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Organisationsberatung – Supervision – Coaching, Heft 2/2004, S. 151-159 Sorge als philosophischer Eckpfeiler der Beratung Selbstsorge als zentraler Begriff der Lebenskunst bei Schmid Thomas Vierus, Pfungstadt Bei dem Philosophen Wilhelm Schmid nimmt in seiner empfehlenswerten Darstel- lung der Philosophie der Lebenskunst der Begriff der Sorge, besonders der Selbstsorge, eine zentrale Position ein. Der Mensch als Selbst ist mit seiner Sorge Startpunkt und Gegenstand einer reflektierten Lebenskunstpraxis. Die Praxis des Lebens begleitend zu reflektieren, ist wiederum Aufgabe der Beratung, sodass für eine philosophische Fun- dierung von Beratung bei Schmid und im Besonderen bei Martin Heidegger fruchtbare Impulse hierfür erwartet werden dürfen. Der Selbstbegriff Das Konzept von Selbst ist wichtig für den Sorgebegriff. Deshalb soll er holz- schnittartig beleuchtet werden. Eine ausführliche Darstellung von „Selbst“ ist in dem engen Rahmen der Arbeit angesichts der breiten philosophischen und psychoanalyti- schen Forschung nicht angezeigt. Schmid sieht das Selbst so: „Das Selbst umfasst das Ich (…) und das Sich, das dem Selbst den reflexiven Charakter verleiht, der ihm ermöglicht, von ‚sich selbst‘ sprechen zu können.“ (Schmid 2003, 239) In der Fülle der von ihm genannten Aspekte einer „Selbst“-Diskussion erscheint hier wichtig, dass das jeweilige Selbst sich konstituiert in der Rezeption des Anderen und seiner selbst am Anderen (Schmid, 2003, 242, legt zu Recht Wert darauf, dass hier nicht einem Narzissmus das Wort geredet wird, der andere zum bloßen Instrument her- abwürdigt), in der Reflexion und in der daraus resultierenden Selbstgestaltung. Dieser Dreiklang umfasst stets die temporale Dimension. Die Differenzierung von Ich und Selbst ist Voraussetzung, dass ein Ich seines Selbst bewusst ist. Diese Reflexion ermöglicht im Weiteren erst die Sorge für und um bzw. die Selbstsorge. Die folgende Grafik veranschaulicht – ohne Hierarchien zu be- nennen oder Vollständigkeit zu beanspruchen – die einzelnen Faktoren:

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Page 1: Sorge als philosophischer Eckpfeiler der Beratung

Organisationsberatung – Supervision – Coaching, Heft 2/2004, S. 151-159

Sorge alsphilosophischerEckpfeiler der BeratungSelbstsorge als zentraler Begriff derLebenskunst bei Schmid

Thomas Vierus, Pfungstadt

Bei dem Philosophen Wilhelm Schmid nimmt in seiner empfehlenswerten Darstel-lung der Philosophie der Lebenskunst der Begriff der Sorge, besonders der Selbstsorge,eine zentrale Position ein. Der Mensch als Selbst ist mit seiner Sorge Startpunkt undGegenstand einer reflektierten Lebenskunstpraxis. Die Praxis des Lebens begleitend zureflektieren, ist wiederum Aufgabe der Beratung, sodass für eine philosophische Fun-dierung von Beratung bei Schmid und im Besonderen bei Martin Heidegger fruchtbareImpulse hierfür erwartet werden dürfen.

Der Selbstbegriff

Das Konzept von Selbst ist wichtig für den Sorgebegriff. Deshalb soll er holz-schnittartig beleuchtet werden. Eine ausführliche Darstellung von „Selbst“ ist in demengen Rahmen der Arbeit angesichts der breiten philosophischen und psychoanalyti-schen Forschung nicht angezeigt. Schmid sieht das Selbst so:

„Das Selbst umfasst das Ich (…) und das Sich, das dem Selbst den reflexiven Charakterverleiht, der ihm ermöglicht, von ‚sich selbst‘ sprechen zu können.“ (Schmid 2003, 239)

In der Fülle der von ihm genannten Aspekte einer „Selbst“-Diskussion erscheinthier wichtig, dass das jeweilige Selbst sich konstituiert in der Rezeption des Anderenund seiner selbst am Anderen (Schmid, 2003, 242, legt zu Recht Wert darauf, dass hiernicht einem Narzissmus das Wort geredet wird, der andere zum bloßen Instrument her-abwürdigt), in der Reflexion und in der daraus resultierenden Selbstgestaltung. DieserDreiklang umfasst stets die temporale Dimension.

