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Roger Graf Die Frau am Fenster Roman Pendragon

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Roger Graf

Die Frau am Fenster

Roman

Pendragon

Handlung und Personen sind frei erfunden. Der Roman spielt in Zürich und Umgebung. Der

Autor hat sich die Freiheit genommen, Orte, Plätze und Straßen teilweise umzubenennen, zu

verändern oder frei zu erfinden. Die im Buch geschilderten polizeilichen Ermittlungen sollten

nicht mit der realen Polizeiarbeit verwechselt oder verglichen werden.

für Ruth

Der Autor im Internet:

www.rogergraf.ch

1

Die Vögel trillerten den Tag ein, und selbst die alte Buche am Wegrand schien ein wenig zu

strahlen, als er lockeren Schrittes an ihr vorbeiging. Bei der Parkbank blieb er wie immer

stehen und machte ein paar Dehnübungen. Nichts deutete darauf hin, daß er an diesem Morgen

dem Tod begegnen würde. Hätte man ihn gefragt, er hätte sich in diesem Augenblick für

unsterblich gehalten. Erfolgreich im Beruf, verheiratet, Vater einer fünfjährigen Tochter, keine

vierzig und schon ein Eigenheim im Grünen. Den Kopf voller Pläne und der Körper athletisch

und gesund. Mir geht es gut, dachte er. Einen Satz, den er in Gedanken oft wiederholte, weil er

gelesen hatte, daß erfolgreiche Menschen ständig solche Sätze im Kopf haben. Ich schaffe es.

Ich bin der Größte. Mir geht es gut. Er hob seinen Kopf und hielt ihn der Sonne entgegen. Noch

war die Strahlung schwach, doch es tat gut, die echte Sonne zu spüren, nachdem er wochenlang

hatte mit der Höhensonne vorlieb nehmen müssen. Trübe, kühle und regnerische Wochen. Ein

Frühling, der noch im Winterkleid steckte. Nächsten Winter fliegen wir zwei Wochen in die

Karibik, dachte er. Das half sicherlich auch gegen die Gemütsschwankungen seiner Frau, die

einen unzufriedenen Eindruck machte und manchmal überfordert schien, wenn die Tochter sich

stur stellte. Er schaute auf seine Armbanduhr und drückte den Knopf, der die Stopuhrfunktion

startete. Er wollte es langsam angehen an diesem Morgen, das Tempo kontinuierlich steigern

und schließlich mit einem Schlusspurt seine bisherige Bestzeit unterbieten. Ich schaffe es,

dachte er und begann loszulaufen.

Die Turmuhr schlug sieben Mal, als Frau Bannwart ihren Nachbarn zum letzten Mal lebend

sah. Wie immer winkte er ihr zu, und wie immer bellte Frau Bannwarts Hund zwei Mal laut,

bevor sie ihn durch ein ruckartiges Ziehen an der Leine zum Verstummen brachte. Ein

herrlicher Tag, dachte sie und ging in Gedanken die Besorgungen durch, die sie für das

Abendessen benötigte. Vier Gänge wollte sie kochen und damit ihrem Mann den Abend mit

ihren Eltern schmackhaft machen. »Ausgerechnet heute«, hatte er ihr beim Frühstück

vorwurfsvoll gesagt, und ihr dazu den Sportteil der Tageszeitung unter die Nase gehalten. »Soll

ich mein ganzes Leben nach dem Sportteil der Zeitung ausrichten«, hatte sie ihm entgegnet,

worauf er nur mit einem Grunzlaut antwortete. Ihr Hund zog an der Leine und beschnupperte

die Gräser. Ein Glück, daß sich Hunde nicht für Fußballspiele interessierten. Sie hielt eine

Hand an die Stirn, weil die Sonne sie blendete. Einen Moment dachte sie, eine Gestalt zu sehen,

die sich am Waldrand hinter einem Baum zu verstecken schien. Als sie aber beim zweiten

Hinsehen nichts erkennen konnte, wandte sie sich ab, denn ihr Hund schien an diesem

herrlichen Tag eine andere Route zu bevorzugen. Sie sah, wie ihr Nachbar zum Aussichtspunkt

hoch rannte, und sie dankte in Gedanken dem Herrgott für den herrlichen Tag.

Schon nach wenigen Hundert Metern spürte er den Stich im Oberschenkel. Er fluchte und

verlangsamte sein Tempo zu einem leichten Traben. Der Schmerz ging weg, doch sobald er

beschleunigte, stach es in der Muskulatur. Mist, dachte er, hoffentlich keine Zerrung. Er blieb

stehen und massierte den Muskel. Ausgerechnet an einem solch schönen Morgen. Wochenlang

war er bei bitterer Kälte oder durch Nieselregen gerannt, ohne daß dies seinen Muskeln etwas

anhaben konnte. Und jetzt, als endlich wieder die Sonne schien, kam der Schmerz. Er haßte

Schmerzen. Er haßte es, nicht vollständig fit zu sein. Beim kleinsten Anflug von

Kopfschmerzen schluckte er drei Schmerztabletten, zuviel, wie ihm seine Frau vorhielt, aber

der Schmerz ging rasch weg. Am liebsten wäre er umgekehrt und hätte sich zu Hause mit einer

Salbe den Muskel eingerieben, doch etwas hielt ihn zurück. War es sein Ehrgeiz, war es die

Sonne oder war es sein Schicksal, das ihn am Waldrand erwartete? Es gab keinen Grund, mit

schmerzendem Muskel weiter zu rennen, und trotzdem tat er es. Er schaute sich um und sah

Frau Bannwart, die mit ihrem Hund auf dem schmalen Feldweg ging, den er nicht mochte, weil

er mit kleineren und größeren Steinen gespickt war. Er ging zum Startpunkt zurück und stellte

seine Stopuhr neu ein. Verhalten rannte er los. Als er den am Wegrand geparkten Wohnwagen

passierte, schmerzte der Muskel nicht mehr. Na also, dachte er. Alles entscheidet sich im Kopf.

