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1 Universität Konstanz, FB Sprachwissenschaft Vorlesung: Einführung in die Linguistik, WS 2005/06 Sprachkontakte Björn Wiemer Skript 3 5. Kontaktagglomerationen: Sprachbünde & Konsorten 5.1. Sprachkontakt wird als Erklärungsansatz für Parallelen struktureller Eigenschaften zwischen Sprachen umso plausibler, je seltener die betreffenden strukturellen Eigenschaften aus typologischer Perspektive vorkommen. Dies gilt insbesondere dann, wenn diese strukturellen Eigenschaften auf einer Grammatikalisierung beruhen, deren lexikalisches Material in den kontaktierenden Sprachen übereinstimmt, ansonsten aber selten als Konzept zur Grammatikalisierung verwendet wird. Einen solchen Fall stellen die Verbpartikeln im Lettischen und Livischen dar, von denen in Abschnitt 2 die Rede war. Einen analogen Fall kann man in der Verwendung des Lexems für ‘Schulter’ in einer Reihe von genetisch verschiedenen Sprachen in Mittelamerika erblicken (vgl. Stolz/Stolz 2001). Dieser Ausdruck wird jeweils zum „Input“ für die Grammatikalisierung zur funktionalen Einheit ‘hinter’; vgl. (44) Náhuatl (Aztekisch), tepotz ,Schulter’ no- tepotz- taj POSS.1.SG Schulter ich.LOK ,hinter mir’. (45) Ch’ol (Penutisch), pat ,Schulter’ t- i’- pat mesa LOK POSS.3 Schulter Tisch ,hinter dem Tisch’. (46) Zapotec (Oto-Manguisch), což´,Schulter’ což´ya’an Schulter Berg ,hinter dem Berg’. Die Ausdrücke tepotz, pat und což´sind etymologisch nicht verwandt; zwischen diesen Sprachen findet in diesem Fall keine Entlehnung statt. Die Verwendung des Konzepts ‘Schulter’ mit anschließender Grammatikalisierung zu ‘hinter’ ist typologisch ungewöhnlich (im Gegensatz etwa zu ‘Rücken’ oder ‘Hintern’); vgl. Heine/Kuteva (2005: 25, 201). Generell gilt, dass ein starkes Argument für die Annahme von Beeinflussung durch Sprachkontakt gerade auch dann vorliegt, wenn in den Sprachen eines Gebiets lexikalisches Material, welches zum Ausdruck grammatischer Strukturen umgebildet wird, nicht entlehnt, sondern nachgebildet (calquiert) wird. Dies eben umso mehr, wenn die dahinter stehenden lexikalischen Konzepte typologisch selten sind. Vgl. dazu Wälchli (2001: 434): „Lexical structure is richer and more specific than grammatical structure, and can therefore make a greater contribution to areal investigation. It is especially important to take into account lexical structure that interferes with grammatical structure whenever the origin of grammatical features of areal character is the object of the inquiry.”

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Universität Konstanz, FB Sprachwissenschaft Vorlesung: Einführung in die Linguistik, WS 2005/06

Sprachkontakte Björn Wiemer

Skript 3

5. Kontaktagglomerationen: Sprachbünde & Konsorten 5.1. Sprachkontakt wird als Erklärungsansatz für Parallelen struktureller Eigenschaften zwischen Sprachen umso plausibler, je seltener die betreffenden strukturellen Eigenschaften aus typologischer Perspektive vorkommen. Dies gilt insbesondere dann, wenn diese strukturellen Eigenschaften auf einer Grammatikalisierung beruhen, deren lexikalisches Material in den kontaktierenden Sprachen übereinstimmt, ansonsten aber selten als Konzept zur Grammatikalisierung verwendet wird. Einen solchen Fall stellen die Verbpartikeln im Lettischen und Livischen dar, von denen in Abschnitt 2 die Rede war. Einen analogen Fall kann man in der Verwendung des Lexems für ‘Schulter’ in einer Reihe von genetisch verschiedenen Sprachen in Mittelamerika erblicken (vgl. Stolz/Stolz 2001). Dieser Ausdruck wird jeweils zum „Input“ für die Grammatikalisierung zur funktionalen Einheit ‘hinter’; vgl. (44) Náhuatl (Aztekisch), tepotz ,Schulter’ no- tepotz- taj POSS.1.SG Schulter ich.LOK ,hinter mir’.

(45) Ch’ol (Penutisch), pat ,Schulter’ t- i’- pat mesa LOK POSS.3 Schulter Tisch ,hinter dem Tisch’.

(46) Zapotec (Oto-Manguisch), což´’ ,Schulter’ což´’ ya’an Schulter Berg ,hinter dem Berg’. Die Ausdrücke tepotz, pat und což´’ sind etymologisch nicht verwandt; zwischen diesen Sprachen findet in diesem Fall keine Entlehnung statt. Die Verwendung des Konzepts ‘Schulter’ mit anschließender Grammatikalisierung zu ‘hinter’ ist typologisch ungewöhnlich (im Gegensatz etwa zu ‘Rücken’ oder ‘Hintern’); vgl. Heine/Kuteva (2005: 25, 201). Generell gilt, dass ein starkes Argument für die Annahme von Beeinflussung durch Sprachkontakt gerade auch dann vorliegt, wenn in den Sprachen eines Gebiets lexikalisches Material, welches zum Ausdruck grammatischer Strukturen umgebildet wird, nicht entlehnt, sondern nachgebildet (calquiert) wird. Dies eben umso mehr, wenn die dahinter stehenden lexikalischen Konzepte typologisch selten sind. Vgl. dazu Wälchli (2001: 434): „Lexical structure is richer and more specific than grammatical structure, and can therefore make a greater contribution to areal investigation. It is especially important to take into account lexical structure that interferes with grammatical structure whenever the origin of grammatical features of areal character is the object of the inquiry.”

