeti-schen Schriftstellerverbandes, auf diversen Führungs-posten im Rahmen der Säuberungsfeldzüge (Lenin-grad, Irkutsk, Ukraine), Erster Parteisekretär von Moskau.

Noch vor Ausbruch des sowjetisch-deutschen Krie-ges übernahm Schtscherbakow die politische Führung der Roten Armee, wurde Sekretär des Zentralkomitees

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und Kandidat des Politbüros. Für seine Karriere revan-chierte er sich entsprechend: Er belog die Rotarmisten, Rekruten wie Kommandeure, nach Strich und Faden. Er zeichnete das Bild einer deutschen Klassen-Armee, während in Wirklichkeit die Wehrmacht während des ganzen Krieges die einzige echte klassenlose Truppe gewesen ist, dem Nimbus einer »Arbeiter- und Bauernarmee« näher als Stalins Rote Armee, in der sich nach 1941 ein neo-zaristischer Feudalismus breit-machte, mit Kasten, Klassen, Schranken, Rängen, Pri-vilegien.

Den Rückzug der 17. Armee aus dem Kaukasus im Winter/Frühjahr 1943, in den Kuban-Brückenkopf hinein, schildert Paul Carell: »Dieser Rückzug war eine Leistung, wie sie die Kriegsgeschichte nur selten kennt. Ein Kapitel des Krieges, in dem sich Tapferkeit, Hinga-be und Opferbereitschaft von Offizier und Mann manifestieren, und zwar nicht nur an der Waffe, sondern ebenso mit dem Spaten, neben Pferd und Tragtier. Die deutsche Wehrmacht zeigte sich hier besonders eindrucksvoll in ihrer fortschrittlichen, modernen Struktur, frei von sozialen Schranken und Vorurteilen. Die deutsche Armee war die einzige Armee der Welt, in der Offiziere und Mann die gleiche Verpflegung teilten. Der Offizier war nicht nur Vor-kämpfer, sondern auch ›Vorarbeiter‹, ›Landser mit Achselstücken‹, der durch seinen selbstverständlichen Einsatz in der Trägerkolonne oder an der Zugmaschine das mitreißende Vorbild zur Überwindung der Erschöpfung gab.«92

Vielleicht waren Schtscherbakow diese Fakten be-

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kannt. Wenn ja, so verschwieg er sie. In der Kriegs-vorbereitungskampagne zwischen dem 5. Mai und 22. Juni 1941 spielte er eine unheilvolle Rolle für Millionen von Rotarmisten, denen er eintrichterte, schon am ersten Tage des sowjetischen Angriffskrieges wäre der »Mythos von der Unbesiegbarkeit der Wehrmacht« am Boden zerstört. Dieses schaurige Täuschungskapitel analysiert im Nowosibirsker Sammelband der Hi-storiker M. Nikitin:

»Aus den Dokumenten geht eindeutig hervor, daß die sowjetische Führung im Frühjahr 1941 Deutschland als den Hauptfeind betrachtete (...) Ein Kompromiß kam nicht mehr in Betracht, beide Seiten bereiteten sich darauf vor, ihre Ziele mit militärischen Mitteln zu erreichen ... Mit der Planung eines Krieges gegen Deutschland begann die UdSSR noch im Oktober 1940 ... ›Die UdSSR lebt in einer kapitalistischen Umzingelung‹, schrieb Schtscherbakow. Unausweich-lich ist der Zusammenstoß zwischen der Welt des Sozialismus und der Welt des Kapitalismus ... Der Leninismus lehrt, daß ein sozialistischer Staat zu militärischen Angriffshandlungen übergehen muß, sobald die internationale Lage dafür günstig ist und wenn dieser Krieg zu einer Erweiterung der Grenzen des Sozialismus führt‹« (S. 137 f.).

