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Sozialpädagogik an ihren Systemgrenzen1 - Eine organisationspädagogische Fallstudie -
Stephan Wolff, Universität Hildesheim
1. Akteure, Orte und Methoden
Mein Beobachtungsgegenstand ist ein Reorganisations- und Entwicklungsprozess eines
grundständigen Sozialpädagogikstudiengangs mit etwa 45O Studierenden an einer kleinen
norddeutschen Universität (4000 Studierende). Die Rekonstruktion dieses Prozesses soll hel-
fen zu ermessen, was geschehen kann, wenn man auf der Suche nach zeitgemäßen Fortent-
wicklungen des Faches bislang nicht gesehene oder genutzte Möglichkeiten an den Rändern
des disziplinär kartierten Bereichs auslotet. Das Aufschlussreiche an solchen Entwicklungs-
prozessen sind ihre geplanten, und mehr noch ihre ungeplanten Nebenfolgen. Indem sie gera-
de darauf abhebt, versucht diese Fallstudie einige Hinweise auf die Dynamik universitäre Re-
formen und zugleich auf die Optionen der Weiterentwicklung universitärer Studiengänge in
der Sozialpädagogik zu geben.
Methodisch ließe sich der folgende Text als organisationspädagogische Einzelfallstudie be-
zeichnen, in der sich teilnehmende Beobachtung, auto-ethnographische Erkenntnisse
(Introspektion, „Emotional Analysis“), Dokumenten- und Textanalyseanalysen (Selbstreports,
Gutachten), informelle kollegiale Supervision, die Ergebnisse quantitativer Umfragen sowie
die Erkenntnisse aus Gruppendiskussionen mit aktuellen und ehemaligen Studierenden ergän-
zen. Der Charakter der Darstellung wird daher skizzenhaft und fragmentarisch bleiben und
vom Typ her irgendwo zwischen Organisationsdiagnose, postmoderner Collage und Dichter
Beschreibung angesiedelt sein. Wie bei jeder „Beschreibung der eigenen Dinge“, in der der
Forscher zugleich als Teilnehmer, Untersuchungsinstrument und Berichterstatter fungiert, gilt
es von vornherein Grenzen machbarer Verfremdung und in der Folge Einschränkungen der
Repräsentativität und Vergleichbarkeit der getroffenen Feststellungen einzuräumen. Dies
scheint insoweit verschmerzbar, als es angesichts der föderalen Struktur unseres Hochschul-
1 Beitrag zu Reinhard Hörster, Ernst-Uwe Küster und Stephan Wolff (Hrsg.), Orte der Verständigung. Beiträge zum sozialpädagogischen Argumentieren. Burkhard Müller zum 65. Geburtstag gewidmet. Freiburg im Breis-gau: Lambertus 2004.
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systems sowieso keine Durchschnittsfälle geben kann, sondern bestenfalls gut gewählte ex-
emplarische Konstellationen, die zumindest den Möglichkeitsraum für zukünftige Entwick-
lungen abzuschätzen erlauben.
Die institutionellen Rahmenbedingungen sind weitgehend die heute hochschulpolitisch übli-
chen: Stagnierende bzw. inflationsbereinigt sogar schrumpfende Universitätsetats intensivie-
ren den hochschulinternen (Verdrängungs-)Wettbewerb und erhöhen den Begründungs- bzw.
Rechtfertigungsbedarf für geplante Veränderungen - wie für Stillstand. Entsprechendes gilt im
Verhältnis zu den externen „Stakeholders“: Ständig sind Zielvereinbarungen zu schließen,
Evaluationen zu gewärtigen, Akkreditierungen vorzuweisen sowie einigermaßen zufrieden
stellende Positionierungen in Rankings oder hochschulpolitischen Entwicklungs- und Struk-
turplänen zu erobern.2 Zudem steht zu erwarten, dass die staatlichen Mittelzuweisung an die
Hochschulen - und in der Konsequenz dann auch die Zuweisung an einzelne Fachbereiche
und Institute - in allernächster Zeit auf die so genannte Indikator gestützte Mittelverteilung3
umgestellt werden, was zu entsprechenden Herausforderungen und Zumutungen an alle Betei-
ligten führt.
Angesichts dieser Lage sind gerade kleinere Universitäten gezwungen, sich deutlicher und das
heißt heute: Bildungsmarkt gerecht zu profilieren („Profiluniversität“). Nicht nur die neue
entstandenen Stiftungsuniversitäten (wie die betreffende eine ist), sondern alle Hochschulen
suchen ihre enge und weitere Umgebung nach möglichen Sponsoren neuer Lehrstühle, Kol-
legs und anderer universitärer Einrichtungen ab. Dadurch verstärkt sich strukturell die Präfe-
renz für „ordentliche Fächer“. Als solche gelten in der heutigen Hochschullandschaft nicht
mehr automatisch die akademisch reputierlichen klassischen Disziplinen. Selbst diese vermö-
gen sich nur dann zu behaupten, wenn sie zu den drittmittelaktiven bzw. zu jenen gehören, die
für Sponsoren und Förderprogramme attraktiv erscheinen, dabei zugleich noch als „praxis-
nah“ gelten sowie für hohe Absolventen- und Promotionsquoten gut sind.4
2 Der hier in Frage stehende Studiengang wurde 1996 und 2002/2003 evaluiert und steht 2004 zur Akkreditie-rung an. Der institutionell damit verbundene Weiterbildungsstudiengang erhielt 2002 die Akkreditierung. Die Länge der dabei verfassten Anträge, Berichte und Stellungnahmen nähert sich der 500-Seitengrenze. 3 Indikatoren sind voraussichtlich: Zahl der Promotionen, Höhe der Drittmittel und die Quote der Studienabbre-cher. 4 Die neuen Qualitätsanforderungen liegen auf unterschiedlichen Ebenen und heben sich daher gelegentlich wechselseitig auf. So mögen erziehungswissenschaftliche Studiengänge praxisnah sein, doch genau dieser Vor-teil drückt auf die akademische Reputierlichkeit, auf die Forschungsneigung der Dozenten und auf die Bereit-schaft der Absolventen sich auf das Abenteuer einer Promotion einzulassen. Sie ziehen sicherlich eine Menge Studierender an, allerdings viele aus eher bildungsfernen Schichten, solche mit wenig ausgeprägten Präferenzen und zudem solche aus der näheren Umgebung der Hochschulstandorte, die man im Fortgang des Studiums nicht
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Zu den strukturellen Rahmenbedingungen zählt in unserem Fall weiterhin der Umstand, dass
am Ort eine Fachhochschule mit einem gut ausgebautem und vergleichsweise besser nachge-
fragtem Sozialwesenstudiengang existiert, woraus sich zusätzliche Profilierungs- und Legiti-
mationsnotwendigkeiten ableiten. Akteur im engeren Sinn ist ein Institut für Sozialpädagogik,
das über einen recht überschaubaren Personalbestand von 4 Professoren- und 3 Mittelbaustel-
len verfügt. Zwei der Professuren stehen unmittelbar zur Neubesetzung an, die erst noch
durch die Gremien gebracht und dann durch das Präsidium der Universität genehmigt werden
muss. Auch dafür gilt es Argumente und Solidaritäten immer wieder neu zu mobilisieren.
2. Eingebaute Trägheiten
Aus organisationswissenschaftlicher Sicht sind die in das Bestehende eingebauten Trägheiten
und Widerstände ein Zentralproblem jeder Reform (Lewin 1958, Argyris 1990, Kieser u.a.
1998). Die vielleicht entscheidende Trägheit besteht im vorliegenden Fall in der für die Sozi-
alpädagogik charakteristischen engen und institutionell abgesicherten Verkopplung von Dis-
ziplin, Ausbildung und Arbeitsfeld. Zur Begründung dieser These muss ich ein wenig ausho-
len.
Die Ausdifferenzierung und Arrondierung einer Disziplin beruht zwar häufig auf Theorieent-
scheidungen, aber es erscheint doch fraglich, ob man Disziplinen generell durch das Niveau
ihrer theoretischen Integration und Abgegrenztheit definieren kann. In vielen Fällen ist es eher
ein bestimmter Gegenstand oder Phänomenbereich, welcher die Grenzen einer Disziplin mar-
kiert und dem ganzen Unternehmen Kohärenz verleiht (z.B. in den Sprachwissenschaften).
Oft, so Luhmann (1990), entsteht das, was sich dann Disziplin nennt, im Anschluss an die
Reflexionstheorien einzelner Funktionssysteme (wie Theologie, Staatslehre, Rechtswissen-
schaften) oder Professionen. Professionsbezogene Disziplinen wie die Pädagogik gibt es
schon ab dem 17. bzw. 18. Jahrhundert, während das Konzept wissenschaftlicher Disziplinen
sich erst im 19. Jahrhundert durchsetzt. In dem Maße als Disziplinen sich nicht oder nicht
mehr auf Arten von Dingen, auf Handlungsfelder oder auf sonstige Phänomenvorgaben spezi-
alisieren, sondern aus theoretisch erzwungenen Unterscheidungen entstehen, trägt die Diszip-
linentwicklung ihrerseits zur Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems bei. Durch die
Disziplinbildung gewinnt die Wissenschaft als System nicht nur Autonomie nach außen, son-
selten in Richtung auf größere und attraktivere Städte verlässt, was wiederum die sog. „Abbrecherquote“ steigen lässt.
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dern auch nach innen. Disziplinen implizieren Sinn-Grenzen und erlauben so Relevanzen zu
filtern und selektive Anschlussmöglichkeiten zu eröffnen. Alle anderen Disziplinen können
dann als Umwelt betrachtet werden. Die Disziplinbildung lockert somit die Punkt-für-Punkt-
Zuordnung von Umwelt- und Systemteilen und sieht stattdessen die Welt in derjenigen Ord-
nung, die sich aus den systeminternen Strukturen ergibt.
