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Science in Western and Eastern Civilization in Carolingian Times Edited by Paul Leo Butzer Dietrich Lohrmann 1993 Birkhäuser Verlag Basei- Boston . Berlin

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Science in Western andEastern Civilization inCarolingian Times

Edited byPaul Leo Butzer

Dietrich Lohrmann

1993Birkhäuser Verlag

Basei- Boston . Berlin

SCIENCE IN WESTERN AND EASTERN CIVll..lZATIONIN CAROLINGIAN TIMESEdited by P. L.Butzer and D. Lohnnanne 1993 Bukhäuser Verlag Basel

ARABISCHE MATHEMATIK IM8. - 10. JAHRHUNDERT

Jacques Sesiano

This paper is a survey of some of the topics Islamic mathematicians dealt with inCarolingian times, i.e. of algebra, arithmetics, geometry, number theory, recreationalmathematics and magic squares.

I.Die Erben

Als Baghdad 762 gegründet wurde und in den nachfolgenden Jahrzehnten zum Kultur-

zerrtrum wurde, bot sich eine einmalige Gelegenheit, ein dreifaches wissenschaftliches

Erbe zu vereinigen: die mesopotamische Wissenschaft, die längst ausgestorben war; die

indische, die ihre Blüte erreichte; die griechische, die gerade noch in Handschriften

überlebte.

A. Das mesopotamische Erbe

Die Blütezeit der mesopotamischen Mathematik lag ungefähr 2000 v. ehr. In der seleu-

kidischen Zeit wurde die Mathematik zwar weiterhin gepflegt, anscheinend aber ohne

merkliche Fortschritte, während die letzten Keilschriftentexte auf das 2. Jahrhundert

unserer Zeitrechnung zurückgehen. Damals waren die Quellen noch reichlich vorhan-

den: im 2. Jahrhundert v. ehr. hatte der griechische Astronom Hipparchos Zugang zu

den mesopotamischen Beobachtungsberichten gehabt, und noch Ptolemäus (um 150

n. Chr.] erwähnt in seinem Almagest (III,7), vom Anfange der Regierung Nabonas-

sars (747 v. Chr.] an seien »die älteren Beobachtungen im grossen ganzen bis auf den

heutigen Tag erhalten geblieben".

400 Jacques Sesiano

Solche eindrucksvolle Berichte trifft man in der islamischen Zeit, also ungefähr

sechs Jahrhunderte danach, nicht mehr. Gelegentlich aber findet man Hinweise auf

Spuren mesopotamischen Wissens: im 11. Jahrhundert berichtet der Perser Birüni -

unter verschiedenen Verfahren zur Bestimmung der Tageslänge - von einem beson-

deren Vorgehen, das seine persische Quelle den Babyioniern (ahl Bäbf~ zuschreibt".

Zur Übermittlung wird man sich also bloß fragen können, was von den mesopota-

mischen mathematischen Hauptleistungen die islamischen Völker mittelbar hätte er-

reichen können.

Besonders bezeichnend für die Mathematikgeschichte sind zwei Merkmale der me-

sopotamischen Wissenschaft:

- die Verwendung des Sexagesimalsystems

- die Auflösung von Gleichungen und Gleichungssystemen, insbesondere die

Aufstellung der Lösungsformeln für die Gleichungen 2. Grades",

Es sieht so aus, als hätten sich diese beiden Errungenschaften im Wandel der

Zeiten stetig am Leben gehalten. Das Sexagesimalsystem haben sich die Griechen für

die Astronomie angeeignet und es kam dann allmählich bis nach Indien in allgemeinen

Gebrauch. Was die Auflösung der Gleichungen 2. Grades anbelangt, so kann höchstens

gesagt werden, daß ihre Kenntnis in Griechenland der nachklassischen Zeit geläufig ge-

nug gewesen sein muß: in den einigen (wenigen) Beispielen, die bei Diophant oder Heron

vorkommen, wird das Ergebnis sofort angegeben, bestenfalls sind die Auflösungsschritte

flüchtig erklärt. Daher ist es auch keine Überraschung, daß die Lösungsformeln solcher

Gleichungen in den frühen arabischen Texten keineswegs als eine Neuheit dargestellt

werden: Dahinter stand anscheinend eine lange, nie ausgestorbene Tradition.

Wir haben eben von den Lösungsformeln für die Gleichungen 2. Grades gespro-

chen. Seit den Babyioniern - und bis zum ausgehenden 16. Jahrhundert - zerfielen

nämlich die Gleichungen 2. Grades in drei Gattungen, die lauter additive Glieder ent-

Al-Blrüni, Ifräd al-maqäl fi amr al-;iläl (Hayderabad 1948),5.138; E. Kennedy, The exhaustivetreatise on shadows by (00.) al-Biriini (Haleb 1976; 2 Bde.), Bd. I (Übersetzung), 5.186 bzw.Bd.1I (Erläuterungen), 5.114.

2 Beispiele dazu bei F. Thureau-Dangin, Textes mathimatiques babyloniens (Leiden 1938); oderK.Vogel, Vorgriechische Mathematik (Hannover/Paderborn 1959; 2Bde.), 11,5.45 fr.

Arabische Mathematik im 8.-10. Jh. 401

hielten und mindestens eine positive Lösung besaßen. Es sind die folgenden Gattungen:

I. ax2 + bx = c, mit der Lösung-~+J(n2+ac

x = ---'-----

11. ax2 + c = bx, mit den Lösungen

a

(unter der Voraussetzung (~) 2 > ac)

~±J(~)2-acx=--!........:."":""--

a

Ill. ax2 = bx + c, mit der Lösunga

B. Das indische Erbe

Für die indische Wissenschaft, deren erste große Werke auf das 6. und 7. Jahrhundert

zurückgehen, erheben sich Fragen über einen möglichen Übermittlungsweg kaum. Nicht

nur war die indische Wissenschaft im vollen Anlauf, sondern es wird uns sogar von

einem Besuch indischer Gelehrter im neugegründeten Baghdad berichtet",

• Astronomisches (z. T. unter griechischem Einfluß entstanden) sowie die Grundla-

gen der Trigonometrie in ihrer modernen Form (mit den beiden Funktionen Sinus

und Cosinus),

Von der damaligen indischen Wissenschaft konnten sich die islamischen Gelehrten

folgendes aneignen:

• das System der zehn Zahlzeichen sowie die damit verbundenen arithmetischen

Operationen. In einem bedeutenden Ausmaß kam aus Indien auch eine aus-

geprägte Neigung zur Anwendung des arithmetischen und algebraischen Rech-

nens bei Aufgaben aus dem täglichen Leben oder aus dem Handelsverkehr.

Von diesen beiden Erben kann man also sagen, ihre Aneignung falle in die An-

fangszeit der islamischen Wissenschaft. Dies war für die griechische Erbschaft nicht der

Fall, da sich noch im ausgehenden 9. Jahrhundert wichtige griechische Werke erst in

der Übersetzungsstufe befanden.

3 So z. B. in Birünis Indica, vgl. Alberuni's India, übers. mit Anm. v. E. Sachau (London 1888;2Bde.), 11, 5.15, 67, 313.

402 Jacques Sesiano

c. Das griechische Erbe

Entscheidend für die Weiterführung der theoretischen Zweige der Mathematik war

der Einfluß Griechenlands. Aus den Hauptwerken von Euklid (Geometrie), Archirne-

des (Geometrie, Mechanik), Apollonios (Kegelschnitte) sowie aus kleineren Werken zur

Sphärik lernten die islamischen Gelehrten die streng wissenschaftlich geführten Über-

legungen und Beweise kennen. Daneben erfuhren sie von physikalischen Anwendungen

der Geometrie (nicht nur bei der Astronomie, sondern auch bei der Optik und der Me-

chanik) und dazu von arithmetischen Eigenschaften von Klassen ganzer Zahlen (Euklid,

Nikomachos) sowie von der unbestimmten Algebra (Diophant).

Da. es bei den klassischen griechischen Werken nicht um die bloße Darstellung

von Rechnungen ging, sondern um den Ausbau einer strengen, auf Sätze und Beweise

gestützten Theorie, wobei also jedes Wort sein Gewicht hatte, war die Herstellung

eines einwandfreien arabischen Textes wesentlich. Die Übersetzer mußten also selber

genügend mathematische Kenntnisse besitzen, um jeweils den richtigen Sinn erfassen

zu können. Erfolg hatte man dabei aber nicht immer auf den ersten Schlag. So erklärt

es sich, daß für gewisse Texte mehr als eine Übersetzung angefertigt wurde - drei im

Falle der früh übersetzten Elemente Euklids. Weiter konnte die Vorlage in schlechtem

Zustand und daher sogar für gut ausgebildete Mathematiker schwer verständlich sein.

Wir erfahren beispielsweise von den Schwierigkeiten, denen im 9. Jahrhundert die Söhne

des Müsä ibn Schäkir bei der arabischen Übertragung der Kegelschnitte des Apollonios

begegneten, und von den späteren Bemühungen eines der drei Brüder, um eine bessere

Handschrift zu erwerben",

Aus dem Vorangehenden entnimmt man schon, daß die Übersetzungsarbeit grie-

chischer Werke mit Sorgfalt durchgeführt wurde, und daß man gleichzeitig mit ihr nach

Erläuterungen, Bearbeitungen und Kommentaren strebte.

Eine besonders reiche Forschungsquelle bildeten die Aufgaben, die im Rahmen

der Geometrie Euklids - also unter alleiniger Verwendung von Zirkel und Lineal als

zugelassenen Konstruktionsgeräten - nicht lösbar waren, und die schon im Altertum

den Gegenstand eingehender Forschungen gebildet hatten. Damit entstanden die ersten

Ansätze zu einer Brücke zwischen Geometrie und Algebra. Denn mit Zirkel und Lineal

4 Siehe G. Toorner, Apol/onius: Conics, Books V to VII (New York 1990; 2 Tie), S. xviii & 620-629.

Arabische Mathematik im 8.-10. Jh. 403

kann man eine Strecke dann und nur dann konstruieren, wenn diese Strecke aus den

gegebenen Größen durch die fünf Operationen der Addition, der Subtraktion, der Mul-

tiplikation, der Division und des Quadratwurzelziehens algebraisch dargestellt werden

kann. Mit anderen Worten: man kann mit den Mitteln der Geometrie Euklids keine

Aufgaben lösen, die sich nicht auf die Auflösung linearer und quadratischer Gleichun-

gen zurückführen lassen. Dazu zählen einige bekannte, schon im Altertum untersuchte

Aufgaben wie das Delische Problem (Kubikwurzelziehen), die Dreiteilung des Winkels,

die Konstruktion der Seite des regelmäßigen Siebenecks - die alle auf die Auflösung

von Gleichungen 3. Grades hinauslaufen - sowie die (auf keine algebraische Gleichung

zurückführbare) Aufgabe der Quadratur des Kreises.

11. Die Algebra

Wenn heute von Algebra gesprochen wird, denkt man nicht nur an die Auflösung von

Gleichungen oder von Aufgaben mit Hilfe von unbekannten Größen, sondern auch an

eine eigentümliche Symbolsprache, dank welcher die Überlegungen des Lösungsgangs

bündig vor Augen stehen. Obwohl eine algebraische Symbolik schon im Altertum vor-

handen war (bei Diophant, um 250 n. Chr.),.benutzten die klassischen algebraischen

Lehrbücher auf arabisch gar keine Symbole - und selbst die Zahlen wurden in Worten

ausgedrückt''. Zur Bezeichnung der unbekannten Größe dienten aber wohl Fachwörter:

so stand schai' (Ding) für x, mäl (Vermögen) für x2, kacb (Kubus) für x3, und aus den

beiden letzten wurde, wie bei den Griechen mit den entsprechenden Wörtern OVIIQI'Lr;

und K,vßor;, jede weitere Potenz ausgedrückt: mäl mäl war x\ mäl ka'b stand für xs,

ka'b ka'b bezeichnete x6, und für jede weitere Gruppe dreier aufeinanderfolgender Po-

tenzen wurde jeweils ein zusätzliches kacb am Ende hinzugefügt. Dies betraf aber nur

die Bezeichnung der Hauptunbekannten oder die Potenzen derselben. Mußten - z. B.

bei linearen Systemen - mehrere Unbekannte unterschieden werden, so benutzte man

gelegentlich (statt von "Anzahl" dieser oder jener Sachen zu sprechen) verschiedene

Münzennamen (vgl. hiernach, S. 434).

Bei jeder Auflösung einer vorgelegten Aufgabe ist der Vorgang ähnlich: Nach der

Wahl einer Unbekannten wird die Lösungsgleichung aufgestellt. Im allgemeinen enthält

nun die erhaltene Gleichung am Anfang abgezogene Glieder sowie, verteilt auf beiden

5 Zahlen begegnet man hauptsächlich in Lehrbüchern der Arithmetik sowie in Tafeln.

404 Jacques Sesiano

Seiten, Paare von Gliedern mit gleichnamigen Potenzen. Um also zur Normalform der

Gleichung zu gelangen (wie z. B. zu den drei mesopotamischen Gattungen für die Glei-

chung 2. Grades, vgl. S. 400f.), muß man gewisse Umformungen vornehmen. Zur Besei-

tigung aller abgezogenen Glieder wird man erstens ihre (positiven) Beträge beiderseits

hinzufügen; diese Operation nannten die Araber al-jabr, d. h. die Wiederherstellungs.