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Man kann zeigen, daß ganze Verbände grammatischer Strukturen „areale Schieflagen“ („areal biases“) aufweisen (bis hin zu ganzen Kontinenten, s. Abschnitt 6). Dies soll im folgenden auch gezeigt werden. 5.2. Sprachkontakt als wesentlichen Faktor der strukturellen Veränderung von Sprachen anzusetzen, wird nochmals umso plausibler, je mehr derartige typologisch eher ungleichmäßig oder selten vertretener Merkmale in demselben Gebiet (bei denselben Sprachen) auftreten – zumal wenn diese Merkmale aus verschiedenen strukturellen Bereichen stammen, die sich intern nicht bedingen1. Solche Gebiete hat man oft als ‘Sprachbünde’ bezeichnet. Dieser Begriff ist allerdings etwas überlastet, insofern als man an ihn oft andere Ziele geknüpft hat als das rein linguistische Ziel nachzuweisen, dass sprachliche strukturelle Veränderungen eingetreten sind, w e i l über Entlehnung, Calquierung und andere Vorgänge sich die beteiligten Sprachen gegenseitig beeinflusst haben (vgl. dazu Heine/Kuteva 2005: 173-177). Aus strukturell-typologischer Sicht könnte man neutraler von einer „linguistischen Ballungszone“ sprechen und sich auf die linguistische Seite des Phänomens konzentrieren. Im Englischen wird dafür der neutrale Ausdruck ‘linguistic area’ verwendet; vgl. dazu Haspelmath (2001: 1492): „A linguistic area can be recognized when a number of geographically contiguous languages share structural features which cannot be due to retention from a common protolanguage and which give these languages a profile that makes them stand out among the surrounding languages.” Sprachen, die zu einem solchen Gebiet gehören, müssen sich also von ihren Nachbarsprachen abheben und müssen eine Reihe von Merkmalen teilen, die sich nicht als Weiterentwicklung einer grundsprachlich angelegten Entwicklung erfassen lassen. Letzteres lässt sich ermitteln (a) durch einen Vergleich mit anderen Folgesprachen derselben Grundsprache (z.B. innerhalb der romanischen, der slavischen, der germanischen Gruppe), (b) durch Ausschluß der Möglichkeit, dass einfach eine typologisch häufig belegte Veränderung vorliegt. 5.3. Der Balkan-Sprachbund Gehen wir jetzt auf einen der prototypischen Fälle einer linguistischen Ballungszone ein, welcher Anlaß für den Begriff ‘Sprachbund’ gab, den sog. Balkan-Sprachbund. Hierzu werden die folgenden Sprachen aus vier Familien gezählt:

• Griechisch • Albanisch (in zwei Varianten: Toskisch im Süden, Gegisch im Norden) • Makedonisch, Bulgarisch (südslavisch) • Rumänisch (romanisch).

Hinzu kommen peripher das Türkische, östliche Dialekte des Serbischen und diverse staatenlose Minderheitensprachen wie z.B. Varietäten des Roma (Zigeunersprache) oder das Aromunische (verwandt mit dem Rumänischen, aber gesprochen in Griechenland und Makedonien). Die meisten dieser Sprachen sind miteinander nicht verwandt. Die gerade genannten Sprachen bilden das Zentrum einer Konvergenzzone, welche die folgenden grammatischen Erscheinungen umfaßt: 1 Man kann eine solche Häufung von Merkmalen auch als Isoglossen-Bündel betrachten und damit Verfahren an die Ermittlung von Sprachkontakt-Zonen legen, welche aus der Dialektgeographie stammen. Es ergeben sich dabei dieselben methodischen Schwierigkeiten wie bei dem Begriff des ‘Sprachbunds’ (s.u.).

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(i) Verlust des Infinitivs (Ersetzung durch finite Nebensatz-Konstruktionen): − Beispiel: Bulgarisch (47) Tova tja napravi tri pъti, kato

se prodъlžavaše da šъpne nešto si RM.AKK fortfahren.IMPF.3.SG CONJ flüstern.PRS.3.SG etwas RM.DAT ,Das tat sie dreimal, während sie (unentwegt) fortfuhr, etwas zu flüstern‘.

(Vgl. im Russischen mit Infinitiv: ... kogda prodolžala čto-to šeptat’; syntaktisch analog zum Deutschen, s. obige Übersetzung.)

(ii) devolitives Futur (gebildet mit Auxiliar aus ‘wollen’): − Beispiel: Bulgarisch (48) chotěti ,wollen’ > chošta.PRS.3.SG > > šta > šte.INDEKL (+ finites Verb im Präsens)

(49) Skoro šte doide poštenskij razdavač. bald FUT kommen:PF.PRS:3.SG Postbote ,Bald kommt der Postbote.’ (,…wird … kommen.’)

Entsprechend alban. hap, griech. tha (< thelo).

(iii) possessives Perfekt: (50) Auxiliar, gebildet von einem Verb HABEN + deagentives Partizip

− Beispiel: Makedonisch (51) Imam završeno daktilografski kurs. haben.PRS.1.SG abgeschlossen.N Schreibmaschinenkurs ,Ich habe einen Schreibmaschinenkurs abgeschlossen.’

(iv) (postponierter) definiter Artikel: − Beispiel: Bulgarisch (52) Napisal sъm posledna-ta si kniga. schreiben.PF.PERF.3.SG.M COP.PRS.1.SG letzter.F.SG-DEF.F.SG RM.DAT Buch.F.SG ,Ich habe mein letztes (= das letzte) Buch geschrieben.’