Dieser Abgrenzungseffekt wirkt bei Disziplinen, die eindeutig auf einzelne Professionen be-
zogen bzw. auf spezielle Arbeitsfelder ausgerichtet sind, nur eingeschränkt, insoweit hier Dis-
ziplinen zugleich Einheiten der Ausbildung sind und Abschlüsse ein ganz bestimmtes Spekt-
rum der Verwendbarkeit auf dem Arbeitsmarkt definieren. Das klassische Problem aller ‚An-
gewandter Wissenschaften’, wie eben der Sozialpädagogik und anderer pädagogischer Fächer,
besteht nun darin, dass sie wissenschaftsintern Renommee nur durch qualifizierte Praxisferne
erreichen können, ihre besondere Identität aber gerade in ihrer vermeintlichen Gegenstands-
nähe garantiert sehen. Die Kunst jeder Weiterentwicklung von Studiengängen besteht somit
(auch) darin die Kopplung von Disziplin, Ausbildung und Arbeitsfeld neu auszutarieren. Die
Herausforderung wird im Fall der Sozialpädagogik noch durch die Paradoxie verschärft, dass
die Sozialpädagogik von ihrer disziplinären wie professionellen Struktur her in sich alles an-
dere als eng verkoppelt ist.
3. Mechanismen der Kopplung von Disziplin, Ausbildung und Arbeitsfeld
Die Sozialpädagogik bietet das Bild einer vergleichsweise „unordentlichen“ Disziplin mit
unscharfen Rändern. Nicht nur scheint ihre Identität bzw. ihre Differenz zur Sozialarbeit, zum
Sozialwesen oder auch zur sog. Sozialarbeitswissenschaft ungeklärt oder doch umstritten.5
Sozialpädagogik ließe sich – um eine literarische Metapher zu verwenden - als eine Disziplin
(bzw. Profession) ‚ohne Eigenschaften’ bezeichnen, schillernd in vielen Facetten, aber ohne 5 So kommen zwei namhafte jüngere Fachvertreter zu folgender Diagnose des Faches: „Die bisherige Debatte weist insgesamt noch nicht in Richtung eines auch theoretisch inspirierten und sozialpädagogisch renommierten Diskurses. Die Gründe hierfür sind in dem begrifflich und semantisch auf unsicheren Füßen stehenden Wissen-schaftssystem der Sozialen Arbeit selbst zu suchen. Noch immer verbindet sich ‚mit dem Begriff ‚Sozialpädago-gik’ (…) ein eigenartiges Unbehagen’ ... Möglicherweise hat sich dieses Unbehagen seit den 60er Jahren sogar noch verschärft. Zumindest werden kontinuierlich neue Überlegungen zum Begriff, zu den Aufgaben, zu den Strukturen, Bezugspunkten, allgemeiner: zu dem, was wir als Gegenstand der Soziapädagogik bezeichnen kön-nen, vorgetragen. Die Identität der Sozialpädagogik scheint bis zum heutigen Tag ihre Nicht-Identität zu sein: Sie hat keinen eindeutigen,, klar zu benennenden Ort in der Praxis, kein einheitliches Profil in der Ausbildung, keine selbstverständliche, von allen ihren VertreterInnen geteilte disziplinäre Heimat, keine stabilen theoreti-schen, wissenschaftlichen und professionellen Grundannahmen. Das semantische und ideengeschichtliche Ge-bäude der Sozialen Arbeit hat im Verlauf der bisherigen Geschichte nur eine geringe kategoriale Sicherheit ent-wickelt und zeigt sich somit wenig resistent gegenüber fachfremden Diskursen und extern ausbuchstabierten Modernisierungsüberlegungen.“ (Thole/ Closs 2000, S. 264)
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eindeutige Mitte (vgl. auch Kleve 2000). Dies ist keinesfalls abschätzig gemeint! Schließlich
hatte Robert Musil niemand geringeren als Walter Rathenau im Sinn, als er sein Buch „Mann
ohne Eigenschaften“ verfasste. Dieser ist im Grunde "ein Mann mit allen Eigenschaften, aber
sie sind ihm gleichgültig". Er hat so viele Attribute, dass sie schon wieder aussagelos werden;
er bleibt vage, nicht festlegbar, relativ, ist nicht dingfest zu machen.
Eine solche „Positionierung im Dazwischen“ (Musil spricht vom „anderen Zustand“) mögen
Menschen unter den von Musil beschriebenen Bedingungen anstreben können. Wesentlich
problematischer erweist sich dies für Disziplinen unter heutigen hochschulpolitischen Bedin-
gungen. Man kann diesen Zustand natürlich positiv interpretieren und selbstbewusst von Mul-
ti-Perspektivität sprechen, ja sich sogar als Klienten zuteilender und integrierender Meta-
Manager anderer Professioneller und als hilfreichen Übersetzer zwischen anderen Disziplinen
imaginieren. Hinderlich erweist die Positionierung im Dazwischen6 spätestens dann, wenn es
sozusagen offiziell wird und Entscheidungen über institutionelle Reformen, d.h. über neue
eigene Grenzen anstehen. Dann ist eher "professionelle Reinheit“ (Abbott) gefragt, also die
Fähigkeit einer Disziplin zumindest den Eindruck erwecken zu können, dass sie die von ihr
bearbeiteten Probleme nicht in der (funktionalen) Diffusität belässt, in der sie lebensweltlich
vorliegen, und sie sie sich auch durch andere schon „verfestigtere“ Disziplinen vordefinieren
lässt, oder gar bei anderen Teildisziplinen kurzzeitig unterkriecht und sich vor deren Verände-
rungen in der eigenen Entwicklung abhängig macht, sondern sie im Medium eigener Wis-
sensbestände re-definiert und erst in dieser rekonstruierten Form einer praktischen Behand-
lung zuführt.
Auch angesichts der immer noch recht disparaten Rekrutierung des lehrenden Personals an
den Hochschulen muss die Frage, ob die Sozialpädagogik über den eigenen disziplinären
Kern souverän und eigenständig disponieren kann, oder ob dieser nur eine Art Schnittmenge
verschiedener Bezugsdisziplinen (Allgemeine Pädagogik, Philosophie, Psychologie, Soziolo-
gie, Recht usw.) darstellt, eher negativ beantwortet werden. Grundsätzlich wird man demnach
als Befund und als Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen eine im Vergleich zu anderen
Fächern (zu) geringe interne Kohärenz bei gleichzeitiger relativ (zu) enger Verkoppelung von
Disziplin, Ausbildung und Arbeitsfeld zu konstatieren haben.
6 Andrew Abbott (1995) spricht von Social work als einer „profession of interstitiality“.
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Für die Enge der Verkopplung von Disziplin, Ausbildung und Arbeitsfeld sind einige für die
Sozialpädagogik spezifische Mechanismen verantwortlich. Zu den Kopplungsmechanismen
zählt zum einen der für die Sozialpädagogik eigentümliche Methodenbegriff. Anders als in
allen anderen empirisch ausgerichteten Sozialwissenschaften assoziiert der sozialpädagogi-
sche Diskurs mit „Methode“ nicht ein Medium der Verfremdung und ein Verfahren um Er-
kenntnis durch Differenz zu generieren (also ein Forschungs- oder Diagnoseinstrument), son-
dern versteht darunter primär bestimmte Varianten und Verfahren professioneller Praxis,
nämlich die sog. „Methoden der sozialen Arbeit“. Sozialpädagogik ist zwar keine empirie-
feindliche Disziplin (mehr), wohl aber eine, deren Vertreter mehrheitlich Forschung von der
professionellen Handlungspraxis her denken und auf deren Rekonstruktion beziehen. For-
schung wird funktional als Optimierung („Praxisforschung“) oder zumindest als Reflexion der
Praxis („Professionsforschung“), nicht aber als Theorie überprüfendes bzw. Theorie generie-
rendes Unternehmen („Disziplinforschung“) konzipiert.7
Versuche einer thematisch schärferen Konturierung bzw. institutionellen Verselbständigung
disziplinärer Forschung werden misstrauisch betrachtet und in ihrer Bedeutung mit Verweis
darauf relativiert, dass in der professionellen Praxis selbst produktive Haltungen und Diskurs-
formen für fallbezogene Interdisziplinarität (z.B. in Gestalt von Fallbesprechungen und For-
schungswerkstätten) entwickelt worden seien, die eine Vorbildfunktion auch für die interdis-
ziplinäre Forschung einnehmen könnten (so z.B. Schütze 1994). Noch entschiedener gehen
die Vertreter der sog. Sozialarbeitswissenschaft daran, die Differenz von professioneller Pra-
xis und Forschungshandeln, von Praxeologie und Forschungsmethodik einzuebnen (Gref
1995). Die in der sozialpädagogischen Forschung mit Vorliebe eingesetzten Erhebungs- und
Analyseverfahren wie narrative Interviews, objektive Hermeneutik, Biographienanalyse oder
ethnographische Milieuanalyse verdanken ihre Popularität ihrer angeblichen Nähe zur „natür-
lichen Forschung“ im Feld (und werden, was die Anforderungen an ihre kompetente Durch-
führung angeht eben dadurch leider oft unterschätzt!). Auch die Präferenz für qualitative Me-
thoden – rekonstruktive Sozialforschung wird geradezu mit qualitativer Methodik gleichge-
setzt – verhindert eine stärkere Differenzierung von Handlungspraxis und Disziplin. Dieses
Beharren auf einer „arteigenen“ Forschung erschwert es, stärker verfremdende und von ande-
ren Disziplinen, aber auch von universitären Gremien und Drittmittelgeber in höherem Maße
7 Als weitere und häufig gewählte Option wäre die Beschränkung auf sozialpädagogisch relevante Forschung im Sinn einer empirisch ausgerichteten Soziologie sozialer Arbeit zu nennen. Auch diese Option läuft in der Konse-quenz darauf hinaus, Forschung nicht als einen genuinen Bestandteil der Disziplin zu behandeln.
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anerkannte Methoden und Forschungsformen in den Ausbildungseinrichtungen und bei den
Studierenden populär zu machen.
Die betonte Orientierung auf den individuellen Klienten ist ein zweiter struktureller Mecha-
nismus, der einer stärkeren Entkopplung von Disziplin, Profession und Arbeitsfeld entgegen-
steht. Dadurch werden nämlich generalisierende und typisierende Zugänge verhindert oder
doch erschwert. Distanzierende Formen der Fallerschließung wie die Diagnostik besitzen –
nach früher Popularität (vgl. Alice von Salomon’s „soziale Diagnose“) bis heute in der Sozi-
alpädagogik trotz der Bemühungen von Mollenhauer und Uhlendorff (1992, 1995) einen eher
zweifelhaften Ruf. Die Ausrichtung sozialer Praxis auf individualisierte Beziehung und Soli-
darität mit dem Klienten führt zu einer negativen Sanktionierung nicht nur der Pflege des dis-
ziplinären Eigensinns und eines Vorgehens sine ira et studio, sondern ebenfalls zur Unterbe-
lichtung von, dem unmittelbaren Klientenkontakt übergeordneten „uneigentlichen“ Fragestel-
lungen wie Management, Personalpolitik, Leistungs- und Qualitätssicherung oder Evaluation.