Zur Beseitigung der Paare Glieder mit gleichnamigen Potenzen wird man nächstens

das kleinere auf einer Seite vom größeren auf der anderen Seite abziehen; diese Opera-

tion wurde von den Arabern als al-muqiibala, d. h. die Gegenüberstellung, bezeichnet.

Gelegentlich wurde dazu auch die Operation al-radd, "die Zurückführung" , angewandt,

durch welche alle Glieder durch den Koeffizienten der höchsten Potenz von x geteilt

wurden. Damit enthielt die Gleichung nur noch positive Glieder mit verschiedenen

Unbekanntenpotenzen auf beiden Seiten, dazu auch etwaigenfalls mit der Einheit als

Koeffizienten der Unbekanntenpotenz höchster Ordnung.

Die Ausführung der beiden ersten Operationen empfand man sowohl im Al-

tertum als auch im islamischen Mittelalter als kennzeichnend für die algebraische

Rechenkunst 7. Aus diesem Grund wurde es bei den Arabern üblich, letztere als ,,(Kunst

von) al-jabr und al-muqäbala" zu bezeichnen, später als al-jabr allein, woraus bei den

in Spanien wirkenden mittelalterlichen Übersetzern durch Umschreibung das Wort Al-

gebra entstand.

Als Geburtsdatum der islamischen Algebra kann die Zeit um 820 gesetzt werden.

Um diese Zeit verfaßte nämlich Muhammad ibn Musa al-Khwärizrni seinen Grundriß

der AIgebra8, der als erstes Werk über dieses Gebiet der Mathematik in arabischer

Sprache galt. Der berühmte westarabische Geschichtsschreiber Ibn Khaldün (1332-

1406) bemerkt nämlich in seiner Muqaddima beim Stichwort Algebra: "Der erste, der

über dieses Fach schrieb, war Abü 'Abdallah al-Khwärizrni, und nach ihm kam Abü

Kärnil Schujä' ibn Aslam".

6 Ausgesprochen "al-dschabr", "al-gabr" in gewissen Gegenden.

7 Daher erläutert sie Diophant in der Einleitung seiner Arithmetika, ohne ihnen jedoch eine eigeneBenennung zuzuteilen.

8 Arabischer Text mit englischer Übersetzung in F. Rosen, The Algebra of Mohammed ben MusaLondon 1831 (Nachdruck Hildesheim 1986). Eine mittelalterliche lateinische Übersetzung (d~Hauptteiles) findet man in G. Libri, Histoire des sciences mathimatiques en Italie (Paris 1838;4 Bde. Nachdruck Hildesheim 1967), I, S. 253-297.

Arabische Mathematik im 8.-10. Jh. 405

Nebst der Darlegung des Rechnens mit algebraischen Ausdrücken und den An-

wendungen der Algebra behandelt al-Khwärizmi eingehend die "sechs Gleichungsgat-

tungen" , nämlich:

bx = c

("Quadrate sind gleich Wurzeln")

("Quadrate sind gleich einer Zahl")

("Wurzeln sind gleich einer Zahl")

ax2 + bx = c ("Quadrate und Wurzeln sind gleich einer Zahl")

ax2 + c = bx ("Quadrate und Zahl sind gleich Wurzeln")

bx + c = ax2 (" Wurzeln und Zahl sind gleich Quadraten").

Eigentümlich ist dabei (und dies gilt für die islamische Algebra überhaupt), daß die

Erklärung der Lösungsformel stets anhand einer geometrischen Figur veranschaulicht

wird, wobei die gesuchte Lösung - die positiv und ungleich Null sein muß - als eine

Strecke erscheint. Dies wird an gewissen Zahlenbeispielen ausgeführt, bei welchen der

Koeffizient der höchsten Potenz von x die Einheit ist. Es mögen hier al-Khwärizmis

Veranschaulichungen, aber mit allgemeinen Koeffizienten (außer für den Koeffizienten

von x2), für die drei Fälle der dreigliedrigen Gleichung 2. Grades wiedergegeben werden.

1. Fall von x2+px = q: Es stelle (Abb.l) AB das Quadrat x2 dar", Dessen Seiten

seien beiderseits um die bekannte Größe ~ verlängert. Das umgebende Quadrat DE ist

also einerseits gleich (x + n2, andererseits setzt es sich stückweise aus x2 +4· ~x +4{~)2zusammen, also - der Ausgangsgleichung gemäß - ist es auch gleich q + 4 . (n2 =q + (~)2. Daher gilt für seine Seite die Beziehung

damit ist

x =J(~r+q- ~

die gesuchte Strecke (einzige positive Lösung).

9 Wie es schon in der altertümlichen Geometrie geläufig war, wird der Kürze halber auf einerechteckige Fläche durch die Buchstaben zweier gegenüberliegender Ecken hingewiesen. Fürden vorliegenden L'Fall hat al-Khwärizmi zwei Veranschaulichungen, deren hier nur die erstedargelegt wird.

406 Jacques Sesiano

EG AH Z

K L M

~D

E o B T N

Abb.1-2

2. Fall von x2 + q = px: Es sei (Abb.2) AD = x2, und man nehme DN = p. Alsoist - nach der Gleichung - die Fläche AN gleich q. Es sei weiter DT = TN = ~.Man

zeichne dann über TN das Quadrat TM = (~)2. Mithin ist KH = AH = ~- x (dabei

wird also ~ > x angenommen). Nimmt man nun HZ = AH, so wird KZ = (~- x)2. Es

ist aber AT = LE, weil ihre Seiten einander gleich sind. Die Flächendifferenz KN - AN

beträgt daher einerseits (~)2 - q, andererseits KZ = (i - x)2, wonach auch

gilt, womit sich

x= ~- /(~r-qergibt.

Nun war, wie gesagt, i> x (bzw. DT > DB) vorausgesetzt worden. Die geometri-

sche Darlegung des anderen Falles ~ < x (sowie des Grenzfalles ~ = x) findet man nicht

bei al-Khwärizmr, sondern bei seinem Zeitgenossen (und Rivalen?) 'Abd al-Harnid ibn

TurklO•

ID Nach seinem Enkel gehörte ihm, nicht al-KhwärizmI, der Vorrang; gegen diesen Anspruch trataber des Enkels Zeitgenosse Abü Kämil, der schon erwähnte Algebraiker des ausgehenden9.Jahrhunderts, entschieden ein (vgl. das Lexicon bibliographicum et encycloptEdicum a (... )Haji Khalfa (. . .) compositum, ed. et Lat. vert. G. Flügel (Leipzig 1835-58; 8 Bde.), V, S.68 &168). Den (allein erhaltenen) Bruchteil der Algebra 'Abd al-Harnlds - über die quadratischen

Arabische Mathematik im 8.-10. Jh. 407

T N

L- M

K

G A E Gir- ~Ar_----------~E

o H B z DL-------------~B~----------~ZAbb.3-4

Es sei zuerst (Abb.3) AD = x2 und DZ = p, womit AZ = q wird. Weiter sei

DH = HZ = ~und TZ = (~)2. Mithin ist TN = AN = x-~. Setzt man dann LH = TN

und zieht man eine Linie LM, so wird LB = (x - ~)2. Daher ist die Flächendifferenz

TZ - AZ einerseits gleich (~)2 - q, andererseits, weil TM = AK, gleich LB = (x _ ~)2,

wonach

und

x - ~ = J(~r-q,x=~+J(~r -q.

Mithin gibt es in diesem Fall zwei positive Wurzeln, die voneinander verschieden

sind, weil (~?- q =F 0 angenommen wurde. Für den Fall (~)2 = q, also den Fall der

Doppelwurzel, gibt <Abd al-Harnid zwei Zahlenbeispiele an (x2+25 = 10x und x2+9 =6x). In seiner Vera.nscha.ulichung (Abb.4) fallen die Punkte Bund H bzw. A und T

der vorigen Zeichnung zusammen, und es gilt

Bemerkenswert ist auch, daß 'Abd al-Hamld die Unmöglichkeit des Falles (~)2 < q

(komplexes Lösungspaar) mit Hilfe einer Abbildung nachweist. Seine Darlegung für

diesen 2. Fall ist also ausführlicher als diejenige al-Khwärizmis,

3. Fall von x2 = px+q: Es sei (Abb.5) AD = x2 und BE = Pi daher ist ZD = q.Essei weiter BH = HE = ~iwird, senkrecht zu BE, HT = HE gezogen, so ist TE = (~?

Gleichungen - hat A. Sayrh herausgegeben und übersetzt (»The Algebra of Ibn Turk" = Turktarih kurumu YGlltnlanndan, VII. F., 41 [1962]).

408 Jacques Sesiano

A z

L N

T K

B H E

Abb.5

G

M

o

Verlängert man dazu HT um TL = ED = NM, so hat man HL = HD = x - ~. Nun ist

aber TK ::= NZ, also sind die Flächen LK und ZM einander gleich. Die Flächendifferenz

LD - TE ist daher einerseits gleich (x - V2 - (~)2, andererseits gleich ZD = q. Damit

ist

und

(einzige positive Lösung).

Mit seiner - verhältnismäßig allgemein zugänglichen - Abhandlung beabsich-

tigte al-Khwärizrni, sich an einen weiten Leserkreis zu wenden. Sein schon erwähnter

Verteidiger Abü Kämil verfaßte ein tiefer greifendes algebraisches Lehrbuch, das sich

diesmal an die mathematisch gebildeten Leute richtete. Insbesondere wurde bei ihm

die Kenntnis der - inzwischen verbreiten - Übersetzung der 13 Bücher (= Kapitel)

umfassenden Elemente Euklids vorausgesetzt. Mit Hilfe zweier Lehrsätze aus Euklids

zweitem Buche der Elemente ließen sich die Veranschaulichungen vereinfachen und

vereinheitlichen. Es sind dies die folgenden Sätze:

11,5: Wird eine Strecke sowohl in zwei gleiche als auch in zwei ungleiche Abschnitte

geteilt, so ist das Rechteck (d. h. das Produkt) aus den ungleichen Abschnitten,

zusammen mit dem Quadrat über der Strecke zwischen den Punkten der Teilung,

Arabische Mathematik im 8.-10. Jh. 409

Abb.6-7

A--------------~f------~D------BA------------~f~----------~B~------D

dem Quadrat über der Hälfte gleich:

AD· DB + FD1 = AF1 (Abb.6).

II,6: Wird eine Strecke halbie~t und wird ihr eine Strecke geradlinig angefügt, so ist

das Rechteck aus der ganzen (verlängerten) Strecke und der Verlängerung, zu-

sammen mit dem Quadrat über der Hälfte, dem Quadrat über der Hälfte und

der Verlängerung gleich:

AD· DB + FB1 = FD1 (Abb.7).

Beide Sätze sind nichts Anderes als ein Ausdruck der algebraischen Identität

(U-V)2 (U+V)2u·v+ -- = --2 2

wobei AD = u, DB = v.

Zeichnet man nun AC = x2, AB = p, und nimmt man F als den Mittelpunkt von

AB, so lassen sich die Veranschaulichungen Abü Kärnils folgendermaßen zusammen-

fassen.

1.Fall: x2 + px = q, mit BC = q (Abb. 8).

Nach 11,6 ist AD· DB + FB2 = FD2, also q + (n2 = (x + ~)2, womit sich die

Formel ergibt.

2. Fall: x2 + q = px, mit BC = q (Abb. 9-10).

Nach 11,5 ist AD· DB + FD2 = AFl, also q + {x - n2 = {~)2, wobei entweder

x - ~ oder ~ - x als positiv zu nehmen ist - oder gleich Null, falls Fund D

zusammenfallen.

3. Fall: x2 = px + q, mit BC = q (Abb.ll).

Nach 11,6 ist AD· DB + FB2 = FD2, also q + (~)2 = (x - n2•

410 Jacques Sesiano

c,--------------,----------------------.

DL-------------~A-----------F----------~8

C

AL-----------~F~D~--------~8

C

AL-------------~D~F----------------~8

r----------r--.c

A·L---~F~--~8~-JD

Abb.B-lI

Arabische Mathematik im 8.-10. Jh. 411

Die eigentliche Konstruktion der Lösung mit Zirkel und Lineal findet man bei

den vorigen Algebraikern nicht. Wohl aber fällt sie noch in den von uns betrachteten

Zeitbereich. Sie stützt sich wiederum auf Sätze Euklids, welche die sog. Flächenan-

legung betreffen (Elemente VI,28-29). Es handelt sich in unserem Falle darum, ein

Rechteck bekannter Fläche derart zu konstruieren, daß seine Basis sich auf einer (not-

falls verlängerten) Strecke bekannter Länge befindet und sich vom Rechteck gleicher

Höhe mit der ganzen Strecke als Basis um eine quadratische Fläche unterscheidet. Al-

gebraisch ausgedrückt entspricht dies den folgenden Schreibweisen der vollständigen

Gleichungen 2. Grades:

1.Fall (x2 + px = q):

2. Fall (x2 + q = px):

3. Fall (x2 = px + q):

x(x + p) = q

x(p - x) = q

x(x - p) = q.