Mit der Roten Armee habe Stalin im Sommer 1941 tatsächlich ein »gigantisches Kriegsinstrument« ge-schaffen, das der Sowjetführung die Überzeugung vermittelte, Deutschland im Erstschlag besiegen zu können. »Zwischen 1939 und 1941 wurde Kolossales geleistet bei der Vervollkommnung der Kampfkraft der

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Roten Armee. In der ersten Hälfte des Jahres 1941 produzierte die Sowjetindustrie 89 Prozent Panzer und 45 Prozent Flugzeuge der modernsten Typen. Im Zeitraum 1939 bis Juni 1941 wurde die Rote Armee um 92 000 Kanonen und Granatwerfer, 7400 Panzer und 17 700 Kampfflugzeuge stärker.« (S. 140)

Im Mittelpunkt der neuen Sowjetdoktrin eines »gerechten progressiven Krieges« stand die Erkenntnis, daß Deutschland nur zu besiegen sei, wenn man eine offensive Strategie anwendete, die Strategie von überraschenden Panzervorstößen.

Schließlich faßt Nikitin noch einmal die Quintessenz der stalinistischen Kriegspolitik zusammen:

»Das Hauptziel bestand in der territorialen Ausdeh-nung der ›sozialistischen Welt‹ Richtung Westen, im Idealfall die Eroberung ganz Europas ... Die Zersplit-terung der Wehrmacht an vielen Fronten im Westen erschien in Moskau als einmalige Chance, in einem Überraschungsschlag Deutschland zu vernichten.«

Der Auftakt eines Eroberungskrieges 1986 löste der Historiker Ernst Nolte den »Historiker-

streit« in Deutschland aus, wenig später entbrannte der Historikerstreit in Rußland, der in der ersten Phase von Veröffentlichungen des Militärhistorikers Dmitrij Wolkogonow bestimmt wurde. Ein Jahr vor dem Zerfall der UdSSR erschien Wolkogonows Dossier General Denikin – eine Enthüllung der bolschewistischen Ver-brechen zwischen 1917 und 1921. Die Zahl der Ter-

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roropfer im vierjährigen Bürgerkrieg bezifferte Wol-kogonow auf über 13 Millionen.93 Doch schon vorher, also noch zur Sowjetzeit, hatten sich Historiker in Rußland dem Tabu-Thema »Großer Vaterländischer Krieg« zugewandt.

Als Eisbrecher wirkte Viktor Suworows Eisbrecher von 1989. Inzwischen in 18 Sprachen erschienen, in russisch 1992, wurde es von der Iswestija 1993 dem russischen Publikum vorgestellt. Danach trat dieses Buch einen Siegeszug in Osteuropa an – in millionenfacher Auflage. 1994 erschien Suworows Der Tag M auf Russisch.94 1995 folgte Suworows Die letzte Republik.95

Bemerkenswert bleibt, daß die revisionistische Kriegsforschung in Rußland den Mut und die Opfer-bereitschaft der russischen Soldaten keineswegs schmälert. Dies trifft auch auf die Arbeiten von Oberst a. D. Valerij Danilow zu. Der promovierte Historiker steht im Mittelpunkt der jüngsten Runde des russi-schen Historikerstreits. »Die Außenpolitik der UdSSR in der Vorkriegsepoche bestand nicht darin, den Frie-den mit allen nur denkbaren Mitteln zu bewahren«, schreibt Danilow. »Im Gegenteil. Dokumente und praktische Maßnahmen der Sowjetregierung wie auch des Verteidigungsministeriums sprachen davon, daß die sowjetische Außenpolitik auf Angriff ausgerichtet war.«

Danilow reagiert damit auf Veröffentlichungen der Historiker J. Semin und J. Gorkow vom Zentrum für historische Archive beim Generalstab der Streitkräfte der Russischen Föderation. Diese hatten behauptet, weder Stalin noch die Führung der Roten Armee hatten

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in den Jahren 1939 bis 1941 einen Angriffskrieg gegen Deutschland vorbereitet.