„Eigentliche“ Arbeit bedeutet in der Regel, dass sie im direkten Kontakt mit Klienten durch-
geführt wird. Diese Ausrichtung wird konzeptuell mit Hilfe moralisch unterlegter Leitmeta-
phern wie Klientenorientierung oder Praxisnähe fixiert und abgesichert. Dadurch wird aller-
dings die Fähigkeit und Bereitschaft der Disziplin wie der sozialpädagogischen Praxis zu ge-
sellschaftlichen oder interaktiven Zumutungen auch einmal „nein“ sagen zu können ge-
schwächt. Man vermag dann nicht mehr darauf zu beharren, dass es unter Umständen besser
sein kann, klare Grenzen der eigenen Zuständigkeit und der eigenen Kompetenz zu ziehen
und zu erkennen, dass kühles Nichthelfen gelegentlich hilfreicher sein kann als die Emphase,
helfen zu wollen um jeden Preis, d.h. ohne zwischen eigenen und den Kompetenzen anderer
Professioneller zu unterscheiden.
Die soziale Rekrutierung der Studierenden ist ein weiteres Strukturmerkmal, das eine Locke-
rung der diagnostizierten Verkopplung zumindest nicht befördert. Durch sozialpädagogische
Studienangebote werden tendenziell Studierende mit im Vergleich zu anderen Fächern mit
geringerer Bildungs- und Aufstiegorientierung angezogen. Hinzukommt – entsprechend den
Umständen im Arbeitsfeld (vgl. Klatetzki 1993) - eine betont egalitäre Binnenkultur8, die ihre
Entsprechung in der immer noch weit verbreiteten Vermeidung selektiver Notengebung durch
8 Peter Fuchs identifizierte jüngst den besonderen Habitus der Kommunikation in sozialarbeiterischen Milieus, „ … als eine hoch gefährliche, mitunter widerwärtige ungefähre Humanität; gepaart mit einer kanonischen Phra-seologie milder Nettigkeit“. (Interview in: Sozialarbeit.ch; Ms. 2003) Diese Charakterisierung bewegt sich zwar hart an der Grenze der Gehässigkeit; nichts desto weniger trifft sie inhaltlich den Kern.
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viele Lehrende findet. Im studentischen wie im Habitus des Lehrkörpers sind somit Distanzie-
rungs- und Differenzierungsbremsen eingebaut.9 Unterstützend wirkt der ausgeprägte regio-
nale Bezug der Studierenden. Man sucht in stärkerem Maße als in anderen Studiengängen
(vielleicht mit Ausnahme des Lehramts) die geographisch nächstgelegene Hochschule auf.
Zumal die Hochschulausbildung vielfach nur als ungeliebte Durchgangsphase zur eigentli-
chen Praxis erlebt wird, entsteht der Eindruck, Sozialarbeit und Sozialpädagogik könne man
überall in mehr oder weniger gleicher, auf jeden Fall ausreichender Qualität lernen und prak-
tizieren. Dieses Arrangement enthält nicht nur wenige Mobilitäts-, sondern auch kaum Auf-
stiegs- und Qualifizierungsanreize. So gehört es zu den schwer irritierbaren Vorurteilen unter
sozialpädagogischen Praktikern wie Studierenden, dass eine Promotion nicht nur unnütz sei,
sondern sich sogar ausgesprochen schädlich für das berufliche Weiterkommen auswirke. Dass
sich die ursprüngliche Hoffnung der universitären Sozialpädagogik die Erziehung des eigenen
akademischen Nachwuchses zu gewährleisten, wenn überhaupt nur zu einem geringen Teil
erfüllt hat, dürfte auf die kombinierte Wirkung dieser verschiedenen Mechanismen zurück zu
führen sein.
Ähnliches lässt sich für die klassischen Arbeitsfelder der Absolventen sagen: hier herrschen in
aller Regel unter den sozialpädagogischen Fachkräften flache Hierarchien vor. Flache Hierar-
chien, ganzheitliche Anforderungen und teambasierte Entscheidungsfindung stellen zugleich
die Idealvorstellung organisatorischer Arbeitsteilung dar. Die Prämierung der Gleichheit
schafft naturgemäß wenig Aufstiegs-, und noch weniger Theorieanreize, sie reduziert die pro-
fessionelle wie disziplinäre Eigendynamik und führt zu einem Festhalten an traditionellen
Arbeitsfeldern und Arbeitsformen. Nicht selten kann man im sozialpädagogischen Feld sogar
eine aktive Deprofessionalisierung als Strategie des guten Gewissens in Fällen beobachten,
wenn von der Arbeitssituation her eigentlich der Raum für eine größere Spezialisierung und
Eigenständigkeit gegeben wäre, wie dies etwa in der Jugendgerichtshilfe der Fall ist (Goh-
de/Wolff 1990).
Sozialarbeit und Sozialpädagogik sind traditionell eng mit ganz bestimmten Arbeitsfeldern
verknüpft. Das Anerkennungsjahr und die staatliche Anerkennung fördern diese institutionelle
Kontinuität. Beide stärken die gewichtige Rolle der staatlichen bzw. der über staatliche Zu-
weisungen finanzierten Arbeitnehmer und engen zugleich die Phantasien der sozialpädagogi-
9 In diesem Punkt unterscheidet sich der hier vorgestellte Studiengang von anderen, insofern hier schon seit An-fang der 90er Jahre Maßnahme zur Sicherstellung einer „realistischen“ Bewertung, die Anforderungs- und Ver-teilungsgesichtspunkte kombiniert, getroffen wurden und auch greifen.
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schen Arbeitskraftanbieter im Hinblick auf mögliche alternative Arbeitsfelder (wie z.B. als
Selbstständige oder in der Wirtschaft) von vorne herein ein. Die Anstellung in der klassischen
Sozialverwaltung gilt daher nicht nur als selbstverständlicher Normal-, sondern zugleich als
gemeinwohlorientierter Idealfall beruflicher Tätigkeit, neben dem andere Berufsfelder und
Beschäftigungsformen nicht nur als unrealistisch, sondern gleichsam als „uneigentlich“, um
sicht zu sagen „unmoralisch“ erscheinen.
4. Situative Treiber zu einer stärkeren Lockerung
Die Enge der Kopplung von Disziplin, Arbeitsfeld und Profession kann durch situative Be-
dingungen und kurzfristige politische oder ökonomische Trends modifiziert werden. Im kon-
kreten Fall dieses Studiengangs wirkten die vorhandenen „Treiber“ eher in Richtung auf eine
größere Lockerung. Der Umstand einer nur wenige Straßenzüge entfernten Fachhochschule
mit einem florierenden Sozialwesenstudiengang legt Kooperation nahe, erzwingt andererseits
aber gewisse Differenzierung und Spezialisierungen - schon um die Identität und Berechti-
gung des universitären Studiengangs am selben Ort zu begründen und eine einigermaßen
gleichberechtigte Kooperation beide Institutionen politisch wie inhaltlich zu ermöglichen
(„Kooperation durch Differenz“). Diese Konstellation etabliert zumindest für die universitäre
Seite einen strukturellen Zwang zur Entwicklung von Alleinstellungsmerkmalen. Ein weiterer
situativer Treiber zu stärkerer Entkoppelung stellt die Forschungsorientierung des vorhande-
nen Personals dar, was bei den recht unterschiedlichen disziplinären Heimaten der Beteiligten
zu einen Schwächung der lokalen (Forschungsorientierung „des“ Instituts) wie der im engeren
Sinne fachlichen Loyalitäten führt, d.h. solchen in Richtung auf eine im engeren Sinne sozial-
pädagogische Forschung. Diese zentripetalen Kräfte sind freilich nicht so stark wie an man-
chen anderen universitären Standorten, wo im Extremfall sich der institutionelle wie der Ar-
beitszusammenhang ganz aufgelöst (wenn er denn je bestanden) hat, die betreffenden Perso-
nen sich also nur mehr mit ihren Heimatdisziplinen und/oder andren Instituten assoziieren.
Schließlich haben wir mehrere, von außen auferlegte Gelegenheiten und Termine der Profilie-
rung und Legitimierung zu konstatieren. Jährliche Zielvereinbarungen, zwei Evaluationen,
eine gerade durchgeführte und eine in Kürze anstehende Akkreditierung nötigen zur wohl
dosierten Profilierung: einerseits hat man bei derartigen Gelegenheiten die Vergleichbarkeit
mit anderen Studiengängen zu belegen, andererseits sich auf die eigenen Stärken zu besinnen
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und diese kontrastierend heraus zu streichen - zumindest gilt dies für die sozialpädagogischen
Studiengänge an Universitäten.
5. Situationsklärung und Strategieentwicklung
Zur strategischen Situationsklärung und Strategieentwicklung bietet sich unter organisations-
pädagogischen Gesichtspunkten ein auf der Feldtheorie von Kurt Lewin aufbauendes Diagno-
seinstrument an: die sog. SWOT-Analyse. Dieses Instrument erlaubt es die interne Stärken (S
= Strengths) und Schwächen (W = Weaknesses) einer Organisation mit den ihr durch die
Umwelt eröffneten Chancen (O = Opportunities) und für sie gegebenen Gefahren (T =
Threats) im Hinblick auf mögliche Veränderungen zu kontrastieren.10 Die folgende Tabelle
zeigt die SWOT-Analyse, wie sie sich als Ergebnis der Selbstevaluation des Studiengangs
ergeben hat.
Tabelle 1: SWOT-Analyse des Studiengangs
Interne Ursachen
Stärken (S)
• Hohe Studierendenzahlen11 • Überschaubarkeit des Studienbe-
triebs • Anerkannt seriöse Forschung • Langjährige Stresserprobtheit • Vorhandene, noch unausgeschöpfte
Kompetenzen
Schwächen (W)
• Heterogene Studierendengruppe • Eher wissenschaftsferne Studienin-
teressenten • Hoher Drop out • Geringe Promotionszahlen • Enges Angebot12 und knappe Aus-
stattung
Externe Faktoren
Chancen (O)
• Externe Evaluation ermöglicht Pro-filierung
• Wirtschaft entdeckt Lernen und neue Studierendengruppen
• Wenig konkurrierende Innovationen im Feld
• Geringe Erwartungen von allen Sei-ten
Risiken (T)
• Kürzungswellen gefährden Basis-ausstattung
• Schwer einschätzbare hochschulin-terne Dynamik
• Frei werdende Stellen könnten Rot-stift zum Opfer fallen
• Hochschulpolitische Infragestellung universitärer Sozialpädagogik
Im nächsten Schritt wird bei einer SWOT-Analyse nach den grundlegenden strategischen
Optionen gefragt, also danach, wie Strategien aussehen könnten, die Stärken zur bessere Aus- 10 Die SWOT- Analyse eignet sich nicht nur zur Selbstevaluation und Strategieentwicklung von Organisationen, Personen und Gruppen. Man kann sie auch für die Einschätzung der Markchancen von Produkten, für die Pla-nung von Initiativen oder bei Ausrichtung von Programmen nutzbringend einsetzen. 11 Relativ zur Gesamtzahl der Studierenden an der Universität. 12 Im Vergleich zur örtlichen Fachhochschule.