, cAbb.12

r - - - - - - - .-- -!;~~---.E

I

AL---------+--------al- - -F

1. Fall (Abb.12): Man konstruiere auf AB = p, CB = (~)2 und, auf dessen Grundlinie,

das größere Quadrat CE = (~)2 + q.ll Das gesuchte Rechteck ist dann AE:

es unterscheidet sich vom Rechteck AD durch die überschüssige quadratische

Fläche BE = x2, wonach BD = BF die gesuchte Lösung ist.

11 Di~Konstruktion der Wurzel (bzw. der Seite des Quadrates) aus einer gegebenen Größe (bzw.einem gegebenen Rechteck mit Einheitsseite) wird in Eiern. 11,14 gelehrt: ist CI die gegebeneStrecke, so verlängere man CI um die Einheit(sseite) und zeichne einen Halbkreis mit dieserverlängerten Strecke als Durchmesser. Die zwischen dem Endpunkt von CI und dem Kreisumfangabgeschnittene Senkrechte zu CI ist die gesuchte Strecke Vu.

412 Jacques Sesiano

2. Fall (Abb.13): Das Quadrat CE = (~?- q ( mit (~)2 > q) ist diesmal kleiner als

das Quadrat CB = (i)2. Zwei Rechtecke erfüllen dann die Forderung: einerseits

AE, entsprechend der Lösung DE = DB = Xj andererseits das gleich große

Rechteck DG, entsprechend der Lösung AD = DH = z', Es sind dies die

beiden positiven Lösungen der Gleichung. Daraus ermittelt man die Beziehungzwischen den beiden Lösungen und den gegebenen Größen, die heute unter dem

Namen" Wurzelsatz von Vieta" bekannt ist, nämlich

x+x' = AB = p

x . x' = DF = DG = DI +DK = q.12

3. Fall :Mit derselben Konstruktion wie im Falle 1 des Überschusses ist diesmal AF =x und BE = (x _ p)2.

A~ ~ -=D+- ~BI

I,,,I,,,,,IF'-------------------It-----::IE

C~----~-------JK

Abb.13

Sowohl die Veranschaulichungen der Lösungsformeln wie die eigentliche Konstruk-

tion der Lösungen findet man' in einer algebraischen Schrift, welche - nach den einlei-

12 F. Viete (1540-1603), französischer Mathematiker. Die erste Beziehung pflegt man heute alsz + Zl = -p zu schreiben, weil die Gleichung in der Form z2 +pz + q = 0 auftritt.

Arabische Mathematik im 8.-10. Jh. 413

tenden Worten - ein (unbenannter) Verfasser im Jahre 395 der Hegira (1004/5 christ-

lich) aus verschiedenen Quellen zusammenstellte'". Am Ende der Abhandlung wird

bemerkt, man könne bei der Konstruktion der Lösungen für die Gleichungen 3. Grades

mit den Elementen Euklids nicht auskommen, sondern dazu brauche man die Einbezie-

hung der Kegelschnitte. Dabei erwähnt er die 13 Gattungen der Gleichung 3. Grades,

die (stets oder gelegentlich) eine positive Lösung haben14: drei dreigliedrige Gleichun-

gen in x3, x, mit der Konstanten c; ebenfalls drei dreigliedrige in xl, x2, c; schließlich,

sieben viergliedrige15• Dies sind aber (mit x3 = c) die sämtlichen möglichen Fälle, die

ein Jahrhundert später 'Umar Khayyäm geometrisch, und unter Angabe der gelegent-

lichen Bedingung für eine (positive) Lösung, einzeln behandelte, während früher nur

einige Fälle untersucht worden waren - womit 'Umar Khayyäms Werk als eine der

Glanzleistungen der islamischen Mathernatik angesehen wird. Aus dem vorigen ergibt

sich, daß die Problemstellung dem ausgehenden 10. Jahrhundert angehört, ebenso wie

die Einteilung der Gleichung in ihren verschiedenen Fällen, obwohl 'Umar Khayyäm

sie zuerst für sich in Anspruch nahm!".

Mit oder ohne vorausgesetzte Kenntnis der Elemente Euklids war die Darlegung

der Gleichungslehre in der frühislamischen Zeit dadurch gekennzeichnet, daß die Geo-

metrie als Stütze der Algebra diente. Da die mittelalterlichen lateinischen Übersetzun-

gen des 11. und 12. Jahrhunderts diese Gleichungslehre verbreiteten, ist es nicht über-

raschend, daß der Beweis more geometrico bei einem noch nicht reif gewordenen Fach

weiterhin als notwendig angesehen wurde. Dies blieb immer noch im 16. Jahrhundert die

Regel, als die italienischen Algebraiker die Lösungsformeln der Gleichungen 3. Grades

entdeckten: sie bemühten sich um ähnliche (diesmal räumliche) Veranschaulichungen.

16

Handschrift 5325 der Bibliothek bei der Grabmoschee des Imam Resa zu Meschhed. Es fehltder Anfang.Er sieht vom Fall x3 = cab.Also x3+bx = c, x3 +c = b», x3 = bx+c; x3+ox' = c, x3+c = ox2, x3 = ox2 +c; schließlich,x3 + oz2 + bz = e, z3 + oz' + c = bz, x3 +bz +c = oz', x3 = ox' + bx + C, x3 + ox' = bx + C,

x3 + bx = ax' + c, x3 + c = ax' + bx.Siehe die Ausgabe mit franz. Übersetzung von F. Woepcke, L 'Algebre d 'Omar Alkhayyämi (Pa-ris 1851), S.3 der Übersetzung bzw. 2,11 des arabischen Textes (nachgedruckt in Woepcke,Etudes Bur le» mathlmatique8 arabo-islamique8 [2 Bde.], Frankfurt M. 1986). In einem Anhang,den Khayyäm fünf Jahre später verfaBte, bemerkte er, er habe inzwischen von einer solchenEinteilung Abü'l-Jüds - dessen Namen wir im Abschnitt IV noch begegnen werden - erfahren(ibid., S. 81-82 bzw. 47,1-3).

13

1415

414 Jacques Sesiano

Dieses Bedürfnis nach Versinnlichung erstreckte sich im Mittelalter manchmal

auch auf Aufgaben. Am besten ersieht man dies im Liber mahameleth des Johan-

nes Hispalensis, den er in Spanien um 1150 unter Einfluß von arabischen Quellen

zusammenstellte'". Der Verfasser läßt nämlich so viel wie möglich seine arithmetischen

und algebraischen Auflösungen von einer geometrischen Lösung begleiten. Wenn auch

bei Abü Kämil solche Erscheinungen in der Mehrzahl der Aufgaben nicht zu' finden

sind, so geht diese Tradition doch auf ihn und auf seine Nachfolgerzurück, da Abü

Kämils Algebra in Spanien eine grundlegende Rolle spielte.

Ein Beispiel einer solchen geometrischen Auflösung Abü Kämils kommt bei der

folgenden Aufgabe vor18• Zwei Männer haben 10 Kleider für 72 Dirharn gekauft (der

Dirham, der Nachfolger der griechischen 6pO:XJl~, ist eine Münzeinheit). Sie haben

zwar gleichviel bezahlt, also 36 Dirharn, aber die Kleider des einen kosteten je Stück 3Dirham mehr als diejenigen des anderen.

In Gleichungen würde man dies heute so ausdrücken:

U + v = 10

P'U = (p-3)·v=36.

Abü Kämils Lösungsgang verläuft folgendermaßen.

(a) Es stelle (Abb.14) AB die zehn Kleider dar, davon sei AG der Teil des ersten

und GB derjenige des zweiten. Der Preis jedes Kleides von AG sei GE, also ist

die Fläche AE 36 Dirham. Mit GD als Preis der Kleider des zweiten stellt die

Fläche DB ebenfalls 36 Dirham dar. Dabei ist DE = 3.

Man setze GB = x an. Dann ist EZ = 3x, also ist das ganze Rechteck

BY = AY· AB gleich 72 + 3x. Da AB = 10 ist, wird AY = 71 + -fux.

17 ms. latin 7977A der Bibliotheque Nationale zu Paris, foI.99'-203'. Mit dem arabischen Wortmu'ämalät wird die Anwendung der Arithmetik und der Algebra, insbesondere auf den Han-deIsverkehr, bezeichnet.

18 ms. Bayazat 190~6 (olim Karo Mustafa Pasa 979), fo1.33v-34v (5.66-68 des Nachdr~ckes derHandschrift, The book of algebra (. . .) by Ab" Kämi/, Frankfurt M. 1986); oder fo1.82v-83'der lateinischen Übersetzung, ms. latin 7977A der Bibliotheque Nationale zu Paris (fol. 7lv_

. 97'); oder noch 5.118-121 der (unvollständigen) Ausgabe der hebräischen Übersetzung durchM. Levey, The Algebra of Ab" Kämil ( ... ) in a commentary by Mordecai Finzi (Madison 1966).Die Behauptun~ Leveys (von M. Clagett wiederholt), S. VIII & 10-11, Finzis Fassung sei eineausgezeichnete Ubersetzung mit mathematischen Erläuterungen, ist bloß aufLeveys Unkenntnisdes Stoffes und des Arabischen zurückzuführen.

Arabische Mathematik im 8.-l0.Jh. 415

Ey...-----------i - - - - - - - - - - - 1IDr---------------------~Z

AL-------------------~G--------------------~BAbb.14

Andererseits ist AY = GE = GD + 3. Mithin ist GD = 4~ + föx, daher

DB = GD . GB = 4~x + föx2 = 36, womit föx2 + ¥x = 36, oder

x2 + 14x = 120."Man tue weiter, wie ich dargelegt habe (d. h. bei der Auflösung der betreffenden

Gleichung), dann wird x gleich sechs herauskommen".

(b) Sonst "setze man x (schai) für den Ank~uf eines der heiden Männer und zehn

minus x für denjenigen des anderen". Dann wird19

p (10 - x) + (p - 3) x = 72

lOp = 3x + 723 1

v= 10x+75'Da aber (p - 3)x = 36, wird

3 2 2110x + 5"x = 36 (usw.).

"Diese Aufgabe ist wie die Aussage: Man hat zehn in zwei Teile geteilt; den einen

Teil hat man mit etwas vervielfacht, und es ergab sechsunddreißig, und den anderen mit

etwas plus drei, und es ergab sechsunddreißig", fügt Ahü Kämil hinzu. Er spielt hier

19 Wie üblich wird das folgende im arabischen Text rein wörtlich ausgedrückt. Unsere Größe pinsbesondere wird einfach qima hili thaub, "Preis jedes Kleides (des einen)", genannt.

416 Jacques Sesiano

auf eine der geläufigsten Aufgaben des Mittelalters an, nämlich diejenige der Teilung

einer Zahl (i. a. 10, daher die Bezeichnung dieser Aufgabengattung bei den Arabern

als masä'il al-'ascharät, "Aufgaben der Zehner") in zwei Teile, die einer zusätzlichen

Bedingung unterworfen sind:

u + v = 10

f(u, v) = k, k gegeben.

Je nach Wahl der Bedingung f(u, v) = k kann dann die Aufgabe verwickelter wer-

den. Mit f( u, v) = ~+;und der Angabe k = 2~ gelangte al-Khwärizmi zu ganzzahligen

Lösungen, während mit k = 4~ bzw. k ='VS Abü Kämil ganze bzw. irrationale Zahlen

erreichte. Im 16. Jahrhundert bemerkt Bahä' aI-DIn, k = u ergebe eine (zahlenmäßig)

unlösbare Gleichung (die Gleichung ist 3. Grades). Im Abendland tauchen bei Leonardo

von Pisa (um 1220) - im Anschluß an arabische Quellen - die obigen Fälle k = 21

und k = J5 auf, während Luca Pacioli (um 1480) beobachtet, der Fall f(u, v) = ; + uund k = 5 führe zu etwas impossibile (die daraus entstehende Gleichung x2 + 10 = 6x

hat nur komplexe Lösungen). Schließlich findet sich im 16. Jahrhundert bei Cardano,

einem der Entdecker der Auflösung der Gleichung 3. Grades, die Aussage, die Aufgabe

u + v = 10

u·v = 40

sei zwar "unmöglich", wohl aber würden 5 + J=15 und 5 - J=15 die Gleichung

erfüllerr'". Diese alte Aufgabe leistete also sogar noch bei dieser ersten Erwähnung

komplexer Lösungen ihren kleinen Beitrag.

