sichtbares lernen (hattie) lebendiges lernen (tzi). eine

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Dirk Fabricius Sichtbares Lernen (Hattie) Lebendiges Lernen (TZI). Eine durchaus tragfähige Beziehung 28260 Themenzentrierte Interaktion Typisch TZI?! Sichtbares und Ausgeblendetes 30. Jahrgang, 2/2016, Seite 8290 Psychosozial-Verlag ZEITSCHRIFTENARCHIV

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Dirk Fabricius

Sichtbares Lernen (Hattie) – LebendigesLernen (TZI). Eine durchaus tragfähigeBeziehung

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Themenzentrierte InteraktionTypisch TZI?! Sichtbares und Ausgeblendetes30. Jahrgang, 2/2016, Seite 82–90Psychosozial-Verlag

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Theorie und Konzeption

„Sichtbares Lernen“ im Sinne John Hatties und „Lebendiges Lernen“ im Sinne Ruth Cohns haben mehr gemeinsam, als dies auf die ersten Blicke hin erscheinen mag, sind andererseits un-terschiedlich genug, um sich wechselseitig bereichern zu können; kooperativ mögen sie stark genug werden können, die (Bildungs-)Institutionen so zu verändern, dass Sichtbares wie Lebendiges Lernen nicht nur Randerscheinungen bleiben.

This article establishes links between the Hattie study and TCI. The author offers a critical review and analysis of Hattie and his books and presents an outline of how TCI could fill in the gaps and weaknesses in Hattie’s concept of “visible learning“.

Informationen zu John Hattie und seiner Studie „Visible Learning“

John Hattie, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Melbourne, hat 2010 mit seinem Buch „Visible Learning“ für große Resonanz gesorgt. In seinem Buch hat er 750 Metaanalysen ausgewertet, die sich mit den Einflussfaktoren auf gelingende Schüler/innen-Leistungen in Bezug auf die kognitive Entwicklung beschäftigen. Den Erfolg misst er in sog. Effektstärken (>40 wirkt, >60 wirkt am besten). Dabei wurde deutlich, dass der Lehrperson eine immense Bedeutung zukommt – nicht als Charismat, sondern als jemand, der einen klaren diagnostischen Blick auf die aktuelle Situation hat, der Beziehung herstellen und wertschätzende Rückmeldung geben kann, der klare Instruktionen setzen kann, um metakognitive Strategien weiß und diese fördern einsetzen kann. In Deutsch erschien der Band unter dem Titel „Lernen sichtbar machen“ und später eine Konkretion „Lernen sichtbar machen für Lehrer“.

Dirk Fabricius

Sichtbares Lernen (Hattie) – Lebendiges Lernen (TZI)Eine durchaus tragfähige Beziehung

Zum AutorDirk Fabricius, Jg. 1949, Jurist, Psychologe sowie seit 1996 Professor für Strafrecht, Kri-minologie und Rechtspsycho-logie in Frankfurt a. M. und seit 2014 im Ruhestand.www.dfabricius.de

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Annäherung an Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Hattie und Cohn

Erster Blick: Hatties Forschungen sind im Ausgangspunkt quan-titativ-empirisch-statistisch, Cohns hingegen wurzeln in der Psychoanalyse bzw. der „humanistischen Psychologie“. Beide Richtungen arbeiten oft in einer durchaus geteilten Gegnerschaft gegeneinander und halten sich voneinander fern. Evidenzbasierte Pädagogik (oder Therapieforschung), so anscheinend die unter-schwellige Furcht, kann nur zu einem Konzept „Programmierten Lernens“ oder zu „manualisierten Therapien“ füh-ren. Jedoch: das wesentliche Ergebnis aus Hatties Analysen ist, dass Rezepte für effektives Lernen nicht weiterführen. Im Kontrast zu den feinen Metaanalysen wirkt Hatties umfassenderes Modell eher grob gestrickt, methodisch lose fundiert. Die Genese von Leidenschaft, von adäquaten Geisteshaltungen, die ihm als unverzichtbare Basis für „Sichtbares Lernen“ gelten, zu erklären und zu befördern, misslingt – das hat mit der geisteswissenschaftlich-psychoanalyti-schen Abstinenz zu tun.