Jetzt lief er in jenem gleichmäßigen Trab, der alle Gedanken verdrängte. Die Landschaft zog

wie eine Diaschau an ihm vorbei, und die Geräusche entfernten sich, bis er nur noch seinen

Atem und seinen Herzschlag zu hören schien. Ja, seinen Herzschlag, auch wenn das nur

Einbildung war. Er lief wie eine perfekt geölte Maschine, gleichmäßig und fast von selbst.

Ganz auf sich selbst konzentriert rannte er die Stufen hinauf, die in die Feuerstelle und den

Aussichtspunkt mündeten, den Spaziergänger sonntags bevölkerten, weil er einen schönen

Rundblick bot. Steil ging es bergan, kurz nur, aber nahrhaft. Seine Muskeln übersäuerten, sein

Atem wurde kürzer. Als er die Parkbank sah, wußte er, daß er es geschafft hatte. Der

schwierigste Teil lag hinter ihm, jetzt konnte er sich auf die Schlussphase konzentrieren. Er

wagte einen Blick auf die Uhr und sah, daß er gut unterwegs war. Ich schaffe es, dachte er.

Nichts konnte ihn aufhalten. Dachte er. Als er die ersten Bäume des Waldes passierte, fröstelte

ihn ein wenig. Die Bewegung nahm er zuerst ganz instinktiv war. Ein Tier, dachte er, doch

dann sah er die Gestalt, die sich ihm in den Weg stellte. Er lächelte unsicher und versuchte

auszuweichen, ein Grußwort auf den Lippen. Da traf ihn auch schon der erste Schlag.

2

Damian Stauffer schlürfte eine Tasse Kaffee und schaute zufrieden aus dem kleinen Büro. Nach

mehreren Wochen aufreibender Diskussionen, Eingaben und unzähligen Sitzungen hatte er

erreicht, was ihm schon seit Jahren vorschwebte, was aber wegen bürokratischer Hindernisse

lange unmöglich schien. Er war der Chef der neuen Ermittlungsgruppe Kapitalverbrechen, die

bei Tötungsdelikten zum Einsatz kam. Er war direkt der Staatsanwaltschaft unterstellt, und er

konnte sich seine Truppe selber zusammenstellen. Bei dem Gedanken musste er schmunzeln.

Freiwillig hatte er zwei Kollegen in die Gruppe geholt, die als schwierig galten, kaum

teamfähig und deshalb im Kriminalkommissariat nicht sehr beliebt waren. Urs Holzer, 55 Jahre

alt, ein knorriger Geselle, meist schlecht gelaunt und mit schlechten Manieren, was vor allem

einige junge Polizistinnen bemängelten, die Holzer unverhohlen einen Sexisten nannten.

Stauffer hatte einige Male mit Holzer zusammengearbeitet und diesen als zwar schwierigen,

aber guten Polizisten kennengelernt, der wenig sagte, aber oft die richtigen Fragen stellte.

Holzer war in den Innendienst versetzt worden, was den persönlichen Umgang nicht

erleichterte. Zuletzt hatte es sogar Stimmen gegeben, die ihm eine vorzeitige Pensionierung

nahelegten, was Holzer aber kategorisch ablehnte. Stauffer wusste, warum. Holzer gehörte zu

den Menschen, für die Arbeit alles war, was im Leben zählte. Je mehr man ihn forderte, um so

besser wurde er. Doch weil man ihn zuletzt kaum noch forderte, galt er als schlechter Polizist.

Ganz ähnlich und doch völlig verschieden waren die Gründe, weshalb Lukas Bolliger im

Polizeikorps unbeliebt war. Ein junger Draufgänger, der oft schneller handelte als dachte und

der deshalb schon einige Disziplinarverfahren am Hals hatte. Stauffer hatte bislang erst einmal

mit Bolliger zusammengearbeitet. Dabei war er ihm als übereifriger Polizist aufgefallen, der

ständig unter Druck zu stehen schien. Ein Mann, der nicht stillsitzen konnte. Stauffer wußte,

worauf er sich einließ. Holzer und Bolliger waren beide Außenseiter, was aber noch schwerer

wog war die Tatsache, daß sie sich gegenseitig nicht ausstehen konnten. Als er ihnen eröffnete,

daß er sie beide in seiner Truppe haben wollte, hatten sie ihn angestarrt und einige Sekunden

kein Wort herausgebracht. »Von jetzt an seid ihr Kollegen«, hatte Stauffer ihnen gesagt.

»Freunde müsst ihr nicht werden, aber zusammenarbeiten müsst ihr.« Er wußte nicht, ob die

Zusammenarbeit funktionieren würde. Die Praxis wird es weisen, dachte er und öffnete die

Schubladen seines Schreibtisches. Bis auf die oberste waren alle leer. Es ist wie ein Neuanfang,

dachte er. Die kleinsten Büros auf der Hauptwache und die beiden schwierigsten Charaktere

des gesamten Polizeikorps unter seinen Fittichen. Wie einfach es doch manchmal war,

Skeptiker zu überzeugen.