Ill. Die Arithmetik

Die erste Beschreibung des indischen Zahlensystems und seiner Anwendung auf das

Rechnen ist - sowohl im arabischen Sprachbereich wie, etwas mehr als drei Jahrhun-

derte später, im lateinischen - die Arithmetik al-Khwärizmis. Davon sind heute nur

noch zwei lateinische Fassungen erhalten. Aus der Einleitung erfährt man den Ursprung

20 Diese Beispiele werden, mit Quellenangaben, in E.Scholz et al., Geschichte der Algebra (Mann-heim 1990),5.120-121, erwähnt.

Arabische Mathematik im 8.-10. Jh. 417

und die Eigenart des neuen Systems, mit bloß zehn Zeichen jede auch so große Zahl

ausdrücken zu könnerr":

Dixit Algorizmi22• Laudes Deo (... ) ut auxilietur nobis super bona volun-tate in his que decrevimus exponere ac pate/acere: de numero Indorum perIX literas'l3 quibus exposuerunt universum numerum suum causa levitatisaique adbreviationis, ut hoc opus, scilicet, redderetur levius querenii arith-meticam, id est numerum tam maximum quam exiguum et quicquid in eo estex multiplicatione et divisione, collectione quoque ac disspersione, et cetera.Zur Schreibweise von X (decem) setzten sie dann, wird weiter erklärt, 1 insecunda differentia (die 2. Stelle, von rechts her gezählt), während, was dieerste Stelle betrifft, posuerunt in ea circulum parvulum24 ut per hoc scirentquod differentia unitatum esset vacua.

Dieses Werk al-Khwärizmis unterscheidet sich dem Inhalt nach wenig von den

späteren arabischen Lehrbüchern der Arithmetik, und eigentlich auch nicht soviel von

den modernen Schulbüchern, wenn man von der anfänglichen langen Darlegung des

neuen Zahlensystems und seiner Stellenwerteigenschaft absieht. Nach dieser Beschrei-

bung folgen nämlich die Erklärungen der Grundoperationen: Addition, Subtraktion,

Multiplikation, Division (eigentümlich ist aber die Sonderbehandlung der Verdoppe-

lung und der Halbierung). Danach schließt sich das quadratische Wurzelziehen an (das

kubische wird in anderen Lehrbüchern gelehrt).

Diese arithmetischen Operationen werden nicht nur für ganze Zahlen erläutert,

sondern auch für Brüche sowie für die in der Astronomie verwendeten Sexagesi-

malbrüche. Bemerkenswert ist, daß als Brüche der ersten Art nur gebrochene Zahlen,

also Quotienten zweier ganzer Zahlen, vorkommen: die erste nachweisbare Verwendung

von Dezimalbrüchen mit einem Trennungszeichen zwischen den ganzen und dezimalen

21 Siehe die Ausgabe von K. Vogel, Mohammed ibn Musa Alchwarizmi's Algorismus (Aalen 1963)- welche den Text mit Erläuterungen und den Nachdruck der Handschrift enthält. M. Folkertshat vor kurzem die zweite lateinische Übersetzung entdeckt.

22 Die lateinische Umschreibung des Namens al-Khwärizmi (algorizmi, algoritml) ist der Ursprungdes heutigen Wortes Algorithmus. Das h stammt aus einer ehemaligen irrtümlichen Deutungdes Wortes aus aULl11l1k.

23 Die Null, als figura nihili, wurde damals nicht zu den eigentlichen Zahlzeichen gezählt.

24 in similitudine 0 liiere, hat der lateinische Übersetzer hier hinzugefügt.

I

II

!I

IIII

I

418 Jacques Sesiano

Stellen - wobei ein I für unser Komma steht - stammt aus dem 10. Jahrhundert

(al-Uqlidisl, um 950)25,

Wie im Altertum wurden, neben dem Wurzelziehen, Annäherungsformeln benutzt.

Dazu lernte man aber, infolge der Entwicklung der Arithmetik und der angewandten

Algebra, mit Wurzelausdrücken zu rechnen, und somit wurde eine Erweiterung des

Zahlenbereiches zu den irrationalen Zahlen de facto vollendet'".

Aus den Binomialentwicklungen von (p ± q)2 und (p ± q)3, mit p und q rationalen

Zahlen, entnahm man die folgenden Beziehungen:

(1) .JP ±.;q = ,jp + q ± 25q

(2) {IP±~ = qP±q+3M±3M(3) V'P± {Iq = .j..;p + .;q ±25q.

Solche Umwandlungen führen aber nicht immer zu einer Vereinfachung. Im 1.Falle

muß pq quadratisch sein, wie es bei v'I8+v's = v'5O der Fall ist (Abü Kärnils Beispiel);

bei v'Iö+v'2 dagegen ist, wie es Abü Kämil ausdrückt, "die Frage in diesem Fall besser

als die Antwort"; denn "es ist besser, von «Wurzel aus zehn plus Wurzel aus zwei» als

von «zwölf plus zwei Wurzeln aus zwanzig, die Wurzel daraus genommen» zu sprechen"

- und dasselbe gilt auch für die Subtraktiorr".

27

25 A. Saidan, "The earliest extant Arabic arithmetic", in lsis 57 (1966), S.475-490. Derselbe Ver-fasser hat den ganzen arabischen Text (Amman 1974) und eine englische Übersetzung [Dor-drecht 1978) herausgegeben.

26 Im Altertum war das Vorkommen einer irrationalen Größe in einer arithmetischen oder alge-braischen Aufgabe nicht zugelassen. Man findet zwar quadratische Irrationalitäten, aber diesbetrifft nur Strecken im Rahmen der euklidischen Geometrie des Zirkels und des Lineals. Indiesem Sinne treten die folgenden Additionssätze für quadratische Irrationalitäten schon beiEuklid auf. .In Abwesenheit eines Symbols für das Wurzelziehen muß man auf eindeutige Weise zum Aus-druck bringen, wie weit sich das Wurzelzeichen erstreckt. Die lateinische Übersetzung der Al-gebra Abü KämiIs wiedergibt die dabei möglicherweise vorkommende Zweideutigkeit (vgl. ms.Latin 7377A (Anm.18), fol. 79'): Melius est enim quod dicas quod ~st radiI: 10 et radiI: 2,. quamquod dica& «est radix Je radice e radicum de eo agregata sibi,.. Et similiter etiam tuum dicere insubtractione radicis uniu, numeri de radice alterius «est radix de 10 nbtracta radice de e,. me-lius est quam tuum dicere «est radi» de Je e radicibus de eo nbtracti, ab ipsis 1e,. (eine erste- gestrichene - Übersetzung war: «est radix de It preter 2 radice, de £,. ). Ein Zeichen für dieWurzel war also eines der am dringensten benötigten, weshalb es auch unter den ersten im 15.und 16.Jahrhundert (sowohl in der islamischen als auch in der christlichen Welt) auftauchte.

.->:

Arabische Mathematik im 8.-10. Jh. 419

Die beiden nächsten Umwandlungen findet man nicht bei Abü Kämil sondern bei

anderen Mathematikernf', Wiederum ist die Anwendung dieser Formeln aus prakti-

schen Gründen eingeschränkt: bei den Kubikwurzeln müssen pq2 und p2q Kuben sein;

bei den vierten Wurzeln muß entweder p = t4q (es ergibt sich eine vierte Wurzel aus

einer rationalen Zahl), oder p = t2q und pq eine vierte Potenz einer rationalen Zahl sein

(man erhält die quadratische Wurzel aus der Summe oder Differenz einer Quadratwur-

zel und einer rationalen Zahl), oder p = t2q allein (es kommt die Quadratwurzel aus

der Summe oder Differenz zweier Quadratwurzeln heraus).

. Schließlich wird auch die folgende Identität aus Buch X der Elemente an Zahlen

angewandt:

womit sich der gegebene Ausdruck, wenn JP und Jp - q zueinander ein rationales

Verhältnis haben, sich zu einer Summe oder Differenz zweier vierter Wurzeln verein-

facht.

Grundlage der drei obigen Umwandlungen waren also die (schon im Altertum

bekannten) Binomialentwicklungen von (p ± q)2 bzw. {p± q)3. Die allgemeine Bildung

von

( ± )n n + n-l + n-2 2+ + 2 n-2 + n-l + np q = p an-IP q an-2P q . • . a2P q alpq q ,

wobei die Summe der Hochzahlen in jedem Glied gleich n bleibt und die Koeffizien-

ten aj sich anhand des (heute Pascalsehen genannten) Dreiecks ermitteln lassen, war

bereits al-Karaji, um 1000, bekannt/", Er gibt nämlich das erwähnte Dreieck in der fol-

genden Form an, wobei die Spalten von rechts nach links (arabische Schriftrichtung!)

die Koeffizienten aj für die Hochzahlen n von 1 bis 12 enthalten:

28 Z. B. bei al-Karaji (s. u.); die in Anm.13 erwähnte Abhandlung gibt einen geometrischen Nach-weis der beiden ersten an - in der Form einer ebenen bzw. räumlichen Darstellung der beidenzugrundeliegenden Binomialentwicklungen.

29 Siehe A. Anbouba, L 'algebre al·Badi' d'al-Karagi (Beirut 1964), S. 23,28. Die Stelle des (sonstverschollenen) Textes al-Karajis ist beim späteren Mathematiker al-Samaw'al (um 1200) erhal-ten; vgl. sein Bähir, hrsg. S. Ahmad et al. (Damaskus 1971), S. I (Aufnahme der Handschriftseitemit dem Dreieck) und 5.109-112 (Text).

420 Jacques Sesiano

1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 112 11 10 9 8 7 6 5 4 3 2 166 55 45 36 28 21 15 10 6 3 1220 165 120 84 56 35 20 10 4 1495 330 210 126 70 35 15 5 1792 462 252 126 56 21 6 1924 462 210 84 28 7 1792 330 120 36 8 1495 165 45 9 1220 55 10 166 11 112 11

Die ausdrückliche Berechnung der Koeffizienten führt al-Karaji nur bis n =5durch, er erklärt aber, wie "die Koeffizienten der Potenzen Quadrat und Kubus30 bis

zu jeder willkürlichen Grenze" berechnet werden können: die Summe zweier aufein-

anderfolgender Zahlen in einer Spalte ergibt den Nachbarn der unteren Zahl in der

nächsten Spalte.

IV. Die Geometrie

Die geometrischen Untersuchungen in der islamischen Welt waren sowohl angewandt als

auch theoretisch. In al-Khwärizrnrs Algebra findet man schon einfache Berechnungen

an Figuren mit Hilfe der Algebra (dieser Teil fehlt in den lateinischen Übersetzun-

gen). Dies wird bei Abü Kämil fortgeführt, nur sind bei ihm - wie bei den algebrai-

schen Aufgaben überhaupt - die behandelten Fragen, die (konstruierbare) regelmäßige

Vielecke betreffen, wesentlich schwieriger. Wie im Altertum wurde die Geometrie bei

der Vermessung angewandt, unter anderen bei der Bestimmung der Höhe oder der

Entfernung unerreichbarer Objekte, wie etwa der Berghöhen oder Flußbreiten; dabei

standen aber die usprünglichen Ähnlichkeitsbetrachtungen von Dreiecken immer mehr

30 Man erinnere sich daran (S.403), daß sich jede Hochzahl n mittels der beiden Wörtern fürQuadrat (mäQ und Kubus (ka'b) ausdrücken läßt.

Arabische Mathematik im 8.-10. Jh. 421

im Hintergrund, und zwar zugunsten der trigonometrischen Verfahren. Die von In-

dien übernommene Sinustrigonometrie nahm nämlich einen immer breiteren Raum in

der Mathematik ein und ersetzte allmählich die Sehnentrigonometrie der Alten. Schon

früh hatte man die beiden trigonometrischen Grundfunktionen der Inder (s. S. 401)

zu den sechs heutigen erweitert: so schreibt man al-Habasch, einem Zeitgenossen al-

Khwärizrnis, eine Aufstellung von Tafeln neuer Grundfunktionen zu. Aus der Sphärik

der Alten entstand andererseits die moderne sphärische Trigonometrie, die durch die

Bedürfnisse nicht nur der Sternkunde oder der mathematischen Geographie, sondern

auch der Religion (jeweilige Bestimmung der Richtung Mekkas) gefördert war. Der all-

gemeine Sinussatz der sphärischen Trigonometrie - daß sich in einem Kugeldreieck

die Sinus zweier Seiten wie die Sinus ihrer Gegenwinkel verhalten - war bereits im

10. Jahrhundert bekannt.

Was theoretische Untersuchungen anbelangt, so betrafen sie sowohl Grundlagen-

fragen (Beweisbarkeit des 5. Postulats Euklids) wie die Behandlung nicht mit Zirkel

und Lineallösbarer Probleme. Das wollen wir an einem besonderen Beispiel erläutern.