Zweiter Blick: Wenn Hattie seine Befunde zu einem Modell oder einem theoretischen Ansatz zusammenfügt, verlässt er seinen quantitativ-statistischen Rahmen. Er führt, etwa mit Leidenschaft und Engagement, Faktoren ein, die sich – mangels brauchbarer Messinstrumente – unter den mittels Meta-Analysen gefundenen 140 Faktoren nicht finden:

Das einfache Prinzip, das den meisten der in diesem Buch besprochenen Synthesen zugrunde liegt, ist „sichtbares Lehren und Lernen“. Sichtbares Lehren und Lernen findet dann statt, wenn Lernen der explizite und transparent gemachte Zweck ist, wenn es angemessen herausfordernd ist und wenn sowohl Lernende als auch die Lehrperson (jeweils auf ihre Art) sich einsetzen, um zu bestimmen, ob und in welchem Maß das herausfordernde Ziel erreicht wird. Sichtbares Lehren und Lernen findet dann statt, wenn es bewusstes Üben gibt, dessen Zweck die Erreichung des Ziels ist, wenn Feedback gegeben und gefordert wird und wenn aktive, leidenschaftliche und engagierte Menschen (Lehrpersonen, Lernende und Peers) am Lernprozess teilnehmen (Hattie 2001,16).

Wenn Lernende zu ihren eigenen Lehrpersonen werden, zeigen sie selbstregulierende Eigenschaften, die für Lernende besonders wünschenswert sind (Selbstüberprüfung, Selbstbewertung und Selbstunterrichten). Es ist also das sichtbare Lehren und Lernen durch Lehrpersonen und Lernende, das den Unterschied ausmacht (Hattie 2014, 17).

Dieses „qualitative“ Modell würde mit Bezug und Anleihen auf die TZI viel gewinnen.

Hatties Modell würde mit Bezug und Anleihen an die TZI viel gewinnen

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Theorie und Konzeption

Themenzentrierte Interaktion: ES-ICH-WIR-GLOBE bei Hattie

Was allein aus vorstehender Passage schon herauszulesen ist (und den dritten Blick nahelegt):

Sichtbares Lernen ist hochgradig themenzentriert: herausfor-derndes Ziel (THEMA/ES), (s. a. Hattie 2014, 20), interaktiv, vom Gruppenklima abhängig (WIR), (zunehmend) selbstgesteuert (ICH) und vom GLOBE (s. u.) abhängig.

In Hatties Modell ist zu Beginn des Lern-(Bildungs-)Prozes-ses die Lehrperson professionelle Lehrerin/Lehrer. Was fehlt, ist sowohl eine bündige Definition des „Sichtbaren Lernens“ sowie des Lehrens und Lernens.

Meine Definition von sichtbarem Lernen: Beobachtbare personali-sierte Feedback-Prozesse zwischen allen Beteiligten hoch themen-zentriert; motivierte Lehrende wie Lernende in vertrauensvoller, angstarmer, fehlerfreundlicher Atmosphäre.

Lernen: Sieht ein Kind eine Gabel, wird es damit experimen-tieren, sie begreifen wollen auch im Blick auf mögliche Verwen-dungsmöglichkeiten. Hat es – wie hierzulande gewöhnlich – schon andere mit der Gabel essen sehen, wird es spätestens mit der Gabel in der Hand ein inneres Modell vom Essen mit der Gabel aufbauen und die adäquaten Bewegungen aus dem Modell umzusetzen suchen. Lernen aus Erfahrung, trial and error, und am Modell (Bandura) sind die hauptsächlichen Formen des Lernens. Was ist Lehren und wozu ist es gut? Lehrer/innen als gabelnutzende Vor-bilder kürzen mit gezieltem Vormachen, gezielter Rückmeldung, Instruktion diesen Erkundungs- und Übungsprozess ab. Kurz, Lehren beschleunigt im guten Fall Lernen.