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schöpfung von Chancen nutzen (S→O), die Schwächen in Stärken verwandeln (W→S), die
Stärken nutzen um Bedrohungen vorzubauen (S→T), und schließlich, die zeigen, wie man
sich gegen ein Offenlegen, Ausnutzen oder Durchschlagen der eigenen Schwächen gegen
bestehende Gefahren wappnen kann (W→T). Das kombinatorische Ergebnis zeigt die folgen-
de Tabelle, wobei jeweils die Ausrichtung der Strategie angegeben ist, je nachdem ob sie sich
auf das Innen- oder aber auf das Außenverhältnis richtet. Alle die angegebenen Strategien
sind von dem betreffenden Institut mit mehr oder weniger Erfolg umzusetzen versucht wor-
den.
Stärken (S)
Schwächen (W)
Chancen (O)
S↔O Strategie
„Suche nach Gelegenheiten um Deine Stär-ken besser zur Geltung zu bringen!“ • Sich um Evaluation und Akkreditierung
eher als andere bemühen(extern) • Identifikation der Studierenden mit dem
Studiengang nutzen und sie konsequent einbeziehen(intern)
W↔O Strategie
„Mache aus der Not eine (neue) Tugend!“ • Thematische Enge als Alleinstellungsmerk-
mal uminterpretieren und qualitativ abbau-en (extern)
• Kritische Selbstevaluation offensiv als OE-Programm nutzen (intern)
Risiken (T)
S↔T Strategie
„Nutze Deine Stärken um Deine Verletz-lichkeit für externe Gefahren zu verringern!“ • Zweites Standbein durch Mehrfachnut-
zung vorhandener Kompetenzen (Wei-terbildung) entwickeln(extern)
• Hochschulpolitische Reformideen
(BA,MA) schnell übernehmen und so zeitweilig unantastbar werden(intern)
W↔T Strategie
„Stelle einen Abwehrplan auf um zu verhindern, dass Deine Schwächen Dich gegenüber exter-nen Gefährdungen anfällig machen!“ • Notwendigkeit institutioneller und diszipli-
näre Kooperation offensiv betonen(extern) • Kognitive und emotionale Offenheit für
worst case senkt Anspruchsniveau und Ver-letzlichkeit (Biete Deinen Kopf an!) (intern)
Tabelle 2: Grundlegende strategische Optionen
6. Grenzen der Steuerbarkeit institutioneller Reform
Wie leidvolle Erfahrung und die Systemtheorie lehren, entziehen sich komplexe institutionelle
Prozesse der direkten Steuerung durch einzelne Beteiligte. Reformversuche in institutionellen
Feldern können daher ihre Ziele nur indirekt ansteuern. Es ist - gerade für wenig durchset-
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zungsfähige Akteure wie in vorliegenden Fall – realistischer, Reformen als Versuche der indi-
rekten Beeinflussung sozialer und kognitiver Prozesse in eine bestimmte Richtung zu verste-
hen und zu planen. Systemtheoretiker sprechen von Kontextsteuerung und denken dabei an
informierte Irritationen mit ungewissen, d.h. situations- bzw. pfadabhängigen Ausgängen. Es
ist notgedrungen eher der Weg und weniger ein fixiertes Ziel, der zum Bezugspunkt von Re-
formversuchen wird.
Robert Daft und Karl Weick (1984) schlagen eine einfache Systematik vor, um die grundsätz-
lichen Handlungsstile zu unterscheiden, die sich in einer solchen Situation für Organisationen
eröffnen. Sie kombinieren dabei zwei Dimensionen: die Annahmen über die Analysierbarkeit
der gegebenen Umweltsituation und der ihr inhärenten Herausforderungen und Chancen
(transparent oder undurchschaubar) mit dem Stil des Zugehens auf diese Situation (passiv-
reaktiv oder zugehend-aktiv). Aus der Kombination beider Dimensionen ergeben sich für un-
seren Fall vier Varianten: der resignative und gelegentlich auch zynische Realismus (passiv,
analysierbar), das hilflose Stillhalten (passiv, nicht analysierbar), der tatkräftige Rationalis-
mus (aktiv, analysierbar) und die Variante der experimentell-spielerischen Gestaltung der
Situation (nicht-analysierbar, aktiv). Alle diese Handlungsstile sind im Laufe der Zeit vom
Institut bzw. von einzelnen seiner Mitglieder einmal propagiert oder an den Tag gelegt wor-
den.
Zugang auf die Umwelt
Annahmen über die Umwelt
PASSIV
AKTIV
NICHT ANALYSIERBAR
Sich seinem Schicksal ergeben und wenn überhaupt auf gut
Glück reagieren
hilfloses Stillhalten
Über Ausprobieren und Improvi-sation herausfinden, was in der Situation noch möglich ist und
wo man eigentlich steht
experimentell-spielerische Gestaltung
ANALYSIERBAR
Anforderungen registrieren und sich auf Unabänderlichkeiten
einstellen
resignativer oder zynischer Realismus
Ziele entwickeln, Umsetzung planen und Punkt für Punkt abar-
beiten
tatkräftiger Rationalismus
Tabelle 3: Handlungsstile
Angesichts der Komplexität der institutionellen Konstellation wie der Marginalität der eige-
nen Position in diesem Spiel durfte das Institut letztendlich weder davon ausgehen die Lage
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und ihre Entwicklungsdynamik vollständig zu erfassen, noch davon, diese von sich aus direkt
und nach Plan beeinflussen zu können. Unter Bedingungen von Unsicherheit und Ambiguität
ist rationales Handeln im klassisch-modernisierungstheoretischen Sinne nicht möglich. Eine
solche unsichere Konstellation erfordert (und erleichtert) stattdessen systemisches Denken und
Agieren (Weick/Sutcliffe 2003). Man irritiert sich selbst und seine Umgebung an möglichst
sensibeln Punkten – und reagiert dann, nachdem man die Konsequenzen seiner Maßnahmen
analysiert und auf diese Weise ein deutlicheres „Gefühl“ für die Struktur und Dynamik der
Situation gewonnen hat, in der man sich befindet . Sich auf die Gestaltungsvariante (enact-
ment; vgl. Weick 1985) einzulassen, bedeutet eine Option für organisatorisches Lernen durch
systemische Intervention mit – relativ – offenem Ausgang (March 1999).
Systemische Interventionen unterliegen dem Prinzip der instruktiven Sparsamkeit. Das bedeu-
tet konkret: die Beschränkung auf wenige und klar definierte Maßnahmen, um so den Über-
blick zu behalten und retrospektiv Lernen auf der Basis zeitnaher Evaluation zumindest mög-
lich zu machen. Wer weder über nennenswerte Definitions- noch über Durchgriffsmöglichkei-
ten verfügt, der ist bei der Suche nach Ansatzmöglichkeiten für systemische Interventionen
vor allem auf sich selbst verwiesen. Von daher boten sich in unserem Fall Selbstverschrei-
bungen und Selbstbeschränkungen als Instrumente der Wahl an. Für Organisationspädagogen
liegt es weiterhin nahe, möglichst dort anzusetzen, wo der Klient steht, d.h. die Organisatio-
nen nicht auf neue Probleme und neue Maßnahmen zu deren Lösung auszurichten, sondern,
soweit dies irgend möglich ist, an den im organisatorischen Feld schon vorhandenen Hand-
lungsgeneratoren (Starbuck 1983) anzusetzen. Dazu müssen etablierte und erwartbare Routi-
nen, Termine, Prüfungen, Begründungsnotwendigkeiten und Reflexionsschleifen so genutzt
oder modifiziert werden, dass das System sich als Konsequenz der Irritation gleichsam von
selbst in die gewünschte Richtung orientiert. Die erhoffte Wirkung bezog sich im geschilder-
ten Fall natürlich auf die oben diagnostizierte Grundproblematik einer zu engen Verkopplung
von Disziplin, Profession und Arbeitsfeld. Es galt Prozesse anzuregen, die eine gewisse Lo-
ckerung der engen Kopplung bewirken, ohne gleichzeitig die interne Kohärenz der Disziplin
noch weiter zu schwächen. Diese Prozesse sollten selbst verstärkend wirken, also durch posi-
tive Rückkopplungsschleifen zu einer Systemveränderung führen – aber nicht in eine sich
aufschaukelnde und nicht mehr beherrschbare Dynamik auszuarten. Angesichts dessen be-
schränkten sich die Interventionen des Instituts auf die Etablierung eines neuen thematischen
Studienschwerpunkts und auf die Neujustierung zentraler Elemente der Studienorganisation.
Aus der Perspektive eines teilnehmenden Beobachters werde ich im Folgenden diese Inter-
- 14 -
ventionsversuche vorstellen und - soweit diese bereits zu übersehen sind - auch deren Folgen
und Nebenfolgen schildern.
7. Abweichungsverstärkung I: Schwerpunkt Organisationspädagogik
Die zentrale strategische Entscheidung betraf natürlich die inhaltliche Ausrichtung des Stu-
diengangs. Es galt nicht nur eine „Marktlücke“ zu finden, für die ein zu konzipierender Stu-
diengang ein passendes Angebot darstellt. Die Schwerpunktverlagerung war so vorzunehmen,
dass nicht nur den (bescheidenen) gegebenen eigenen Möglichkeiten entsprochen und die
eigene Kontinuität gewahrt, sondern dass auch der Variationsspielraum der Anschlüsse zwi-
schen Ausbildung und Beschäftigung erhöht wurde. Als eine derartige Marktlücke wurde je-
ner bislang empirisch wie theoretisch noch wenig konturierte Tätigkeitsbereich ausgemacht,
für welchen Geissler (2000) den Begriff „Organisationspädagogik“ vorgeschlagen hat.
