staatsschulden und staatstätigkeit im schwedischen sozialstaat · 2015. 7. 28. · philip mehrtens...
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49Staatsschulden und Staatstätigkeit im schwedischen Sozialstaat
Die Verschuldung der öffentlichen Haushalte liegt in den entwickelten westlichen Ländern
heute im Durchschnitt bei über einhundert Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Der
Schul den stand übertrifft damit die gesamte jährliche Wirtschaftsleistung der Volks wirt
schaften und steigt vor allem durch die jüngsten staatlichen Bankenrettungsmaßnahmen
weiter an.
Enorme Staatsschulden und insbesondere schnell ansteigende Defizite können den Hand
lungs spielraum einer Regierung beschneiden und starken strukturellen Problemdruck
erzeu gen. Politik findet dadurch häufig in einem Kontext anhaltender Austerität statt: Sie
wan delt sich von der proaktiven Gestaltung der Gesellschaft durch staatliche Ausgaben
hin zur Durchsetzung von Sparmaßnahmen. Aufgrund der ökonomischen und demogra
fischen Bedingungen zeichnet sich in den meisten Ländern kein einfacher Ausweg aus der
gegenwärtigen Verschuldungspraxis ab. Vor diesem Hintergrund verspricht die Analyse
eines Landes, das eine solche Wirtschafts und Schuldenkrise bereits überwunden hat,
besonders interessante und vielversprechende Erkenntnisse.
Wie kann es in einem entwickelten Industrieland mit einem ausgebauten Sozialstaat gelingen, die
öffentliche Verschuldung in kurzer Zeit und in großem Umfang zu reduzieren? Was sind die gesell
schafts und sozialpolitischen Folgen einer Haushaltskonsolidierung und wie stellt sich die Politik
nach einer überwundenen Schuldenkrise in Zeiten regelmäßiger Überschüsse dar? Die Entwicklung
in Schweden gibt Antworten auf die hier aufgeworfenen Fragen.
Staatsschulden und Staatstätigkeit im schwedischen Sozialstaat PHIlIP MEHRtEnS
Aus der Forschung50
Schweden – ein Musterland?
Schweden war in den 1980er und den 1990erJah
ren mit ähnlichen Haushaltskrisen konfrontiert.
Trotzdem gilt Schweden gemeinhin als reiches
und vorbildhaftes Musterland mit einem hohen
Lebensstandard, dem es gelingt, wirtschaftliche
Prosperität und eine zufriedene Bevölkerung mit
hoher Einkommens und Chancengleichheit zu
vereinbaren. Als zentrale Gründe dafür gelten
unter anderem der ausgebaute Wohlfahrtsstaat mit seinem großen öffentlichen Sektor und
die weitreichende Umverteilung durch hohe Steuersätze.
Die zwei schweren Staatsschuldenkrisen haben Schweden jedoch tiefgreifend verändert.
Durch einschneidende Antikrisenmaßnahmen und strukturelle Reformen ist es den
schwe dischen Regierungen mittlerweile zwar gelungen, neue Wachstumsimpulse zu setzen
und zweistellige Defizite in regelmäßige Haushaltsüberschüsse zu verwandeln; diese haben
allerdings ihren Preis und so zeigt der schwedische Staat heute ein anderes sozial und
gesellschaftspolitisches Gesicht.
Die Stagflationskrise
In Schweden endete gegen Mitte der 1970erJahre die goldene Nachkriegszeit dauerhafter
Prosperität (Abb. 1). Die schwedische Politik war mit einer doppelten Krise konfrontiert.
Strukturelle Probleme in der Wirtschaft und bei der Lohnfindungspolitik bewirkten
eine sogenannte Stagflation, also steigende Inflationsraten bei einem gleichzeitig gerin
gen Wachstum. Bürgerliche und sozialdemokratische Regierungen begegneten dem
Stagflationsdilemma zunächst auf die klassisch keynesianische Weise mit schuldenfi
nanzierten staatlichen Ausgabensteigerungen und wiederholten Abwertungen der Krone.