Die Umgebungsschalen des GLOBE, – Schule, Bildungspolitik, gesellschaftliche Struktur und gesellschaftliches Klima – beeinflus-sen den Lernprozess. Hierarchische Verhältnisse, instrumenteller Umgang mit der Folge des Ausblendens oder Ausschaltens von Empathie beeinträchtigen ihn negativ. Fehlerfreundlichkeit – ein wichtiger Faktor – entwickelt sich und wirkt nur, wenn sie Leh-rer- und Klassenzimmer und die Schule generell erfasst (vgl. ebd., 21). Fördernde wie hemmende Faktoren im jeweiligen Lernraum und GLOBE müssen in ihrem systemischen Zusammenwirken gesehen werden; viele Faktoren müssen durchgängig vorhanden sein (vgl. ebd., 172, 191). Je größer die intrinsische Motivation, diese wieder umso größer die Autonomie der Lernenden im Kontext der Gruppenbeziehungen, desto erfolgreicher, tief grei-fender wird das Lernen. Effektiv ist eine Schulleitung, die die Lehrpersonen fördert, den Unterricht so zu gestalten, dass er effektives Lernen fördert. Der Schwerpunkt liegt auf dem Thema (unterrichtsbezogene Führung), nicht auf den Beziehungen

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(transformationale Führung), aber effektives Lernen hängt eben an einer Sicherheit gebenden Beziehungsstruktur (vgl. ebd., 175). ‚The art of leading’ impliziert, die Lehrpersonen zu bewegen, von den Schülern zu lernen, aber auch, dass die Schulleiterin von den Lehrpersonen lernt.

Kurz, es fällt nicht schwer, Hatties Modell in TZI-Terminologie zu beschreiben, was wiederum Anlass gibt, dem Verhältnis von lebendigem zu sichtbarem Lernen genauer nachzugehen und auch zu fragen, was beide voneinander lernen könnten. Die in den Metaanalysen als effektiv hervortretenden Faktoren und ihre Zusammenhänge bestätigen in vieler Hinsicht die Einsichten Ruth Cohns bzw. der TZI allgemein.

Im Lichte des Chairperson-Postulats

Das Chairman-Postulat meint, nicht zuletzt im Imperativ, seine eigene Lehrperson zu werden (der Sache, nicht dem Namen nach, ist dies vielfach in Hatties Ansatz zu finden). Beim Störungen haben Vorrang-Postulat sieht es anders aus: Störungen werden vielfach registriert, aber die Forderung, sie im Lernprozess an- und aufzu-nehmen, bewusster mit ihnen umzugehen und nach Möglichkeit aufzulösen, findet sich nicht. Insofern wäre „Sichtbares Lernen“ durch TZI entschieden bereichert. Ich behandle das zweite Postulat daher weiter unten.

Neben die Lehrpersonen treten im weiteren Verlauf die Peers und schließlich die lernende Person, die sich selbst belehrt, d. h., ihren eigenen Lernprozess „kunstgerecht“ abkürzt, sodass jedenfalls professionelle Lehrpersonen am Ende überflüssig sind (vgl. ebd., 6). Diese schon alte und durchaus ehrwürdige Vision, (Vorstellung; Fantasie?) W. von Humboldts (dazu Ode, im Erscheinen) teilte auch Ruth Cohn, sie ist im Chairman-Postulat aufgenommen. Eine andere Person als „funktionelle“ Lehrperson im Lernpro-zess zur Verfügung zu haben, ist dauerhaft hilfreich. Sichtbares Lernen ist eine enge Verknüpfung von Lernen und (Be-)Lehren im schnellen Rollentausch. Wie bei der Chairperson: jedes Grup-penmitglied ist ohnehin seine eigene; bei einer gut laufenden Gruppe ist es über kurz oder lang auch qualifiziert, funktional den Vorsitz zu übernehmen – der Chairman-Terminus entstammt dem üblichen englischen Sprachgebrauch (Cohn 1975, 120). Lernende sind wir allzumal – gleich ob wir Schüler, Professoren, Direktoren oder Bildungsminister sind, alle Lernprozesse bedürfen eines sozialen Raums, eines Kontextes, in dem Offenheit auch hinsichtlich Unwissen, Fehlern, Schwächen möglich ist, in dem Fehlerfreundlichkeit (Osswald 1993, 230) und Vertrauen (Cohn zit. nach Matzdorf 1993, 384), herrschen, eine sichere Umgebung

