sprache, region, identität: einflüsse auf das schreiben von texten · 2016-01-13 · sprache,...

40
Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria Riehl Institut für Deutsch als Fremdsprache Ludwig-Maximilians-Universität München [email protected]

Upload: others

Post on 16-Jul-2020

1 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf

das Schreiben von Texten

Prof. Dr. Claudia Maria Riehl Institut für Deutsch als Fremdsprache

Ludwig-Maximilians-Universität München [email protected]

Page 2: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Sprache, Region, Identität

Sprachgemeinschaften bilden ihre eigenen Diskursmuster aus

Diese sind nicht an eine bestimmte Sprache gebunden

Drücken daher auch eine regionale Identität aus

Page 3: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Gliederung

Diskurstradition und Kulturkontakt

Kulturspezifische Unterschiede in Texten

Kriterien von Textmustern

Beispiel aus der Südtirol-Studie (2001)

Das Projekt „Mehrschriftlichkeit“

Beispiel von italienisch-deutsch bilingualen Schülern

Page 4: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Diskurstradition und

Kulturkontakt

Page 5: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Der Begriff 'Diskurstradition' (Koch 1997, Oesterreicher 2002)

Bezieht sich auf Sprachlich-Traditionelles jenseits der Grammatik:

Tradition eines bestimmten Zitats, einer bestimmten Grußform

gruppenspezifische Traditionen wie lokale Redetraditionen (Bsp. „Berliner Schnauze“)

Textformen, Texttypen, Textsorten, Gattungen, Genres

Page 6: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Beispiel: Höflichkeitsmuster in Südtirol

1. Man bittet weder Motorräder noch Fahrräder abzustellen. Danke (Si prega di non posteggiare moto, motorini, biciclette. Grazie, Hauswand, Bozen)

2. Wir ersuchen Sie höflich, die Sitzplätze Invaliden, Senioren oder Müttern mit Kleinkindern zu überlassen. Danke (Preghiamo gentilmente ai passeggeri di cedere i posti a sedere agli invalidi, seniori e madri con bambini piccoli. Grazie, Aufschrift im Stadtbus Bozen)

3. Sehr geehrter Gast, wir haben Ihre geschätzte Anfrage erhalten, und beeilen uns, Ihnen Prospektmaterial über unsere Stadt zuzusenden. (Anschreiben des Verkehrsamts der Stadt Bozen)

Page 7: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Sprach- und Kulturkontakt (Riehl 2014)

In Sprachkontaktsituationen übernimmt man nicht nur

Lexik oder grammatische Strukturen, sondern auch

die Diskursformen bzw. Diskurstraditionen einer

anderen Sprachgemeinschaft

Es gibt sog. Sprachrituale: ich fülle ein Sprachritual

der Sprachgemeinschaft A mit Sprachmaterial der

Sprachgemeinschaft B

Page 8: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Kulturspezifische Unterschiede in

Texten

Page 9: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Kulturspezifische Unterschiede in geschriebenen Texten

Argumentationsstrategien

Vorstellungen von Wohlgeformtheit

Unterschiede beim akademischen Schreiben

Unterschiede in Textmustern

Page 10: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Unterschiedliche Argumentationsstrategien (Kaplan 1972)

Page 11: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Vorstellungen von Wohlgeformtheit von Texten (Clyne 1987)

Deutsch Texte sollen

interessant

gehaltvoll

aufklärend sein

Englisch Texte sollen

gut lesbar

verstehbar

knapp

präzise

wohlgeordnet sein

Schreiberorientiert Leserorientiert

Page 12: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Unterschiede im wissenschaftlichen Schreiben deutsch-romanisch (Kaiser 2002)

Deutsche Schreiber

objektiv viel Wert auf formale

Richtigkeit (Zitieren, Quellenangaben)

Unsicherheit und Zweifel kommen zum Ausdruck (scheinen, erscheinen, den Anschein haben)

Spanischsprachige Schreiber

Viel stärker sprachlich-stilistisch orientiert

Wert auf Eleganz stärker wertend (pienso

que, en mi opinión) Gefühle werden artikuliert

(me interessa lo considero muy importante, me soprende que, lo más fascinante me parece)

Page 13: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Unterschiede in Textmustern

Page 14: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Was ist ein Textmuster?