Diese führten zu öffentlichen Defiziten und einer schnell ansteigenden Staatsverschuldung.
Nachdem sich die Situation Anfang der 1980erJahre nicht besserte, reagierten die
Politiker, indem sie den zuvor betriebenen Ausbau des öffentlichen Sektors zu bremsen
versuchten. Sie hielten jedoch an der grundsätzlichen wirtschafts und arbeitsmarktpoli
tischen Ausrichtung fest, deren wichtigstes Ziel das Vollbeschäftigungsversprechen blieb.
Letztlich gelang es, den Schuldenstand vor allem aufgrund der starken Inflation und einer
auf der Exportindustrie basierenden Wachstumsstrategie zu konsolidieren. Wichtige
Strukturreformen umfassten die Deregulierung der Finanzmärkte und eine Verschiebung
der Steuerlast hin zu indirekten Konsumsteuern.
Die Finanz und Immobilienkrise
Obwohl die Wirtschafts und Haushaltsprobleme zunächst gelöst waren, geriet Schweden
zu Beginn der 1990erJahre in eine zweite und noch verheerendere Wirtschafts und
Finanzkrise. Durch das Platzen einer Spekulationsblase auf dem Kredit und Immo
bi lien markt, gepaart mit der tiefsten und längsten wirtschaftlichen Rezession seit den
Politik in anhaltender Austerität
wandelt sich von der proakti ven
Gestaltung der Gesellschaft durch
staatliche Ausgaben hin zur
Durchsetzung von Sparmaßnahmen.
51Staatsschulden und Staatstätigkeit im schwedischen Sozialstaat
1930erJahren, drohte das gesamte schwedische Finanz und Bankensystem aus den Fugen
zu geraten. Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung stiegen sprunghaft an. In wenigen
Jahren verdoppelten sich die öffentlichen Verbindlichkeiten auf fast 85 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts und die Arbeitslosenquote verfünffachte sich auf über 11 Prozent.
Die Krise wurde zusätzlich durch das hohe Zinsniveau verschärft, mit dem die Zentralbank
versuchte, das System fester Wechselkurse aufrechtzuerhalten und eine Abwertung der
Krone zu verhindern.
Durch einen beispiellosen nationalen Kraftakt
und einschneidende Reformen ist es der schwedi
schen Politik schließlich gelungen, die Banken zu
sta bi lisieren, den Export und damit die Wirtschaft
zu beleben und zweistellige Haushaltsdefizite in
regelmäßige Überschüsse zu verwandeln. Im Ver
gleich zu ähnlichen Krisen situ a tionen in anderen
Ländern fallen bei der schwe di schen Haushalts
konso lidierung insbesondere drei Aspekte auf: die lagerübergrei fen de Zusammenarbeit
von Regierung und Opposition, die hohe Transparenz der Reform maßnahmen und die
Beteiligung möglichst aller Bevölkerungsgruppen an den Kosten. So vermied das Land
eine Verschleppung der Krise durch politisches Taktieren, verabschie de te umfassende
Antikrisenpakete und erreichte eine größtmögliche und relativ faire Lastenverteilung.
Staatsschulden und Finanzierungssaldo als Anteil des schwedischen Bruttoinlandsprodukts in Prozent
Quelle: OECD Economic Outlook Database.
Abb. 1
60
0
70
80
90 8
6
4
2
0
–2
–4
–6
–8
–10
–12
Schu
lden
GoldenesZeitalter SparpolitikKrise I Krise II
Sald
o
50
40
30
20
10
1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010
Schweden verabschiedete umfas
sende Antikrisenpakete und erreich
te eine größtmögliche und relativ
faire Lastenverteilung.