In seiner Arbeit nennt Danilow diese These eine Geschichtslüge und zitiert ausführlich aus dem Auf-marschplan des sowjetischen Generalstabs vom 15. Mai 1941, in dem wörtlich von einem Erstschlag gegen die Wehrmacht die Rede ist. Das Hauptziel des »Über-raschungsschlages« habe darin bestanden, stellt er fest, die deutschen Armeen in Polen und Ostdeutschland zu vernichten. Er interpretiert den Angriffsplan als Auftakt eines »Eroberungskrieges«. Entsprechende Opera-tionsbefehle hätten sämtliche Armeebefehlshaber in den westlichen Militärbezirken erhalten. Damit habe man Hitler, schlußfolgert Danilow, den Vorwand geliefert, auf die »bevorstehende Aggression gegen Deutschland« mit einem Präventivschlag zu antwor-ten.96

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Nachwort

Von der inneren Verwandtschaft des Kommunismus und Kapitalismus

ämpfen und suchen, finden und sich nicht erge-ben.« Mit diesem Satz schließt Kawerins Roman

Zwei Kapitäne, geschrieben während des Krieges. Das Motto könnte von einem dissidentischen Schriftsteller der Siebziger stammen, geschrieben im Archigulag. 1973 drehte Marco Ferreri La grande bouffe, der Film machte den Italiener weltberühmt. Ein kinolukulli-scher Orgasmus nach der frivolen Devise des Ancien régime: nach uns die Sinflut. Vier Luxusexemplare der Spezies Bourgeois beschließen, sich zu Tode zu fressen und zu kopulieren. Das große Fressen sollte an die 120 Tage von Sodom erinnern und der Konsumgesellschaft einen Spiegel vorhalten. Man kann es auch anders sehen. Das große Fressen als Selbstenthüllung eines nihilistischen Liberalismus und Hedonismus in einer Gesellschaft der Gnadenlosigkeit und Amoralität. Nicht wenige Intellektuelle im nachkommunistischen Rußland sehen sich heue mit dem Zynismus eines Raubtierkapitalismus konfrontiert, und diese für viele niederschmetternde Erkenntnis markiert den psycho-

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logischen Hintergrund des Phänomens »russischer Historikerstreit«. Was soll revidiert werden: nur die Geschichte der Vergangenheit, die sozialistische Iko-nostase des Untergegangenen? In der Epoche des »Sowjetmenschen« waren Generationen nach der Doktrin erzogen worden, daß die Wechselbeziehungen zwischen Persönlichkeit und Gemeinschaft die Wech-selbeziehungen der gegenseitigen Hilfe sind, in der Überwindung engherziger, egoistischer Interessen. Soll, muß auch diese Maxime revidiert werden, in einem Rußland, das dem kommunistischen Materia-lismus abgeschworen hat und im kapitalistischen Materialismus sein Glück sucht?

Der große spanische Schriftsteller Juan Goytisolo, wahrlich kein Kommunist, hat für den heute in Ruß-land herrschenden westlichen Kapitalismus nur Ver-achtung übrig, der Sieger im Kalten Krieg ist ihm nur eine dekadent-inhumane Gesellschaft, ein globales Sodom der Vollgefressenheit. Eigentlich habe Marx gesiegt, meint der Spanier. Marx' Gesellschaftsideologie sei zwar widerlegt worden, bestätigt werde aber Marx' Kapitalismuskritik angesichts eines ungebremsten, bedingungslosen Monetarismus, der nur noch einen Wert kennen würde: die Gewinn-Maximierung auf Kosten des Faktors Mensch.97

Diese Ansicht bekräftigten russische Revisionisten, indem sie auf die innere Verwandtschaft zwischen Kapitalismus und Kommunismus hinweisen.

Die Sinnkrise der Intelligenzija rührt aus der lebens-geschichtlich-aktuellen Erfahrung, daß der »neue« Kapitalismus eben kein Gegenbild zum »alten« Kom-

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munismus ist. Seit der Gaidar-Ära im Jahre 1992 hat sich das westliche Gesellschaftsmodell als Gegenbild zu Ausbeutung, Ungerechtigkeit, Selbstentfremdung ad absurdum geführt. Was auf den Trümmern des Alten etabliert wurde, erweist sich als eine Diktatur der Unbarmherzigkeit, Korruption, Kriminalität, sozialen Spaltung – der Armut und Untergangsangst hier, des Zynismus und Verbrechens dort.