(v) analytische Komparative der Adjektive: − Beispiel: Bulgarisch (53) dobъr ,gut’ ⇒ po-dobъr ,besser’

Entsprechend griech. mit pió-, alban. mit mё-, rumän. mit mai-.

(vi) Doppelung von Objekt-NPs durch Pronomina: − Beispiel: Bulgarisch (54) Na pacienta mu predpisacha stroga dieta. auf Patient.COM er.DAT vorschreiben.AOR.3.PL strenge Diät ,Dem Patienten hat man eine strenge Diät verschrieben.’

(vii) Zusammenfall von Genitiv und Dativ

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(viii) evidentiale Kennzeichnung am Satzprädikat:

Evidentiale Markierungen dienen zur Spezifizierung der Quelle, aus welcher der Sprecher sein Wissen bezieht: durch direkte Erfahrung, durch Hörensagen, durch Schlussfolgerungen o.ä. Zumindest im Bulgarischen, Makedonischen und Albanischen kann indirekte Erfahrung (Hörensagen, Schlussfolgerungen) durch Formen des Perfekt-Paradigmas ausgedrückt werden, wobei sie sich von diesem nur durch das Fehlen der Kopula unterscheiden sollen. Die paradigmatischen Unterschiede zum Perfekt und die Verbindlichkeit, mit der diese Markierung indirekter Evidentialität geschieht, sind in den Handbüchern und Grammatiken idealisiert. Doch in einigen Fällen lässt sich (kontextbedingt) die Interpretation indirekter Evidentialität gut erschließen. Vgl. dazu das folgende Beispiel.

− Beispiel: Makedonisch (55) Toj beše vo Skopje – odnosno bil, er.NOM sein.IMPF.3.SG in Skopje bzw. sein.PERF.3.SG.M

ne go vidov. NEG er.AKK sehen.IPF.PERF.3.SG.M ,Er ist in Skopje gewesen – d.i. er soll gewesen sein, ich habe ihn nicht gesehen.‘

Dieses Beispiel liefert praktisch ein Minimalpaar: das erste Prädikat (beše ,ist gewesen‘) steht im Imperfekt; der Sprecher korrigiert sich aber dann gewissermaßen, indem er die Perfekt-Form desselben Verbs (bil) ohne die Kopula verwendet. Diese Form ist zu interpretieren als ein Indiz für Hörensagen – was der Sprecher durch den nachfolgenden Satz noch deutlicher erkennen lässt. Die gerade genannten acht Merkmale (insgesamt auch bekannt als „Balkanismen“) sind nun allerdings nicht alle gleichwertig, insofern als nicht alle wirklich in allen der zuvor genannten Balkansprachen vorkommen. Das Gewicht der Merkmale nimmt, grob geschätzt, von (i) bis (viii) ab. Folgende Einschränkungen lassen sich vorbringen:

• Im Bulgarischen ist das possessive Perfekt (im Gegensatz zum Makedonischen) nur sehr schwach vertreten.

• Im Griechischen ist der definite Artikel nicht postponiert. • Bulgarisch und Makedonisch besitzen generell keine morphologischen Kasus mehr,

weshalb Merkmal (viii) für sie nicht aussagekräftig ist. (Es sei denn, man betrachtet die Verwendung der Präposition na als „Ersatz“; sie steht vor NPs in typischen Genitiv- und Dativ-Funktion, s. etwa Bsp. 54.)

• Die Regeln für die Doppelung von Objekt-NPs variieren unter diesen Sprachen (zum Teil deutlich), am striktesten scheinen sie im Makedonischen zu sein.

• Die evidentiale Kennzeichnung ist oft fakultativ (so vor allem im Bulgarischen) und in der Regel paradigmatisch schwach vom Perfekt unterschieden (s.o.).

Als wirklich „harter Kern“ der sog. Balkanismen erweisen sich damit nur die Merkmale (i-ii). Wiederum sind aber schon in der nördlichen (gegischen) Variante des Albanischen auch Infinitive möglich. Summa summarum: die Merkmale (i-viii) ergeben keine wirklich einheitliche Isoglossen-Bündelung. 5.4. SAE-Sprachen als einheitliches Areal? Dasselbe Problem ergibt sich generell bei eigentlich allen Fällen von Konvergenz, auf die die oben nach Haspelmath gegebene Bestimmung als ‘linguistic area’ zutrifft. Man kann sogar sagen, dass im Regelfall derartige linguistische Areale an den Rändern „auslaufen“ und in

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andere übergehen oder sich mit diesen überschneiden. Das wird deutlich gerade an dem in Haspelmath (2001) ausführlich besprochenen Fall des ‘Standard Average European’, d.i. den SAE-Sprachen. Der Ausdruck2 selbst richtet sich nach den westeuropäischen Sprachen mit vorwiegend analytischer Struktur in der Kodierung grammatischer Information: nach dem Englischen, Französischen und nur zu einem geringeren Teil nach dem Deutschen. Das „Einzugsgebiet“ der SAE-Zone reicht aber deutlich weiter nach Osten (bis ins Ostslavische), Süden (auf den Balkan und in die europäischen Mittelmeer-Anrainer) und Norden (bis nach Skandinavien hinein). Im Vergleich zu den Merkmalen des Balkan-Sprachbunds führt Haspelmath für SAE mehr Merkmale auf. Es seien hier nur die folgenden neun Merkmale genannt und erläutert:

(i) definiter + indefiniter Artikel: Dieses Merkmal ist eigentlich nur deshalb von Relevanz, weil es außerhalb der westlichen Hälfte Europas kaum den Fall gibt, dass eine Sprache s o w o h l einen definiten w i e a u c h einen indefiniten Artikel besitzt. Hingegen gibt es viele Sprachen, die nur einen definiten Artikel besitzen (darunter praktisch alle Balkan-Sprachen, s.o.).