Die Differenzierung von Ich und Selbst ist Voraussetzung, dass ein Ich seinesSelbst bewusst ist. Diese Reflexion ermöglicht im Weiteren erst die Sorge für und umbzw. die Selbstsorge. Die folgende Grafik veranschaulicht – ohne Hierarchien zu be-nennen oder Vollständigkeit zu beanspruchen – die einzelnen Faktoren:

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152 Thomas Vierus

Selbst

Um welt Um welt

Gesellschaft Gesellschaft

M itm ensch M itm ensch

Transzendenz Transzendenz

Vergangenheit Gegenwart Zukunft

(Grafik ©: T. Vierus)

Der Sorgebegriff

Vom Selbst ausgehend ist die Sorge im wahrsten Sinne des Wortes wesentlich.„Sorge“ ist ein Begriff, der uns immer schon geläufig ist. Bereits das Altdeutsche fassteunter diesem Begriff zwei Nuancen: Zum einen werden hierunter „Unruhe“ und„Angst“ gefasst, zum anderen werden auch die „Fürsorge“ und „Beseitigung einesMangels“ subsumiert. Beide Bedeutungen haben sich bis zum heutigen Tag in erstaun-licher Kontinuität gehalten. Schmid (2003, 245ff.) sieht in der philosophischen Traditi-on ebenfalls zwei zentrale Aspekte der Sorge: Zum einen identifiziert er die ängstlicheSorge (lat. sollicitudo), die passiv erlitten wird, eine Bangigkeit, die aus den Lebensfragenhervorgeht. Sie ist keineswegs negativ, sondern hat die Funktion, das Eigeninteresse desSelbst zu aktivieren. Die Sorge im Sinne der sollicitudo bewirkt eine erste Selbstaneig-nung, die die Bestimmung des Selbst durch äußere Verhältnisse und Fremdbestimmungnicht ersetzt, sondern ergänzt. Andererseits kommt die kluge Sorge (lat. cura) hinzu, dieeine Verzahnung von Selbstbewusstsein und Selbstgestaltung beinhaltet und letztlichdie Übernahme von Verantwortung des Selbst für sich selbst zum Ausdruck bringt!

„Das Selbst ist der Ausgangspunkt der Sorge und zeichnet mit seiner Sorge um sich die Be-wegung vor, durch die auch das Selbstbewusstsein und die Selbstgestaltung charakterisiert wer-den: Es gewinnt Distanz zu sich, um sich gleichermaßen von Außen zu sehen, sich sorgsam zubetrachten, sich auf sich zu konzentrieren und schließlich für sich selbst zum Gegenstand der ge-staltenden Sorge zu werden, die das Selbst nicht mehr als dasselbe belässt … Das Selbst als Aus-gangspunkt und Gegenstand der Sorge.“ (Schmid 2003, 241; Hervorheb.: T.V.)

Heideggers Sorgebegriff

Schmid greift auf Heidegger zurück, um sich dem Phänomen der Sorge zu nähern,was nicht weiter erstaunlich ist. Schließlich ist Heidegger der Philosoph, der mit seinerOntologie des Daseins die Voraussetzung geschaffen hat, diesem Phänomen als anthro-pologische Konstante praktisch zu begegnen. Heidegger selbst sah sich nicht als Be-gründer einer Anthropologie. Sein Interesse galt primär der Ontologie. Er hat aber zeit-

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lebens die praktische Anwendung gefördert. Die Zollikoner Seminare, die maßgeblichauf die Daseinsanalyse gewirkt haben, sind ein Beispiel hierfür (Condrau 1998). DasVerständnis der Heidegger’schen „Sorge“ wird von Helting so zusammengefasst:

„Dem sich sorgenden Dasein geht es um sein Sein, d.h. um sein Sichbefinden in der Welt beiden Dingen und ihren (wie auch seiner eigenen) Entwurfsmöglichkeiten. Wir sahen, dass sich inder Befindlichkeit vor allem die Gewesenheit (das ‚auf sich zurückkommen‘) erschließt, im Sein-bei die Gegenwart (das ‚Gegenwärtigen‘) und im Entwerfen die Zukunft (das ‚auf sich zukom-men‘). Die Sorge, die sich als dreigliedrige erweist, ist also ein sich-zeitigendes Geschehen: Die‚Sorge‘ findet man nirgends vor wie ein Ding, und sie ist auch niemals einfach mit irgendeinemEinzelvollzug restlos zu identifizieren, sondern sie wird aus dem sich-zeitigenden Existenzvoll-zug des Daseins ersichtlich. Die Sorge bekundet sich (trägt sich) z.B. im besorgenden Umgangdes Daseins mit den Dingen so wie auch im fürsorglichen Dasein mit Anderen (aus). Die eigent-liche Sorge gilt der Zukunft des Gewesenen, die gegenwärtig entschieden wird. Die eigentlicheSorge vollzieht sich als augenblickliche Entscheidung, in der dem Gewesenen eine einmalige Zu-kunft eröffnet wird.“ (Helting 1999, 74)