Textmuster stellt ähnlich wie Handlungsmuster einen Komplex von kognitiv gespeicherten Einheiten dar

Textmuster liegen als kognitive Schemata benennbaren Textsorten zugrunde (Nussbaumer 1991; Riehl 2001)

Elemente auf der Mikroebene:

Formulierungsmuster

Makro-Ebene:

Makrostruktur, Textorganisation (Augst/Faigel 1986, Rapti 2005)

Involvierungsmuster (Boueke et al. 1995)

Kommunikative Grundhaltung (Sieber 1998)

Page 15: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Makrostruktur: Textordnungs-muster (Augst/Faigel 1986)

linear-entwickelnd Assoziative Aneinanderreihung von Gedanken

aus einer intrinsischen Perspektive material-systematisch Reihenfolge basierend auf der Ordnung des

Gegenstandes und der Perspektive des Schreibers

formal-systematisch Formale Anordnung, konsistente

Makrostruktur linear-dialogisch Formale Anordnung, Einbezug des

Adressaten

Page 16: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Diskursmodus: Konzeptionelle Schriftlich-keit vs. Mündlichkeit (Koch/Oesterreicher 2007)

Sprachebenen Konzept. Mündlichkeit Konzept. Schriftlichkeit

Lexikon Basiswortschatz bzw.

Umgangssprache

Niedrige Type-Token-

Relation

Passe-partout-Wörter

Elaborierter, fach-

sprachlicher Wortschatz

Hohe Type-Token-

Relation

Morpho-

Syntax

Aggregative Muster

Elliptische Konstruktionen

Agensorientierung

Integrative Muster

Objektivierungs-

strategien

Textuelle

Ebene

Lineare Organisation,

semantisch unspezifisch

(und, daher, aber)

Elaborierte Textver-

knüpfungsmuster,

semantisch spezifiziert

(einerseits-andererseits)

Page 17: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Kommunikative Grundhaltung (Heinrich/Riehl 2011)

Kategorien Involvierung Distanz

Sprecher-Hörer-

Deixis

Selbst-Referenz

Adressierung des

Hörers

Keine Selbst-Referenz

(oder nur in den

Rahmenteilen)

Fokussierung des

Themas

Evaluation Gebrauch evaluieren-

der Adjektive oder

Modalpartikeln

(toll, idiotisch,

sicherlich)

Objektive Formen zur

Meinungsdarstellung

(angesichts der

Tatsache, dass…)

Page 18: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Ebenen der Selbstreferenz

Nicht alle Bezüge der Selbstreferenz zeigen den gleichen Grad der Involvierung

Es gibt hier unterschiedliche Ebenen

Diskursebene

Bewertungsebene

Darstellungsebene

Page 19: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Selbstreferenz auf der Diskurs- und Bewertungsebene

Diskursebene: Unterstützung des Lesers (Rezeptionshilfen)

Ich -Kommentar auf der Ebene des Diskurses

a) Letzlich komme ich zu dem Schluss, dass… b) Im Folgenden werde ich erläutern …

Bewertungsebene: Evaluierung des Dargestellten und Bewerten von Argumenten

Ich-Bezug hat Funktion der Relativierung

a) Ich denke, dass es eine gute Idee ist, wenn…

b) Ich persönlich halte es nicht für sinnvoll, dass…

Page 20: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Selbstreferenz auf der Darstellungsebene

Eigenes Erleben wird als Argument eingesetzt

Ich war 8 Jahr alt, als ich meinen 1. Französisch-unterricht erteilt bekam. Auch wenn ich viel über das blöde Französisch geschimpft habe, bin ich heute froh, mich mit Französischsprachigen verständigen (unterhalten) zu können. Ich finde die Mehrsprachigkeit so wichtig, daß ich mit 16 Jahren noch Niederländisch als Wahlfach gewählt habe. Bin ich mit der Schule fertig, kann ich mich in 4 Sprachen weiterhelfen, d.h. in viel mehr Ländern zurechtkommen. (Schülerin aus Ostbelgien, 11. Jg.))

Eigene Einstellungen und Wünsche werden referiert Latein auf keinen Fall. Damit komme ich jetzt schon nicht zurecht. (Schülerin aus Südtirol, 12. Jg.)