(ii) relativer Anschluß mithilfe von Pronomina: Gemeint ist die Tatsache, dass in europäischen Sprachen Gliedsätze, die als Attribute zu NPs auftreten, mit diesen über Relativpronomina verbunden werden. Diese stammen etymologisch meistens von einem Demonstrativum oder einem Fragepronomen. Vgl. dt. der, welcher, engl. that, who, franz. qui, que, poln. który (< ‘der wievielte?’), lit. kurìs etc. Außerhalb Europas ist diese Technik selten; stattdessen werden nur unflektierte Partikel oder Adverbien (wie in Der Mann, wo hier geschtanden isch...) oder aber infinite Verbformen (Partizipien etc.) gebraucht.

(iii) possessives Perfekt: S. dazu oben (50-51). Das possessive Perfekt setzt als lexikalische Ausgangsbasis ein transitives Verb vom Typ ‘haben’ voraus. Auch dies ist bereits tendenziell ein Europäismus, da ein solches Verb in der Mehrzahl der Sprachen auf der Welt gar nicht existiert und nur in Europa geballt vorkommt.

(iv) nominativische Experiencer: Ein Experiencer ist das semantisch höherrangige Argument eines Perzeptions-, Kognitions- oder Emotionsverbs (vgl. etwa sehen, einleuchten, erahnen, spüren). Ein Experiencer kann wie ein Agens im Nominativ kodiert oder von einer agentiven Argumentrolle abgehoben werden, indem er oblique (z.B. im Dativ) markiert wird. Als SAE-Merkmal gilt die Markierung im Nominativ wie in dt. Er sieht den Bus, engl. The animals (= They) sensed the earthquake, russ. Ona.NOM čuvstvuet trevogu ,Sie fühlt Besorgnis’. Jedoch treten schon im Deutschen auch dativische Experiencer auf, so etwa Die Theorie leuchtete ihm nicht ein. In den Sprachen weiter östlich (slavisch, baltisch) ist die Zahl oblique markierter Experiencer viel größer. Vgl. etwa poln. Boli ją.AKK żołądek ,Sie hat Bauchschmerzen’ (wörtl. ,(Es) schmerzt sie.AKK der Bauch’), lit. Jam.DAT niežti delnus.AKK ,Es juckt ihn an den Handflächen‘ (wörtl. ,(Es) juckt ihm die Handflächen‘).

2 Dieser Ausdruck stmmt ursprünglich von Benjamin Lee Whorf, einem amerikanischen Linguisten, dessen Namen man am ehesten mit der „linguistischen Relativitäts-Hypothese“ verbindet.

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(v) Passivbildung mithilfe von Partizipien: Die überwiegende Zahl der europäischen Sprachen bildet ein Passiv nur auf analytischem Weg mithilfe eines Auxiliars (‘sein’ oder ‘werden’) und einem Partizip (s. Bsp. 55a), also so wie im Deutschen. Andere Arten der Passivbildung sind nur rudimentär vertreten bzw. an den „Rändern“ des europäischen Sprachraums; so z.B. im Russischen, welches neben dem analytischen Passiv (55a) auch eine Bildung mit einem Reflexivmarker (55b) kennt: (55a) Dom byl postroen v prošlom godu. Haus.NOM.SG.M sein.PAST.SG.M gebaut.NOM.SG.M in letztes Jahr.LOK ,Das Haus wurde im letzten Jahr gebaut.’

(55b) Dom vsё eščё stroit-sja. Haus.NOM.SG.M immer noch bauen.IPF.PRS.3.SG-RM ,Das Haus wird immer noch gebaut.’

(vi) dominante Ableitung dekausativer Verben von kausativen (anstatt umgekehrt) mithilfe eines Reflexivmarkers („anticausative prominence“):

Semantisch gibt es eine relativ regelmäßige Beziehung zwischen fremdverursachten (kausierten) und spontan aufkommenden Ereignissen; vgl. z.B. die semantische Beziehung zwischen dt. aufwecken (kausiert) und aufwachen (spontan). Das Verb, welches ein von außen verursachtes Ereignis bezeichnet, nennt sich ‘kausativ’, das andere ‘dekausativ’; solche Verben unterscheiden sich semantisch im wesentlichen nur im Merkmal [± kausativ]. Morphologisch kann man entweder Kausativa aus Dekausativa ableiten oder umgekehrt Dekausativa aus Kausativa. In europäischen Sprachen besteht die Tendenz zur Ableitung von Dekausativa aus Kausativa, und zwar mithilfe eines Reflexivmarkers (dt. sich, franz. se, tschech. se, poln. się, russ. -sja wie in Bsp. 55b, lit -si-). Dieses Verfahren ist produktiv. Vgl. ein paar repräsentative Verbpaare: (56) dt. öffnen ⇒ sich öffnen franz. casser ,kaputt machen’ ⇒ se casser ,kaputt gehen’ poln. rozbić ,in Stücke schlagen’ ⇒ rozbić się ,in Stücke gehen’ lit. paversti ,zu etwas machen’ ⇒ pasiversti ,zu etwas werden’. Die mit einem Reflexivmarker abgeleiteten Verben werden als ‘Antikausativa’ bezeichnet (weil durch den Reflexivmarker das Merkmal [+ kausativ] gewissermaßen „abgezogen“ wird).