Deutlich wird bei Helting ein Aspekt der Sorge, der über die traditionellen Positio-nen und die Etymologie hinausweist. Es ist der Gedanke, dass sich die Sorge vollziehtin einer „augenblicklichen Entscheidung“, die „Gewesenem eine einmalige Zukunft er-öffnet“. Damit verleiht die Sorge dem Leben eine spezifische Ausrichtung. Bei Heideg-ger wird die Sorge in der Nachfolge von Husserls Intentionalitätsbegriff als Vollzugvon Leben verstanden: „Leben, im verbalen Sinne genommen, ist nach seinem Bezugs-sinn zu interpretieren als Sorgen; sorgen für und um etwas, sorgend von etwas leben“(Heidegger 1994, 90).

Es wird deutlich, dass aus diesem Verständnis heraus „Selbstsorge“ für Heideggereine Tautologie ist (Heidegger 1972, 193): „Sorge meint daher auch nicht primär undausschließlich ein isoliertes Verhalten des Ich zu ihm selbst. Der Ausdruck ‚Selbstsor-ge’ nach der Analogie von Besorgen und Fürsorge wäre eine Tautologie. Sorge kannnicht ein besonderes Verhalten zum Selbst meinen, weil dieses ontologisch schon durchdas Sich-vorweg-sein charakterisiert ist.“ Im Weiteren wird deshalb auf den für uns pla-stischen Ausdruck „Selbstsorge“ verzichtet, da er immer schon in der „Sorge“ aufgeht.

Formen der Sorge: Fürsorge

Heideggers Sorgebegriff kennt Sorge als Seinsweise, die sich dem Dinghaften („Zu-handenem“) zuwendet und hier als „Besorgen“ erscheint. In Bezug zu Anderen („Mitda-sein Anderer“) hingegen ist Sorge als Fürsorge zu charakterisieren (Heidegger 1972, 192).Im Weiteren wird Fürsorge unterschieden als „einspringende Fürsorge“ und „voraussprin-gende Fürsorge“, die in ihrer Konzeption für die Beratung von großer Bedeutung sind.

„Die Fürsorge hat hinsichtlich ihrer positiven Modi zwei extreme Möglichkeiten. Sie kanndem Anderen die ‚Sorge‘ gleichsam abnehmen und im Besorgen sich an seine Stelle setzen, fürihn einspringen. … In solcher Fürsorge kann der Andere zum Abhängigen und Beherrschtenwerden, mag diese Herrschaft auch eine stillschweigende sein und dem Beherrschten verborgenbleiben.“ (Heidegger 1972, 122)

Die „vorausspringende Fürsorge“ charakterisiert Heidegger so:

„Ihr gegenüber besteht die Möglichkeit einer Fürsorge, die für den Anderen nicht so sehr ein-springt, als dass sie ihm in seinem existenziellen Seinkönnen vorausspringt, nicht um ihm die ‚Sor-

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ge‘ abzunehmen, sondern erst eigentlich als solche zurückzugeben. Diese Fürsorge, die wesentlichdie eigentliche Sorge – das heißt die Existenz des Anderen betrifft und nicht ein Was, das er besorgt,verhilft dem Anderen dazu, in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden.“

(Ibid)

Diese Unterscheidung ist angesichts des fundamentalen Sorgebegriffs eine existen-zielle. Wenn Sorge Lebensvollzug ist, bedeutet die Übernahme der Sorge eines Andereneinen gewichtigen Eingriff in dessen Dasein. Damit ist der Beratung von Klienten ausphilosophischer Sicht eine große Verantwortung eigen!

Zwei wesentliche Kriterien sind zu erfüllen, will Sorge eine dem Dasein entspre-chende, „vorausspringende“ Fürsorge sein: zeitliche Beschränkung und die Intentionder Sorge-Ermöglichung des Anderen. Die Intention der vorausspringenden Fürsorgeverweist auf die Bedeutung der Sorge. Während sich die zeitliche Beschränkung imRahmen der Beratung schon durch ökonomische Faktoren (z.B. Beratungshonorar)oftmals ergibt, verlangt die Intention, den Klienten bei der Erschließung von Sorge-möglichkeiten zu unterstützen, eine qualifizierte Selbstreflexion des Beraters. Der Be-ratungsforscher Tymister macht diese Notwendigkeit mit einer Reihe von Fragen an die(philosophische) Beratungspraxis deutlich. Er stellt u.a. die Frage: „Wie lässt sich imKonzept der ‚Philosophischen Beratung‘ bzw. der Schulung oder Fortbildung der Be-rater vorbeugen, dass sie die Beratungsbeziehung unbewusst nutzen, um eigene unbear-beitete und ihnen deshalb nie bekannt gewordene Wünsche nach Dominanz oder unbe-rechtigter Machtausübung (z.B. Rechthaberei) auszuleben (Übertragung der Berater),sehr zum Schaden der Klienten?“ (Tymister 1999, 558).