Stauffer stand auf und ging zur Ablage. Ein Dutzend Ordner stand nebeneinander, jeder mit

einer Nummer und einer Jahreszahl versehen. Ungelöste Tötungsdelikte. Zwei davon hatten

sich vor bald 16 Jahren ereignet. Vier Jahre noch bis zur Verjährung. Vier Jahre, und die Täter

kamen ungeschoren davon. Es gab nicht viele Staaten, in denen Tötungsdelikte verjährten. Die

Schweiz gehörte dazu. Es war eines jener Gesetze, die Damian Stauffer sofort geändert hätte.

Doch er war kein Politiker, und er wollte auch nie einer werden. Er strich mit der Hand über die

Ordner. Zu jedem gehörten noch mindestens zwanzig weitere, gelagert irgendwo im Keller. Er

wußte, daß man ihn und seine Leute auch daran messen würde, ob ihnen die Aufklärung

zumindest eines ungelösten Tötungsdeliktes gelingen würde. In diesem Jahr noch, so rasch wie

möglich. Dies konnte einige der Privilegien rechtfertigen, die seine Leute genossen. Wenig

Bürokram, keine eigentlichen Dienstpläne und finanzielle Mittel, die zwar nicht üppig waren,

aber ausreichend, um Kollegen neidisch zu machen. Doch was hieß das schon? Neid hatte ihn

stets auf seinem Weg begleitet. Wo kein Neid ist, ist kein Erfolg. Und erfolgreich war er, das

bestritt niemand.

Er ging zum Fenster und schaute in den Hof. Die Sonne beleuchtete die Wagen, und eine

Polizistin schaute zu ihm hoch und winkte ihm zu. Tanja Locher, die ab sofort seine engste

Mitarbeiterin war. Zusammen mit Walter Wenger und ihm bildeten sie den inneren Kern der

Gruppe. Beide kannte er gut, und auf beide konnte er sich verlassen. Dazu kamen Anna Herold,

eine junge ehrgeizige Polizistin, und Manuele Fontini, ein Computerspezialist und

technikverrückter Tüftler, der als einziger auf der Hauptwache in der Lage war, einen

abgestürzten Computer wieder zum Laufen zu bringen und in verständlichen Worten zu

erklären, was für ein Problem den Absturz verursacht hatte. Stauffer schaute auf die Uhr. Es

war kurz nach acht. Er wunderte sich, daß Tanja Locher noch nicht an die Tür geklopft hatte. Er

vermutete, daß sie noch in ihr altes Büro gegangen war, vielleicht auch in die Kantine. Wenger

würde in einer halben Stunde kommen. Die Arbeit konnte beginnen.

Stauffer hatte sich schon zurechtgelegt, mit welchem Ordner sie beginnen würden, aber er

wollte zuerst hören, was Locher und Wenger dazu sagten. Stauffer hatte sich ganz bewusst den

Samstag ausgesucht als ersten offiziellen Arbeitstag seiner Gruppe Kapitalverbrechen. Der

Samstag war in der Regel ein ruhiger Tag auf der Hauptwache, und der Samstag war ein

Symbol dafür, daß seine Gruppe neben Privilegien auch Pflichten hatte. Zu diesen Pflichten

gehörte es, auch am Wochenende und nachts zu arbeiten, wenn es sein musste. Es ging Stauffer

darum, seinen Mitarbeitern zu zeigen, daß die Ordner mit den ungeklärten Tötungsdelikten

genauso wichtig waren wie ein Mord, der sich am Vortag ereignete. Als Tanja Locher

anklopfte, räusperte sich Stauffer, bevor er sie hereinbat.

»Morgen Chef«, sagte sie lächelnd und schaute sich im Büro um.

»Enttäuscht?«, fragte Stauffer und zeigte auf die beiden Schreibtische.

»Nicht gerade luxuriös. Und wo arbeitet Walter?«

Stauffer zeigte auf die Verbindungstür.

»Noch zwei Büros, beide kleiner als dieses.«

»Wir sind also in den Abstellkammern der Hauptwache gelandet?«, fragte sie und setzte

sich in den Drehstuhl.

»Verbrechen werden nicht im Büro aufgeklärt«, sagte Stauffer. »Aber das weißt du ja.«

Sie nickte und schaute aus dem Fenster.

»Immerhin«, sagte sie mit dem Blick nach draußen auf den Himmel.

»Gute Fernsicht kann die Gedanken beflügeln«, sagte Stauffer lächelnd.

»Und was ist mit den Computern?«

»Kommen am Montag. Ich hoffe, du hältst es solange ohne Kartenspiel aus.«

Stauffer wußte, daß Tanja Locher leidenschaftlich gerne Patiencen legte und dies

wahrscheinlich der einzige Grund war, weshalb sie ihren Computer vermisste.

»Wie lange wird es dauern, bis wir uns in einen der Fälle eingelesen haben?«, fragte sie und

zeigte auf die Ordner.

»Lange«, sagte Stauffer. »Aber es lohnt sich.«

»Als das geschah, war ich eine junge Polizistin.«

»Ich weiß«, sagte Stauffer.

»Und jetzt bin ich eine nicht mehr ganz so junge Polizistin.«

»Das Leben spielt uns übel mit«, sagte Stauffer ironisch. »Der Tod aber löscht alles aus.«

Der Satz kam ernster über seine Lippen, als er es gewollt hatte.