Harney (1996) hat die in diesem Fall genutzte Marktlücke als jene „weiche Stelle“ markiert,
die sich im Wirtschaftssystem neben dessen traditionell „harter“ Seite (die sich in Einsatzplä-
nen, Arbeitszeitermittlung, Lohnfindung, Rechtsfragen und Leistungstests manifestiert) mit
der Personalwirtschaft herausgebildet hat. Hier geht es um grundsätzlichere Fragen der Be-
herrschbarkeit, Erziehbarkeit und Kombinierbarkeit der Humanressourcen; Führungskräfte
nimmt man nunmehr als Gestalter von pädagogischen Situationen wahr; Unternehmen werden
auf ihre Lernfähigkeit und auf ihre Eignung als Lernkontexte hin untersucht; zum Manage-
ment von Information kommt das Management von Wissen hinzu, ja sogar die Frage nach
Bedingungen der organisatorischen Intelligenz wird gestellt (March 1999). Dieser Prozess der
Pädagogisierung, der ja auch andere gesellschaftliche Funktionssysteme erfasst hat, entgrenzt
das Bezugsfeld der Pädagogik zeitlich wie inhaltlich über die Periode des Zöglings und orga-
nisatorisch über den Bereich der Schule und der Hochschule hinaus. Die Grenzen zwischen
Aus-, Fort- und Weiterbildung verschwimmen. Dies gibt der beruflichen Karriere wie dem
Lebenslauf selbst den Charakter einer nie endenden, sondern immer und immer wieder aus-
stehenden Besserungswürdigkeit seiner selbst. Lernen kann nicht enden, sondern eigentlich
nur – zeitweise - abgebrochen werden. Der Erfolg des Lernens besteht nicht mehr (nur) in
Abschlüssen, sondern in Prozessvorstellungen. Reife wird durch Sich-Weiter-Entwickeln er-
setzt. Auf diese Weise verliert die Differenz zwischen Lernen und Nicht-Lernen an sozialer
Unterscheidungskraft und wird reflexiv: Intelligenz erweist sich daran, Lernfähigkeit zu ler-
nen und über sein Wissen und Nicht-Wissen disponierten zu können (vgl. Baecker (1999).
- 15 -
Das aktive Einlassen auf diesen gesellschaftlichen Prozess durch eine entsprechende Schwer-
punktsetzung der Ausbildung erschien dem Institut (ich beziehe mich auf ein Positions-Papier
auf der Instituts-Website) als ein geeigneter Weg, um die enge Verbindung der Sozialpädago-
gik mit ganz bestimmten Arbeitsfelder zu lockern und eine breite Palette neuer Optionen in
den Blick zu nehmen. Beim Versuch der disziplinären Verankerung bezog man sich auf den
schon bei Pestalozzi auftauchenden Gedanken, dass die Entwicklung der sozialen Chancen
von Menschen abhängig ist von ihrer Bildung, gleichzeitig aber auch das Umgekehrte gilt,
nämlich dass die sozialen Verhältnisse und Lebensbedingungen die Chancen zu ihrer erfolg-
reichen Bewältigung wesentlich mitbestimmen. Die Gestaltung des Sozialen und die Entwick-
lung der Fähigkeiten zum sozialen Handeln sind demnach als Einheit zu begreifen. Vor 100
Jahren habe der Sozialphilosoph Paul Natorp damit begonnen, aus dieser Idee die Sozialpäda-
gogik als wissenschaftliche Disziplin zu entwickeln. Er entfaltete systematisch den Gedanken,
dass die organisatorische Gestaltung von Arbeits- und Lebensbedingungen, die soziale Integ-
ration ermöglichen, und die Befähigung der Individuen dazu zwei Seiten derselben Medaille
seien. Der neue Name "Organisationspädagogik" sei nur eine Verdeutlichung dessen, was
Sozialpädagogik der Sache nach immer bedeutete, nämlich: die Frage nach der Lernfähigkeit
der Organisationen, die das Soziale gestalten und die nach der Lernfähigkeit der Menschen,
denen jene Organisationen dienen sollten, als Einheit zu begreifen. Daraus folgt, dass der Re-
levanzbereich des sozialpädagogischen/organisationspädagogischen Grundgedankens über
das traditionelle Feld sozialer Berufe erheblich hinausgeht. In der Schulentwicklung, der
Stadtentwicklung, bei der Vernetzung von Einrichtungen des Gesundheitswesens, in der Er-
wachsenenbildung wie der betrieblichen Weiterbildung, der Personal- und Organisationsent-
wicklung gehe es im Kern um dieselbe Problematik: Einerseits Organisationsformen zu schaf-
fen, die Weiterentwicklung und Lernfähigkeit von Menschen brauchen und fördern, anderer-
seits Menschen zu befähigen, auch organisatorisch einen jeweiligen Arbeits- und Lebensbe-
reich aktiv mitzugestalten. Die Organisationspädagogik versuche zu klären wie Organisati-
onsmitglieder durch gemeinsame Erkenntnissuche die Bedingungen ihrer Organisation
verbessern können, und wie eben diese Bedingungen sich wiederum fördernd oder einschrän-
kend auf Lernprozesse selbst auswirken.
Organisation bzw. Organisierung als neue Schwerpunktsetzung eröffnet eine spezifische Me-
taperspektive. Adressierter Gegenstand sind kollektive Akteure, organisatorische Settings und
Netzwerke, d.h. soziale Systeme und eben nicht mehr (nur) einzelne Klienten oder Klienten-
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gruppen. Die organisationspädagogische Perspektive beschäftigt sich mit pädagogischen wie
mit nicht-pädagogischen Organisationen gleichermaßen; sie geht weit über den klassischen
Bereich sozialer Hilfen und einschlägiger Organisationen hinaus. Auch und gerade Arbeits-
felder jenseits des im weiteren Sinne staatlichen bzw. über die Zuweisung öffentlicher Gelder
finanzierten Bereichs kommen in den Blick. In diesen neuen Arbeitsfeldern sind Arbeitplätze
bzw. Eingruppierungen in höheren Regionen als sie BAT V/IV entsprechen möglich und üb-
lich, was zum einen neues Selbst- und Leistungsbewusstsein schafft, andererseits neue Kon-
kurrenzen, Identitätsprobleme und Schnittstellen begründet. War man früher in seinem Seg-
ment unbehelligt, sieht man sich der BAT II vergleichbaren Stufe in Konkurrenz mit Juristen,
Psychologen, Soziologen, Betriebswirtschaftlern, gelegentlich auch mit Informatikern.
Gleichzeitig werden nunmehr neben den klassischen Bezugsfächern Pädagogik, Psychologie,
Soziologie und Recht die Betriebwirtschaftslehre und die Informatik als Seitenkompetenzen
für Sozialpädagogen relevant. Dadurch entstehen Orientierungsprobleme, die oftmals nicht
bloß zu einer Lockerung alter Verkopplungen, sondern zu regelrechten Konversionen verlo-
cken können. Wie frühere Sozialpädagogen die Karriere als Therapeut, so lockt nun die Ver-
suchung sich mit Haut und Haar dem Neuen zu überantworten und sich als „Manager“ im
betriebswirtschaftlichen Sinne zu stilisieren. Dadurch lernt man zwar souveräner mit der
schwierigen Unterscheidung von Helfen und Nicht-Helfen umzugehen, bringt aber unter Um-
ständen die reflexive Spannung nicht mehr auf, die „soziales“ Management bzw. das „Mana-
gement des Sozialen“ überhaupt erst sich entwickeln lässt.13
Die Verschiebung des Schwerpunkts signalisiert, dass sich bedeutsame Berufsrollen nicht
mehr nur im Kundenkontakt, sondern auch in dessen Organisierung, Supervision, Moderation,
Evaluation etc., ergeben. Hierdurch findet ein Übergang von der Fall- hin zur Projektorientie-
rung statt. Dies wiederum erfordert auf der individuellen Ebene neben den Fach-, Methoden-
und Sozialkompetenzen die Verfügung über Schlüsselqualifikationen, wie z.B. Informations-,
Moderations-, Diagnose- und Beratungstechniken. Auf der Ebene der Ausbildung sind neue
wissenschaftliche Schnittstellen und Herausforderungen zu konstatieren. Organisation ist ja
als akademischer Bereich hart umkämpft, wobei die traditionellen disziplinären Gebietskämp-
13 So überlegt Dirk Baecker auf die Frage, wie er denn die Risiken und Chancen einschätze, die sich im Zuge neuer Studiengänge zum „Sozialmanager“ ergeben: „Wenn man sich an den englischen Wortsinn hält, wo ‚ma-nagen’ so viel wie ‚schaffen, bewältigen, damit zurande kommen’ bedeutet (zum Beispiel in der Formulierung: ‚would you manage another whiskey?’, wenn man jemanden fragt, ob er noch einen verträgt), könnte das Stich-wort ‚Sozialmanagement’ eine hoch interessante Reflexion auf Möglichkeiten und Reichweite der sozialen Ar-beit auslösen und die Profession aus ihrer unguten Oszillation zwischen Emphase (für das Helfen) und Frustrati-on (angesichts der so genannten ‚Bürokratie’, die anstelle der Sozialarbeiter das notwendige Geschäft der Refle-xion übernommen hat) herausholen.“ (Baecker 2004)
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fe zunehmend durch transdisziplinäre Bemühungen in Richtung auf einen allgemeine Organi-
sationswissenschaft („Organization Studies“) abgelöst zu werden scheinen.