Den sozialen Absturz im importierten Haifischkapi-talismus bekommen besonders die russischen Dörfer und Provinzstädte zu spüren, in denen rund 70 Pro-zent der Bevölkerung leben. Diskutiert wird allen Ern-stes die Evakuierung der Einwohner der von GULag-Sklaven errichteten Geisterstädte in Sibirien und im hohen Norden, da sie nicht mehr versorgt werden kön-nen. Selbst Industriestädte im Moskauer Umland sind zum Sterben verurteilt, zum Beispiel das traditionsrei-che Textilzentrum Iwanowo. Die Arbeitslosenquote in der 500 000-Einwohner-Stadt beträgt 90 Prozent, geschlossen sind die Forschungsabteilungen in den einst so renommierten Hochschulen. »Nirgendwo sonst habe ich so viele apathische, leere Gesichter gese-hen wie bei meinem letzten Besuch in der Heimatstadt Iwanowo«, notiert der Publizist Alexander Agejew. »Das Schlimmste ist, wenn nicht ohne Stolz berichtet wird, wie man es geschafft habe, einen weiteren Monat zu überleben.«98

Das antiwestliche Ressentiment sei heute lebendiger denn je, konstatiert Rußlandexperte Josef Riedmiller.99

»Es ist nicht auszuschließen, daß Konzeptionen von ›westlichem Verrat‹ in Rußland abermals virulent wer-

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den.« Hatten die Slawophilen des 19. Jahrhunderts dem Westen vorgeworfen, das katholische Abendland habe die orthodoxen Ostslawen während der Mongo-lenherrschaft im Stich gelassen, so sind es heute die Neoslawophilen – zu denen Solschenizyn gehört -, in deren Publikationen ›Verrat‹ ertönt, bezogen auf die amerikanisch-kapitalistische Fremdherrschaft. In der aktuellen Umfrage einer liberalen Moskauer Tageszei-tung betrachten 53 Prozent es als Fehler für Rußland, den »westlichen Weg« zu gehen, 72 Prozent der Befrag-ten ziehen »Stärke, Stabilität, Ordnung« der Demokratie vor, 48 Prozent wünschen statt Kapitalismus den »Sozialismus« – doch für 53 Prozent wäre es nicht wünschenswert, wenn die Kommunisten wieder an die Macht kämen.100

Das Wort »Kapitalismus« hat in Rußland einen aggressiven Klang. Nach der täglichen Erfahrung der meisten Russen verbindet sich das Etikett »Marktwirt-schaft« mit erbarmungslosem Existenzkampf im Dschungel der Wirtschaft, mit schamlosem Egoismus, mit der Verachtung traditioneller Gemeinschaftswerte, mit der Abdankung des Staates vor der Macht des Geldes, mit Einflußnahme des Auslands auf nationale, innerrussische Belange.

Die Kritische Intelligenzija verwendet für dieses Feindbild den Begriff »Liberalismus«. Sie kann sich auf Stimmen im Westen stützen. »Es gibt das Problem des Liberalismus (der sich nicht mit einer bestimmten Partei deckt), er könnte im Europa des Fortschrittes und des Wohlstandes geradezu eine Immunschwäche der Politik werden«, prophezeit Kurt Krenn, einer der

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profiliertesten Bischöfe Österreichs. »Alles endet in Selbstaufgabe des Staates und seiner Idee ... In Zeiten der Prüfung entwickelt sich der Liberalismus zu einer Art Gift, weil keine Transzendenz spürbar ist.«101 Nach dem Urteil des Propstes von Herzogenburg, Maximi-lian Fürsinn, ist Europa zu einem geistentleerten Kon-tinent geworden, »ohne religiöse Tiefe, von der Auf-klärung verwüstet, von Liberalismus geschwächt, von Konsumismus lächerlich gemacht.«102 Der amerikani-sche Philosoph und Jurist Robert H. Bork, Richter am Appellationsgericht und zeitweise geschäftsführender Justizminister, gegenwärtig Mitarbeiter des konserva-tiven American Enterprise Institute, sieht die westliche Welt durch einen totalitären Liberalismus in ein »neues Gomorrha« schlittern.103 Symptome des Verfalls sind nach Bork: Steigende Kriminalitäts- und Abtreibungsraten, eine von Sex, Gewalt, Verbrechen, Lustgewinn und Konsummaterialismus dominierte Medienkultur, Radikalisierung des Individualismus, die propagierte Legalisierung von Selbstmord-Beihil-fe und Euthanasie, eine allgemeine sittliche und intellektuelle Verwahrlosung. An allem sei ein gottloser Selbstverwirklichungswahn schuld, ein Liberalismus zum Tode hin.