Im einleitenden Abschnitt haben wir schon auf die griechischen Konstruktionen

regelmäßiger Vielecke unter alleiniger Verwendung von Zirkel und Lineal hingewiesen

(S.402f.). In Buch IV der Elemente Euklids wird gelehrt, wie man in einem gegebenen

Kreis das gleichseitige Dreieck, das Quadrat, das regelmäßige Fünfeck, sowie - mittels

des Dreiecks und des Fünfecks- das Fünfzehneck einschreibt'". Da man aber mit ei-

ner einfachen Winkelzweiteilung jeweils das Vieleck mit doppelter Seitenzahl ermitteln

kann, waren also die Griechen im Stande, Vielecke mit Seitenzahlen n der Form 2k

(k ganz ~ 2) und 2k ·3, 2k ·5, 2k ·3·5 (diesmal k ~ 0) geometrisch zu bilden. Das

Gebiet der Konstruktionen von regelmäßigen Vielecken mit Zirkel und Lineal blieb

dann mehr als 2000 Jahre erstarrt, bis nämlich C. F. Gauß gegen 1800 drei weitere kon-

struierbare Grundvielecke sowie das allgemeine Gesetz für die Konstruierbarkeit eines

regelmäßigen n- Ecks entdeckteP.

31 Aus der Kenntnis des p-Ecks und des q-Ecks läßt sich allgemein, falls P und q teilerfremdsind, die Seite des pq-Ecks ableiten. Man kann nämlich zu jedem Paar teilerfremder Zahlen p,qnatürliche Zahlen z,y derart finden, daß zp - yq = 1 gilt; daraus ergibt sich nun £ _ l!: = .!.

9 P P9bzw. s:> 2.. - Y . !!. = h. Wird also für das °p-Eck und das q-Eck ein gemeinsamer Gipfel alsUrsprung9genom~en, ~~st die Verbindungslinie zwischen dem e-ten Gipfel des einen und demy-ten Gipfel des anderen die gesuchte Seite.

32 Die Seitenanzahl n muß von der Form 2t •PI . P2 .•... PI sein, mit 2k beliebiger ganzzahligerPotenz von 2 (Verdoppelungen der Seitenzahl) und Pi sogenannten Fermatschen Primzahlen,

422 Jacques Sesiano

Forschungen über regelmäßige Vielecke blieben aber in der Zwischenzeit nicht ste-

hen, bloß nahmen sie eine andere Richtung, die schon in Griechenland spürbar war: die

Untersuchung der nicht mit Zirkel und Lineal konstruierbaren Vielecke mit kleineren

Seitenzahlen, namentlich das Siebeneck und das Neuneck. Einen der dabei eingeschla-

genen Wege - der später auch in Newtons Arithmetica universalis erscheinen wird-

möchten wir hier erwähnen.

Nehmen wir an, ein gleichschenkliges Dreieck habe die Basis x, die gleichen Seiten

a, den Winkel an der Spitze 0' und die Basiswinkel ka (k natürliche Zahl). Da (2k +1)0' = 1800

, ist 0' = 2(;S::1)' Steht also 0' im Mittelpunkt eines Kreises mit Halbmesser

a, so ist x die Seite des eingeschriebenen regelmäßigen 2(2k + l)-Ecks, während die

Sehne des Winkels 20' die Seite des regelmäßigen (2k + 1)-Ecks darstellen wird33•

Zur Herleitung eines Zusammenhangs zwischen 0' und x, während a seinerseits

zuerst unbestimmt bleiben soll, trage man auf dem einen Schenkel des Winkels 0' eine

Länge x ein, und mit derselben Länge, jeweils vom zuletzt erreichten Punkte aus, ver-

binde man die beiden Schenkel von 0' abwechselnd (Abb.15-17). Damit entsteht, vom

Winkel an der Spitze aus, eine Reihenfolge gleichschenkliger Dreiecke mit gemeinsamen

Seiten x, deren Basiswinkel jeweils um 0' zunehmen - und deren Winkel an der Spitze

daher jeweils um 20' abnehmen -, die am k-ten Dreieck, mit den Basiswinkeln ka und

dem Winkel an der Spitze a, endet. Unter Angabe des Winkels 0' und fortlaufender

Übertragung einer Strecke x haben wir also ein größeres Dreieck - mit der Basis x,den drei Winkeln 0', ka, ka, und einer von x abhängenden Länge a für die gleichen

Seiten - gebildet, welches die von uns gestellten Forderungen erfüllt.

Nun ist ja a gesucht. Gelingt es uns, für eine gegebene Strecke a die Größe x

auszudrücken, so wird sich im Prinzip die Möglichkeit ergeben, mit den Strecken a, x

das gewünschte gleichschenklige Dreieck mit Winkel an der Spitze 0' zu bilden. Das

wollen wir für die ersten Werte von k versuchen.

k = 1 : Trivialfall. Das Dreieck ist gleichseitig, bzw. die Seite des Sechsecks ist gleich

dem Halbmesser des Kreises.

d. h. Primzahlen der Form 2' + 1. Heute kennt man nur fünf solche Primzahlen, die (notwendi-gerweise) die Form 22'" + 1 haben, nämlich 3,5 (vg!. griechische Ergebnisse), 17,257,65537-den Werten m = 0, 1, 2, 3, 4 entsprechend - und man vermutet, sie seien die einzigen.

33 Letztere kann man auch unmittelbar erreichen, wenn man das ganze Dreieck in einem Kreisebeschreibt.

Arabische Mathernatik im 8.-10. Jh. 423

B

B

Abb.I5-IS

424 Jacques Sesiano

k = 2 (Abb.15): Es ist DA = x, daher CD = CA - DA = a-x. Andererseits gilt

iW = ~, mithin ist CD = W = ~.

Alsoist a-x=~,d.h. x2+ax=a2•Diese Konstruktion findet man bei Euklid (Elemente IV,IG-ll) zur Herleitung

der Fünfecksseite (ein Kreis wird dem Dreieck ABC umgeschrieben). Nimmt man

a als Halbmesser, so drückt die Lösung x der obigen quadratischen Gleichung die

Seite des Zehnecks aus (x teilt a nach dem goldenen Schnitt: a-:-x = x-:-(a-x».

k = 3 (Abb.16): Hier ist wiederum CD = ~, also DA = a - ~ bzw. AU = ~- ~.Andererseits ist ~ = *fi, mithin

AE·AT x(a-~)AU= = .AB a

Also ist

oder

a(! - ~) = x(a -~)2 2a 2a ,

a3 _ ax2 = 2a2x _ x3,

x3 + a3 = ax2 + 2a2x.d.h.

Dies ist der Fall des Siebenecks, bzw. die Gleichung für die Seite des Vierzehn-

ecks im Kreise mit Halbmesser a. Weil sie 3. Grades ist, kann die Aufgabe nicht

mit Zirkel und Lineal gelöst werden; dagegen ist eine Konstruktion der Teilungs-

punkte auf a unter Einbeziehung der Kegelschnitte wohl möglich. So verfuhren

islamische Mathematiker, anhand der obigen Dreieckskonstruktion, in der zwei-

ten Hälfte des 10. Jahrhunderts (Abü'l-Jüd, al-Sijzf und Zeitgenossen'"],

Ähnlich ist eine Konstruktion, die Archimedes (im - nur auf arabisch erhalte-

nen - Liber assumptorum) für die Dreiteilung eines Winkels BDC verwendet

hatte. Er zeichnete einen Kreis mit Mittelpunkt D und BD als Halbmesser und

bestimmte (nicht mit Zirkel und Lineal) einen derartigen Punkt E auf dem Kreis,

daß die verlängerten Geraden durch B, E und et D sich in At mit AE gleich dem

Halbmesser des Kreises, begegnen. Dann ist BAC der gesuchte Dritteil.

k = 4 (Abb. 17): Dabei ist wiederum CD = ~, dazu AF = x und BE = x (weil in

diesem Falle das dritte Dreieck gleichseitig ist). Daher ist

AE = a - x und AV = ~ - i.34 Vgl. den Aufsatz von J .Hogendijk, "Greek and Arabic constructions of the regular heptagon",

in Archive for the histor1l of exact sciences, 30 (1984), S. 197-330.

Arabische Mathematik im 8.-10. Jh. 425

Andererseits ist ~ = ~, mithin

AV - AF.AT _ r(a-trl-~- a'

Also ist

oder

d.h.

Dieser Fall der Bestimmung der Seite des Neunecks bzw. Achtzehnecks über dem

Umweg der Bestimmung der Lage des Punktes E tritt um 1000 bei dem schon

erwähnten Abü'l-Jüd und Blrüni auf, und zwar in ihrem Briefwechsel'",

k = 5 (Abb.1S): Wie vorher ist CD = ~, daher AD = a - ~.AW AT·

Da ID = AB' istAw = AJf:.tiI = !(a - ~)(a - ~) = a _ 3r

2 +L.J\ 0 a a 2a 2a 2..3

Andererseits ist auch AW = AB- B2E, wobei BE = a-GA-EG = a-x-EG.Zur Bestimmung von EG betrachten wir die rechtwinkligen Dreiecke AUG und

AVF. Für das erstere gilt

W=~,also

AG.AT r(a-~)AU=-xr= a ,

womit

F 2r( r2)A =-;-a-~.

Für das zweite gilt

~ = AT, also

Av = NAT = k(a _ ~)2 = 2x _ 2r3 + L.Ar a~ 2a a~ 2a'

Daraus folgtVG = AV - AG = x _ 2r

3 +LA2 2a'"

bzw EG = 2x _ 4r3 + £.• al ca"

. Demzufolge ist

BE = a - x - EG = a - 3x + .b: - ~.a a

D h . I A\V BE a + 3r 2r3 + r'anac ist a so = a - -2- = 2 T - -;r 2a' ,

35 Von Woepcke in seiner Ausgabe der Algebra Khayyäms (Anm.16), S.125-126, zusammengefaßt.Vg!. auch (Auszug aus Birünis Qänün) C.Schoy, Die trigonometrischen Lehren des (oo.) al-Birtini (Hannover 1927), S.18-21 (nachgedruckt in Schoy, Beiträge zur arabisch-islamischenMathematik und Astronomie (2 Bde.), Frankfurt M. 1988).

426 Jacques Sesiano

während, nach dem vorherigen Ergebnis,

AW 3x2 x·= a - Ta + 2.. 3'

Die Gleichsetzung der beiden Ergebnisse führt zur Gleichung

x5 _ ax4 _ 4a2x3 + 3a3x2 + 3a4x - a5 = O.

Hier begegnen wir also einer Gleichung 5. Grades, die sich nicht wie die früheren

mit Kegelschnitten behandeln läßt. Dennoch behauptete derselbe Abü'l-Jüd, der

die Fälle k = 3 und k = 4 untersucht hatte, er habe die Elfecksseite konstruiert'v.

Wahrscheinlich hat er sich mit der Herleitung der obigen Gleichung begnügt.

v. Die Zahlentheorie

Unter den grundlegenden Fragen, die sich bei der Betrachtung der ganzen Zahlen stel-

len, nimmt diejenige ihrer Teilbarkeit den Vorrang. Den Alten war schon bekannt, daß

es unter den ganzen Zahlen solche gibt, die - außer der Einheit {und sich selbst} -

keine Teiler besitzen; Euklid hatte sogar die Unendlichkeit der Menge dieser Primzah-

len bewiesen. Bei den anderen, den zusammengesetzten Zahlen, hatten sie festgelegt,

daß die jeweilige Summe aller ihrer Teiler (die Zahl selbst ausgenommen) in gewissen

Fällen größer als die Zahl selbst ausfiel, in anderen kleiner - gelegentlich war sie auch

der Zahl selbst gleich (s. u.). Daß es dabei auch Raum für anderartige Fragen gab,

entging der Aufmerksamkeit der Mathematiker der islamischen Länder nicht.

Es sei also N eine natürliche Zahl. Mit s(N) bezeichne man die Summe aller

ganzzahliger Teiler von N, ohne N selbst37• Zu den Fragen, die man im Zusammenhang

mit N und s(N) aufwerfen kann, gehören die folgenden.

1. Gibt es Zahlen N, für welche s(N)=N?Schon die Altpythagoräer kannten Beispiele solcher, sogenannter vollkommener

Zahlen (TD.,eLOt&'g£1'J/lO[; die vier ersten waren im Altertum bekannt: 6 (= 1+2+

3),28 (= 1+2+4+7+14),496,8128). Euklid bewies in seinen Elementen (IX,36),

daß jede Zahl der Form 2m-1(2m -1),mit 2m -1 Primzahl, vollkommen ist. Nun

3637

Vg!. den Aufsatz von Hogendijk (Anrn. 34), S,263,Ist pi' 'P2"" "p:. die (eindeutig bestimmte) Darstellung von N als Produkt von Primfaktoren,so ist _ (pi'+! - 1) (p~'t1 - 1) (p:.t1 - 1)s(N)- ... -N.·

PI - 1 P2 - 1 Pt - 1

Arabische Mathematik im 8.-10.Jh. 427

sind solche Zahlen offensichtlich gerade. Euler (1707-1783) zeigte aber, daß jede

gerade vollkommene Zahl auch notwendigerweise die von Euklid angegebene Form

haben muß. Ob die Formel Euklids wirklich alle vollkommenen Zahlen erzeugt,

hängt also davon ab, ob es ungerade vollkommene Zahlen gibt. Bisher hat man

keine gefunden, und man vermutet auch, es gebe keine; ein Beweis für diese

Unmöglichkeit ist aber bis auf heute noch nicht geführt worden.