Page 21: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Fallbeispiel I: Sprach- und

Kulturkontakt in Südtirol

Page 22: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Sprach- und Kulturkontakt in Südtirol (Riehl 2001)

Erhebung 1994-1996

Fünf Schulen in Bozen und Meran (Jg. 11-13)

16 Klassen: 255 Schüler

Deutsches Vergleichscorpus: 3 Schulen in Bayern und Baden-Württemberg (Jg. 11-13)

9 Klassen: 164 Schüler

4 Texttypen: narrativ

deskriptiv

instruktiv

argumentativ

Page 23: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Beispiel: argumentativer Text

Vorlage: fiktive Umfrage:

Europäische Union berät über die Einführung einer einheitlichen Amts- und Verkehrssprache für ihre Mitgliedsländer.

Welche Sprache soll gewählt werden (Auswahl: Deutsch, Englisch, Latein, Esperanto)?

Welches Modell für Zweisprachigkeit (Schulsystem) soll gewählt werden?

Page 24: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Beispiel deutsches Textmuster

In der EU stellt sich die Frage, ob eine einheitliche Sprache als Amts-

und Verkehrssprache als Zusatz zur normalen Muttersprache

eingesetzt werden soll. Diese 2. Sprache dient dann als

Korrespondenzsprache in der EU.

Von den gebotenen Sprachen (hier: Englisch, Deutsch, Esperanto

und Latein) bietet sich Englisch als die wohl beste Sprache an. Sie

wird im Ausland gesprochen, bzw. in Ländern außerhalb der EU, so

Amerika (USA u. Kanada), Australien und teilweise Neuseeland.

Englisch ist schon jetzt die Sprache der zivilen (und militärischen)

Luftfahrt. Ausserdem ist sie die einheitliche Sprache der

Weltwirtschaft. In der EU böte sich auch die Möglichkeit der

deutschen Sprachen, die den größten Anteil an der gesprochenen

Sprache hat.

Es ist klar, daß eine Sprache gewählt werden muß, vor allem

aufgrund des Aufwandes, jede verwaltungstechnische

Veröffentlichung, etc. in jede Sprache der EU zu übersetzen. Die

damit verbundenen Kosten wären einsparbar bei einheitlicher

Sprache.

Page 25: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Charakteristika des Musters

Makrostrukturelle Ordnung: formal-systematisch

Argumentation vorwiegend zu Englisch, aber mit mehreren Argumenten

Strukturen konzeptioneller Schriftlichkeit:

Formulierungsmuster: dient als Konferenzsprache, von den gebotenen Sprachen

Verwendung von Passiv, Konjunktiv etc.

Distanzstrategien:

Fehlende Selbstreferenz

Formen der Agensausblendung

Page 26: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Beispiel romanisches Textmuster

Ich bin dafür daß Englisch gewählt wird. Als Sprache ist das

Englisch am geeignetsten weil es am leichtesten zu lernen ist.

Deutsch u. Latein sind grammatikalisch gesehen viel schwerer. Und

daher auch schwerer erlernbar. Außerdem ist das Englische

gegenüber dem Dt. nicht so formell und krampfhaft, sondern viel

lockerer. Dies fängt schon bei der Anredeform mit "you" an. "You"

ist keine Höflichkeitsform, man geht also automatisch viel offener

und lockerer auf die angespr. Person ein. Latein auf keinen Fall.

Damit komme ich jetzt schon nicht zurecht. Was glauben sie da,

was für Schwierigkeiten ich dann später hätte bei

Kommunkikation und Gesprächen, wo die Wörter schnell her

müssen ohne zuvor lange an Grammatikregeln u.s.w zu denken.

Esperanto: kenne ich nicht. Ich glaube viele Leute kennen diese Sp.

nicht. Also müßte man hierbei eine völlig neue Spr. lernen; dies ist

auch kompliziert. Das Englische versteht man ja auch sofort auf

Anhieb, weil viele Wörter dabei aus dem Lateinischen stammen, also

dem Italienischen u. Dt. sehr ähnlich sind, daher auch leicht

verständlich. Bleiben wir bei Englisch.