8. Abweichungsverstärkung II: Neujustierungen in der Studienorganisation
Verlängerung des Praktikums
Die Verlängerung des Praktikums in der Hauptdiplomphase auf sechs (von ursprünglich drei
Monaten) wurde so gewählt, dass einerseits trotz der größeren Dauer immer noch eine gewis-
se zeitliche Überschaubarkeit gewährleistet bleibt. Im Gegensatz zum Anerkennungsjahr, in
dem alle Beteiligten mehr von einem Status als Mitarbeiter ausgehen, sollte die Zeitspanne
andererseits kurz genug sein, um den Status der Studierenden als Praktikanten erkennbar und
die gewisse Spannung von Vertrautheit und Verfremdung bestehen zu lassen. Gleichwohl
sprechen bei einer Dauer von einem halben Jahr nicht nur Gründe der emotionalen Ökonomie
dafür, dass es in dieser Zeit bereits zu einer Identifizierung mit dem Praktikumsfeld kommt
und zugleich der Praktikant für das Arbeitsfeld als möglicher zukünftiger Mitarbeiter vorstell-
bar und interessant wird – oder eben gerade nicht! Wer so viel Zeit und kommunikativen Auf-
wand investiert, entwickelt ein gewisses Interesse diese Investition durch eine spätere Be-
schäftigung zu amortisieren oder weiß doch, auf wen er sich bei dieser Person einlassen wür-
de. Das Praktikum wird zu einem Ort, an dem soziales Kapital gebildet werden kann. Die
Auswahl der Praktikumsstelle erhält unter diesen Bedingungen eine wesentlich größere Be-
deutung für die spätere Berufswahl; die Praktikumssuche bekommt fast schon den Charakter
einer vorgezogenen „Bewerbung“. Typischerweise eröffnen sich häufiger als bei kürzeren
Praktika Möglichkeiten zu Abschlussbeschäftigungen (Hilfskraftjobs) oder feldbezogenen
Diplomarbeiten.14 Dies wiederum stellt das Reststudium unter eine neue Perspektive.
Es gilt noch eine spezifische Dynamik zu konstatieren, die der organisationspädagogischen
Neuorientierung des Studiengangs stillschweigend zuarbeitet. Die längere Dauer des Prakti-
kums erzeugt naturgemäß finanzielle Engpässe bei den Studierenden. Von daher entsteht ein
struktureller Sog zu besser bezahlten und in gewisser Weise auch zu in sonstiger Weise „ren-
tierlichen“ Praktikumsstellen. Da Wirtschaftsunternehmen Praktikantenstellen seit etwa 10
Jahren verstärkt unter dem Aspekt des Personalmarketings sehen und entsprechend zum Teil
erheblich in Rekrutierung, Bezahlung und Betreuung investieren, steigt die Attraktivität die-
14 Was die Studierenden und ihre Prüfer mit dem neuen Problem des doppelten Rezipientenbezugs und der litera-rischen Umsetzung dieser Differenz konfrontiert!
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ses Bereichs, zumal die klassischen staatlichen bzw. staatsnahen Praktikumsinstitutionen sich
in einer Phase des Personalabbaus und der primär internen Rekrutierung befinden und in der
Konsequenz keine entsprechenden Anstrengungen in Richtung auf monetäre Anreize oder
intensive Betreuung bzw. Nachwuchsförderung unternehmen.
Dass wir hier eine recht junge Entwicklung vor uns haben, die einen erheblichen Lernprozess
bei allen Beteiligten voraussetzt, illustriert eine Episode aus dem Jahre 1998: ein hoffnungs-
voller Studierender hatte sich auf Empfehlungen seines Betreuers etwa zur selben Zeit für ein
Stipendium einer Begabtenstiftung wie auf einen Praktikumsplatz im Personalwesen von
Daimler-Chrysler beworben. Beide Male endete das Vorstellungsgespräch mit Absagen: der
Vertrauensdozent vermisste die sozialpädagogische Helfermotivation (angesichts dieses Prak-
tikumswunsches!), der Personalveranwortliche im Unternehmen konnte sich keinen Reim
darauf machen, warum er sich auf einen solchen „Exoten“ als Praktikanten einlassen sollte.
In recht kurzer Zeit haben sich die Verhältnisse markant verändert, wie die folgende Tabelle 4
ausweist. Sie zeigt, dass sich innerhalb von wenigen Jahren die Gewichte in Richtung auf den
sozialpädagogischen Bereichs bzw. das Management sozialer Dienste und auf den organisati-
onspädagogischen Bereich verschoben haben. Die Studierenden suchen und finden relativ
unproblematisch Praktikumsstellen in Bereichen, die bislang anderen Studierendengruppen
(insbesondere Betriebswirtschaftlern oder Psychologen) vorbehalten waren.
Klassische Sozialarbeit Sozialpädagogischer Bereich Management sozialer Dienste
Organisationspädagogischer Bereich
• Verein für straffällige Ju-
gendliche • Werkstatt für Behinderte • Treibhaus e.V. – Ökologi-
scher Verein, Träger der Ju-gendhilfe·
• Tagesstätte für psychisch Kranke·
• Entwicklungshilfeprojekt in Südafrika; Unterricht mit 9 Jährigen
• Psychiatrisches Klinikum; Sozialtherapie
• Aids Hilfe • Haus der Jugend der Stadt • Verein für straffällige Ju-
gendliche • Katholische Familienbera-
tungsstelle in Köln • Jugendamt der Stadt • Kirchengemeinde – im Be-
• Deutsches Rotes Kreuz – Bereich
Aus- und Weiterbildung • Referat für Frauenbeauftragte der
Region • Verein für Outdoor-Trainings • Zentrum für Erlebnispädagogik • Jugendarbeit (auch interkulturell) • Caritas der Stadt – Verwaltungs-
bereich • Institut für Beratung und Therapie
– Bereich Aus- und Weiterbildung • EU-Projekt i. B. Arbeitsmobilität • Gesamtschule – Schulsozialarbeit • VHS der Stadt • Heim & Werkstatt für Behinderte
– Verwaltungsbereich • Ministerium – Bereich Frauen • Ministerium – Bereich Frauen • Jeneusse Musical Deutschland –
im Bereich musikalische Jugend-arbeit
Ascena AG – Personalvermittlung Dr. Binner Consulting und Software DB-Netz AG – Personalentwicklung und Beratung Stadtsparkasse Köln, Personalentwicklung Bosch GmbH - Personalentwicklung Dräger Safety – Personalentwicklung Hapag-Lloyd – Personalentwicklung Bertelsmannstiftung – Personalentwicklung Krankenhaus – Personalentwicklung Bosch GmbH – Personalentwicklung Personalabteilung einer Heilpädagogischen Einrichtung Akademie für Führungskräfte GFK – Institut für Marktforschung Lufthansa – Personalentwicklungsabteilung VW Coaching Universität Hildesheim Daimler-Chrysler – Personalentwicklung Bosch (in Stuttgart) Universität Hildesheim Verlags- und Vertriebsmarketing Steilinger
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reich Erlebnispädagogik und Jugendarbeit
• Landesjugend-Pfarramt
– Personalabteilung
Tabelle 4: Praktikumsstellen im Jahre 2002
Einschränkung von Praktikumsvermittlung und Mentorenkontakt
Ein zentrales Problem bei jeder Veränderung von Organisationskulturen ist die Beständigkeit
des organisatorischen Gedächtnisses. Die klassische Praktikumsbetreuung festigt und tradiert
dieses Gedächtnis, indem sie bestimmte etablierte und immer wieder angesteuerte Praktikum-
sinstitutionen in ihren Karteien aufbewahrt und sie als Bezugspunkte für die Kompetenzent-
wicklung und Berufsorientierung der Praktikanten fixiert. Da sie für kontinuierliche Nachfra-
ge und stabile Anforderungen und Inhalte stehen, entsteht eine strukturelle Präferenz für die
etablierten Einrichtungen des sozialen Bereichs und für Praktikumsstellen in Organisationen
mit stabilen Umwelten. Nur sie können immer wieder und in vorhersehbarer Weise derartige
Stellen vorhalten und anbieten.
Wer neue Berufsfelder öffnen und eine entsprechende Kompetenzentwicklung anregen will,
muss derartigen, sich selbst verstärkenden konservativen Dynamiken entgegensteuern. Daher
wurde beschlossen keine aktive Praktikumsvermittlung mehr zu betreiben, keine Liste mögli-
cher Praktikumsstellen für die Studierenden vorzuhalten und darüber hinaus den direkten
Kontakt zwischen Institut und Praktikumsstelle bewusst einzuschränken. Diesbezüglich soll-
ten Vertreter des Instituts nur auf ausdrückliches Verlangen der Praktikanten oder der betref-
fenden Einrichtungen hin tätig werden. Gesteuert wurde nicht mehr aktiv und direkt über die
Vermittlung und Pflege von Stellen, sondern indirekt über die mehr oder weniger verpflich-
tende Vorgabe bestimmter Anforderungen, denen diese Stelle und das Praktikum als Ganzes
genügen sollten.
„Das Praktikum besteht in der teilnehmenden Beobachtung bzw. in der beobachtenden Teil-nahme (eben nicht: in der Beschäftigung! S.W.) in einem selbst gewählten Praxisfeld. Kriteri-um für die Auswahl der Praktikumsstelle sollte sein, dass man sich zumindest grundsätzlich vorstellen kann dort nach dem Studium zu arbeiten (Praktikum als möglicher Berufseinstieg! S.W.), dass diese Tätigkeit dann vom Zuschnitt, vom Anforderungsprofil und von der Bezah-lung dem Niveau des Studiengangs entspricht (d.h. in etwa dem BAT IIa-Niveau15; S.W.),
15 Dieser Indikator dient mir hier lediglich als Hinweis auf ein für Universitätsabsolventen üblicherweise erwart-bares Bezahlungsniveau, das für Angestellte im Öffentlichen Dienst dieser Eingruppierung entspricht.
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und dass es dort einen fachlich einschlägigen, akademisch ausgebildeten Mentor gibt“ (d.h. keine enge Eingrenzung auf Sozialpädagogen; S.W.). (Auszug auf der einschlägigen Informa-tionsbroschüre) Diese Selbstverschreibungen des Instituts sollten neben dem Löschen bzw. Kleinhalten des
institutionellen Gedächtnisses noch weitere Nebenfolgen im Hinblick auf Verhalten und Habi-
tus der Studierenden zeitigen:
• Die Entwicklung neuer Bereitschaften zu und Kompetenzen für die aktiven Arbeitsplatz-
suche und das Sich-in-Szene-Setzens bei den entsprechenden Bewerbungsgesprächen
• Die regionale Erweiterung des Suchraums auf ganz Deutschland (das institutionelle Ge-
dächtnis kennt typischerweise Einrichtungen in seiner Nähe am besten!)
• Die Eröffnung neuer Optionen über den Kreis der etablierten Institutionen hinaus, wo-
durch die Varianz der Arbeitsfelder, Arbeitgeber und Aufgaben, aber auch die Differen-
zierung innerhalb der Studierendengruppe steigt.
• Die Erhöhung der Klarheit und Verlässlichkeit von Vereinbarungen zwischen den Prakti-
kanten und ihren dortigen Mentoren. Zum einen wurden solche Aushandlungsprozesse
durch die offene Situation ermöglicht, zum anderen durch die entsprechenden Berichts-
pflichten der Studierenden erzwungen.