Die vorausspringende Fürsorge findet in dem individualpsychologischen Bera-tungsinstrument der „Ermutigung“ ein erhellendes Pendant. Entgegen der landläufigenReduktion der Ermutigung auf Lob – was nach meiner Beobachtung oft als oberfläch-lich und sanktionsabfedernd erfahren wird – ist Ermutigung die situations- und perso-nenadäquate Zumutung der je eigenen Handlungsfähigkeit und Verantwortungsmög-lichkeit, die dem Ermutigten die das Selbst stärkende Erfahrung der Zugehörigkeit zueiner Gemeinschaft und seine Wirkmächtigkeit eröffnet.

Sorge anhand eines Beratungsbeispiels

Ein Auszug aus einer Fallvignette kann Bedeutung und Unterschied der unter-schiedlichen Heidegger’schen Fürsorgemodi verdeutlichen:

Eine geschäftsführende Inhaberin eines Betriebes mit 760 Mitarbeitern, Ende 40, kommt indie Beratung mit der Frage, was sie mit ihrer 19-jährigen (!) Tochter tun solle, die sich weigerte,den von ihr (Mutter) arrangierten Arbeitsplatz in einem befreundeten Unternehmen anzunehmen.Bereits in der Auftragsstellung gewinnt das Thema der Fürsorge deutlich Konturen. Die schein-bar harmlose Frage lässt den Verdacht aufkommen, dass die erfolgsgewohnte und entscheidungs-starke Unternehmerin anstelle der erwachsenen (!) Tochter zu handeln gedenkt. Unter normalenUmständen (z.B. liegt keine Behinderung der Tochter vor) ist zu erwarten, dass eine volljährigeFrau in der Lage ist, ihr Leben eigenständig zu führen. Dieses Handeln „anstelle von“ roch förm-lich nach einem Fall von „einspringender Fürsorge“, die den mütterlichen Einfluss auf die Toch-ter erhalten soll. Die Vermutung bestätigte sich im weiteren Verlauf der Beratung.

Auf einer anderen Ebene bedroht die „einspringender Fürsorge“ den Beratungsprozess.Nicht nur dass die Mutter der Tochter den Vollzug des eigenen Lebens, also die Sorge, abnehmenmöchte, sondern in der Fragestellung lag die Aufforderung, das Problem für die Klientin zu lösenund damit ihr den Lebensvollzug abzunehmen, also der Ruf nach „einspringender Fürsorge.“ Ei-ne Beantwortung der Frage hätte die Entbindung der Klientin von der eigenen Verantwortung

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bedeutet und ihr signalisiert, dass der Berater ihr den Umgang mit der für sie kritischen Situationnicht zutraut. In individualpsychologischer Beratungsterminologie wäre von einer Entmutigungder Klientin zu sprechen, die ihr von Kindheit an vertraut ist und die das Versagen des Beratersbedeutet hätte. Dies ist besonders dann eine Bedrohung, wenn der Berater sich nicht im Klarenist, dass er aufgrund seiner eigenen Biographie z.B. es gewohnt ist, dominanten AnweisungenFolge zu leisten, selbst Befehle zu geben oder etwa dazu tendiert, „für Andere“ einspringend zusorgen. Hier kann nur eine qualifizierte Reflexion des Beraters, wie sie beispielsweise in der in-dividualpsychologischen Lehrberatung oder Lebensstilanalyse durchgeführt wird, den Beratungs-erfolg sichern.

Die vorausspringende Fürsorge verhalf der Klientin dazu, dass sie den Hintergrund ihrerFragestellung entdeckte und so zu einer neuen Auftragsstellung an den Berater kam. Von hier auskonnte die Klientin im Verlauf der Beratungssitzungen die Ursache auch für betriebsinterne Kon-flikte mit Mitabeitern identifizieren. In den folgenden Beratungsterminen konnte sie Hand-lungsalternativen aufbauen und arbeitete erfolgreich an einer eigenständigen Sorge statt einsprin-gender Fürsorge für Andere.