Page 27: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Charakteristika des Musters

Makrostrukturelle Ordnung: material-systematisch

Verschiedene Sprachen werden „abgearbeitet“, der Adressat wird angesprochen:

Was glauben Sie da, was für Schwierigkeiten ich da hätte? Bleiben wir bei Englisch

Strukturen konzeptioneller Mündlichkeit

Ich bin dafür, daß … Latein auf keinen Fall

Involvierungsstrategien

Selbstreferenz auch auf Argumentationsebene:

Damit komme ich jetzt schon nicht zurecht

Page 28: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Verteilung der Textmuster

0

5

10

15

20

25

30

35

40

45

50

Distanz Involvierung Mischtyp

Südtirol

Deutschland

Page 29: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Beispiel II: Schreiben in zwei

Sprachen im Migrationskontext

Page 30: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Projekt Mehrschriftlichkeit (Förderung durch BMBF 10/13 - 09/16 ) http://www.mehrschriftlichkeit.daf.uni-muenchen.de

Probanden:

Je 60 Schülerinnen und Schüler mit griechischem, italienischem und türkischem Familienhintergrund (9. und 10. Schuljahr)

Monolinguale Kontrollgruppe

Erhebungsinstrumente:

Erzählende und argumentative Texte in L1 und L2

Phantasiegeschichte mit Eingangsimpuls

Argumentativer Brief (L2: Handyverbot, L1: Verbot des Gebrauchs anderer Sprachen auf dem Schulhof)

Sprachbiographische Interviews in L1 und L2

Elterninterviews

Sprachaufmerksamkeitstest

Page 31: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Realisierungsformen argumentativer

Texte (Riehl, 2013; Wörfel et al. 2014)

Einfacher Texttyp : Linear-entwickelnde Makrostruktur Konzeptionelle Mündlichkeit Involvierung

Typ 1

Typ 2

Typ 3

Gemischter Typ: Material-systematische Makrostruktur Konzeptionelle Schriftlichkeit mit mündlichen Elementen Distanz (+/- Selbstreferenz)

Elaborierter Typ: Formal-systematische Makrostruktur Konzeptionelle Schriftlichkeit Distanz

Page 32: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Sehr geehrter Schulleiter,

hiermit schreibe ich ihnen um ihnen meine Stellung gegenüber dem Thema „Handyverbot“ darzulegen. Der erste Punkt ist, die Schwächung der Verbindlichkeit der Schüler. So unterhalten sich Schüler, bei ständigem Gebrauch des Handys, miteinander weniger. In der Folge werden weniger Freundschaften geschlossen, was dazu führt, dass sich die Schüler fremder vorkommen und nicht verbunden. Ein weiterer Gesichtspunkt ist, die Versuchung bei Leistungsnachweisen mithilfe von Handys zu betrügen. Denn beinahe jedes Handy besitzt heutzutage Internet, indem man leicht Wissen aller Arten nachrecharchieren kann. So könnten Schüler in Versuchung geraten, während eines Schultests, beim fehlenden Wissen einer Antwort, ihr Handy raus zu zücken und nach jener zu suchen, was nicht erlaubt ist und bei Erwischen des Lehrers dieser Tat im schlimmsten Falle mit der Note Sechs bestraft werden könnte.

Der wichtigste Punkt aber, ist die Ablenkung. So könnten bei ständigem Gebrauch des Handys und wenig Mitarbeit im Unterricht große Wissenslücken entstehen. Zum Beispiel könnte sich ein Schüler lieber für seine SMS-en als die neue Grammatik im Englischunterricht interessieren, weil er abgelenkt wurde.

Ich hoffe ich konnte ihnen, mit meinen Argumenten, die Entscheidung erleichtern und hoffe Sie setzen das Handyverbot durch

Mit freundlichen Grüßen

Vittorio, 9. Schuljahr, Gymnasium, München, Deutscher Text

Page 33: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Besonderheiten des Texts

Formal-systematisches Musters:

der erste Punkt, der zweite Punkt etc.

Adressatenadressierung nur im Schluss

Keine erkennbare Involvierung (Selbstreferenz nur auf Diskursebene)

keine direkte Anrede des Lesers im Text

(intendierte) konzeptionelle Schriftlichkeit

Page 34: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Vittorio, 9. Schuljahr, Gymnasium, München, Deutscher Text

Gentile direttore,

scrivo questa lettera per esprimere la mia opinione riguardo il divieto di parlare lingue straniere durante la pausa scolastica.

Come primo punto vorrei dire che se si puo parlare lingue straniere anche in futuro, potrebbe aiutare ai scolari a fare piu rapidamente nuove amicizie. Se per esempio un bambino che si è trasferito da un altro paese parla solo la sua lingua e viene nella nostra scuola bambini che sanno la sua lingua possono comunicare facilmente con egli. E cosi che nasce una nuova amicizia.

Come altro punto, vorrei aggiungere che, parlare lingue straniere nelle pause scolastice, può essere anche un esercizio utile..