Aus der Forschung52
Paradigmatische Verschiebungen
Dennoch wurden konstitutive Merkmale des schwedischen Modells wie das Voll be schäf
tigungsziel zugunsten der Geldwertstabilität aufgegeben. Weitere institutionel le Reformen
umfassten den Beitritt zur Europäischen Union, die Einführung einer unab hän gi gen
Zentralbank, eine grundlegende Rentenreform und eine deutlich striktere Haus halts
politik. Unter anderem schreibt diese eine rigide mehrjährige Ausgabendeckelung und ein
Überschussziel gesetzlich fest.
Trotz dieser weitreichenden Strukturreformen und teilweise erheblicher Kürzungen der
So zial ausgaben blieben die Grundprinzipien des schwedischen Wohlfahrtsstaates auf dem
Höhe punkt der Finanzkrise Mitte der 1990erJahre von der Austeritätspolitik unberührt.
Wei ter hin gab es eine universelle soziale Absicherung für alle Bürgerinnen und Bürger, die
durch Steuern und Abgaben und nicht durch private Sozialversicherungen finanziert wurde.
Allerdings gab es in allen relevanten Politikfeldern
durch die Krisenmaßnahmen tiefgreifende Refor
men, die die Prioritäten der Staatstätigkeit ver
schoben haben. Es kann von einer paradigmati
schen Wende gesprochen werden, nach der Haus
haltsdisziplin Vorrang vor Umverteilung hat. Zwar
gelang es so, die dramatische Schuldenkrise unter
Kontrolle zu bringen und den Staatshaushalt zu
sanieren. Die Kehrseite dieser Reformen wird aber vor allem durch eine anhaltend hohe
Sockelarbeitslosigkeit und Dualisierungstendenzen auf dem Arbeitsmarkt deutlich.
Tiefgreifende Reformen haben
die Prioritäten der Staatstätigkeit
verschoben: Die Haushaltsdisziplin
hat nun Vorrang vor einer
Umverteilung.
Die Grundprinzipien des schwedischen Wohlfahrtsstaates blieben von der Austeritätspolitik unberührt. Dennoch wurden konstitutive Merkmale des schwedischen Modells wie etwa das Voll beschäftigungs ziel zugunsten der Geldwertstabilität aufgegeben. Kehrseite dieser Reform ist eine bis heute anhaltende, hohe Sockelarbeitslosigkeit.
53Staatsschulden und Staatstätigkeit im schwedischen Sozialstaat
Sparen ohne finanzielle Notwendigkeit
Das strikte Haushaltsregime führt Schweden bis heute fort, obwohl die Schuldenkrise
lange überwunden ist und die Staatsverschuldung seit vielen Jahren kontinuierlich abge
baut wird. Selbst die schwere globale Finanz und Wirtschaftskrise im Jahr 2009, von der
auch Schweden stark betroffen war, hat nichts daran geändert. Der schwedische Staat
erzielt jedes Jahr einen strukturellen Primärüberschuss. Anders als viele andere europä
ische Länder, die unter Rekordschuldenständen ächzen und die öffentlichen Ausgaben
kürzen müssen, hat Schweden eine sehr geringe Staatsverschuldung. Theoretisch könnte
das Land problemlos mehr in seine Infrastruktur oder sein Bildungssystem investieren –
tut dies jedoch nicht, sondern spart weiter.
Obwohl der schwedische Staat jedes Jahr mehr Geld einnimmt, als er ausgibt und finanzi
ell glänzend dasteht, nutzt er den zurückgewonnen finanziellen Spielraum nicht für poli
ti sche Maßnahmen zur stärkeren Gestaltung der Gesellschaft etwa durch höhere Staats
ausgaben oder eine Ausweitung der Sozialpolitik. Stattdessen zieht sich der Staat immer
weiter aus Wirtschaft und Gesellschaft zurück, hält das Sparregime auch Jahre nach der
Krise aufrecht und verwendet die Überschüsse für den Schuldenabbau und wiederholte
Steuersenkungen.