Die flankierende „curriculare Forcierung“ des Praktikums sollte diese Ziele unterstützen,
indem es dieses durch den Einbau verschiedener verpflichtender Reflexionsschleifen als teil-
nehmende Beobachtung zu gestalten hilft (vgl. Wolff 2000). Verschiedene Anforderungen
und Auflagen nötigen die Praktikanten indirekt zu einem gewissen Maß an Selbstbeobachtung
und Selbstevaluation sowie zur Berücksichtigung der Unterscheidung zwischen Selbst- und
Fremdreferenz. Vereinbart wurde die Führung eines Forschungstagebuchs, in dem auf der
einen Seite die „objektive“ und sequentielle Darstellung von Episoden und Abläufen, auf der
gegenüber liegenden Seite die interpretierende, selbstreflexive oder thematisch weiterführen-
de Assoziationen zu Dargestelltem und zur Darstellung dokumentieren werden sollen. Eine
weitere Intervention bestand in der systematischen Induzierung von Neugier durch die Aufla-
ge während des Praktikums alle drei Wochen zehn kleinere und in diesem begrenzten zeitli-
chen, sachlichen und sozialen Rahmen tatsächlich beantwortbare Fragen zu formulieren
(„Aufmerksamkeitspfeile im Köcher“). Hierdurch sollte Neugier gefördert und vor allem das
Stellen beantwortbarer Fragen als qualifizierte Leistung erfahrbar gemacht und geübt, ande-
rerseits die Praktikanten angeregt werden, immer wieder neue Aspekte der Praktikumssituati-
on in den Blick zu nehmen.
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Aufgrund der geographischen Verstreutheit der Praktikumsstellen und wegen des Prinzips der
Nichteinmischung des Instituts musste die notwendige Supervision im Feld stattfinden. Dies
geschah durch die Verpflichtung zu regelmäßigen, alle sechs Wochen offiziell anzuberau-
menden Feedback-Gesprächen, derer schriftliche Vorbereitung und deren protokollierte Er-
gebnisse dem universitären Tutor zuzusenden sind. Der Witz dieses Arrangements besteht
darin, dass der imaginierte Leser (eben der Tutor) - wie beim Bentham’sche Panoptikum -
selbst dann in der Phantasie des Schreibers als Bezugspunkt seiner Erläuterungen und Be-
gründungen wirkt, wenn der Tutor nicht reagiert. Dadurch werden Fremd- und Selbstsupervi-
sion verbunden und im vom Praktikanten selbst geleistet. Ähnliches gilt übrigens für den
Mentor im Feld, der sich nicht mehr mit den üblichen „wir reden doch sowieso immer mitein-
ander“ beruhigen kann, sondern einen (Reflexion-)Schritt zurückgehen und das Praktikum
und seinen Erfolg als gemeinsame Aufgabe zusammen mit den Praktikanten thematisieren
muss. Das Paradox der zugleich engagierten wie distanzierten teilnehmenden Beobachtung
wird in der Gestaltung der „Wissenschaftlichen Hausarbeit“ ein weiteres Mal abgebildet:
Verpönt sind nunmehr die klassischen, nur Eindrücke wiedergebenden Praktikumsberichte.
Die Studierenden werden angehalten, sich von ihren Erfahrungen zwar zu einer Fragestellung
anregen zu lassen, diese dann aber unabhängig davon zu formulieren und zu behandeln.
9. Nebenfolgen I: Reaktionen
Was passiert mit Studierenden beim Eintauchen in ungewohnte Lebenswelten, in denen für
die weder die vorgefundene Umgangsformen noch die verwendeten Begrifflichkeiten und
Sprechweisen, weder die Art sich zu kleiden oder Schmuck zu tragen noch elementare körper-
liche Merkmale wie Haltung oder Gang selbstverständlich und gewohnt sind? In der sozialen
Welt der Praktika, insbesondere wenn sie im organisationspädagogischen Feld abgeleistet
werden, sehen sich die Sozialpädagogik-Studierende mit für sie ungewohnte An- bzw. Zumu-
tungen konfrontiert. Hier sind ganz andere Bereitschaften („Klar, übernehm‘ ich!“), Verbind-
lichkeiten („… wird bis morgen 10 Uhr erledigt“) und Lernzumutungen („Power Point mit
eingebauten Fotos können Sie doch?“), aber auch schmerzhafte Distanzierungen von biogra-
phischen Wurzeln, gewohnten Milieu und lieb gewonnenen Eigenheiten gefordert: wie z.B.
der Verzicht auf Piercing, Henna und Turnschuhe.16
16 Eine vollständige Kartierung dieser neuen „sozialen Welten“ müsste eine Vielzahl weiterer Merkmale berück-sichtigen wie z.B. Kommunikationsformen (Beratertalk, systemtheoretisches Vokabular, Reden vom „Kunden“), Identität stiftende Aktivitäten (Moderieren, Präsentieren, Kartenschreiben), Outfit und Auftritt (Kostüm, Gang, Haarlänge, Blick, Stimme), vorzuhaltende Technologien (Metaplan, Powerpoint, Beamer; Video), Treffpunkte
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Viele Studierende haben allerdings weniger Probleme mit den geforderten Anpassungen als
mit der Selbstverständlichkeit gehabt mit der sie in den neuen Kontexten als kompetente Mit-
arbeiter ernst genommen und eingesetzt wurden.
Typisch für die entstehende Ambivalenzist ein bei mehreren Praktikanten auftretender Angst-traum, den man die„Geschichte von der unfreiwilligen Entdeckung“ nennen könnte: Die Prak-tikantin sollte dabei für ihre erkrankte oder verhinderte Mentorin eine Präsentation vor wich-tigen Kunden übernehmen. Alles geht wunderbar, keiner merkt etwas, bis einer der Teilneh-mer eine harmlose Frage nach dem Status der Vortragenden stellt („etwa: „Wie lange arbeiten Sie schon in der Firma?“ „Sind Sie eigentlich auch Betriebswirtin wie Frau X“). Die Prakti-kantin hat das Gefühl jetzt aufzufliegen, plötzlich als Betrügerin dazustehen und ihre Ah-nungslosigkeit hinter der gestylten Fassade offen legen zu müssen – dies ist dann regelmäßig der Moment, in dem sie aufwacht. Frappierend waren die Effekte der unterschiedlichen Praktikumsstellen im Hinblick auf Art
der Selbstthematisierung. In der folgenden Tabelle 5 werden zufällig ausgewählte Zitate aus
Rückmeldungen von Praktikantinnen an ihren jeweiligen wissenschaftlichen Tutor aus sozial-
arbeiterischen mit solchen aus organisationspädagogischen Praktikumsstellen kontrastiert.
Man gewinnt bei der Lektüre den Eindruck zwei gänzlich divergierende Organisationskultu-
ren vor sich zu haben: eine, in der Praktikanten eher als Zöglinge erscheinen, denen es auf
persönliche Nähe, Spaß und Kollegialität ankommt; und eine andere, kühlere, die Praktikan-
ten als kompetente Partner ansieht und fordert. In der einen Welt liegt der Akzent darauf, in
einer Gemeinschaft heimisch und vertraut werden, in der anderen Welt auf dem Sich-Selbst-
Erproben und Bewähren.
Sozialarbeit Organisationspädagogik
• Herr Müller fühlt sich unwohl, dass er in der vergangenen Zeit nicht für mich da war. Ich wer-de mich stärker an ihm orientieren, da er sich vornimmt, öfter für mich da zu sein.
• Alles in allem hat mir mein Praktikum sehr viel Spaß gemacht. Ich habe eine Menge lernen kön-nen und hatte sehr nette Kollegen. Das war auch der Grund, warum mir der Abschied doch ein bisschen schwer fiel
• Es gibt hier feste Hierarchieebenen auf denen Praktikanten eher unten stehen.
• Meine Tätigkeiten sind im Großen und Ganzen die gleichen geblieben
• Trotz Problemen und Unlustphasen kann ich doch guten Gewissens behaupten, dass ich eine Menge
• Meine Einweisung war sehr kurz und danach bekam ich schon ziemlich viele Aufgaben über-tragen
• Nach den ersten drei Tagen fingen dann auch die Zweifel bei mir an, ob ich das alles schaffen kann. Doch aus heutiger Sicht kann ich sagen, dass es zu schaffen ist und es mir auch sehr gefällt in die-sem Unternehmen mitzuarbeiten
• Die Organisation lässt mich sinnvolle Arbeit mit dem Kennen lernen von Strukturen und Inhalten verbinden
• Sehr lehrreich und aufschlussreich, da sich auch meine Stärken und Schwächen zeigten und ich diese nun gezielter fördern, weiterentwickeln und verbessern kann
und Orte (Tagungshotels, Seminarräume, Sitzordnungen). Zur Sprache kommen würden dann auch typische Abgrenzungen und Selbst-Stilisierungen (Differenz Frontstage-Backstage, Beratungs-, Klienten-, Beratersystem; eingespielte Qualitäts- und Loyalitätsvorstellungen (ZahlenDatenFakten; eindeutige Absprachen und klare Rückmeldungen, Verlässlichkeit, Termintreue, professioneller Auftritt, stimmiges Design) sowie bereichsspezi-fische Arenen und Medien der Diskursaustragung (Foren und Plattformen im Netz, Trainer-Stammtische, Kon-gresse, Zeitschriften wie „Organisationsberatung“ usw.).
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gelernt habe: über Kinder, aber am meisten doch über mich selbst. So gesehen habe ich dann auch in dieser lästigen Tätigkeit (Tagebuch schreiben) einen Sinn und Zweck gesehen.
• Ich konnte auch selbst Fragen an die Patienten richten
• Sie bot mir am Freitag der ersten Woche das „Du“ an. Dies verbesserte unsere Arbeitsstim-mung jeden Tag und jetzt sind wir ein gutes Team
• Mein Verständnis für Prozesse, aber auch für die Arbeit am Kunden hat sich ständig verbessert
• Ich bekam die Aufgabe, solche Prozesse zu erfas-sen und darzustellen
• Ich selbst hatte ein negatives Bild von meiner Rolle als Praktikantin, aber von den Mitarbeitern bekomme ich schon von Anfang an das Gegenteil vorgelebt.