Anklagen wie diese könnten auch von der Kritischen Intelligenzija stammen, vor allem von den Geschichts-revisionisten, die ihre Aufgabe auch darin sehen, nach den seelischen Verwüstungen im Kommunismus einem neuen Ansturm seelischer Entwurzelung – dies-mal unter anderen ideologischen Vorzeichen – ent-gegenzuwirken. Inzwischen hat die Invasion der west-

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lich-kapitalistischen Massen»kultur« dazu geführt, daß man sich in staatlichen wie privaten Medien auf russische, teilweise sogar auf »sowjethumanistische« Traditionen besinnt, siehe Kawerins Zwei Kapitäne. Das hat eine regelrechte Renaissance monarchischer, kosakischer, soldatischer, sozialistisch-volkstümlicher Ideale ausgelöst – alte Weltkriegs- und Historienfilme sind in Jelzins Fernsehen keine Seltenheit. Rußland, eine große Familie, eine heilige Gemeinschaft, ein unzerstörbares Wir. Selbst jene Fernsehstationen, die von amerikanischem Reklamegeld leben, zeigen keine Hemmungen, »herrliche« Sowjetlieder und Serien über eine »klassenlose« Volksgemeinschaft auszu-strahlen.

Zu den geistigen Abwehrreaktionen zählt die Wie-derbesinnung auf die »russische Philosophie«, eine Philosophie des rechtgläubigen, nationalen oder imperialen Personalismus, die mit Liberalismusgegnern wie Solowjow, Dostojewskij, Tolstoj, Schestow, Mereschkowskij, Berdjajew, Frank Weltgeltung erlangte. Was die Genannten miteinander verband, war ein antiliberalistischer, das heißt antidemokratischer Affekt. Ihre Schüler von heute konstatieren im Westen eine spirituell und metaphysisch ausgebrannte Welt, ohne eine tragende Idee, eine entchristlichte Welt.

Alle großen Ordnungen wurden durch eine Idee geschaffen. Das war seinerzeit die transzendierende und zugleich moderne Wertskala des Stauferreiches, der »orbis europeus christianus« eines Karl V. oder das preußische Staatsethos der friderizianischen Epoche. An die Stelle dieser Ordnungsideen sei, behauptet die

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identitätssuchende Intelligenz im nachkommunistischen Rußland, die Verherrlichung der unbeschränkten Zerstörungskraft einer Gesellschaft getreten.

Eine Geisteswende durch einen europäischen Super-staat oder eine Währungsunion erwartet die Intelli-genzija nicht. »Brücken bauen zwischen den Völkern können nur heilige Menschen, von Gott Besessene«, sagt Dostojewskij. Einer Gesellschaft, in der das Maß nicht der Mensch, sondern der Markt ist, sind Heilige und Heiliges fremd. Beim Bau des »Hauses Europa«, wie es Helmut Kohl formulierte, ist Mammon der Götze. Diese Idee ist den Russen so fremd wie die Vor-stellung, man könnte einen europäischen Bundesstaat nach dem Modell Nordamerikas schaffen. Die Bonner Vision ist in Rußland noch nie geteilt worden. Die Nation und das Reich sind unverzichtbare Ordnungs-elemente der denkenden Klasse in Rußland. Der im Westen hochstilisierte Neue-Welt-Begriff »Globalis-mus«, im Grunde die Schreckensvision eines ent-hemmten Weltkapitalismus in darwinistischer Logik, ist ein fundamentaler Gegner des nationalen Imperativs der Russen – der Deutschen sowieso. Globalismus führe, europäisch gesehen, zur »Desolidarisierung« der Nationen, ersetze die völkischen Gemeinschaften durch anationale Gesellschaften, schreibt Herbert Kremp. Globalismus agiere als »neue Internationale, deren Einfluß, noch mehr als der der verflossenen, auf der Unfaßbarkeit beruht«.104 Unfaßbarkeit, ein anderes Wort für Absurdität, Utopie.