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(vgl. Hattie 2014, 72; Hattie/Yates, 2015, XVIII), ein einladender Unterricht (vgl. Hattie 2014, 157ff.).

Der Blickwinkel der analysierten Metaanalysen umfasste im Wesentlichen Schulen, jedenfalls Lernen in Institutionen und entspricht damit dem der Autoren in Cohn/Terfurth 1993.

Vom Sichtbaren Lernen zu besserem Lebendigen Lernen: Stärkere Themenzentrierung und Methodenerweiterung

Wenn man von den Ergebnissen zum „sichtbaren Lernen“ im „lebendigen Lernen“ profitieren will, so ist zum einen zu schlie-ßen, dass effektives Lernen ein Mehr an Themenzentrierung im interaktiven Prozess erfordert und erlaubt (keine Beschränkung auf eine bloße Moderatorenrolle, vgl. Hattie 2011, 286; Mastery-Ziele vs. Leistungsmotivation (vgl. Hattie 2014, 47, 123); Konzeptkartierung (vgl. ebd., 168ff.); herausfordernde Aufgabe (vgl. ebd., 59); explizites Unterrichten (vgl. Hattie/Yates 2015, 70ff.).

Dadurch, dass die Schulen und Universitäten, aber auch andere Institutionen, weit weniger von TZI „infiziert“ wurden, als in der Gründungsphase erwartet, ergab sich für den Einsatz von TZI eine Priorität für die Entwicklung der „Chairpersons“ und des

WIR, was angesichts knappen Zeitbudgets häufig zur Folge hatte, dass die dynamische Balance zulasten des Themas nicht mehr hergestellt werden konnte. Das war jedenfalls in den von mir mitgeleiteten Kursen im Jurastudium oft der Fall (vgl. Fabricius et al. 1994; Fabricius 2013, 2014). Zum anderen kann man bei den von Hattie als effektiv hervorgehobenen Metho-den vermutlich in einer TZI-Umgebung besonders gut profitieren, z. B. beim Microteaching (vgl. Hattie 2011, 112). Schließlich kann man sich als TZIler

durch die reichhaltigen Befunde Hatties bestätigt sehen: das Kon-zept der TZI beinhaltet vieles, was sich bei Hattie als erfolgreicher Lernfaktor bestätigt.

Vom Lebendigen Lernen zu besserem Sichtbaren Lernen: Den Störungen kunstgerecht Vorrang geben

„Leidenschaft spiegelt den Reiz wie auch die Frustrationen des Lernens wider; sie kann ansteckend sein, sie kann gelehrt werden, sie kann geformt werden und sie kann gelernt werden“ (Hattie 2014, 18). Hatties wie-derholte Behauptung, Leidenschaft sei lernbar, flankiert er leider

Effektiveres Lernen erfordert und erlaubt

ein Mehr an Themenzentrierung im interaktiven Prozess

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nicht mit einer Beschreibung dieses Lernprozesses. Der Griff zu einer Rhetorik des Müssens (vgl. ebd., 18), des Appells, deutet auf einen entsprechenden Mangel hin. Über Engagement (vgl. ebd., 24) und Inspiration (vgl. ebd., 34) hinaus umfasst Leidenschaft auch Leiden (Frustration) – ein Überstehen von Phasen des Stillstandes und Widerstandes. Zudem gilt auch für Engagement, dass es nicht zielgerichtet nach einem Rezept erzeugt werden kann. Das hat es mit der sogenannten intrin-sischen Motivation gemein (Eine gute Konzeption von intrinsischer Motivation findet sich in ebd., 43ff.). Institutionell induzierte Störungen wie Demotivation durch „verheerende Testergebnisse“ bzw. durch sum-mative Tests allgemein, Demütigen und Verspotten, durch Sitzenbleiben, die sich in den Metaanalysen deutlich abzeichnen, werden von Hattie durchweg benannt und als Quelle geringer Effektivität hervorgehoben. Hierarchische Struktur und forcierte Wettbewerbs kultur sind Störungsquellen.