(vii) Kodierung eines externen Possessors über den Dativ: Eine possessive (den Besitz oder die Zugehörigkeit anzeigende) Relation besteht aus einem Possessee (dem „Besessenen“) und einem Possessor (dem „Besitzenden“). Der Possessee kann syntaktisch verschieden realisiert werden. Wird er nicht als Attribut einer NP kodiert (wie etwa in mein-es Bruder-s Haus mit einem Genitiv), sondern über eine syntaktisch unabhängige NP oder PP (Präpositionalphrase), heißt er ‘extern’. Sprachen des SAE-Typs neigen dazu, einen solchen externen Possessor im Dativ zu kodieren. Vgl. etwa dt. (57) Er zog dem Kind den Mantel an. (58) Sie zog ihm die Hand aus der Schlinge.

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(viii) Komparation mithilfe von Partikeln:

In europäischen Sprachen überwiegt der Typ der Komparation, bei welcher die Basis der Komparation durch eine unveränderliche Partikel angegeben wird; vgl. (59) dt. Der Tisch ist größer als der Stuhl. engl. The table is bigger than the chair. poln. Stół jest większy niż krzesło. ‘ds.’ russ. Stol bol’še čem stul. ‘ds.’ lit. Stalas yra didesnis negu kėdė. ‘ds.’ Daneben können andere Verfahren existieren wie z.B. die „lokative“ Technik; vgl. für dieselbe Aussage wie in (59) poln. Stół jest większy od krzesła (wörtl. ,Der Tisch ist größer vom Stuhl’), russ. Stol bol’še stula.GEN (wörtl. ,Der Tisch ist größer des Stuhls’) oder lit. Stalas yra didesnis už kėdės (wörtl. ,Der Tisch ist größer hinter dem Stuhl’, s. Bsp. 11a in Abschnitt 2.1). Diese sind aber in Europa eher marginal und treten wiederum eher an dessen östlichen Rändern auf. Bezeichnenderweise haben Polnisch und Russisch die Komparation mithilfe einer Partikel (s. Bsp. 59) aus westeuropäischen Sprachen übernommen, also vermittels Sprachkontakt.

(ix) Differenzierung zwischen Reflexiv- und Intensiv-Marker: Als typisches SAE-Merkmal darf die Unterscheidung zwischen einem Reflexivmarker (vgl. dt. sich) und einem Intensifierer (vgl. dt. selbst) gelten. Unter letzterem versteht man ein Morphem, welches dazu dient, einen Referenten emphatisch als zentral gegenüber anderen, implizierten hervorzuheben (wie in Der Bundeskanzler selbst hat uns empfangen (und nicht etwa sein Sekretär)). Vgl. (60) Reflexiv Intensiv

dt. sich selbst franz. se même ital. si stesso poln. się (siebie) sam russ. sebja sam lit. save pats griech. eaftó ídhjos.

Bemerkenswerterweise weist gerade das Englische eine solche Unterscheidung nicht auf (vgl. He saw himself in the mirror → reflexiv vs. The Pope himself gave us an audience → intensiv). Hinter der bloßen Auflistung solcher Merkmale und dem Nachweis ihres Vorhandenseins in den Sprachen eines gegebenen Areals (hier: Europas bzw. seines westlichen Teils) stehen einige Probleme:

• Nicht einmal Englisch tut dies (s. Merkmal (ix)). Welches wäre für eine Sprache des Gebiets das Mindestmaß, um als Repräsentant dieses Gebiets zu gelten? Offensichtlich gibt es ein Zentrum (u.U. sogar mehrere Zentren) und Peripherien (s. weiter die nächsten Punkte).

• Neben den für das Gebiet einheitlichen grammatischen Ausdrucksverfahren existieren in den Einzelsprachen oft weitere, alternative. Diese können gebräuchlicher sein als diejenigen, welche den gemeinsamen arealen Zügen entsprechen. Dies betrifft die

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Mehrzahl der Merkmale zu SAE und bei den Balkanismen zumindest Merkmale (iii) und (vi). Nicht alle Sprachen dieses Gebiets weisen alle Merkmale auf.

Auch sind das Regelwerk und der Grad der Obligatorik zwischen den beteiligten Sprachen oft unterschiedlich. Die Gemeinsamkeiten weisen zwar auf die Kontaktbeziehungen hin (sofern diese Merkmale im direkt umgebenden Gebiet nicht oder nur schwach vertreten sind), aber man kann eben auch nicht davon ausgehen, dass ein areales Merkmal gleichmäßig über das jeweilige Areal verteilt (gebräuchlich) ist.

• Es gibt keine objektive Richtlinie dafür, wie viele Merkmale „ausreichen“, um eine areal abgegrenzte Zone zu bestimmen. Ebensowenig gibt es einschlägige Kriterien dafür, welcher Art diese Merkmale sein sollten. Es gilt einfach der Grundsatz ‘je mehr, desto besser’ und ‘je unabhängiger und vielfältiger, desto besser’. Außerdem sollte es neben grammatischen Übereinstimmungen auch lexikalisch identische (und typologisch seltene) „Quellausdrücke“ für Phänomene in der Grammatik geben (s. 5.2).

• Trotz (oder gerade wegen) ansonsten offensichtlicher kontaktbedingter Übereinstimmungen bleibt man oft den Nachweis schuldig, dass sich eine bestimmte Entlehnung (oder Calquierung), die Grundlage der Ähnlichkeiten ist, tatsächlich einmal vollzogen hat. Ein solcher Nachweis ist u.U. erforderlich, um alternative Grundlagen zur Entstehung arealer Konvergenzen (Verwandtschaft über eine gemeinsame Vorgängersprache; Kontaktbeziehung, die vorher bestanden haben und dann unterbrochen wurden, etc.) auszuschließen. Vor allem bei geringer Zeittiefe der Daten kann man einen solchen Nachweis aber oft gar nicht erbringen.