2. Ist die Gleichung s(N) = k für jede natürliche Zahl k > 1 lösbar, das heißt, gibt

es stets eine Zahl N, deren Teilersumme (N selbst ausgenommen) gleich einer

vorgegebenen Zahl ist?

(a) k ist eine ungerade Zahl

Ca. 1000 bemerkte al-Baghdädi, daß unter den ungeraden Zahlen s(N) = 5

keine Lösung habe. Er mag hier wohl älteres Wissen wiedergeben: er nimmt

diese Behauptung für sich selbst nicht in Anspruch, ebensowenig wie das

folgende Verfahren zur Ermittlung von Zahlen N, mit einem selben Wert

s(Ni).Es sei also k eine ungerade Zahl. Man zerlege die gerade Zahl k - 1 als

Summe zweier verschiedener Primzahlen auf (mindestens) zwei Wegen:

k - 1= PI + Pl = ql + q2.

Dann ist (weil S(PI • Pl) = PI + Pl + 138)

S(PI • Pl) = s(ql • q2) = k,

also sind NI = PI • Pl und N2 = ql • q2 Zahlen der verlangten Art.

Als Beispiel wählt al-Baghdädi den Wert k = 57. Da 56 = 3+53 = 13+43,

erfüllen die Zahlen NI = 3·53 = 159, N2 = 13·43 = 559 die gestellte

Forderung (dabei hat er nicht bemerkt, daß die Zerlegung 19+ 37 zu einer

dritten solchen Zahl führt). Im 16. Jahrhundert gibt der Perser Yazdi das

weitere Beispiel16 = 13+ 3 = 11 + 5 an, womit NI = 39, N2 = 55 39.

38 Sind PI und P2 zwei verschiedene Primzahlen, so hat das Produkt als Teiler nur PI' P2,PI,p2,1;also ist S(pI •P2) = PI +P2+ 1. Dies ist ein Sonderfall des vorigen Gesetzes (Anm.37).

39 Für al-BaghdädIs Text, siehe S. 229-231 der Ausgabe von A. Saidan der Takmila fi 'I-~isäb (Ku-wait 1985); Yazdis Untersuchungen sind in der Geschichte der Zahlentheorie im Orient vonA. Djafari (Braunschweig 1982) dargelegt (der arabische Text der betreffenden Seite ist aufdem Umschlag abgedruckt); Übersetzung dieser beiden Texte sowie Erläuterungen findet manin J. Sesiano,,, Two problems of number theory in Islamic times", in Archive for history of exactsciences, 41 (1991), S.235-238.

428 Jacques Sesiano

Empirisch stellt man nun fest, daß zwei ZerIegungen mit verschiedenen Prim-

zahlen für gerade Zahlen von 16 an und mit Ausnahme von 38 stets möglich

zu sein scheinen, und zwar nimmt die Anzahl Möglichkeiten mit wachsenden

Zahlen im Durchschnitt zu. Für k - 1 = 38, 14, 12, 10, 8 ist dagegen nur

eine solche Zerlegung möglich; damit kann man aber auf die obige Weise

eine Zahl N mit s(N) = k bilden. Man stellt leicht fest, daß von den drei

übrigbleibenden kleineren ungeraden Zahlen k zwei mit Potenzen von 2 er-

reicht werden; denn es ist s(N) = 7 fÜr N = 8 und s(N) = 3 für N = 4.

Dagegen vermag man tatsächlich kein N mit s(N) = 5 zu finden.

Die Behauptung al-Baghdädis (oder seiner Quelle) ist somit jedenfalls unter

der Annahme bestätigt, daß sich jede gerade Zahl als Summe zweier ver-

schiedener Primzahlen darstellen läßt. Dies muß aber heute noch eine Ver-

mutung bleiben, ebenso wie die (weniger einschränkende) berühmte Aus-

sage, die Goldbach 1742 in einem Brief an Euler mitteilte, daß sich jede

gerade Zahl 2: 4 als Summe zweier (gleicher oder verschiedener) Primzahlen

darstellen lasse: obwohl diese Vermutung als gesichert betrachtet wird, steht

ein allgemeiner Beweis bis heute noch aus.

(b) k ist eine gerade Zahl

Al-Baghdäd] bemerkt, daß s(N) = 2 keine Lösung habe. Sicherlich war

er (oder seine Quelle) imstande, dies für die ersten geraden Zahlen nach-

zuprüfen. Nach vorigem ist nämlich s(2p) = p +2+ 1 (p Primzahl oF 2) und

S(p2) = P + 1; für k gerade genügt es also beim Fortschreiten in der Reihen-

folge der geraden Zahlen, zuerst zu prüfen, ob k - 1 oder k - 3 Primzahlen

sind: dann wird nämlich s(N) = k jedenfalls eine Lösung haben. Tut man

dies, so findet man die erste Ausnahme mit 28; dies ist aber eine vollkom-

mene Zahl, also ist 28 selbst eine Lösung. Die nächste Ausnahme ist 36; für

N = 24 ist aber s(N) = 36. Anders ist es mit k = 52, und soweit ist also

al-Baghdädi nicht gegangen. Heute weiß man nämlich, daß die Gleichung

s(N) = k für unendlich viele gerade k keine Lösung besitzt, und zwar sind

davon die ersten k = 2, 52, 88, 96, 1204°.

40 Vg!. z. B. R. Guy, Unsolved problems in number theory (New York 1981), S.37.

Arabische Mathematik im 8.-10.Jh. 429

3. Gibt es derartige Zahlenpaare N" N2, so daß s(NI) = N2 und s(N2) = NI?

Wie bei den vollkommenen Zahlen führt die Geschichte dieser "befreundeten Zah-

len" (cpiAOL &~Ll9I'oi) bis in die Zeit der Altpythagoräer zurück. Weiter als die

Angabe des ersten Paares 220, 284 gelangten sie jedoch, und auch die späteren

Griechen, anscheinend nicht. Insbesondere Euklid weiß über diese Zahlen nichts

zu berichten. Um so bemerkenswerter erscheint deshalb die Entdeckung und der

Beweis - mit rein euklidischen Mitteln - einer Bildungsweise für Paare be-

freundeter Zahlen durch den Mathematiker und Übersetzer griechischer Werke

Thäbit ibn Qurra (836-901)41. Sein Satz, der von Fermat und Descartes im

17. Jahrhundert wiederentdeckt wurde, lautet:

Sind s = 3· 2m -1, t = 3· 2m-I -1, r = 9· 22m-I -1 (mit m =f 0,1) Primzahlen,

so sind die Zahlen 2m • s . t und 2m • r befreundete Zahlen.

Es muß aber bemerkt werden, daß dieser Satz vom praktischen Standpunkte her

von geringem Nutzen ist: für m = 2 ermittelt man das bekannte Paar, und von

den neuen Paaren für m = 4 und m = 7 (für m = 3,5, 6 sind r, s, t nicht alle

Primzahlen) liegt das letztere schon bei den Millionen, obwohl es viele kleinere

Paare gibt. Dies ist auf die obige sehr einschränkende Form der Primfaktorenzer-

legung von NI und N2 zurückzuführen - sowie auf eine weitere Einschränkung,

die im Laufe des Beweises der Formel zum Vorschein kommt. Wie dem auch

sei, so gab Thäbit ibn Qurra doch als erster die Möglichkeit, theoretisch Paare

befreundeter Zahlen abzuleiten.

VI. Die Unterhaltungsmathematik

Unter dem Namen "Unterhaltungsmathematik" pflegt man diejenigen Aufgaben einzu-

ordnen, deren Inhalt eigentlich mehr mit Unterhaltung als mit praktischen Anwendun-

gen zu tun hat. Da diese Aufgaben von Hause aus nicht an wirklichkeitsnahe Umstände

gebunden sind, darf man im Rahmen einer selben Aufgabengattung die Bedingungen

einigermaßen nach Belieben verwickelter machen. Solche Aufgaben trifft man über-

all und zu allen Zeiten. Diejenigen der griechischen Anthologia Palatina, deren Buch

XIV sie zusammen mit Rätseln enthält, sind ersichtlicherweise zur gesellschaftlichen

41 Übersetzung mit Erläuterungen in F. Woepcke, "Notice sur une theorie ajoutee par Thäbit benKorrah a I'arithmetique speculative des Grecs", in Journal asiatique, 4. F., 20 (1852), S. 420-429;auch in dem Nachdruck (Anm.16) zu finden.

430 Jacques Sesiano

Unterhaltung bestimmtv'. Das problema bovinum des Archimedes, welches dagegen an

sachkundige Mathematiker gerichtet ist, darf man auch dazu zählen. In Indien und

in den islamischen Ländern wurden Unterhaltungsaufgaben allmählich zum unerläßli-

chen Bestandteil der algebraischen Lehrbücher. Schon Abü Kärnil widmete ihnen den

Endteil seines schon erwähnten Werkes.

Ihre Einwirkung auf die Entwicklung der Mathematik ist nicht zu vernachlässi-

gen. Sie entsprechen zwar zumeist linearen Gleichungen oder Gleichungssystemen, aber

die Verschärfung der Bedingungen oder die Vermehrung der Unbekannten führte zur

Suche nach allgemeinen Lösungswegen und zur Aufstellung von Lösungsformeln, die

diesmal jenseits der allgemeinzugänglichen Überlegung gerieten. Es geschah durch (be-

absichtigte) Abänderung der Konstanten in den aufgestellten Formeln, daß man im

christlichen Mittelalter erstmals negative Lösungen auftreten ließ und somit einen ent-

scheidenden Schritt zur Anerkennung der negativen Zahlen tat43•

In ihrer einfachen Form blieb aber die Unterhaltungsmathematik weiterhin beste-

hen (heute noch taucht sie gelegentlich in den Sonntagsbeilagen einiger Tageszeitungen

auf). So findet man sie in dieser langlebigen und kaum veränderten Form in arabischen

Abhandlungen zur Ausbildung von Staatsbeamten, neben Anleitungen aus anderen

Gebieten der Elementarmathematik wie Arithmetik, Geometrie und Vermessung, Um-

rechnung von Gewichts- und Maßeinheiten. Weil die mathematischen Kenntnisse des

Lesers beschränkt waren, wird oft nur die Antwort oder bestenfalls ein unbegründeter

Rechentrick zur Ermittlung oder zum Erraten der Lösung mitgeteilt.

Dies ist beispielsweise in einer Abhandlung für ägyptische Steuerbeamte der Fall,

welche außer den genannten Teilgebieten der Mathematik auch Auskünfte zur Land-

wirtschaft und zur Steuerberechnung enthält. Unter den darin enthaltenen Unterhal-

tungsaufgaben befinden sich die beiden folgenden (s. Abb.1944):

"Aufgabe. Es wurde gesagt: Ein Mensch befahl seinem Diener, mit zwölf Dirham

aus seinem Vermögen Almosen an zwölf Personen zu geben, und zwar an die Männer

42 Solche Aufgaben, oder ihre Verallgemeinerungen, trifft man auch in Buch I der ArithmetikaDiophants, aber in nicht eingekleideter Form und mit einer algebraischen Auflösung.

43 Siehe die Geschichte der Algebra (Anm. 20), S.136-145.44 ms, arabe Uo/I der Bibliotheque Nationale zu Paris (abgeschrieben 1511), foI.44",6-14. Auf-

nahme von der Bibliotheque Nationale in zuvorkommender Weise zur Verfügung gestellt.

Arabische Mathernatik im 8.-10. Jh. 431

.~.~~V..:l~~~~1N'JiJ\:l\:..!).J~ ~~- _.,~~~~ 'p'~~J\.;-)\r?Jtpp~zyf.~~.._. ~~~Jt~J~~~~J'~'~lJ5A)J~:..J~J ~&~\..:.J ~e1.)ö~ _;'jP'.J~~~b~ ,:j~~~B.~~BI;JJ:~J~\;J~.J~l?~~~V-1J~ü'J~t:,,·'~~J$jt):1.. \ ~~\..lt.!~ß'_'~l:J ~~lJI"J~~Jb~~~~_,~t.:I.~~'-'l,}~.JL.;...._Jl~I,';"1ttL~~~~J'-'~~.. - ...... ..

Abb.19

je zwei Dirharn, an die Frauen je einen halben Dirharn, an die Kinder je ein Viertel

Dirharn.

Antwort. Es gab fünf Männer für zehn Dirham, eine Frau für einen halben Dirharn,

sechs Kinder für anderthalb Dirharn; insgesamt zwölf Personen für zwölf Dirharn.