Auch wenn diese Fallvignette stark verkürzt ist, zeigt sie die Unterschiede und Folgender beiden unterschiedlichen Sorgekonzepte m.E. deutlich auf: Die einspringende Fürsor-ge zeigte sich in dreifacher Weise als schädlich: (1) Sie verhindert eine adäquate Sorge,weil diese ja auf das vermeintliche Problem „Tochter“ fokussiert war; (2) sie verführt An-dere zur Übernahme von einspringender Fürsorge („Sagen Sie mir, was ich tun soll!“);und (3) die „betroffene“ und „versorgte“ Person wird an der Aus- und Einübung der Sor-ge, d.h. am Vollzug des eigenen Lebens gehindert, was einer massiven Entmutigunggleichkommt. Die im Vergleich anscheinend mühevollere vorausspringende Fürsorgevermochte es hingegen, (1) die Klientin in ihrer Sorge ernst zu nehmen, (2) die vorhande-ne Sorge, die ja zu Recht bestand, weil „etwas nicht stimmte“, auf die eigentliche Ursachezurückführen, und (3) die Klientin zu ermutigen, d.h. sie konnte sich in der Beratung befä-higen, mit den Konflikten auf eine neue und ihr adäquatere Weise umzugehen. Diese neueKompetenz reichte weit über das ursprünglich benannte Problemfeld hinaus!

Die Sorge hat zum Ziel, das Dasein als „Offenheit“ zu verstärken. Im Beispiel derFallvignette bedeutete dies die Möglichkeit, auf scheinbar sicherheitsspendende Kon-trolle verzichten zu können. Offenheit ist die Voraussetzung für eine „Sorge um“ etwasanderes als das Selbst.

Damit beugen wir einem gravierenden Missverständnis vor: der Gleichsetzung vonEgoismus und (Selbst-)Sorge. Egoismus, der sich beispielsweise in der einspringendenFürsorge äußern kann, zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass er defizitär ist und je nachIntensität in die Isolation führt. Egoismus wird als substitutives Verhalten verstanden,das Dinge und Mitmenschen gebraucht, um damit mehr oder minder ungewusst das (ei-gene) gesuchte Selbst und die Begegnung mit ihm zu vermeiden und zu ersetzen. DerEgoismus verschlingt aus Ermangelung eines (ausreichend ausgeprägten) Selbst, bild-haft gesprochen, alles, dessen er habhaft werden kann, wie ein Schwarzes Loch im Uni-versum Licht und Materie verschlingt. Demgegenüber verkonsumiert die Sorge geradenicht alles andere und jeden Anderen, sondern gelangt zu einem ausgewogenen „Sein-bei“ und „Mitsein“.1 Sie zwingt ihr Gegenüber nicht zu einer „einspringenden Fürsorge“für sich. Vielmehr ist in der Sorge der Beitrag des Selbst für ein gemeinsames Mitein-ander zu sehen. Zum einen, da die Sorge die Verantwortung für das Selbst übernimmtund diese nicht an eine Gemeinschaft (z.B. Familie, Firma, Gesellschaft ...) delegiert

1 Das Sein-bei bezieht Heidegger auf das Zusammentreffen von Mensch und Gegenständen,

während das Mitsein das Zusammenspiel von Mensch und Mitmensch bezeichnet.

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und somit deren Ressourcen schont. Zum anderen in der Sorge für und um sich selbstist die Sorge für und um Andere stets inbegriffen. Es gibt kein Selbst ohne die ermögli-chende Interaktion mit Anderen. Hier leuchtet der Begriff „Ethik“ für einen Augenblickauf. In einem Vergleich zwischen Heidegger und Lévinas hat C. von Wolzogen es so ge-fasst: „Lévinas folgt hier in einem gewissen Sinne Heideggers Konzeption der Störung:Solange der Umgang mit Anderen störungsfrei verläuft, gibt es kein ‚Problem‘ derEthik; erst Störungen der menschlichen Interaktion beenden den Normalzustand undmachen moralische Phänomene als solche ausdrücklich“ (v. Wolzogen 2003).

Sorge und Verantwortung

Sorge ist Vollzug des eigenen Lebens und somit als Verantwortung des Selbst fürsich und seine Welt zu verstehen. Diese Verantwortung, die in der Sorge verwirklichtwird, umschließt die Pflege des Selbst. Schmid spricht hier m.E. fälschlicherweise voneinem „therapeutischen Aspekt“ der Sorge. Er lehnt zwar den Gedanken der Krankheitab (Schmid 2003, 247), aber „therapeúein“ (griech.: heilen) ist ein Begriff, der sich ein-deutig dem „Heilen“ zuwendet. Sorge ist aber gerade nicht primär heilend, sondern ge-sunde Notwendigkeit. Demgegenüber ist das Fehlen der Sorge als handlungs- oder garheilungsbedürftig zu charakterisieren. Der Begriff der Therapie ist außerdem inDeutschland juristisch stark reglementiert und im Kontext der Reflexion über Beratungunbrauchbar.