• Man kann oft nicht ermitteln, welche der beteiligten Sprachen (Varietäten) den Anstoß der Entwicklung gegeben hat, d.i. von welcher Sprache aus das jeweilige Merkmal sich ausgebreitet hat. In vielen Fällen liefert gegenseitige Beeinflussung (in aufeinander folgenden chronologischen Schichten) den wahrscheinlichsten Erklärungsweg.

• Innerhalb eines Areals brauchen sich nicht alle Sprachen (Varietäten) in einer direkten (und historisch belegten) Kontaktsituation befunden zu haben. Es ist z.B. durchaus möglich, dass es in einer Kette von geographisch benachbarten Lekten A – B – C – D … zwischen Sprechern von A und C, D und zwischen Sprechern von B und D keine unmittelbaren Berührungen gegeben hat. Die entsprechenden Merkmale, welche in diesem Areal konvergieren, können aber in einer Art Kettenreaktion weitergegeben worden sein. Das bedingt zum einen (vor allem bei größeren, durch geographische Barrieren nicht klar angegrenzten Gebieten) eine zunehmende „Zerfransung“ des arealen Zusammenhangs, zum anderen erhöht es die Wahrscheinlichkeit, dass sich hinter den äußerlich identischen Merkmalen verschiedene Regeln in der Verwendung und Distribution innerhalb der einzelnen beteiligten Sprachen verbergen (s. schon oben).

6. Makro- und Mikro-Areale / Makro- und Mikro-Effekte Aufgrund vor allem solcher Erwägungen sind Koptevskaja-Tamm/Wälchli (2001: 624-626) zu der Überzeugung gelangt, man sollte am besten den Begriff des ‘Sprachbund’ ganz aufgeben. Anhand der arealen (und typologisch auffälligen) Übereinstimmungen zwischen Sprachen rund um die Ostsee (‘Circum Baltic Area’) schlagen sie deshalb vor, davon auszugehen, dass es innerhalb eines größeren Gebiets durch stufenweise Überlagerung von Sprachkontakt-Phänomenen (wiederum vergleichbar mit Isoglossen) zu einer Art Schichtung kommt (vergleichbar tektonischen Platten):

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“(…) intensive micro-contacts superimposed on each other sometimes create an impression of an overall macro-contact among the languages in an area, which has not necessarily been there.” (Koptevskaja-Tamm/Wälchli 2001: 626)

Ein solches Gebiet bezeichnen sie als ‘Contact Superposition Zone’. Die meisten der vermeintlichen ‘Sprachbünde’ dürften als derartige Zonen zu charakterisieren sein. Aufgrund ähnlicher Beobachtungen haben diverse Forscher vorgeschlagen, zwischen Mikro- und Makro-Arealen zu unterscheiden: die Effekte, welche sich auf makroarealer Ebene ergeben, stellen damit in der Regel das Resultat eines Agglomerats subtilerer kontaktbedingter Konvergenzen dar (vgl. dazu auch Heine/Kuteva 2005: 177f.). Eine Unterscheidung nach Mikro- und Makro-Arealen (und die damit verbundenen Kontaktresultate) scheint noch in anderer Hinsicht geboten. Man sollte nämlich gelegentlich auch darauf achten, wie groß das Kontaktareal ist, in bezug auf welches die jeweilige linguistische Erscheinung markiert („auffällig“) ist. Hierbei sei eine Analogie erlaubt. Linguistische Areale lassen sich in gewisser Weise mit Intervallen verschiedener Größen vergleichen. Tut man das, so braucht z.B. eine rhythmische Besonderheit, welche Teil eines kleineren Intervalls ist, auf dem Hintergrund eines größeren, umfassenderen Intervalls gar nicht weiter aufzufallen, weil diese rhythmische Besonderheit auch im größeren Intervall regulär auftritt; sie kann aber für das kleinere Intervall durchaus bestimmend sein, wenn sie in diesem kleineren Intervall vereinzelt auftaucht. Und genauso können Eigenheiten innerhalb eines kleineren Intervalls auf einem größeren Hintergrund (längeren Intervall) deshalb auffallen, weil das gesamte kleinere Intervall Eigenschaften aufweist, die auf dem Hintergrund des größeren markiert erscheinen3. Greift man auf die oben besprochenen Fälle arealer Konvergenzen (auf dem Balkan oder im SAE-Bereich, d.i. europaweit) zurück, so lässt sich diese etwas abstrakte Analogie an einigen Beispielen wie den folgenden illustrieren.

• Als typischer Balkanismus gilt die Existenz eines definiten Artikels. Dies ist auf dem Hintergrund der SAE-Merkmale nichts Außergewöhnliches, sondern die Norm. Wenn man aber berücksichtigt, dass als typisches SAE-Merkmal das gemeinsame Auftreten von definitem und indefinitem Artikel im Sprachsystem gilt, weil diese Kombination weltweit relativ selten vorkommt, so fällt ihr gemeinsames Vorkommen im „linguistischen Ballungsraum Europa“ unter einer globalen Perspektive auf. Die Balkansprachen dagegen (welche zur Peripherie des SAE-Areals gerechnet werden) verhalten sich eher „normal“ im Sinne dieser globalen Situation, dagegen abweichend im Vergleich zu zentralen SAE-Sprachen, die beide Arten von Artikel aufweisen.