»Was ist mit Walter? Hat er verschlafen?«

»Er muss seinen Alltag anders planen als wir. Daran müssen wir uns gewöhnen.«

Walter Wenger war mit fünfzig noch einmal Vater geworden, seine Tochter war jetzt drei

Jahre alt. Stauffer hatte es ihm freigestellt, deswegen auf sein Aufgebot für die Gruppe

Kapitalverbrechen zu verzichten. Doch Wenger sagte sofort zu. Er war selber im Gespräch

gewesen, als es darum ging, Stauffers Posten zu besetzen. Kein anderer hatte so viel Erfahrung

mit Tötungsdelikten wie Walter Wenger. Wenger hatte viele der ungelösten Fälle bearbeitet

und er war mit dem Chef des wissenschaftlich-technischen Dienstes befreundet. Stauffer ging

davon aus, daß viele der ungeklärten Fälle nur mit Hilfe modernster Technik und der besten

Leute zu klären waren.

»Könntest du dir vorstellen, mit fünfzig noch einmal Vater zu werden?«, fragte Locher und

schaute Stauffer auffordernd an.

»Muss ich mir das vorstellen?«, fragte Stauffer. Tanja Locher hatte eine Tochter, die bereits

erwachsen war, Stauffer hatte keine Kinder.

»Das Mädchen, das vor 16 Jahren getötet wurde, hätte meine Tochter sein können«, sagte

Locher und betrachtete ihre Fingernägel.

»Niemand weiß, ob sie tatsächlich getötet worden ist.«

»Niemand zweifelt daran, daß es so war.«

Stauffer nickte.

»An uns ist es, Beweise zu finden. Eine Leiche und einen Täter.«

»Wenn eine Leiche nicht gefunden wird, dann sagt das schon etwas über die Tat aus«, sagte

Locher.

Ohne es auszusprechen, hatte sie damit bereits einen Hinweis gegeben, welchen der beiden

alten Mordfälle sie zuerst angehen würde.

»Es ist der schwierigere Fall«, sagte Stauffer.

»Soll uns das hindern?«, fragte Locher herausfordernd.

»Nein. Es sollte aber auch nicht das wichtigste Kriterium sein.«

»Ist es auch nicht.«

»Gut. Laß uns nachher darüber reden, wenn Walter da ist.«

Er schaute auf die Uhr. Stauffer hatte mit Wenger vereinbart, daß er ihn umgehend anrufen

sollte, wenn er wegen des Kindes nicht weg konnte. Tanja trommelte auf dem Schreibtisch den

immer gleichen Rhythmus. Stauffer fiel der zappelige Lukas Bolliger ein. Ich muss für die

beiden Baldriantabletten kaufen, dachte er. Als Stauffers Handy klingelte, schaute er zuerst auf

die angezeigte Nummer. Es war nicht Wenger. Stauffer meldete sich kurz angebunden.

»Worum geht es?«

»Im Eschenwald wurde eine Leiche gefunden. Ein Mann, wahrscheinlich erschlagen.«

»Wer ist vor Ort?«, fragte Stauffer und kramte einen Notizzettel aus der obersten

Schreibtischschublade. Locher reichte ihm einen Filzschreiber.

»Frick.«

Stauffer kannte Frick nicht besonders gut, und es dauerte einen Moment, bis ihm dessen

Vorname einfiel. Stauffer fragte nach dem genauen Leichenfundort und notierte sich die

Angaben.

»Und?«, fragte Locher, nachdem Stauffer das Gespräch beendet hatte.

»Vergiss das Mädchen. Wenigstens vorläufig.«

Sie begriff sofort und stand auf.

»Soll ich Wenger anrufen?«, fragte sie, als sie bereits an der Tür waren.

»Ja, vom Wagen aus. Er soll auch gleich zum Eschenwald kommen.«

»Es geht also los«, sagte Locher, beinahe beschwingt.

»Sieht so aus«, sagte Stauffer ernst.

3

Tanja Locher blätterte auf dem Beifahrersitz im kleinen Gemeindeatlas des Kantons Zürichs,

während Stauffer zügig, aber nicht zu schnell über die Landstraße fuhr. Nur wenige Fahrzeuge

kamen ihnen entgegen, einige fuhren mit offenem Verdeck, es war der erste Tag in diesem Jahr,

an dem es sich wirklich lohnte, das Cabrio aus der Garage zu steuern. Stauffer stellte die

Klimaanlage so ein, daß sie kühlte und nicht mehr heizte. Neben ländlich wirkenden

Abschnitten fuhren sie auch durch Industriezonen. Stauffer staunte über die vielen neuen

Reihenhaussiedlungen, die an den Rändern der Dörfer wie Wucherungen entstanden. Locher

setzte zu einer Wegbeschreibung an, hielt aber inne, als das Grollen eines Jets ohrenbetäubend

laut wurde. Stauffer sah im Rückspiegel die Maschine, die wie ein großer träger Vogel aussah.

Er kannte sich in der Gegend um den Flughafen nicht sehr gut aus. In Rümlang bog er bei

einem Kreisel versehentlich in eine Straße ein, die ihn ins Zentrum brachte, als er wieder daraus

hinausgefunden hatte, suchte er nach einem Hinweisschild.

»Da vorne nach rechts abbiegen, Richtung Oberglatt«, sagte Locher und zeigte auf die

nächste Abzweigung.