Aufgabe. Es wurde gesagt: Ein Mensch hat seinem Geschäftsführer hundert Dinar

ausgehändigt, und sagte ihm: «Nimm mir hundert Stück Rindvieh: Stiere zu je zehn

Dinar, Kühe zu je fünf Dinar, Kälber zu je einem halben Dinar».

Antwort. Er nahm einen Stier für zehn Dinar, neun Kühe für fünfundvierzig,

neunzig Kälber für fünfundvierzig; insgesamt hundert Kopf für hunde;t Dinar".

Bezeichnet man in der ersten Aufgabe mit X., X2, X3 die A!lzahl der Männer, der

Frauen und der Kinder, so lautet das Gleichungssystem

Xl + Xl + X3 = 12 (Anzahl Personen)1 1

2XI + 2Xl + 4X3 = 12 (Anzahl der Dirharn).

Vervielfacht man die erste Gleichung mit 2 und setzt man die beiden Ausdrücke für

2XI einander gleich, so wird

432 Jacques Sesiano

also3 7-X2 + -X3 = 122 4

oder 6X2 + 7X3 = 48.

Diese Gleichung hat eine einzige Lösung,. nämlich X2 = 1, X3 = 6, womit Xl = 5; denn

nur ganze positive Lösungen sind zugelassen (die Lösung Xl = 4, X2 = 8, X3 = 0 wird,

wegen der Nullösung, ebenfalls verworfen).

Bezeichnen bei der zweiten Aufgabe Xl, X2, X3 die Anzahl Stiere, Kühe und Kälber,

so lautet das Gleichungssystem

Xl + X2 + X3 = 1001

IOXI + 5X2 + 2"X3 = 100

(Rindvieh)

(Dinar).

Vervielfacht man z. B. die 2. Gleichung mit 2, so wird,

X3 = 200 - 20XI - IOx2 = 100 - Xl - X2,

also 19xI + 9X2 = 100.

Wiederum gibt es nur eine annehmbare Lösung, nämlich Xl = 1, X2 = 9, also X3 = 90.

Diese beiden Beispiele haben wir nicht geradezu willkürlich gewählt, sondern

deshalb, weil sie dieselben wie Alkuins Aufgaben 47 bzw. 5 sind. Nur - wir sind ja in

einem islamischen Land - ist Alkuins Verteilung von Broten zwischen (christlichen)

Geistlichen zu einer Geldverteilung zwischen Leuten geworden, während der Aufgabe

de porcis eine Aufgabe über Rinder entspricht.

Gewiß könnte man einwenden, daß die einfache Form der Aufgaben und der Zah-

lenwerte eine gemeinsame Quelle in Frage stellt. Es gibt aber einerseits genug Be-

lege für das Weiterleben der hellenistischen Elementarmathematik in islamischer Zeit,

und besonders in Ägypten. Es ist andererseits ebensowenig daran zu zweifeln, daß die

Sammlung Alkuins - oder Teile davon - auf spätantike, und zwar wahrscheinlich

alexandrinische, Quellen zurückgeht. Sonst früge sich einer, wie man am Hof Karl des

Großen überhaupt dazu käme, bei zwei Aufgaben ein Kamel erscheinen zu lassen (Nr.

39 & 52).

Wie schon erwähnt, begnügte man sich in islamischer Zeit nicht damit, altertümli-

ch.e Unterhaltungsaufgaben zu wiederholen bzw. anzupassen. Wenn einerseits die Ma-

thematikkenntnis eines ägyptischen Staatsbeamten im Wandel der Zeiten nahezu un-

verändert blieb, so führte andererseits des Mathematikers Neugier zur Aufhebung des

Arabische Mathematik im 8.-10. Jh. 433

Schleiers, der das Antlitz des Lösungsweges solcher Aufgaben verhüllte. So ging es mit

dem - ebenfalls in Ägypten lebenden - Abü Kärnil, der den Aufgaben der allgemeinen

Form

eine eigene Abhandlung widmete'", Dabei ließ er die Anzahl der Unbekannten wachsen

und untersuchte das Herausfinden und Abzählen annehmbarer Lösungen (für n ~ 3

wird nämlich die Aufgabe unbestimmt und läßt keine oder eine endliche Anzahl posi-

tiver Lösungen zu).

, Abü Kämils kurze Abhandlung betrifft den Ankauf verschiedener Vogelarten zum

jeweiligen Preis ai und unter Kenntnis der Gesamtzahl k gekaufter Vögel sowie der

insgesamt ausgegebenen Summe {"6. Die kleine Zahl der vorgelegten Aufgaben (nur

sechs) reicht für Abü Kämils Zweck, und im Grunde genommen dienen die fünf ersten

hauptsächlich als Vorbereitung der sechsten Aufgabe, der Krönung des Werkes. Über

sie schreibt nämlich Abü Kämil in der Einleitung folgendes:

"Es gelangte sogar zu mir eine Aufgabe, die ich löste und für die ich sehrviele Lösungen fand; ich prüfte die Sache eingehender und kam auf zwei-tausendsechshundertsechsundsiebzig richtige Lösungen. Da war meine Be-wunderung hierüber groß, und ich machte die Erfahrung, daß ich, wenn ichvon dieser Entdeckung erzählte, angestaunt oder unfähig erachtet wurde,oder daß diejenigen, die mich kannten, einen falschen Verdacht gegen michfaßten. Da entschloß ich mich, über diese Rechnungsart ein Buch zu schrei-ben, um die Behandlung derselben zu erleichtern und (dem Verständnis)näher zu bringen".

Der Wortlaut der Aufgabe selber ist:

45 Von H. Suter übersetzt und erläutert, "Das Buch der Seltenheiten der Rechenkunst von AbüKämil el-Misri", in Biblioibeco mathematica, 3. F., 11 (1910/11), S.100-120 (nachgedruckt inSuter, Beiträge zur Geschichte der Mathematik und Astronomie im Islam [2 Bde.), FrankfurtM.1986).

46 Die Einkleidung derartiger Aufgaben als Ankauf verschiedener Vogelarten war in der islamischenMathematik üblich; deswegen erhielten sie den Beinamen "Vogelaufgaben" (masä'il al-tuyiir).Übrigens nennt al-Samaw'al in seinem Bähir (Anm.29), S.230, die Abhandlung Abü Kämils"Buch der Vögel" (kitäb al-!air), eine Benennung, die auch im Bücherverzeichnis des Ibn al-Nadim unter den Werken Abü Kärnils erscheint (Kiläb e/-Fihrist, hrsg. mit Anm. von G. Flügel[Leipzig 1871-72; 2 Bde.), I, S. 281). .

434 Jacques Sesiano

"Wenn jemandem hundert Dirharn gegeben werden und ihm gesagt wird:«Kaufe dafür hundert Vögel von fünf Arten, Enten, Tauben, Ringeltauben,Lerchen und Hühner, die Ente zu zwei Dirham, zwei Tauben für einen Dir-harn, drei Ringeltauben für einen Dirharn, vier Lerchen für einen Dirham,ein Huhn zu einem Dirharn» ".

In Gleichungsform übersetzt heißt das:

Xl + Xz + X3 + X .. + Xs

III2XI + 2"xz + aX3 + 4X4 + IS =

= 100

100.

Bemerkenswert sind zuerst die Bezeichnungen, die Abü Kämil für die verschie-

denen Unbekannten benutzt: Xl ist das übliche schai', Xl und X3 werden durch die

Münzennamen Dinar und Fals (dßo~6,) benannt, während X4 mit khätam (= Siegel)

bezeichnet wird'", Was die Auflösung selber anbelangt, so scheidet Xs , die Anzahl

Hühner, am Anfang aus: da

IIIXs = 100 - Xl - Xz - X3 - X4 = 100 - 2XI - 2"xz - aX3 - 4X4,

bleibt für die übrigen Unbekannten die Beziehung

123Xl = -Xl + -X3 + -X4234

übrig, mit der Nebenbedingung (damit Xs > 0)

3 5 7Xl + Xz + X3 + X4 = 2"Xl + aX3 + 4"x4 < 100.

Diese Xi müssen aber auch ganzzahlig und positiv sein. Damit nun Xl ganzzahlig wird,

muß erstens X3 durch 3 teilbar und zweitens entweder Xl gerade und I4 durch 4 teilbar

oder Xz ungerade und X4 durch 2, aber nicht durch 4, teilbar sein.

1. Sei Xz ungerade. Dann sind folgende Werte zulässig:

Xz = 1,3,5,...,59X3 = 3,6,9, ,51{,54)X" = 2,6,10, ,50.

47 Diese Bezeichnung von Unbekannten mit Münzennamen wurde derart üblich, daß der Ausdruck"Rechenkunde des Dirham und des Dinar" für die Auflösung von linearen Gleichungssystemenmit mehr Unbekannten als Gleichungen sich einbürgerte (vgl. z. B. das Lexicon des J.läjjI KhalIfa(Anm.l0), Ill, S. 63).

Arabische Mathematik im 8.-10. Jh. 435

Dabei ergeben sich die größtmöglichen Werte einer jeden Unbekannten aus der

Ungleichung ~X2 + ~X3 + ~X4 < 100 beim Einsetzen der kleinstmöglichen Werte

für die beiden anderen Unbekannten: '

1912,also X2 < 61 und X2 ungerade

95, also X3 < 57 und durch 3 teilbar

93~,also x .. < 53~,mit x .. gerade

aber nicht durch 4 teilbar.

Zur Abzählung der Lösungen in diesem ersten Falle nimmt Abü Kämil einen

festen Wert für X3 und läuft, für jedes zulässige X2, die möglichen Werte von x"durch. Dazu setzt er zuerst X3 = 3 an, wofür alle Xl von 1 bis 59 geeignet sind. Für

X2 = 1 sind alle obigen x .. möglich, für X2 = 3 ebenfalls, für X2 = 5 erstrecken sie

sich nur bis 46, usw., bis, für X2 = 57 und 59, nur noch x" = 2 positive Lösungen

ergibt. "Von hier an hört nun die Zahl3 der Ringeltauben (X3) auf; bis jetzt hat

man 212 Lösungen erhalten. Nun erhöhe man jene 3 der Ringeltauben auf 6".Abü Kämil führt die Aufzählung nicht vollständig durch, sondern beschreibt nur

einige Schritte. Als er bei X3 = 51 angekommen ist, bemerkt er, daß sich damit

die Anzahl möglicher Lösungen auf insgesamt 1443 beläuft. Seltsamerweise hat

er die beiden Lösungen für X3 = 54 (nämlich {Xi} = 38, 1,54,2,5 und 39, 3, 54,2, 2) übersehen.

2. Sei nun X2 gerade. Dann i'st:

X2 = 2,4,6, ,58X3 = 3,6,9, ,51

x" = 4,8, 12, ,52.

Von diesem Fall wird allein die erste Lösung angegeben (X2 = 2, mit X3 = 3 und

x" = 4, daher Xl = 6 und Xs = 85); es wird nur bemerkt, man solle "ganz gleich

wie beim ersten Falle" vorgehen. Mit den so erhaltenen Lösungen wird sich die

Gesamtzahl aller möglichen positiven Lösungen auf 2678 (2676 nach Abü Kämil)

belaufen.

436 Jacques Sesiano

4 9 2

3 5 7

8 1 6

4 3 B

9 5 1

2 7 6

4 14 15 1

9 7 6 125 11 10 B

16 2 3 13

8 11 14 1

13 2 7 123 16 9 610 5 4 15

Abb.20-23

VII. Die magischen Quadrate

Eine völlig neue Leistung der islamischen Mathematik ist die Untersuchung der magi-

schen Quadrate, die zur Verfertigung allgemeiner Bildungsverfahren für Quadrate jeder

vorgegebenen Ordnung führte.

Ein magisches Quadrat ist die Anordnung von n2 verschiedenen Zahlen - im

allgemeinen die n2 ersten natürlichen Zahlen - in ein Quadrat zu n2 Feldern der-

artigerweise, daß die Summe in jeder Zeile, in jeder Spalte, und in jeder der beiden

Hauptdiagonalen dieselbe ist. Für allgemeingültige Herstellungsverfahren muß man, je

nach der Ordnung n, drei Gattungen unterscheiden:

• Quadrate ungerader Ordnung: n = 2k + 1, mit k natürlicher Zahl. Das kleinst-

mögliche Quadrat dieser Gattung (und kleinstmögliche überhaupt, da ein magi-

sches Quadrat der Ordnung 2 nicht möglich ist), ist das Quadrat der Ordnung 3,

von welchem es, von Drehungen und Umklappungen abgesehen, nur eine mögliche

Anordnung gibt (Abb.20-21) .

• Quadrate gerad-gerader Ordnung: n = 4k. Das kleinste ist das Quadrat

4. Ordnung, für dessen Herstellung zahlreiche Möglichkeiten bestehen. Die

geläufigsten sind in Abb.22 & 23 dargestellt.

Arabische Mathematik im 8.-10. Jh. 437

• Quadrate gerad-ungerader Ordnung: n = 2(2k + 1). Das kleiastmögliche hat die

Ordnung 6.