Zur Pflege gehört auch die Erfahrung der eigenen Wirkmächtigkeit, die immerwieder erfrischt und erneuert werden kann und soll. Auch beinhaltet sie sowohl eineSelbst- als auch Eigenbegrenzung zugunsten des Selbst und seiner Welt. So ist der To-pos des „(eigene) Grenzen-wahrens“ als pfleglicher Umgang mit sich selbst gerade ineiner zunehmend lebensfeindlichen Gesellschaft – hier sind die Stichworte Arbeits- undBeziehungsflexibilisierung u.v.a.m. zu nennen – von großer Bedeutung. Gleichwohlbedeutend ist die (Selbst-) Begrenzung zugunsten der (Um)Welt.

„Die Begrenzung ist ein Signum der Selbstmächtigkeit, und vom Selbst hängt es ab, dieGrenzen aufrecht zu erhalten, sie durchlässig zu gestalten, sie aufzulösen oder anders zu ziehen.“(Schmid 2003, 334)

Zur Sorge und der Selbst-Pflege gehört in zentraler Weise auch der Genuss. Schmid(2003, 333) sieht im Genuss eine „Aufhebung des Selbst“ und der Selbstsorge. DieseAufhebung verschafft dem Selbst eine Erholungspause von der Sorge und damit denRaum, welcher für eine Selbst-Innovation bzw. Selbstgestaltung notwendig erscheint.Relevanter für Beratung erscheint mir aber ein weiterer Aspekt, den Genuss eröffnet:Genuss ist stets Verortung in der Gegenwart und somit ein wichtiger Lehrmeister fürdas Gegenwärtig-Sein. Letzteres ist unverzichtbare Voraussetzung für Begegnung undein Strukturmerkmal des Offenheit-Seins. Hier liegt m.E. der Blick auf die Beratungs-praxis frei, da Genuss u.a. im Sinne modellhafter Ermöglichung auch die Wirkung desBeratungsprozesses positiv beeinflusst. Inwieweit Genuss und Grenzziehung in der Be-ratung thematisiert werden muss, bleibt von dem konkreten Einzelfall abhängig. DiePraxis von Genuss und Grenzziehung wird vermutlich in fast jedem BeratungsprozessEingang finden.

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Gewohnheit – eine Form der Sorge

Eine der Techniken der Sorge ist nach Schmid die Anlage und der Gebrauch vonGewohnheiten. Schmid gebraucht den Begriff in Anlehnung an die téchne der Antike,„die kalkulierte, regelgeleitete, methodische Vorgehensweise“. Diese „spezifischeTechnik richtet das Selbst auf sich selbst und das eigene Leben (téchne toù bíou), umdaraus ein schönes, bejahenswertes Werk zu machen“ (Schmid 2003, 325). Allerdingsist zu bedenken, dass „Technik“ gegenwärtig eine Konnotation hat, die nun gerade inihren Auswirkungen nicht lebensfördernd erscheint. Auch ist der damit verbundene po-sitivistische Anklang der unbedingten Machbarkeit zwar vielleicht ungewollt, aber kri-tisch in dem gewählten Zusammenhang.

Gewohnheiten haben die Funktion, das Selbst zu entlasten angesichts der Fülle vonEntscheidungen, die das Selbst in der schier unendlichen Menge der Wahlmöglichkei-ten zu überlasten drohen. In der Routine – eine Metapher für die Erfahrung des alltägli-chen Ganges auf dem (Lebens-) Weg – werden Entscheidungen standardisiert und inter-nalisiert und erlauben somit Ressourcen, wie z.B. Aufmerksamkeit für andere Bereichefreizusetzen (Schmid 2003, 326). Interessant ist, dass „Gewohnheit“ „wohnen“ beinhaltetund somit dem griech. éthos („wohnen bei“, „gemeinsames Leben“) sehr nahe kommt.Auch hier findet sich ein Anklang, der den sozialen Charakter der Selbstsorge betont!