Diese ohne finanzpolitische Notwendigkeit
schein bar paradoxe Sparpolitik hat über die letz
ten beiden Dekaden eine schleichende Libera
li sie rung und Privatisierung insbesondere in
den Dienstleistungssektoren des schwedischen
Wohl fahrts staates bewirkt. Die sozioökonomi
schen Folgen des staatlichen Rückzugs markieren
eine Risikoverlagerung vom Staat und der Solidargemeinschaft auf den Markt und das
Individuum. Kinderbetreuung, schulische Bildung, gesundheitliche Absicherung oder die
Rente hängen in Schweden immer stärker vom persönlichen Einkommen, individueller
Vorsorge und dem Bildungsgrad der Schwedinnen und Schweden ab. Der Staat garantiert
nicht mehr ein gleichermaßen hohes Niveau sozialer Sicherung für alle Bürgerinnen und
Bürger. Während sich die Finanzsituation des schwedischen Staates jedes Jahr verbessert,
sinken die öffentlichen Renten, die Arbeitslosenquote verbleibt auf einem hohen Niveau
und die Einkommensungleichheit steigt seit Jahrzehnten schneller als in den meisten
europäischen Ländern.
Schweden heute
Heute befindet sich Schweden in einem ambivalenten Zustand. Einerseits sind die
Steuersätze, die Staatsquote und die soziale Sicherung im internationalen Vergleich immer
noch sehr hoch. Andererseits sind sie im letzten Jahrzehnt aber auch besonders schnell
und stark gesunken. Angesichts der Entwicklungen ist es fraglich, ob Schweden unein
geschränkt als Vorbild für eine erfolgreiche Haushaltskonsolidierung dienen kann. Zwar
Die scheinbar paradoxe Spar poli tik
hat eine schleichende Liberalisierung
und Privatisierung des schwedischen
Wohlfahrtsstaates bewirkt.
Aus der Forschung54
ist es zutreffend, dass Schweden die schwere Krise in den 1990erJahren relativ schnell
gelöst hat, allerdings geht dies einher mit einem Rückgang der gesellschafts und sozial
politischen Ambitionen des Staates. Steuerliche Entlastungen kommen vor allem den
Wohlhabenden zugute.
Dennoch genießt das Überschussregime in beiden politischen Lagern hohe Legitimation.
Weder regierende Sozialdemokraten noch die bürgerliche Opposition stellen die
Sparpolitik ernsthaft infrage. Eine Umkehr dieses Entwicklungstrends ist daher auch vor
dem Hintergrund der Finanz und Schuldenkrisen in weiten Teilen Europas und der poli
tischen Ausgangslage in Schweden eher unwahrscheinlich.
Philip Mehrtens ist seit 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am MPIfG. Er studierte
Politikwissenschaft und Sozialpolitik an der Universität Bremen und wurde 2013
an der Universität zu Köln promoviert.
Forschungsinteressen: politische Ökonomie; vergleichende Sozialpolitikforschung;
Fiskalpolitik; institutioneller Wandel.
Zum Weiterlesen MEHRTENS, P.: Staatsschulden und
Staatstätigkeit: Zur Transformation
der politischen Ökonomie Schwedens.
Schriften aus dem MaxPlanckInstitut für
Gesellschaftsforschung, Bd. 80. Campus,
Frankfurt a.M. 2014.
HAFFERT, L. & MEHRTENS, P.: From Austerity
to Expansion? Consolidation, Budget
Surpluses, and the Decline of Fiscal Capacity.
Politics & Society 43(1), 119–148 (2015).
HAFFERT, L. & MEHRTENS, P.: Haushalts
überschüsse, konservative Parteien und
das Trilemma der Fiskalpolitik. Politische
Vierteljahresschrift 55(4), 699–724 (2014).
SVALLFoRS, S.: Politics as Organized Combat:
New Players and New Rules of the Game in
Sweden. MPIfG Discussion Paper 15/2. Max
PlanckInstitut für Gesellschaftsforschung,
Köln 2015.
www.mpifg.de/pu/mpifg_dp/dp152.pdf
PHIlIP MEHRtEnS