Vom Internationalismus jeglicher Art, ob kommuni-stischen oder kapitalistischen Ursprungs, hat das

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schwergeprüfte russische Volk genug, genug mit Si-cherheit für die nächsten 100 Jahre, genug vermutlich für alle Zukunft. Diese Erkenntnis liegt dem Schaffen der Revisionisten Rußlands zugrunde, und sie vereint alle Kontrahenten im »russischen Historikerstreit«.

Anmerkungen 1 Tatjana Goritschewa: Die geistige Erfahrung der verfolgten

Kirche. Ottobrunn 1984, S. 8 2 Wolfgang Kasack: Lexikon der russischen Literatur des 20.

Jahrhunderts. München 1992, Spalte 601 3 Ernst Nolte: Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945. Natio-

nalsozialismus und Bolschewismus. 5. überarbeitete und erweitert Auflage. München 1997, S. 425

4 Francois Furet – Ernst Nolte: Feindliche Nähe. Kommunismus und Faschismus im 20. Jahrhundert. Ein Briefwechsel. München 1998, S. 49 f.

5 F. A.Z., 14.April 1997 6 Alexander Solschenizyn: Die russische Frage am Ende des 20.

Jahrhunderts. München 1994, S. 115 7 Moskowskije Nowostij, 24. November 1996 8 Wadim Bjelozerkowskij: Was geschieht mit Rußland? Bergisch

Gladbach 1996, S. 278 9 F. A.Z., 16. April 1997 10 Markus Wehner in der F. A. Z, Nr. 46/1997 11 Moskauer Wochenzeitschrift Wjek, Nr. 8/1997 12 Markus Wehner in der F. A. Z. vom 5. November 1996 13 Helmut Grüter in der F. A. Z. vom 16. April 1997 14 Verlag Ernst und Werner Gieseking, Bielefeld 15 Le livre noir du communisme. Crimes, terreur, répression. Paris

1997

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16 Jürgen Rühle: Die Schriftsteller und der Kommunismus in Deutschland. Köln-Berlin 1966, S. 194

17 Richard Pipes (Hrsg.): Der unbekannte Lenin. New Haven-London 1996

18 Das Politbüro. Die Mechanismen politischer Macht in den dreißiger Jahren. Moskau 1996

19 Anatolij Iwanows Logik des Alptraums erschien in deutscher Übersetzung 1995 im Berliner Verlag der Freunde

20 Die bolschewistische Führung. Briefwechsel 1912 bis 1927. Mos-kau 1996

21 Verlag der Vereinigung der Erforscher der russischen Gesell-schaft im 20. Jahrhundert, AIRO XX, Moskau 1995, in russischer Sprache

22 Beschluß der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland vom November 1996, s. DIE WELT, 24. April 1997

23 Das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA) ist dem Bundesministerium der Verteidigung unterstellt. Das 1958 in Freiburg i. Br. aufgebaute Institut dient zur wissenschaftlichen Erforschung der deutschen Wehrgeschichte unter Berücksichti-gung sozioökonomischer und politischideologischer Faktoren. Bevorzugte Themen sind der Zweite Weltkrieg und die Bun-deswehr. Bekannt ist die Reihe »Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg«. Das Amt beschäftigt ca. 150 zivile und mili-tärische Mitarbeiter. 1994 erfolgte der Umzug nach Potsdam.

24 Alain Peyrefitte: C'etait de Gaulle. Paris 1994, S. 63 25 Aus der gekürzten Fassung des Originalinterviews im ame-

rikanischen Computerjournal Intellectual Capital – Internet – und der russischen Übersetzung in der Wochenzeitung Mo-skowskije Nowostij, 24. November 1996, S. 6

26 Nowij Mir, Heft 7, Moskau 1994 27 Solschenizyn, a. a. O., S. 116 28 Nasche Otetschestwo, St. Petersburg, Nr. 63, 1996, S. 3 29 Ebenda, S. 1