In seiner Unterscheidung mehrerer Gewohnheitsdimensionen zeichnet Schmid dasBild der existenziellen Gewohnheit, die die Kohärenz des Selbst ausmacht. Der Gedan-ke, dass das Selbst durch Gewohnheiten konstituiert und zusammengehalten wird, istallerdings zu kurz gegriffen. Er reicht nicht aus, um Fragen nach Konstitution und „Ko-härenz“ des Selbst zu beantworten. So stellt sich die Frage, nach welchen Kriterienwerden (existenzielle) Gewohnheiten und Entscheidungen ausgebildet? Der Begriff derGewohnheit hat nicht die Schärfe, die dem Sujet gerecht werden kann. Hier ist einRückgriff auf die Konzeption Alfred Adlers, der mit der Individualpsychologie die on-tologische Teleologie und die Finalität als Grunddynamiken einführt, adäquater. DieSorge als Mangelüberwindung ist bei Adler der entscheidende Faktor, der zu einer inden ersten Lebensjahren gebildeten, größtenteils ungewussten Zielsetzung führt und le-benslang als Antrieb wirkt. Diese Finalität bildet das Kriterium für individuelle Ent-scheidungen und Handlungen. Das Wissen um die handlungsleitende Zielausrichtung(Adler: „Lebensstil“) eröffnet den Spielraum für Handlungsalternativen in Konfliktsi-tuationen. Adler ist insofern interessant, als seine Individualpsychologie schon sehr früheine Beratungspraxis entwickelt und fundiert, die nicht auf die Dichotomie von Krank-heit und Heilung (Therapie) angewiesen ist. Ein wichtiges Werk im Rahmen der Bera-tungsforschung ist m.E. Tymister (1990). Einen guten Überblick zur Individualpsycho-logie bietet z.B. Schmidt (1989).

Bedeutung der Sorge für die Beratung

Die Beratung in ihren z.T. sehr unterschiedlichen Formen ist Instrument und nichtSelbstzweck. Damit stellt sich die Frage, welchem Ziel sie dienen soll; es ist die Fragenach dem Wozu der Beratung. Beratung in ihren verschiedenen Ausformungen undAnwendungsbereichen wird im Anschluss an die bisherigen Ausführungen so verstan-den: Ziel jeglicher Beratung ist es, einem Menschen auf dessen Wunsch zur Erweiterungseiner Sorgemöglichkeiten zu verhelfen.

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Ausgehend von dem vorangehenden Beratungsbegriff stellt sich die Aufgabe derUmsetzung. Der Beratung kommt die Aufgabe zu, auf Anforderung wirksame Hilfe zurErweiterung der Sorgemöglichkeiten eines Klienten leisten zu können. Dies erfordertangesichts der heutigen Erkenntnisse bezüglich der Aneignung von Verhaltensmusterneinerseits modellhaft vorgelebte Sorge des Beraters. Damit ist nicht gemeint, der Beratermüsse sich und seinen Lebensvollzug künstlich exponieren und also Haus und Seele zueinem öffentlichen Museum machen. Gemeint ist hier vielmehr die modellhaft vorgelebteSorge, die sich gerade in der Beratungssituation und in einem professionellen Setting of-fenbart. Die gelungene Sorge beinhaltet beispielsweise Aufmerksamkeit für das Setting,zeitlich klare Absprachen und deren Einhaltung. So kann es beispielsweise wichtig sein,dass nicht über das vereinbarte Ende der Sitzung hinaus beraten wird. Auch in der preisli-chen Gestaltung der Beratungseinheiten kann sich gelingende Sorge zeigen und ggf. zu ei-nem Übungsfeld für Klienten werden. Es ist für viele selbstverständlich geworden, denPreis zu verhandeln. Angesichts der Marktlage stehen Berater in der Versuchung, Preiseüber Gebühr anzupassen. Der Preis ist aber Ausdruck der Wertschätzung, die ein Beraterseiner Arbeit und damit sich selbst entgegenbringt. Die Wertschätzung und Sorge, die derBerater in der Begegnung mit Klienten an den Tag legt, wird so bereits Teil des Bera-tungsprozesses, bevor dieser offiziell begonnen hat. Dies heißt übrigens weder, dass hor-rende Forderungen viel Wertschätzung bedeuten, noch dass diese immer nur mit Geldausgedrückt werden kann. Die Bezahlung der Beratung hat u.a. die Funktion, dem Klien-ten Wertschätzung für sein Selbst einzuüben, indem er sich Beratung „gönnt“. Eine erfolg-reiche Beratung wird diesen Faktor stets angemessen berücksichtigen.