Sehr geehrter Herr Direktor, Ich schreibe diesen Brief, um meine Meinung hinsichtlich des Verbotes in der Pause fremde Sprachen zu sprechen auszudrücken. Als ersten Punkt möchte ich sagen, dass man auch in Zukunft fremde Sprachen sprechen kann, könnte den Schülern helfen schneller Freundschaften zu schließen. Wenn zum Beispiel ein Kind, das aus einem anderen Land zugezogen ist, nur seine Sprache spricht und in unsere Schule kommt, können die Kinder, die seine Sprache können, einfacher mit ihm kommunizieren. Und so entsteht eine neue Freundschaft. Als weiteren Punkt, möchte ich hinzufügen, dass andere Sprachen in der Pause zu sprechen auch eine nützliche Übung ist.

Page 35: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Se per esempio nella scuola ci sono bambini con stessa nazionalità e capacità di parlare la lingua di egli, possono comunicare con la lingua straniera ed essercitarla. Cosi hanno la possibilità di migliorarla

Spero che i miei argomenti le sono utili sulla decisione di introdurre il divieto di parlare lingue straniere durante la pausa scolastica.

Sinceri saluti,

Vorname Nachname

Wenn zum Beispiel in der Schule Kinder mit der gleichen Nationalität sind und Fähigkeit ihre Sprache zu sprechen, können sie mit der fremden Sprache kommunizieren und sie üben. So haben sie die Möglichkeit, sie zu verbessern. Ich hoffe, dass meine Argumente Ihnen nützlich sind für die Entscheidung das Verbot, fremde Sprachen während der Pause zu sprechen einzuführen. Mit freundlichen Grüßen

Page 36: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Besonderheiten des Texts

Diskursführung wie im Deutschen

Nachahmung des formal-systematischen Musters:

der erste Punkt, der zweite Punkt etc.

Adressatenadressierung nur im Schluss

Keine erkennbare Involvierung (Selbstreferenz nur auf Diskursebene)

keine direkte Anrede des Lesers im Text

Page 37: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Egregia Signora Direttrice,

le scrivo a nome del nostro Liceo per illustrarle la nostra posizione sull’utilizzo del cellulare a scuola. Come ben sa, l’introduzione dei cellulari ha portato grandi cambiamenti nella nostra società e noi ragazzi abbiamo bisogno degli smartphone per conoscere il mondo e quello che ci accade intorno ogni giorno Si viene a scuola per apprendere cose nuove, per imparare a vivere bene in società e per studiare. Ormai anche i telefonini ci danno grandi informazioni e, se usati nel modo giusto, possono essere utili anche a scuila. Lei ha intenzione di introdurre il divieto di utilizzare il cellulare a scuola, perchè pensa che ci distragga dalle lezioni. Ma il cellulare è ormai fondamentale per il passaggio di informazioni e per il contatto tra le persone. Non si può spegnere il telefono durante le lezioni, perchè sarebbe rischioso. Quante volte riceviamo telefonate importanti da parte dei nostri parenti, oppure siamo noi ragazzi che abbiamo bisogno di chiamare i nostri genitori per informarli di qualcosa, o per dirgli che stiamo male? Se secondo alcuni studi, la maggior parte dei ragazzi utilizzano impropriamente i cellulari, c’è un’altra indagine che afferma che molti professori, insiame agli alunni, alcune volte si avvalgono dei nuovi mezzi di comunicazione (soprattutto i telefonini) per completare la lezione e per incrementarla. Basti pensare che proprio lei, come moltissimi altri presidi in Italia, ha introdotto già da alcuni anni, un computer e una lavagna interattiva in ogni classe, quindi strumenti elettronici propensi all’insegnamento. Inoltre, ogni professore utilizza un tablet e ha un registro elettronico, accessibile anche da uno smartphone. Perciò, il telefonino non solo è indispensabile per particolari situazioni, come problemi familiari o salute, ma può essere anche un buon strumento per l’apprendimento e per crescere conoscendo il mondo che ci circonda, non solo studiando sui libri, ma anche su uno schermo touchscreen, che ormai è diventato compagno di noi ragazzi. Spero che comprenda le nostre motivazioni e che cambi idea sull’introduzione del divieto di utilizzare il cellulare a scuola.

Distinti saluti

Italienische Kontrollgruppe (Calabrien): Lorenza, 10. Jg.