• Analog dazu fällt auf einem gesamteuropäischen Hintergrund auf, dass das Russische ein ‘haben’-Verb zwar besitzt (nämlich imet’), es aber äußerst selten zur Bezeichnung possessiver Relationen verwendet. Stattdessen gebraucht man im Russischen eine adessive Konstruktion (u ,bei’ + GEN; s. Bsp. 6 in Abschnitt 2.1)4. Erweitert man den arealen Radius zumindest um das nördliche Eurasien, wird man feststellen, dass diese Technik der Markierung possessiver Relationen alles andere als ungewöhnlich ist. Aus einer weltweiten Perspektive betrachtet ist eher das Verfahren der europäischen Sprachen (mit transitivem ‘haben’-Verb) ungewöhnlich.

3 Hinter dieser Analogie erkennt man leicht allgemeine Gesetzmäßigkeiten des Kontrasts zwischen Vorder- und Hintergrund (fokussierten und defokussierten Teilen), welche zentral für die Wahrnehmung und deren Verarbeitung sind. Im weiteren können solche Gesetzmäßigkeiten relativ problemlos auf areallinguistische Betrachtungen (und damit auf eine gegenüber der primären Perzeption kognitive Meta-Ebene) übertragen werden. 4 Dies hebt Russisch auch vom gesamten Rest des Slavischen ab. Vgl. dazu die Ausführungen hinsichtlich Substrat vs. Adstrat in Abschnitt 2.1.

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• Die Verwendung einer Präposition mit der Bedeutung ‘hinter’ als Basis einer Komparativ-Konstruktion ist weltweit auffällig. Sie ist auch in Europa ungewöhnlich und nur im südöstlichen Bereich der ‘Circum Baltic Area’ vertreten; vgl. dazu Bsp. (11a-d) in Abschnitt 2.1. Innerhalb dieses verhältnismäßig kleinen Areals ist es für slavische Varietäten, die im Kontakt mit dem Baltischen (Litauischen) stehen (bzw. gestanden haben), sogar erwartbar, dass sie diese Konstruktion aufweisen. Auf dem Hintergrund dieses kleinen Areals ist die ‘hinter’-Konstruktion der Komparation also unmarkiert, erweitert man den arealen Radius wenigstens um die gesamte ‘Circum Baltic Area’, erweist sie sich bereits als markiert5.

Derartige Beispiele ließen sich nahezu beliebig mehren. Das Prinzip besteht darin, dass sich bei einer Vergrößerung oder einer Verkleinerung des Areals, innerhalb dessen eine jeweils analysierte Sprache (Varietät) gesprochen wird und Kontakt mit anderen Sprachen aufweist, die Markiertheits-Verhältnisse umdrehen können. Dabei sollten man berücksichtigen, dass für die Beschreibung eines bestimmten Sprachkontakts (und die Erklärung seiner Folgen auf struktureller Ebene) der areale Rahmen nicht beliebig erweitert werden kann; denn für die Sprecher der betreffenden Varietät spielen weltweite oder auch kontinentweite Bezüge mit Sicherheit kaum oder gar keine Rolle – auch wenn es zu „Kettenreaktionen“ der Sprachkontakt-Vermittlung kommen kann (s. Ende von 5.4). Aus analytischer Perspektive geht für einen Linguisten damit einher, dass bei einer Verringerung des arealen Umfangs der betrachteten Kontaktsprachen sich auch die strukturellen und funktionalen Kriterien verfeinern lassen, gemäß welcher nach Konvergenzen in einem Areal gesucht werden kann. So hat Nichols (1992) aufgrund einer weltweiten typologischen Studie zeigen können, dass selbst relativ „grobe“ Merkmale6 sich nicht gleichmäßig auf die Sprachen der Welt verteilen. Mit anderen Worten: es gibt areale Biase (Abweichungen) von einer Zufallsverteilung, und das lässt auf sehr langwierige und sehr weiträumige Sprachkontakte schließen. Die genannten Merkmale (s. Fn. 6) sind aber so grob (und buchstäblich „global“), dass sie auf der Ebene kleinerer Areale zum größten Teil an Aussagekraft verlieren; sie sind dann nicht mehr differenziell. (Ausführlicher dazu in Wiemer 2003, 2004a.) Zum Schluß soll noch illustriert werden, wie sich auf europäischer Ebene Gruppierungen nach Sprachfamilien („genetisch“) und Gruppierungen aufgrund von grammatischen Konvergenzen (areal) übereinander legen können. Man kann dies von zwei Seiten aus tun. Zum einen indem man ausgehend von einem geographisch zusammenhängenden Gebiet, in welchem gegenüber den benachbarten Gebieten dieselbe Erscheinung auftritt, darauf hinweist, welche Sprachen (Varietäten) verschiedener genetischen Gruppierungen zu diesem Gebiet gehören. Das soll gleich am Beispiel der Umdeutung des Perfekts zu einem allgemeinen Präteritum gezeigt werden. Und zum anderen indem man zeigt, wie sehr sich Sprachen, die zu einer Sprachfamilie gehören, durch Kontaktbeziehungen voneinander wegentwickelt haben und an unterschiedlichen arealen Verbänden teilhaben. Dies wird gleich abschließend anhand der Futurbildungen im Slavischen gezeigt werden.

5 Natürlich sind solche Konstruktionen markiert (auffällig) auch gegenüber den jeweiligen Standardvarietäten (Russisch, Polnisch), welche nicht zu diesem Areal gehören. 6 Es waren dies die folgenden: (a) Alignment, d.i. die Unterscheidung zwischen Nominativ- und Ergativ-Sprachen (wobei bei Ergativ-Sprachen nur die morphologische Seite betrachtet wird), (b) head vs. dependent marking, (c) morphologische Komplexität („gemessen“ anhand der Zusammensetzung von Wortformen), (d) Grundwortstellung (SVO, SOV, VSO etc.).