Die Annahme, Motivation könne nicht erzeugt werden, ist plausibel. Für sie wie für Leidenschaft und Engagement gilt, dass sie eher gebremst und zerstört werden kann, und das durchaus planmäßig. Umgekehrt, und hier kommt TZI ins Spiel, kann man Motivation, Engagement und Leidenschaft freisetzen und sich ent-wickeln lassen (vgl. Cohn/Terfurth 1993, 49). Zum einen, indem man die hemmenden und störenden Widerstände bearbeitet. Zum anderen dadurch, das eigene Interesse an einem – von der Lehr-person – eingespielten und vorgegebenen Thema oder Gegenstand entdecken, den Wunsch aufkommen zu lassen, Beherrschung und Meisterschaft (mastery – vgl. Hattie 2014, 47ff.; 124) zu erlangen. Beides setzt eine eigene Such-Bewegung voraus, dieser Möglich-keitsraum (Khan 1983), entsteht aus einer Aktivität der Lernenden, lässt sich nicht diktieren. Das ist für die TZI selbstverständlich, mit der Erfahrung der Psychoanalyse im Hintergrund und dem zentralen Störungsprioritätspostulat. Auch dass das Auflösen von Widerstand seine Zeit braucht, dieser sich manchmal quälend be-merkbar macht, weiß man in der TZI (Ockel/Cohn 1987). Dieses Wissen hilft, weil es die Hoffnung auf einen demnächst wieder und dann besser voranschreitenden Lernprozess einschließt. Ohne Berücksichtigung des Vorrangs der Störungen kommt man bei der Entwicklung der Chairpersonship nicht voran.

Eine andere Quelle von Widerstand und Hemmung, aber auch von Behinderung, sind Übertragungen. Unterschied man in der Psychoanalyse zwischen Übertragung und Gegenübertragung, so ist mit Blick auf die prinzipielle Gleichheit aller in einer Gruppe im TZI-Rahmen der Begriff der Gegenübertragung obsolet. Das Annehmen der Gefühle im Hier und Jetzt, in ihrer ganzen Breite,

Ohne Berücksichtigung des Vorrangs von Störun-gen kommt man bei der Chairperson-Entwicklung

nicht voran

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zwischen allen Beteiligten, ist der Schlüssel in der TZI, Übertragun-gen aufzulösen, damit den anderen aus einer Übertragungsrolle zu befreien und ihm gleichsam seinen Subjektstatus wiederzugeben: Als die Person erkannt und anerkannt zu werden, die man ist, ohne Herabsetzung oder Idealisierung. Das ist der Weg in Rich-tung einer „herrschaftsfreien Kommunikation“ (Habermas), die wiederum Voraussetzung für sichtbares wie lebendiges Lernen oder mindestens ein zentrales Vehikel dafür ist.

Obgleich Hattie zahlreiche Symptome für solche Übertra-gungsvorgänge (z. B. Hattie 2014, 35) anführt, fehlt das Konzept der Übertragung (und den Möglichkeiten, sie aufzulösen)- Ohne dies theoretisch zu erfassen und systematisch anzugehen, dürfte eine Etablierung des sichtbaren Lernens kaum möglich sein. Das mag in Modellprojekten funktionieren, taugt aber nicht für die alltägliche Schulpraxis. Neben der Extraktion der Faktoren und der Bestimmung ihrer Effektstärken gibt es eine Beschreibung der pädagogischen Praxis in den Schulen und zahlreiche Hinweise auf den Abstand dieser Praxis zu dem umrissenen Modell des „sicht-baren Lernens“. Im Zusammenhang damit finden sich zahlreiche Bemerkungen, wie viel Hoffnungen man haben kann, dass die evidenzgestützten Befunde zum sichtbaren Lernen in der Praxis umgesetzt würden, mit einem eher resignativen Unterton (vgl. z. B. Hattie 20111, 23, 35; Hattie 2014, 39, 81, 171; Hattie/Yates 2015).