Stauffer nickte und stellte wenig später befriedigt fest, daß am Straßenrand tatsächlich ein

Pfeil in Richtung Oberglatt wies. Einmal in den Wohnquartieren angekommen, fuhr er betont

langsam durch die engen Straßen. Er wußte, daß Tanja Locher in einem höheren Gang

unterwegs gewesen wäre, und er hatte deswegen auch schon eine heftige Auseinandersetzung

mit ihr gehabt. Polizisten, so hatte er ihr vorgehalten, sollten keine Gefahr für die Bevölkerung

und auch nicht für Hunde und Katzen darstellen. Insgeheim wartete er auf einen ihrer bissigen

Kommentare, doch sie beschränkte sich darauf, ihm den Weg zu weisen. Die Straße führte am

Bahngleis entlang. Auf der rechten Seite standen Fabriken, dazwischen viel Grün. Stauffer

hatte das Gefühl, daß von allen Seiten Flugzeuge starteten und landeten, kleine Privatflugzeuge

genauso wie große Jets.

»Da vorne dann links«, sagte Locher.

»Bist du sicher?«, fragte Stauffer, der vergeblich nach einem Wald Ausschau hielt. Er drehte

seinen Kopf, sah, daß sie wieder in dem Gemeindeatlas vertieft war und bog nach links ab.

Zuerst sah es aus, als würde die Straße durch Ödland führen, doch dann sah er rechterhand eine

Siedlung mit kleinen Reihenhäusern und Gärten. Er fuhr geradeaus weiter.

»Die nächste rechts abbiegen.«

»Wo sind wir hier eigentlich?«, fragte er verwundert. Er konnte sich nicht daran erinnern,

jemals in dieser Gegend gewesen zu sein. Locher nannte ihm den Namen einer Gemeinde, von

der er lediglich wußte, daß sie existierte. Wahrscheinlich gibt es griechische Inseln, die ich

besser kenne, als einige der Gemeinden rund um Zürich, dachte er.

»Wenn die Gotthelfstraße kommt, links rauffahren.«

Jetzt sah er die Bäume. Langsam rollte der Wagen an den Vorgärten vorbei. Eine Katze

sonnte sich auf einer Gartenmauer. Als sie sich dem Waldrand näherten, sah Stauffer schon von

weitem die Kollegen, und er sah auch Schaulustige, die sich gestenreich über die Ereignisse zu

verständigen schienen.

Das Gelände um den Tatort war großzügig abgesperrt worden, und zusätzlich durch Polizisten

gesichert, die zufällig vorbeikommende Spaziergänger und Jogger davon abhielten, den

Waldweg zu betreten. Stauffer parkte seinen Wagen hinter einem Einsatzfahrzeug und ging

zusammen mit Tanja Locher am Wasserreservoir und der mit einem Kinderspielplatz

versehenen Aussichtsplattform vorbei zum Tatort.

Ein wenig erstaunt sah er, wie sich Walter Wenger bereits mit dem Einsatzleiter unterhielt

und sich dabei Notizen machte. Dann aber fiel Stauffer ein, daß Wenger in Rümlang wohnte

und er deshalb nicht weit bis zum Tatort hatte. Die Kollegen vom Erkennungsdienst und ein

junger Mann von der Kriminalfotoabteilung waren genauso am Tatort wie ein bärtiger Mann

vom Wissenschaftlichen Dienst sowie ein Team des Institutes für Rechtsmedizin. Locher ging

auf die Mediziner zu, während Stauffer etwas abseits blieb und den Tatort auf sich wirken ließ.

Die Leiche lag mitten auf dem Weg. Stauffer sah die seltsam verdrehten Beine und die

modischen Turnschuhe. Er wandte sich um. Obwohl sich der Tatort nur wenige Meter im Wald

befand, konnten der oder die Täter davon ausgehen, unerkannt zu bleiben. Er entdeckte

blühenden Holunder und am Boden Bingelkraut. Die gelben Blüten unmittelbar neben der

Leiche konnte er zuerst nicht richtig einordnen, doch als er etwas näher herantrat, glaubte er sie

als Scharbockskraut zu identifizieren, dessen Vitamin-C-haltige Blätter früher als Salat

aufgetischt wurden. Ein kühler Windhauch ließ Stauffer frösteln, doch er wußte sofort, daß es

nicht nur der Wind war, der ihn ein wenig erschaudern ließ. Es war die Atmosphäre am Tatort,

die fröhlich zirpenden Vögel, der Frühling, der sich in seiner ganzen Pracht zu erkennen gab.

All das wollte nicht zu dem toten Körper passen. Stauffer sah, wie Wenger dem Einsatzleiter

die Hand drückte und auf ihn zeigte. Frick nickte Stauffer zu, dieser hob die Hand zum Gruß

und ging auf ihn zu.

»Können wir uns nachher sehen?«, fragte Stauffer, während sie sich die Hand schüttelten.

»Ich bin wahrscheinlich noch bis Mittag hier.«

»Viele Spuren?«

»Wie man's nimmt«, sagte Frick und zeigte entschuldigend auf sein Handy, das die Melodie

eines Schlagers intonierte. Stauffer drückte ihm seine Visitenkarte in die Hand. Er wußte, daß

Frick jetzt keine Zeit hatte, um Fragen zu beantworten, deshalb ging er einige Schritte zurück

und wartete auf Wenger, der auf ihn zukam. Stauffer sah, daß Wenger unrasiert war. Wenger

zeigte in Richtung Leiche.