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30 Deutsch 1992 bei Langen Müller, München, unter dem Titel: Der Große Terror. Sowjetunion 1934-1938

31 Spezialausgabe Nr. 32-34, Moskau 1996 32 »Soldaten im Partisanenkrieg« in der Monatszeitschrift Die po-

litische Meinung, April 1997 33 Nasche Otetschestwo, Nr. 58, 1996, S. 3 34 Nowij Mir, Juli -Nr. 1994 35 Wochenzeitung Schlack Peremohy, Kiew-Lemberg, 9. Septem-

ber 1995 36 DIE WELT, 28. November 1995 37 Wolkogonows Artikel »Prawo na pamjat« (Recht auf Erinne-

rung), gewidmet den »Strafsoldaten, Verfolgten, Nichtheim-kehrern«, erschien in der Moskauer Wochenzeitung Argumen-tij i faktij vom Mai 1995, Nr. 18/19, S. 3

38 Interwiew in der Literaur naj a Gaseta, Moskau, 16. April 1995, S. 3 39 Nowij Mir, Juli-Nr. 1994 40 Epifanow/Hein Mayer: Die Tragödie der deutschen Kriegsgefan-

genen in Stalingrad von 1942 bis 1956 nach russischen Dokumen-ten, herausgegeben vom Biblio-Verlag, Osnabrück 1996

41 Die Illustrierte Ogonjok, Nr. 51/1996 42 Moskowskij Komsomolez, 15. März 1997 43 Nedelja, Nr. 7/1997 44 Duchownaja Mwß, Nr. 1/1997 45 Übersetzung des englischen Originaltitels: Die letzten Tage der

Romanows. Wie Zar Nikolaj II. und die russische Kaiserfamilie ermordet wurden. Die französische Übersetzung erschien 1921, die erste russische 1923 in Berlin

46 Ebenda, Appendix D, S. 185 47 Russkij Westnik, Moskau, Sonderausgabe 32-34, 1996 48 Ebenda, S. 2 49 Rossijskaja Gaseta, 7. März 1997 50 Siehe auch: Ralf Stettner: Archipel GULag. Stalins Zwangslager–

Terrorinstrument und Wirtschaftsgigant. Paderborn 1996

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51 Komsomolskaja Prawda, Nr. 29/1997; Nedelja, Nr. 7/1997 52 Rossijskaja Gaseta, 7. März 1997 53 Russkij Westnik, Nr. 32-34 1996 54 Registriernummer 7/1/1223 55 Heft 12, S. 232-233 56 Gedruckt im Moskauer Historikerjournal Otetschestwennaja

Historija (Vaterländische Geschichte), Nr. 4/1994, S. 29, Titel: »Vorbereitungen der Sowjetunion zu einem Angriffskrieg«

57 Die Erstauflage brachte der Berliner Verlag der Freunde unter dem Titel Logik des Alptraums 1995 heraus

58 Ebenda, S. 214 59 Ebenda, S. 219 60 Ebenda, S. 217 61 Siehe Le livre noir du communisme 62 Zitiert nach T. S. Buschujewa in Nowij Mir, Heft 12, 1994 63 1. September 1939-9. Mai 1945. Nowosibirsk 1995, S. 38 64 Ebenda, S. 39 65 Alistair Hörne: Über die Maas, über Scheide und Rhein. Frank-

reichs Niederlage 1940. Wien-München-Zürich 1969, S. 159 66 Ebenda, S. 119 67 Osteuropa, Heft 46 (1996) 4, S. 414 f. 68 Revue de droite international, Genf, Nr. 3, Juli-September 1939,

S. 247 ff. 69 Russkij Westnik, Nr. 23-25, S. 13 70 Zitiert aus der französischsprachigen Fassung, entdeckt von

Tamara Buschujewa im ehemals geheimen Beutefonds des Sonderarchivs der UdSSR, F. 7, op. 1, d. 1223

71 Horne, a. a. O., S. 106 72 Ebenda, S. 104 73 Plante Stalin einen Angriffskrieg gegen Hitler? Moskau 1996 74 Ebenda, S. 12 75 Ebenda, S. 160 ff. 76 N. Tolstoj-Miloslawskij: Die Opfer von Jalta (russisch), deutsch