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„Maritimes Perfekt“ Ein typisches Perfekt funktioniert in der Weise, dass der bezeichnete Sachverhalt in bezug zu einem späteren Referenzintervall gesetzt wird. In der Regel dient als Referenzintervall die Sprechzeit (deiktischer Bezug). Der betreffende Sachverhalt wird dabei in seiner Relevanz für das Referenzintervall dargestellt. Diese Funktion ist bis heute im englischen Present Perfect erhalten geblieben (s. Bsp. 61a). Man kann deshalb das Present Perfect nicht durch das Simple Past (= einfaches Präteritum) ersetzen (s. Bsp. 61b): (61a) He has written his homework. ≠ (61b) He wrote his homework (when the parents turned home). Der Form nach besitzen auch andere europäische Sprachen ein Perfekt. Dieses hat sich aber funktional zu einem Präteritum gewandelt, bei dem der notwendige Bezug auf den Sprechzeitraum als eines Referenzintervalls aufgegeben wurde. Man kann ein solches zum Präteritum gewandeltes Perfekt auch narrativ verwenden; vgl. dt. (62) Gestern ist Hans in der Früh aufgestanden und hat seine Hausarbeit gemacht. Die Verbreitung des Übergangs von einem echten Perfekt zu einem Präteritum zeigt die folgende Karte (aus Thieroff 2000: 286): Verbreitung des „maritimen Perfekts“

Die umrandeten Gebiete umkreisen die Sprachen, welche (wie im Englischen) die ursprüngliche Perfekt-Funktion bewahrt haben; das dazwischen liegende Gebiete weist einen Übergang zum Präteritum (wie im Deutschen) auf. Man erkennt, dass die Bewahrung des ursprünglichen Perfekts nur an den westlichen und südöstlichen Rändern Europas anzutreffen ist, während weiter im Inneren des Kontinents die Innovation (Perfektfunktion → Präteritum)

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stattgefunden hat. Wegen dieser geographischen Verteilung spricht man von einem „maritimen Perfekt“. Sowohl die Bewahrung wie die Weiterentwicklung des Perfekts erfolgte über „genetische“ Sprachgrenzen hinweg. Futurbildungen im Slavischen Das Slavische hatte gemeinsprachlich keine morphologische Markierung eines Futurs entwickelt. Erst in der Zeit der einzelsprachlichen Entwicklung kam es zur Ausbildung von Futur-Markierungen. In den nordslavischen Sprachen (d.i. nördlich und östlich der Alpen und Karpaten) wird das Futur heute gekennzeichnet, indem der Präsensstamm perfektiver Verben (Verben des perfektiven Aspekts) in seiner Grundfunktion zu einem Futurmarker umgedeutet wurde. Dies war möglich durch die Entstehung eines neuen Aspektsystems (über Stammderivation); vgl. etwa Russisch: (63) On pridet (zavtra, čerez minutu, v sledujuščij ponedel’nik). er.NOM kommen.PF.PRS.3.SG ,Er wird kommen (morgen, in einer Minute, am nächsten Montag).’ Das Futur imperfektiver Verben wird analytisch mithilfe der Futurformen von byt’ ,sein’ gebildet; vgl. wieder Russisch (entsprechend für die anderen nordslavischen Sprachen): (64) On budet prichodit’ , kogda emu budet udobno. er.NOM sein.FUT.3.SG kommen.IPF.INF ,Er wird (immer dann) kommen, wenn es ihm recht ist.’ Andere Futurbildungen haben sich auf diesem Gebiet nicht durchgesetzt. So gab es z.B. im älteren Ostslavischen (16.-17. Jh.) die Tendenz, auch ingressive Verben (= Verben mit der Bedeutung ‘anfangen zu’) zu gebrauchen (začęti, načęti u.ä.). Diese ist verloren gegangen. Ebensowenig hat sich die Agglutinierung von imati ,haben’ zu einem Futurmarker (vergleichbar den romanischen Sprachen, vgl. franz. parler-ai ,ich werde sprechen’ < parler.INF ,sprechen’ + ai.PRS.1.SG von avoir ,haben’). Man findet nur noch im Ukrainischen Reste einer solchen (fakultativen) Verwendung; vgl.: (65) I ja virju, ščo rano či pizno, ale vy, Orljuk,

šče sijat ipf-ymete des’ nad Dniprom ce nasinnja. noch säen.FUT.2.PL hier über Dnepr.INS DEM.AKK.SG.N Saatgut.AKK.SG.N

,Und ich glaube, daß Sie aber, Orljuk, früher oder später hier am Dnepr noch diese Saat säen werden.’

Nur im Moliseslavischen gibt es eine (freilich analytische) Bildung mit dem ‘haben’-Verb. Dieses ist ein Kontaktprodukt auf dem Hintergrund örtlicher italienischer Dialekte; vgl. (66) mam po rabit haben.PRS.1.SG gehen.INF arbeiten.INF ,Ich werde (muß unabänderlich) arbeiten gehen.’ Im Südslavischen, d.i. auf dem Balkan, nun ist aber ein Futur durch Grammatikalisierung des Verbs ‘wollen’ entstanden; vgl. (49) für Bulgarisch und Kroatisch:

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(67) V subotu će stići Ivo. an Samstag.ACC.SG.F FUT.3.SG ankommen.INF Ivo.NOM ,Am Samstag wird Ivo eintreffen.’ Damit liegen die südslavischen Sprachen genau „im Trend“ der sonstigen Balkansprachen. Vgl. dazu eine Karte aus Heine/Kuteva (2005: 189): Futurbildungen auf dem Balkan

Auch in diesem Fall wird deutlich, dass areale, sprachkontaktbedingte Gruppierungen sich über „genetische“ Gruppierungen legen.