Page 38: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Charakteristika des Textes

linear-dialogisches Muster

Diskursmodus: konzeptionelle Schriftlichkeit (mit mündlichen Elementen)

starke Involvierung des Schreibers und Lesers:

direkte Adressierung, rhetorische Fragen etc.

Page 39: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Schlussfolgerung

Schüler, die in einer anderen Sprachgemeinschaft leben und die Diskurstraditionen ihrer (Herkunfts-) Sprachgemeinschaft nicht erwerben (können), übertragen sie Muster aus der Kontaktgemeinschaft:

Argumentationsstrategien und Makrostruktur

Diskursmodus

Kommunikative Grundhaltung

Page 40: Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten · 2016-01-13 · Sprache, Region, Identität: Einflüsse auf das Schreiben von Texten Prof. Dr. Claudia Maria

Literaturhinweise Augst, Gerhard & Faigel, Peter (1986): Von der Reihung zur Gestaltung. Untersuchungen zur Ontogenese

der schriftsprachlichen Fähigkeiten von 13-23 Jahren, Frankfurt/Bern/New York: Lang. Berman, Ruth A. & Bracha Nir-sagiv (2007): Comparing narrative and expository text construction across

adolescence: A developmental paradox. Discourse Processes 43 (2). 79-120. Boueke, Dietrich, Frieder Schülein, Hartmut Büscher, Evamaria Terhorst & Dagmar Wolf. 1995. Wie Kinder

erzählen: Untersuchungen zur Erzähltheorie und zur Entwicklung narrativer Fähigkeiten. München: W. Fink.

Caprez-Krompàk, Edina (2010): Entwicklung der Erst- und Zweitsprache im interkulturellen Kontext: Eine empirische Untersuchung über den Einfluss des Unterrichts in heimatlicher Sprache und Kultur (HSK) auf die Sprachentwicklung. Waxmann Verlag.

Duarte, Joana; Gogolin, Ingrid; Klinger, Thorsten & Birger Schnoor (2014): Mehrsprachige Kompetenzen in Abhängigkeit von familialen Sprachpraxen. In LiLi-Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 43, 66-85.

Heinrich, Dietmar & Claudia M. Riehl (2011): Kommunikative Grundhaltung: Ein interkulturelles Paradigma in geschriebenen Texten. In Csaba Földes (Hg.), Interkulturelle Linguistik im Aufbruch: Das Verhältnis von Theorie, Empirie und Methode, Tübingen: Narr, 25–43.

Knapp, Werner (1997): Schriftliches Erzählen in der Zweitsprache. Tübingen: M. Niemeyer. Koch, Peter & Wulf Oesterreicher. 2007. Schriftlichkeit und kommunikative Distanz. Zeitschrift für

germanistische Linguistik 35 (3). 346–374. Portmann-Tselikas, Paul R. (2001): Schreibschwierigkeiten, Textkompetenz, Spracherwerb. Beobachtungen

zum Lernen in der zweiten Sprache. In: Deutsch als Fremdsprache 38, 3-13. Rapti, Aleka (2005): Entwicklung der Textkompetenz griechischer, in Deutschland aufwachsender Kinder:

untersucht anhand von schriftlichen, argumentativen Texten in der Muttersprache Griechisch und der Zweitsprache Deutsch. Frankfurt a.M. [u.a.]: Lang.

Riehl, Claudia M. (2001): Schreiben, Text und Mehrsprachigkeit. Zur Textproduktion in mehrsprachigen Gesellschaften am Beispiel der deutschsprachigen Minderheiten in Südtirol und Ostbelgien. Tübingen: Stauffenburg.

Riehl, Claudia M. (2013): Multilingual discourse competence in minority children: Aspects of transfer and variation. In: European Journal of Applied Linguistics 2, 254-292

Schmölzer-Eibinger, Sabine (2011): Lernen in der Zweitsprache. Grundlagen und Verfahren der Förderung von Textkompetenz in mehrsprachigen Klassen. 2. Aufl., Tübingen: Narr.

Schmölzer-Eibinger, Sabine/Weidacher, Georg (Hgg.) (2007): Textkompetenz. Eine Schlüsselkompetenz und ihre Vermittlung. Tübingen: Narr.

Wörfel Till; Nikolas Koch; Seda Yilmaz Wörfel & Claudia Riehl (2014): Mehrschriftlichkeit bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern: Wechselwirkungen und außersprachliche Einflußfaktoren. In LiLi-Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 43, 44-65.