»Ein Spaziergänger hat ihn entdeckt. Er kann nicht lange da gelegen haben, vermutlich

geschah die Tat zwischen 6 und 8 Uhr.«

»Weiß man schon, um wen es sich handelt?«

Wenger nickte und öffnete sein Notizbuch.

»Stefan Bruggisser. Ein Bankangestellter, 35 Jahre alt, der nur ein paar Hundert Meter von

hier wohnt.«

Wenger drehte sich um und deutete in eine Richtung, doch Stauffer konnte keine Häuser

entdecken.

»Verheiratet?«, fragte Stauffer.

»Eine Ehefrau und eine Tochter, 5 Jahre alt.«

Stauffer atmete hörbar ein und aus. Ein wunderbarer Samstagmorgen, und der eigene Mann

liegt erschlagen im Wald.

»Wurde die Frau schon benachrichtigt?«

Wenger nickte und reichte Stauffer einen Zettel, auf dem er die Adresse der Familie

Bruggisser notiert hatte.

»Jemand von der Opferhilfe kümmert sich um die beiden.«

»Wir müssen so rasch wie möglich mit ihr sprechen. Was ist mit den Nachbarn und den

Spaziergängern? Hat jemand etwas gesehen oder gehört?«

»Sieht nicht danach aus.«

Stauffer schaute Wenger verwundert an.

»Die Befragung der Nachbarn ist noch nicht abgeschlossen. Aber wie es aussieht, haben

viele noch geschlafen. Es ist Samstag. Die wenigsten Leute stehen am Samstag vor 8 Uhr auf.«

Stauffer glaubte einen leisen Vorwurf aus Wengers Feststellung herauszuhören. Was hat er

mir vorzuwerfen?, dachte er. Ich habe die Leiche schließlich nicht herbestellt.

»Möchtest du ihn sehen?«

Stauffer nickte. Gemeinsam gingen sie zurück zum Tatort. Tanja Locher stand neben einer

Ärztin, beide hatten den Blick von der Leiche abgewandt. Wenger ging auf den Mann zu, der

die Spurensicherung leitete.

»Was könnt ihr zur Todesursache sagen?«, fragte Stauffer und nickte der Ärztin und Locher

zu.

»Vermutlich mehrere Schläge auf den Kopf«, sagte Locher.

»Heftige Schläge«, ergänzte die Ärztin. »Die Schädeldecke ist zertrümmert worden.«

Stauffer betrachtete die Leiche. Der Kopf war eine dunkle Masse aus Blut, Haaren und

Knochenteilen.

»Dazu kommt mindestens ein Schlag auf Brusthöhe«, sagte Locher und hielt die rechte

Hand vor ihren Busen.

»Ein Ast?«, fragte Stauffer und schaute sich nach einem geeigneten Stück Holz um.

»Eher nicht«, sagte Locher.

»Wurde die Tatwaffe nicht gefunden?«

Locher schüttelte den Kopf. Die Ärztin zündete sich eine Zigarette an und verabschiedete

sich. Stauffer sah, daß sich Wenger erneut Notizen machte.

»Konnten Spuren gesichert werden? Schuhabdrücke?«

»Der Boden ist ziemlich fest. Und leider ist der Spaziergänger, der die Leiche gefunden hat,

hier herum getrampelt. Sein Hund muss ausgeflippt sein, als er das Blut gerochen hat.«

»Wo ist der Mann jetzt?«, fragte Stauffer.

»In ärztlicher Behandlung. Er hat einen leichten Herzanfall erlitten.«

»Ich möchte später mit ihm reden, wenn das möglich ist.«

»Viel hatte er nicht zu sagen.«

»Du weißt, wie das ist. Plötzlich fällt den Leuten etwas ein. Ich möchte, daß du mit den

Nachbarn sprichst. Jenen, die hier unmittelbar am Waldrand wohnen. Auch wenn schon ein

Kollege mit ihnen gesprochen hat. Interessant sind auffällige Geräusche, ein geparkter Wagen,

ein Motorrad, Schritte. Du weißt schon.«

Locher nickte und machte sich an die Arbeit. Stauffer winkte Wenger zu sich. Der

Einsatzleiter fragte Stauffer, ob die Leiche nun abtransportiert werden könne. Stauffer hatte

nichts dagegen. Zusammen mit Wenger ging er aus dem Wald zu dem Kinderspielplatz. Neben

der Feuerstelle blieb er stehen.

»Was meinst du?«, fragte er Wenger.

Wenger schaute auf seine Notizen, als ob darin eine Meinung zu finden wäre.

»Ein Mann rennt am Samstagmorgen durch den Wald und wird erschlagen. Vermutlich mit

einem Metallgegenstand. Einem Haken, einem Schraubenschlüssel oder etwas anderem.

Raubmord kann so gut wie ausgeschlossen werden. Bruggisser trug eine Lendentasche mit sich,

darin etwas Kleingeld, Ausweise, Kreditkarten und ein Handy.«

»Man muss den Wald, die angrenzenden Grundstücke und Gärten nach der Tatwaffe

absuchen«, sagte Stauffer.

Wenger nickte.

»Das gefällt mir nicht«, sagte er.

»Was gefällt dir nicht?«, fragte Stauffer.

»Eigentlich alles.«

Stauffer runzelte die Stirn, doch er ahnte, was Wenger ihm sagen wollte.

»Der Mann hat einen heftigen Schlag auf den Brustkasten abbekommen. Gehen wir mal

davon aus, daß dies der erste Schlag war. Daß er danach zusammengebrochen ist und die

Schläge auf den Kopf anschliessend erfolgt sind.«

»Das würde heißen, daß er von vorne oder von der Seite angegriffen wurde.«

»Er ist wahrscheinlich auf seinen Mörder zugerannt.«

Stauffer sah, wie der Bestattungswagen langsam die Straße hochfuhr.