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München 1978 77 SMERSCH – Abwehr bzw. Gegenspionage der Roten Armee

in der Stalin-Epoche 78 DIE ZEIT, 27. September 1996 79 DER SPIEGEL 28/1996 80 SZ-Magazin vom 28. Juni 1996 81 Bis Chimki – Warum der deutsche Musketier nicht bis zum

Kreml kam, in der ZEIT vom 31. Dezember 1991 82 DIE WELT, 2. September 1993 83 DER SPIEGEL 33/1996, S. 47 84 FOCUS 38/1996, S. 100 85 DER SPIEGEL 40/1996 86 DIE WELT, 23. August 1996 87 F. A. Z, 9. Juli 1996 88 F. A. Z, 13. September 1996 89 F.A. Z.I.Oktober 1996 90 F. A. Z, 27. September 1995 91 Der russische Originaltitel lautet: »Die Unterdrückung der ge-

schichtlichen Wahrheit ist ein Verbrechen gegenüber dem Volk« 92 Paul Carell: Verbrannte Erde. Frankfurt am Main 1966, S. 129 93 Literaturnaja Gaseta, 5. Dezember 1990, S. 14 94 Die deutsche Ausgabe folgte 1996, Stuttgart 95 Poslednaja respublika, Kiew 96 Unabhängige Militär-Rundschau, Moskau, Nr. 2, 1998 97 Juan Goytisolo: Die Marx-Saga. Frankfurt am Main 1996 98 Snamja, Moskau, 10/1996 99 Suddeutsche Zeitung, 25. Februar 1997 100 Segodnja, Moskau, 25. Januar 1997 101 Die Presse, Wien, 14. März 1992 102 AULA, Graz, 1/1997 103 Robert H. Bork: Slouching Towards Gomorrha. Liberalism and

American Decline. New York 1996 104 DIE WELT, 12. Mai 1997

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Anhang

Dokumente Bibliographie

Personenregister

Stalin im Kreml bei einer Besprechung mit seinem militärischen Stab.

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Dokumente

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Hitlers Weisung Nr.21 »Fall Barbarossa«, diktiert am 18.Dezember 1940, wenige Wochen nach dem Berlin-Besuch Molotows.

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1.Mai 1941: Offensive Entfaltung von 178 sowjetischen Großverbänden an der Westgrenze, darunter 118 Schützendivisionen, 20 Kavallerie-divisionen, 40 mechanisierte Brigaden (Panzer). Auf deutscher Seite stehen zu diesem Zeitpunkt 72 Divisionen.

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Vorbereitungen zu einem Erstschlag gegen Deutschland im Juli 1941, generalstabsmäßig ausgearbeitet von Marschall Timoschenko und Ar-meegeneral Schukow.Original-Titelseite der »Erwägungen«, die dem »Genossen Stalin« am 15. Mai vorgelegt wurden.

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Übersetzung:

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Letzte Seite des Original-Dokuments, unterzeichnet von S. Timoschen-ko und G. Schukow

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Die Eroberungsziele der sowjetischen Angriffsstrategie laut General-stabsplan vom 15. Mai 1941: Warschau, Lublin, Krakau, Kattowitz, Oppeln, Olmütz, Bromberg, Danzig, Könisgberg. (Nach Recherchen des russischen Militärhistorikers Oberst Valerij Danilow, veröffentlicht in der Österreichischen Militärischen Zeitschrift von 1993, Heft 1, S 45.)

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Deutsche Verbände nach Lageplan OKH vom 21.6.1941. Sowjetische Verbände nach Generalleutnant S.P.Platanow (1961).

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Die Rote Armee zählte am 22. Juni 1941 rund 4,7 Millionen Soldaten, im Angriffsgeist geschult, bereit zur Erweiterung des sozialistischen Territoriums in Europa.

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»NKWD«, das Völkerzuchthaus Stalins am 22. Juni 1941. Deutsches Propagandaplakat in Russisch, bestimmt für die Bevölkerung in der UdSSR.

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Wer kam wem zuvor? Hitlers Proklamation in der nationalsozialisti-schen Presse am 22. Juni 1941.

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