Der bekannte Gemeinspruch, „Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für Praxis“ (Kant 1793), der Kants Kritik lange überlebt, lässt sich in unserem Zusammenhang nicht anbrin-gen. In der Praxis, soweit sie den üblichen Institutionsregularien entkommt oder jenseits der Institutionen angesiedelt ist, können

beide, sichtbares wie lebendiges Lernen, ihre Effek-tivität immer wieder unter Beweis stellen. Aber die Einwanderung in die Institutionen ist ausgeblieben. Das Lebendige Lernen, zunächst getragen von WILL (Werkstatt Institut für Lebendiges Lernen) dann vom RCI (Ruth Cohn Institut), wurde schließlich durch die Wahl von „Art of Leading“ wenn nicht demen-tiert, so doch als wichtigstes Ziel gestürzt. Hat die TZI die „Grenzen des Wachstums“ erreicht? Vom

Willen und lebendigen Lernen im Vereinsnamen zur Einführung der Gründerin überzugehen, und dann vom lebendigen Lernen zur Kunst des Führens, kann man auch als ein Akzeptieren dieser Grenzen ansehen, eine Anpassung an Verhältnisse im „GLOBE“, d. h. in Kulturen und Gesellschaften. Anders als beim ökonomischen Wachstum (Club of Rome 1972) mangelt es dem lebendigen Lernen nicht an Ressourcen – die hier notwendigen drohen nicht auszugehen. Vielmehr begrenzen reale äußere Hindernisse und Hemmnisse, sie zu nutzen.

Das Lebendige Lernen wurde durch die Wahl von ‚Art of leading‘ als

wichtigstes Ziel gestürzt

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Aus der Perspektive des sichtbaren Lernens: Wie im ersten, so wird auch im zweiten und dritten Buch die Kluft der realen Praxis zu einer Praxis, die lernen sichtbar macht, wiederholt und nachhaltig angesprochen. Es geht, so wörtlich, um „Zurücker-oberung“ (Hattie 2014, 194). Die Praxis ist konstant dominiert von Frontalunterricht – „Lehrpersonen reden, reden und reden“ (ebd., 81), „summative Tests“, wenig Kommunikation, wenig Feh-lerfreundlichkeit, geringer intellektueller Anspruch, gegenüber dem Unterrichten gleichgültige Schüler, dieser Gleichgültigkeit gegenüber gleichgültige Lehrpersonen (vgl. ebd., 25f., 39ff., 61, 83ff., 104.; Hattie/Yates 2015, 35; 42ff.). Auch was diese Konstanz bedingt, wird erörtert (vgl. Hattie 2014, 171; Hattie/Yates 44ff.). Kurz, im Grunde wissen TZI und sichtbares Lernen, wie es geht, aber die Durchsetzungs-Kraft ist nicht so groß wie die Überzeu-gungskraft. Vermutlich deswegen, weil die Interessen an effektiven Lernvorgängen nicht so breit gestreut sind, sondern gewichtige Interessen darauf zielen, Neugier, Autonomie und Kooperation zu bremsen und in Grenzen zu halten. Die geringe Berücksichtigung von Neugier als wesentlicher Triebkraft für Lernen bei Hattie ist nur erklärlich aus deren Verödung in den Bildungsinstitutionen. In der Sache stellt sie die „dritte Säule des akademischen Erfolgs“ (von Stumm et al. 2011, 574) dar. Ohne eine „Demokratisierung“ der Institutionen, der faktischen Geltung der Menschenrechte in ihnen, wird das so bleiben. Das hat Cohn (z. B. zit. bei Matzdorf 1993, 384) klarer gesehen, mindestens zum Ausdruck gebracht als Hattie.