Die Beziehungsaufgabe der „Übertragung“, die in jedem Beratungsprozess mehroder minder ausgeprägt vorhanden ist, macht die gelebte Sorge des Beraters zum un-verzichtbaren Bestandteil der Eigenverantwortung und der „Psychohygiene“. Der Be-rater muss weiterhin sicherstellen, dass er nicht eigene Fragen und Probleme am Klien-ten bearbeitet, dessen ungelöste Probleme mit nach Hause nimmt oder dem Klienten imSinne der „einspringenden Fürsorge“ die Problemlösung abnimmt. Dies wird praktischhauptsächlich durch eine gute Lehrberatung (Inanspruchnahme von Beratung im Rah-men einer Beratungsausbildung), fundierte Ausbildung und Supervision gewährleistet.Beratung im Sinn der Sorge kann nur „vorausspringende Fürsorge“ sein. Ein umfassen-des und ganzheitliches Verständnis der Sorge und ihrer Implikationen ist unabdinglich,um den Klienten in seiner Bemühung um eine Erweiterung seiner Sorgemöglichkeitennachhaltig unterstützen zu können.

Nachdem wesentliche Konsequenzen des so verstandenen Sorgebegriffes dargelegtund professionelle Beratung als gewollte Ermutigung zur Erweiterung eigener Sorge-möglichkeiten verstanden wird, schlagen wir u.a. vor, den diskutierten Sorgebegriffzentral in die Beratungspraxis und -ausbildung aufzunehmen. Des Weiteren schlagen wirvor, ihn als Kriterium für die Evaluation von Beratungsprozessen heranzuziehen und soeinen wesentlichen Schritt über quantitative Qualitätsbetrachtungen hinauszugehen.

ZusammenfassungAusgehend vom allgemeinen Verständnis der Sorge werden deren verschiedene Aspekte wie

„einspringende“ und „vorausspringende Fürsorge“ aus der phänomenologischen PerspektiveHeideggers an einem konkreten Fallbeispiel verdeutlicht. Die Ermutigung zur (Selbst-) Sorgewird als Ziel von Beratung verstanden. Es folgen weitere Konsequenzen für professionelle Bera-tungsprozesse. Der Sorgebegriff wird als ein wesentliches Kriterium für die Beurteilung vonQualität in Beratungsprozessen zur weiteren Diskussion vorgeschlagen.Schlüsselbegriffe: Sorge, Fürsorge, Beratung, Heidegger, Phänomenologie.

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Abstract: Care as philosophical cornerstone of professional advisory services, e.g.counseling

Starting with the common understanding of concern („Sorge“) this article develops espe-cially the aspects of substitutional care („einspringende Fürsorge“) and preceding care („voraus-springender Fürsorge“). These terms are found in Martin Heideggers phenomenlogical approachand their meaning for advisory processes illustrated in a case study. Encouraging to adequateself-care („Selbst-Sorge“) is understood as central target of counseling. The german term „Bera-tung“ contains all advisory processes as counseling and even consulting. We suggest to use theterm care („Sorge“) as central evaluativ criteria of counseling.Keywords: Concern, care, counseling, Heidegger, Phenomenology.

Literatur

Condrau, G. (1998): Daseinsanalyse: philosophische und anthropologische Grundlagen. Dettel-bach: Röll (2. überarb. Aufl.).

Heidegger, M. (1994): Phänomenologische – Interpretationen zu Aristoteles. Frankfurt: Kloster-mann, GA 61 (2.Aufl.).

– (1972): Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer (12.Aufl.).Helting, H. (1999): Einführung in die philosophischen Dimensionen der psychotherapeutischen

Daseinsanalyse. Aachen: Shaker.Schmid, W. (2003): Philosophie der Lebenskunst – Eine Grundlegung. Frankfurt: Suhrkamp.Schmidt, R. (1989): Die Individualpsychologie Alfred Adlers – Ein Lehrbuch. Frankfurt: Fischer

Taschenbuch.Tymister, H.J. (Hg.)(1990): Individualpsychologische Beratung – Grundlagen und Praxis. Mün-

chen: Ernst Reinhardt (Beiträge zur Individualpsychologie, Bd. 13).– (1999): Professionelle Beratung vor dem Hintergrund der Philosophie. Ethik und Sozialwissen-

schaft, Streitforum für Erwägungskultur (EuS) 10, Heft 4.Wolzogen, C. v. (2003): Das „Recht zum Recht“ – ethische Gewalt bei Lévinas. Vortrag auf der

DFG Fachkonferenz: „Zwischen Verantwortung und Gerechtigkeit – Die Sozialphilosophievon E. Lévinas im Diskurs, Frankfurt 21./22. Juni 2003 (unveröffrentlicht).

Der Autor: Thomas Vierus, Individualpsychologischer Berater (DGIP), geschäftsführender Part-ner des Vivat-Instituts für angewandte Konflikt- und Kooperationsforschung, Forschung & Pra-xis in Sachen Supervision, Coaching, Konfliktberatung. Anschrift: Stettiner Str. 10, 64319Pfungstadt, E-Mail: [email protected]