»Das könnte heißen, daß er den oder die Täter gekannt hat«, sagte er.

»Könnte. Muss aber nicht«, sagte Wenger. »Wer rechnet schon damit, daß im Wald ein

Verrückter mit einer Brechstange auf einen wartet?«

»Du glaubst, wir haben es mit einem Verrückten zu tun?«

»Du hast die Leiche doch gesehen, oder?«

Stauffer wußte, worauf Wenger hinauswollte. Wer derart brutal zuschlug, musste

ungeheuren Hass, eine nicht zu bremsende Wut in sich haben.

»Wenn es kein Verrückter war, dann war es jemand mit einem verdammt guten Motiv«,

sagte Wenger.

Zwei Männer trugen den Sarg an ihnen vorbei. Sie grüßten freundlich.

»Ich hoffe, daß wir nach der Obduktion wissen, womit er erschlagen wurde«, sagte Stauffer.

»Die Ärzte legen sich nicht gerne fest, aber so wie die Wunden aussehen, könnte es ein

Feuerhaken gewesen sein.«

»Wir suchen also nach jemanden, der mit einem Feuerhaken im Wald spazierengeht?«

»Und der den blutverschmierten Feuerhaken, oder was immer es war, danach seelenruhig

wieder mitnimmt«, ergänzte Wenger.

»Wir wissen nicht, ob er ihn seelenruhig wieder mitgenommen hat. Vielleicht ist er in Panik

geraten, vielleicht hat er jemanden kommen hören.«

»Vielleicht«, sagte Wenger.

»Ich möchte, daß Tanja dabei ist, wenn ich mit der Ehefrau spreche.«

»Ich habe kein Problem damit.«

»Gut«, sagte Stauffer. Er wußte, daß es keinen Sinn hatte, zu dritt mit der jungen Witwe zu

sprechen. Zu viele Polizisten wirkten in solch einer Situation einschüchternd.

»Ich würde mich gerne ein wenig im Wald umsehen«, sagte Wenger.

»Tu, was du für richtig hältst«, sagte Stauffer. Wenger nickte und ging zurück in den Wald.

Stauffer schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Er wollte sich die Wohnsiedlung ansehen

und einen ersten Eindruck bekommen von Stefan Bruggisser. Die Gegend, in der jemand lebte,

sagte viel über die Person aus. Ihren Status, ihren Charakter, ihre Lebensgewohnheiten. Stauffer

hatte dies schon als junger Mann fasziniert. Damals war er ziellos durch die Städte gestreift,

manchmal betrat er die Vorgärten und Hochhäuser. Immer wollte er etwas über die Menschen

erfahren, wissen, was das für Menschen sind. Wie sie lebten, wie sie dachten. Jedes Haus, jede

Wohnung eine Ansammlung menschlicher Schicksale. Dabei hatte er gelernt, auf Details zu

achten. Sie machten das Individuum aus, sie waren die Manifestation des Einzelnen in der

grauen Masse. Während die Wohnungen, die Möbel, Teppiche, Bilder eine Innenansicht der

Menschen zeigten, war das, was man auf den Fensterbänken, Balkonen, Vorplätzen, in den

Garagen und den Gärten sah, oft genug der Eindruck, den die Menschen nach Außen vermitteln

wollten; die Fassade. Als Kriminalist hatte er schon verblüffende Kombinationen von Außen

und Innen gesehen. Penibel geputzte Vorplätze und Balkone und in der Wohnung, im Haus, ein

unbeschreibliches Chaos und Elend. Und umgekehrt. Langsam schlenderte Stauffer die Straße

entlang. Längst hatte sich die Kunde der Bluttat herumgesprochen. Fenster standen offen,

Nachbarn unterhielten sich im Garten, Polizisten notierten Aussagen. Die Einfamilienhäuser

waren, bis auf ein paar wenige Ausnahmen, älteren Datums und sehr unterschiedlich gebaut.

Neben schlichten Betonhäusern standen verschnörkelte Backsteingebäude, und auch ein mit

Holztäfelung isoliertes Haus, das höher war als die anderen und das über einen großzügigen

Wintergarten verfügte. Stauffer fiel auf, daß die Größe des Rasens offenbar in einem Verhältnis

zur Einsicht in die Gärten stand. Je grösser die Rasenfläche, umso offener war der Garten

angelegt. Ein Beweis, daß tadellose Rasenflächen für die Nachbarn gemacht werden, dachte

Stauffer. Er stellte sich vor, daß diese Menschen viel Sport trieben, ihre Muskeln stählten und

wenig Kleidung trugen, um die schönen Muskeln zeigen zu können. Wie bestellt erschien ein

Mann, der Stauffers These ad absurdum führte. Dickbäuchig und in einem viel zu warmen

Pullover schlurfte er über den Rasen und hielt die Hand zum Gruß hoch. Als Stauffer einen

Moment stehenblieb, kam der Mann erstaunlich behende ans Gartentor.

»Ist etwas passiert?«, fragte er.

»Ja«, sagte Stauffer kurz angebunden.

»Ein Unfall?«

»War noch kein Polizist bei Ihnen?«

»Es hat geklingelt, als ich unter der Dusche stand. Etwas Ernstes?«

Er klang nicht sehr besorgt.