Diese Ohnmacht bewusst auszuhalten, damit man die Über-zeugung erhalten und der Preisgabe der Ziele widerstehen kann, könnte eine gemeinsame Aufgabe für TZI und sichtbares Lernen sein und die Möglichkeit schaffen, eine kooperative Veränderung der Machtverhältnisse als Voraussetzung für eine breitere Etab-lierung von beidem ins Auge zu fassen und zu planen. Mit der Ohnmacht umgehen lernen – geht das, sichtbar und lebendig?

Literatur

Club of Rome (1972): Die Grenzen des Wachstums. MünchenCohn, R. C. (1975): Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion. StuttgartCohn, R. C. & Farau, A. (1984): Gelebte Geschichte der Psychotherapie. StuttgartCohn, R. C. & Terfurth, C. (Hrsg.). (1993): Lebendiges Lehren und Lernen. TZI macht Schule. StuttgartFabricius, D.; Fabricius-Brand, M.; Murach, M. (Hrsg.). (1994): „Unter Ansehen der Person“. Irritation des

juristischen Selbstverständnisses in der Begegnung mit Strafgefangenen. Baden-BadenFabricius, D. (2013): Juristenpersönlichkeit, Urteilsrichtigkeit und Kriminalprävention. Band II der Habilitationsschrift

Hannover 1991, http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/frontdoor/index/index/docId/32075Fabricius, D. (2014): Selbst-Gerechtigkeit. Zum Verhältnis von Juristenpersönlichkeit, Urteilsrichtigkeit und

„effektiver Strafrechtspflege“. 2. Aufl., Baden-Baden

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Hattie, J. (2011): Lernen sichtbar machen. HohengehrenHattie, J. (2014): Lernen sichtbar machen für Lehrpersonen. HohengehrenHattie, J. & Yates, G. (2015) Lernen sichtbar machen aus psychologischer Perspektive. HohengehrenKhan, M. R. (1983): Erfahrungen im Möglichkeitsraum. MagdeburgKant, I. (1793): Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis.

In: Kant Werke. Hrsg. von W. Weischedel (I–VI: VI). Darmstadt, S. 127–172Landauer, K. (1929): Zur psychosexuellen Genese der Dummheit. Zeitschrift für Sexualwissenschaft und

Sexualpolitik, (16), 87–95Matzdorf, Paul (1993): Das „TZI-Haus“. Zur praxisnahen Grundlegung eines pädagogischen Handlungssystems.

In: Cohn, R. C. & Terfurth, C. (Hrsg.). Lebendiges Lehren und Lernen. TZI macht Schule. Stuttgart, S. 332–387

Ockel, A.& Cohn, R. (1987): Das Konzept des Widerstands in der themenzentrierten Interaktion. In: WILL-International (Hrsg.) (1987) Lebendig Lernen. Grundfragen der Themenzentrierten Interaktion, Arlesheim, S. 5–33

Ode, E. (im Erscheinen). Von der Kunst, sich ,überflüssig’ zu machen – der Lehrer in Humboldts Theorie des Unterrichts. In: B. Fuchs; T. Schneider (Hrsg.): Bildungsdiskurse im Deutschen Idealismus (im Druck). Würzburg

Osswald, E. (1993): Gestalten statt verwalten. Die lebendige Schule und ihre Schulleitung. In: Cohn, R. C. & Terfurth, C. (Hrsg.): Lebendiges Lehren und Lernen. TZI macht Schule. Stuttgart, S. 214–248

Panksepp, J. (1998): Affectice Neuroscience. OxfordSchewior-Popp, S. (2015): Alles eine Illusion? Was ist für das Lernen wirklich wichtig? Die „Hattie-Studie“:

Ergebnisse, Diskussionen, Konsequenzen. PADUA, 10(4), 243–246von Stumm, S.; Hell, B.; Chamorro, P. (2011): The Hungry Mind: Intellectual Curiosity Is the Third Pillar of

Academic Performance. Perspectives of Psychological Science, (6), S. 574–588