• Ich werde mit meiner Meinung ernst genommen • …habe mich eingefunden in BWL- und Ver-
triebsdenken, daher konnte ich die mir übertrage-nen Aufgaben von hoher Brisanz sehr gut meis-tern
Tabelle 5: Selbstkategorisierung von Praktikanten in unterschiedlichen Feldern
10. Nebenfolgen II: Reaktionsbildungen
Wenn organisatorische Kontexte sich wandeln, erwachsen daraus oft erhebliche Orientie-
rungsprobleme für die Beschäftigten. Selbst manche im engeren Sinne sozialarbeiterische und
sozialpädagogische Praxisfelder machen zurzeit einen Übergang von einem „warmen“, kon-
sensorientierten und mit sich selbst zufriedenen zu einem eher coolen, leistungsorientierten
und weniger verzeihenden Typ von Organisationskultur durch. Für die Studierenden des hier
geschilderten Studiengangs gilt dies natürlich in besonderem Maße, wenn sie sich in die ver-
gleichsweise nüchternen Hallen des Organisierens und darüber hinaus vielleicht sogar in pro-
fitorientierte Unternehmungen aufmachen - hatten sie doch ihr Studium in aller Regel mit
ganz anderen emotionalen und kognitiven Grundeinstellungen und Bedürfnissen begonnen:
nämlich solchen nach Kongruenz (von Absicht und Haltung), nach Ganzheitlichkeit (von Ar-
beitsvollzügen), nach ungebrochener Solidarität (mit den Klienten und Kollegen), nach Un-
mittelbarkeit (von Theorie und Praxis) und nach Eindeutigkeit (von Zielen, Aufgaben und
Funktionen). Im organisationspädagogischen Praktikum zumindest erleben sie nun eine Welt
in der alle diese Kohärenzen zumindest gelockert erscheinen.
Die nunmehr vorgefundene Situationen sind vergleichsweise „schwach“ (vgl. Weick 2001) in
dem Sinne, dass die Hinweise darauf, wie man sich in dieser ungewohnten Umgebung zu ver-
halten habe, eher spärlich und diffus ausfallen. Andererseits wird man plötzlich ernst genom-
men und bekommt ganz selbstverständlich und stetig Aufgaben übertragen, die man sich ei-
gentlich noch gar nicht zutraut. Aus den Rückmeldungen der Studierenden lassen sich vier
unterschiedliche Reaktionsweisen auf diese Konfrontation rekonstruieren. Die folgende Ta-
belle 6 zeigt die verschiedenen Grundtypen persönlicher Reaktionsweisen in sozialpädagogi-
schen Grenzregionen. Auf der einen Dimension ist die Ausgewogenheit der Reaktion markiert
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(geglückt oder problematisch); auf der anderen Dimension die Orientierung relativ zur Gren-
ze des disziplinären und professionellen Feldes (eindeutig diesseits – her jenseits) vermerkt.
Grenzposition Ausgewogenheit
stark diesseits eher jenseits
geglückt Typ: Neue Fachlichkeit Qualitätsmanagerin Werkstattleiter Weiterbildnerin
Typ: Neue Professionalität Personalberaterin Datenbankentwickler E-Learning-Spezialistin
problematisch Typ: Unentschlossene Frustrierte Aus- und Absteiger Traditionalisten
Typ: Überläufer Hochstapler tough guy-Berater Marktopfer
Tabelle 6: Typen persönlicher Reaktionsweisen in sozialpädagogischen Grenzregionen
Die Unentschlossenen fühlen sich durch die neue Situation überfordert und ziehen sich zurück
bis hin zur regressiven Selbstblokade. Manche sind enttäuscht von den neuen Angeboten und
besinnen sich auf ihren traditionellen Orientierungen. Andere haben ihre Ziele schon vorher
definitiv abgesteckt, und sind insoweit überhaupt nicht irritierbar gewesen. Die problemati-
sche Variante derer, die sich auf das Spiel an der Grenze eingelassen haben, bezeichne ich als
Überläufer. Hier herrscht abergläubisches Lernen und oberflächliche (Über-)Anpassung vor.
Man hat sich äußerlich den neuen Bedingungen bis in Details von Sprache und Aussehen an-
geglichen oder mimt doch erfolgreich den scheinbar hier geforderten Habitus nach.
Dem gegenüber steht als positive Variante die Neue Professionalität. Hierunter wären Perso-
nen zu subsumieren, die sich in dem organisationspädagogischen Handlungsfeld eine eigene
Position erkämpft haben, und zwar eine, die nicht auf eine völlige Konversion hinausläuft,
sondern das sozialpädagogische Fundament zu integrieren und weiterhin zu nutzen vermag.
Analog dazu verhielte es sich bei Vertretern der Neuen Fachlichkeit, denen es erfolgreich
gelungen ist, organisationspädagogische Themen und Kompetenzen in traditionelle sozialen
Handlungsfelder und Einrichtungen zu integrieren und sich damit gegenüber den sozialpäda-
gogischen Kollegen aus anderen Hochschulstudiengängen zu profilieren.
11. Sozialpädagogen/Sozialpädagogik – lost in space?
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Wer feste Kopplungen lockert und Grenzen austestet, erweitert seine Möglichkeiten, handelt
sich aber zugleich neue Unwägbarkeiten und Abhängigkeiten ein. In unserem Fall gehört dazu
die erhöhte Empfindlichkeit für Arbeitsmarktbewegungen und für Modetrends im betriebli-
chen Personalmanagement. Organisationspädagogische Praktikums- und Arbeitsplätze variie-
ren nach schwer kalkulierbaren konjunkturellen Zyklen, auf die sich so schwerfällige Appara-
te wie Universitäten und Studiengänge wenn überhaupt nur mit Verzögerungen einstellen
können (wie die sog. „Schweinezyklen“ in der Lehrerausbildung belegen). Grenzgänger gera-
ten zudem in Gefahr mit Fremden verwechselt und ausgewiesen zu werden, wenn sie sich
nicht gebührend zu legitimieren vermögen.
Dies berührt bei der geschilderten Studiengangsreform die jahrelang unbeantwortete Frage,
welchen Namen denn der neuen Ausrichtung angemessen sei. Manchen in Erwägung gezoge-
nen Kandidaten wie „Management sozialer Dienstleistungen“ bzw. „Human Service Mana-
gement“ sieht man ihre disziplinäre Heimat nicht mehr an bzw. muss sie, wegen der ungeklär-
ten Elternschaft als disziplinär „Staatenlose“ bezeichnen. Das bloße „Sozialpädagogik“ ver-
schleiert die Besonderheit des Angebotes, das forsche „Organisationspädagogik“ suggeriert
Erwachsenheit und schon eindeutig geklärte disziplinäre Verwandtschaftsbeziehungen bei
einer doch eben erst geborenen Spezialisierung, die manche auf Seriosität bedachte Kollegen
eher für einen unterschobenen Bastard halten. Die salomonische Lösung „Sozial-/ Organisati-
onspädagogik signalisiert den Anspruch auf Differenz und bekräftigt zugleich den Versuch
Kohärenzen zu behaupten (zumindest aus der Sicht des Instituts!). Dennoch muss weiterhin,
etwa durch die Konstruktion einer passenden Disziplingeschichte oder durch die Verteidigung
von Identität stiftenden Stellen und ihrer Wertigkeit (z.B. einer C4-Eckprofessur Sozialpäda-
gogik) ständig an der Aufrechterhaltung dieser prekären Balance gearbeitet werden. Solche
Legitimations- und Interpretationsprobleme kennen institutionalisierungstheoretisch aufge-
klärte Organisationspädagogen natürlich, erwarten sie geradezu bei einem solchen Typ von
Organisationen. (vgl. als klassischen Bezugstext Meyer/Rowan 1977). Sie müssen so bewäl-
tigt werden, dass die gewünschten externen Entkopplungseffekten nicht mit weiteren und da-
mit problematischen internen Kohärenzeinbußen der Disziplin erkauft werden und man sich
plötzlich im disziplinären Niemandsland wieder findet.
Die Position an der disziplinären Grenze ist auch im Hinblick auf die Selbstdefinition der be-
teiligten Hochschullehrer ambivalent. Einerseits entsteht das Gefühl, das Beste verschiedener
Welten zusammenbringen zu können. Die damit zum Ausdruck kommende Interdisziplinarität
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kann man als besondere Qualität bejubeln oder sie als eine höhere Form der Halbbildung in
Frage stellen. Für beide Positionen lassen sich gute Argumente finden. Zudem müssen sich
Grenzgänger selbstkritisch die Frage nach der Reichweite der eigenen Kompetenz stellen
(„Können wir das überhaupt?“). Und selbst dann, wenn man Hochstapelei aufgrund von Dop-
pelqualifikationen und einschlägigen Erfahrungen wie in diesem Fall mit einer gewissen Zu-
versicht ausschließen kann, lauert der Zweifel, ob man sich wirklich nur in eine exponierte
Stellung vorgewagt, oder ob man sich damit nicht vielmehr in eine evolutionäre Sackgasse
hinein manövriert hat, in die einem womöglich niemand folgen wird. („Gibt es diese Kombi-
nation überhaupt noch einmal auf dem Markt?“)
Wie alle diese Fragen zu beantworten sind, erweist sich erst in der Rückschau. Momentan
fügen sich die Eindrücke noch zu keinem schlüssigen Gesamtbild, zumal der ganze Prozess
noch lange nicht konsolidiert ist. Daher lassen sich vorläufig nur vier mögliche Szenarios für
die Zukunft des Studiengangs angeben:
• Die Fortsetzung des Husarenritts auf der Grenze mit gefestigter Identität
• Das Aufgehen in einen transdisziplinären Organisationsstudiengang
• Die Erschöpfung aller Beteiligten und der Rückfall in alte Zeiten (wenn sich keine Nach-
frage einstellt oder die Mechanismen zur Entkopplung nicht mehr funktionieren)
• Die Auflösung des Studiengangs (weil die Legitimation der Sozialpädagogik in der Hoch-
schule oder als akademisches Fach schwindet oder weil man sich soweit vom dis-
ziplinären Kern entfernt hat, dass man nicht mehr als sozialpädagogischer Studiengang
identifizierbar ist)
Die Beteiligten stehen in jedem Fall vor der Aufgabe, das Unerwartete so gut es geht zu ma-
nagen.17 Für den Autor und seine Leser bleibt nur mit Brecht zu konstatieren: "Und wieder
sehen wir betroffen, den Vorhang zu und alle Fragen offen."
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17 Und dies in Zukunft leider ohne den von ihnen so geschätzten Mitstreiter Burkhard Müller tun zu müssen.
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