Außer den Quadraten mit der gewöhnlichen, oben erwähnten magischen Eigen-

schaft, bildete man in islamischer Zeit auch Quadrate mit zusätzlichen magischen Ei-

genschaften, nämlich:

• Quadrate mit Berandungen: Wird jede Berandung eine nach der anderen wegge-

nommen, so weisen die jeweils übrigbleibenden Quadrate ebenfalls die magische

Eigenschaft auf, bis das kleinstmögliche Quadrat der betreffenden Ordnung er-

reicht wird.

• Quadrate mit Trennung: Die geraden Zahlen sind von den ungeraden getrennt,

und zwar liegen alle ungeraden Zahlen in einem schräg gestellten Quadrat, dessen

Ecken auf den Mittelpunkten des äußeren Rahmens liegen, während alle geraden

Zahlen die außerhalb liegenden Ecken ausfüllen. Eine solche Anordnung ist nur

für Quadrate ungerader Ordnung möglich.

• Quadrate mit Abteilen: Ist die Ordnung eme zusammengesetzte Zahl, etwa

n = r . s, so kann das Quadrat in r' Quadrate der Ordnung s zerfallen; nimmt

man dann jedes der r' Quadrate nacheinander - und zwar gemäß der Reihen-

folge, derer man sich zur Ausfüllung eines Quadrates r-ter Ordnung bedienen

würde - und füllt man diese Quadrate mittels eines für Quadrate der Ordnung

s gültigen Herstellungsverfahrens aus, so ist das Ergebnis sowohl als ganzes wie

in den Abteilen magisch.

• Pandiagonale Quadrate. Zusätzlich zu den Hauptdiagonalen (und den Reihen)

ergeben entsprechende Teildiagonalen die konstante Summe48• Dies ist nur für

ungerade und gerad-gerade Ordnungen möglich.

Sollen nun in ein Quadrat der Ordnung n die n2 ersten Zahlen eingesetzt werden,

50 ist die Summe aller dieser Zahlen

n'(n'+I)1+ 2 + 3+ ... + n

2 = 2 '

48 Entsprechende Teildiagonalen sind beiderseits einer Hauptdiagonale gleichlaufende Diagonalen.die zusammen n Felder enthalten.

438 Jacques Sesiano

mithin ist die Summe in jeder Reihe

n(n2+1)2

("magische Konstante").

Ist ein Quadrat mit Berandungen herzustellen, so muß, bei Wegnahme jeder Be-

randung, die magische Konstante sowohl in den Zeilen als in den Spalten und den

Hauptdiagonalen jeweils um eine und dieselbe Zahl vermindert werden. Dies erreicht

man im Laufe der Ansetzung am einfachsten dadurch, daß als Summe zweier gegenüber-

liegender Zahlen der i-te Teil der magischen Konstante, also n2 + 1, angesetzt wird49•

Es wird also genügen, jeweils die Hälfte der äußeren Felder einer Berandung in passen-

der Weise zu füllen und danach ihre Ergänzungen zu n2 + 1 in die gegenüberliegenden

Felder einzuschreiben. Dabei ist zu beachten, daß gegenüberliegende Eckfelder nicht

waagerecht oder lotrecht, wie bei den Zeilen bzw. Spalten, sondern diagonal zueinan-

der liegen.

Die ersten Anstöße zur Bildung magischer Quadrate erfolgten im 9. Jahrhundert,

wahrscheinlich zuerst in Persien zur Zeit der Einführung des Schachspiels. Zuerst wur-

den Verfahren zur Herstellung gewöhnlicher Quadrate und Quadrate mit Berandungen

entwickelt. In dem 11. und 12. Jahrhundert erreichte die Wissenschaft der magischen

Quadrate ihre Blüte; in späterer Zeit sind dann zumeist nur noch Übermittlungen

von fertigen Quadraten und nicht immer verstandenen älteren Bildungsverfahren zu

verzeichnen.

Aus dem 10. Jahrhundert sind uns zwei Abhandlungen überliefert worden: die eine

von Abü'l-Wafä' al-Buzjäni (940-997/8), der gelegentlich auf (unbenannte) Vorgänger

hinweist, die andere von al-Antäki (gest. 987), die eigentlich einen Abschnitt seines

Kommentars zur zahlentheoretischen Abhandlung des Griechen Nikomachos bildet -

obwohl bei Nikomachos, wie bei den anderen Griechen, keine magischen Quadrate

vorkornmen'". Wir führen hiernach zwei Beispiele aus diesen beiden Abhandlungen an.

49 Also muß bei ungeraden Quadraten die Zahl ~ das 'mittlere Feld des Quadrates besetzen.

50 Die erste dieser Abhandlungen ist in dem ms. AlIaso!lIa ~8~3, fol. 23·-56· erhalten; den (un-vollständigen) Kommentar zu Nikomachos findet man in dem ms. Sai6 5311, fol.l·-36r (fürHinweise über den Inhalt der letzteren sind wir O. Naises zu Dank verpflichtet). Beide Hand-schriften sind auch in F. Sezgin, Geschichte des arahischen Schrifttums, Bd. V bzw. (Nachträgedazu) Bd. VII (Leiden 1974, 1979) verzeichnet.

Arabische Mathematik im 8.-10. Jh. 439

10 16 lit 12 75 76 78 80 815 21t28 26 61 62 6\ 22 6713 27 31t36 51 52 32 55 6911 25 35 Ito "5 38 47 57 719 23 n 39 Iu "3 49 59 n77 63 53 "" 37 42 29 19 579 65 50 46 31 30 1t817 381 60 51t56 21 20 18 58 17\ 66 68 70 7 6 It 2 72

Abb.24

A. Bildung von Quadraten ungerader Ordnung mit Berandungen nach Abü'I·Wafä.'

Die ersten Zahlen trage man (Abb.24) von einem Winkel aus {nicht inbegriffen}

wechselweise in die erste Spalte'" und in die letzte Zeile ein, bis man an die

mittleren Felder gelangt; ins zuletzt erreichte mittlere Feld werde die nächste

Zahl eingesetzt. Dann gehe man zur anderen Hälfte der Berandung über, indem

man die drei nächsten Zahlen nacheinander ins obere rechte Eckfeld, ins mittlere

linke Feld, und ins obere linke Eckfeld schreibe. Dann trage man, vom mittleren

linken Feld bzw. vom mittleren oberen Feld aus, die weiteren Zahlen wechselweise

ein. Hat man das Eckfeld erreicht, so hat man die Hälfte der Felder gefüllt, und

zur vollständigen Ausfüllung der Berandung bleibt nur noch die Eintragung der

jeweiligen Ergänzungen übrig.

Da die nächsten Berandungen ebenfalls ungerader Ordnung sind, füllt man sie mit

den nächsten Zahlen nach derselben Vorschrift, bis man das Quadrat 3. Ordnung

erreicht. Man füllt es dann mit den übrigbleibenden Zahlen auf die bekannte

Weise aus.

B. Besondere Quadrate al-Antäkis

.Das eben gesehene Verfahren wird ebenfalls von al-Antäk! gelehrt, der d~zu die

Aufstellung von Quadraten mit Abteilen erklärt. Quadrate mit der einfachen tren-

nenden Eigenschaft werden bei ihm zwar nicht erläutert; da er aber die Herstel-

lung einer verwickelteren Gattung solcher Quadrate beschreibt, ist es angebracht,

51 Der arabischen Schriftrichtung gemäß ist es die rechte.

440 Jacques Sesiano

'2 ,8 .... Vi'~ .. 20 26.\0 ..6 /, , IS' 28 "..8 V5 11 17 2' 2~ "2V7 l' l' 25 '1 '7 "b

it-~1 27 " " "'i/216 22'-.(5 "1 ..~ V .. 10

2" '0 ,6"r{!/V6 12 18

Abb.25-26

zuvor die Herstellung der Quadrate mit der gewöhnlichen trennenden Eigenschaft

zu erklären. Man findet solche Quadrate in zahlreichen arabischen Handschriften

und es ist nicht zu bezweifeln, daß ihre Bildung schon im 10. Jahrhundert bekannt

war.52

Innerhalb des leeren Quadrates der betrachteten (ungeraden) Ordnung zeichne

man ein schräges Quadrat, dessen Ecken sich mitten in den vier mittleren Feldern

der äußeren Berandung befinden. In diesem inneren Quadrate zeichne man die

gleichlaufenden Geraden, welche durch die Knotenpunkte der Felder des größeren

Quadrates laufen. Das so gebildete innere Quadrat hat dann die Ordnung n - 1.

Auf seine Knotenpunkte schreibe man die natürlichen Zahlen in ihrer Reihenfolge

von 1 bis n2• Diejenigen, die ein Feld des größeren Quadrats besetzen, solleri diese

Stelle beibehalten. Die anderen verschiebe man die gleichlaufenden Geraden ent-

lang in Richtung der gegenüberliegenden Ecke des größeren Quadrates; auf diese

Weise gelangen die Zahlen 2, 4, 6; 10, 12; 18 in Abb. 25 in die untere rechte Ecke,

und ähnliches geschieht auch mit den drei anderen Zahlengruppen (Abb.26). Da

alle verschobenen Zahlen gerade sind, werden sie auf diese Weise in die Ecken

des größeren Quadrates verlegt. Daß dies ein magisches Quadrat ergibt, läßt sich

52 Das hier dargelegte Herstellungsverfahren wird von al-Kharaql, um 1120, beschrieben (ms.Ayasofya 4843, fol.21r -22').

Arabische Mathematik im 8.-10. Jh. 441

leicht aus Eigenschaften des natürlichen Quadrates, das heißt des Quadrates mit

der natürlichen Anordnung der Zahlen, erklären53•

:56 16 108 110 1~ v.ri- ",8 116 118 2 ''''50 "'8 2'" lDJ ~07 97 7' N_02 18 "'6 72

52 56 6~ I{o, 91 89 23 3"N_8 66 70

96 5~ ~7 '7 51 81 83 ':5 105-~8 26

9~ ~3 29 "'9 59 57 67 7:5 9:5 10~ ~8~l 27 35 '5 69 61 53 77 87 95 l1Y"9i''{17 lOt 85 55 65 63 37 21 5/ /,0

:52 80' '{21 79 71 h 39 75 1/K2 90

:58 78 6" ~9 '1 " 99 11)-VG2 "" 8"

82 76 98 2;:-~5 25 1~ /'20 104 74 Ito

88 106 1" 12 11)-,,9/:Ill" 6 , 120 86

Abb.27

Dieses Verfahren läßt sich auch mechanisch an Quadraten jeder ungeraden Ord-

nung ausführen. So einfach geht es aber bei al-Antäkts Beispielen nicht, und er

muß seine Quadrate für die Ordnungen n = 5, 1,9, 11 einzeln aufbauen. Dies

kommt von dem Umstand her, daß seine Quadrate, zusätzlich zur trennenden

Eigenschaft, diejenige der Quadrate mit Berandungen aufweisen. Von dieser in

früher Zeit entstandenen Anordnung, die zugleich eine der bemerkenswertesten

Errungenschaften der islamischen Untersuchungen über magische Quadrate dar-

stellt, wird hiernach das Ergebnis für n = 11 angezeigt (Abb.21).

53 Füllt man ein Quadrat zu n' Feldern (n ungerade) mit der Reihenfolge der natürlichen Zahlen,80 ergeben die mittleren Reihen sowie die Paare von Teildiagonalen die magische Konstante;es sind nun gerade diese Zahlenreihen, welche die Hauptdiagonalen und Reihen des gebildetenmagischen Quadrates ausfüllen. Die Eigenschaften dieses natürlichen Quadrates erwähnt Ibn &1-Haytham (965-1041) - sie waren aber früher bekannt - bei seiner Aufstellung von magischenQuadraten (vgl. J. Sesiano, "Herstellungsverfahren magischer Quadrate aus islamischer Zeit[I])" I in SudhoJJ& Archiv, 64 [1980]. S.187-196).

442 Jacques Sesiano

Bedauerlicherweise blieben diese wie die sonstigen islamischen Untersuchungen

über magische Quadrate im Abendland völlig unbekannt. Nur zwei Reihen von Bei-

spielen für Quadrate 3. bis 9. Ordnung erreichten Westeuropa im ausgehenden Mittelal-

ter; jedes von ihnen war einem der sieben Wandelsterne (Mond und Sonne inbegriffen)

zugeordnet'". Sie wurden durch magische (daher der Name) oder astrologische Schrif-

ten überliefert, welche keine Erklärung über ihre jeweilige Bildungsweise enthielten.

Aus diesen einzelnen Beispielen erhielt ?ie Untersuchung der magischen Quadrate im

Abendland ihren ersten Anstoß.

54 Siehe M. Folkerts, "Zur Frühgeschichte der magischen Quadrate in Westeuropa" , in SudhoffsArchiv, 65 (1981), S. 313-338. Diese Quadrate, sowie die Beschreibung ihrer Bildung, sind inarabischen Schriften nachweisbar.