»Kein Einbruch«, sagte Stauffer.

»Gottseidank«, sagte der Mann.

»Es wird gleich jemand zu Ihnen kommen.«

»Ich muss noch einkaufen«, sagte der Mann und schaute auf seine Armbanduhr.

»Es dauert nicht lange«, sagte Stauffer. Er hob die Hand zum Gruß und setzte seinen Weg

fort. Zwei Häuser weiter sah er Locher, die sich von einer älteren Frau verabschiedete. Stauffer

ging auf sie zu. Sie sprach leise und schaute dabei immer wieder zurück zu dem Haus, aus dem

sie gerade gekommen war.

»Die Frau hat Krebs. Sie kann sich kaum noch auf den Beinen halten, aber sie weigert sich,

aufzugeben.«

»Hat sie das so gesagt?«

»Sie wollte mir ihre ganze Lebensgeschichte erzählen.«

»Hat sie etwas gesehen oder gehört?«

Locher schüttelte den Kopf.

»Es hat sie nicht einmal interessiert, daß einer ihrer Nachbarn ermordet worden ist.«

Sie gingen langsam weiter.

»Da vorne ist es«, sagte Locher und zeigte auf ein unauffälliges Haus mit einem kleinen

Garten, in dem eine Kinderschaukel stand.

»Irgend jemand muss doch etwas bemerkt haben«, sagte Stauffer.

Sie blieben einen Moment vor dem Haus stehen, öffneten das Gartentor und gingen langsam

zur Haustüre. Stauffer bemerkte, daß der Garten keinen besonders gepflegten Eindruck machte.

Dafür sahen die Fenster aus, als wären sie am Tag zuvor geputzt worden. Stauffer drückte die

Klingel. Tanja Locher atmete tief ein, als von innen das Türschloss geöffnet wurde.

4

Walter Wenger saß auf einem Baumstrunk und schaute sich um. Langsam und stetig wie ein

Kameraobjektiv wanderte sein Blick, bis er das ganze Panorama erfasst hatte. Er schloss die

Augen und atmete tief durch die Nase. Es roch nach feuchter Erde und nach Kot. Ein Hund

musste ganz in der Nähe sein Geschäft verrichtet haben. Vom Baumstrunk aus war der Tatort

nicht zu sehen, da sich der Weg wie eine Schlange durch den Wald wand. Wenger stand auf

und ging in die Wegmitte.

»Er ist von hier gekommen«, sagte er leise, den Blick auf den Boden gerichtet. Er bückte

sich, suchte vergeblich nach Fußspuren. Weit weg hörte er eine Autotür, die zugeschlagen

wurde. Er richtete sich auf und bewegte sich langsam Richtung Tatort. Als er sich dem

Absperrband näherte, kam eine junge Polizistin auf ihn zu. Wenger lächelte und zupfte seinen

Ausweis aus der Manteltasche.

»Wenger, Kripo«, sagte er und hielt der Polizistin den Ausweis entgegen. Die junge Frau

nickte, und Wenger sah, daß sie Sommersprossen im Gesicht hatte. Hübsch, dachte er, auch

jetzt wieder erstaunt darüber, daß ihm die jungen Frauen heute besser gefielen als früher, als er

selber jung war.

»Haben Sie mich gehört, bevor sie mich gesehen haben?«, fragte er die Polizistin.

»Nein, die Vögel sind so laut«, sagte die Frau mit einer überraschend tiefen Stimme.

Wenger schaute nach oben und nickte. Der Geräuschpegel war sehr hoch; wenn jemand

bemüht war, sich lautlos zu nähern, dann konnte er dies problemlos tun.

»Vorhin habe ich geglaubt einen Fuchs zu sehen, aber als ich genauer hinschaute, war es nur

ein Baumstrunk.»

Wenger sah, daß viele Äste herumlagen. Er erinnerte sich daran, daß es zwei Wochen zuvor

heftig gestürmt hatte und in der Straße, in der er wohnte, ein Baum gefällt werden musste, weil

er vom Wind geknickt worden war.

»Dauert es noch lange?«, fragte die junge Polizistin und wies Richtung Tatort.

»Die Absperrung bleibt vorläufig.«

»Ich friere«, sagte die Polizistin.

»Wenn Sie einen Menschen erschlagen wollten. Wo würden Sie auf ihn warten? Da vorne

oder dort hinten, an der Wegbiegung?«

Die Polizistin blickte ihn überrascht an. Sie schaute sich kurz um und deutete in die

Richtung, aus der Wenger gekommen war.

»Da hinten würde ich auf ihn warten. Da kann er mich nicht sehen.«

»Gut«, sagte Wenger nachdenklich. Die Polizistin lächelte.

»Er kann Sie nicht sehen, und Sie können ihn nicht sehen«, sagte er.

»Genau«, sagte die Polizistin.

»Deshalb hat er da vorne auf ihn gewartet«, sagte Wenger mit Blick Richtung Tatort.

»Damit er gesehen wird?«, fragte die Polizistin irritiert.

»Nein«, sagte Wenger. »Damit er sehen konnte, wer in den Wald gerannt kam.«

Die Polizistin nickte. Wenger fuhr fort mit dem, was er gerne ein erweitertes Selbstgespräch

nannte.

»Er wollte nicht gesehen werden, als er den Wald betrat. Deshalb ist er wahrscheinlich von

hier hinten gekommen. Genau wie ich jetzt. Aber er wollte sehen, wer auf ihn zukam. Deshalb

hat er da vorne gewartet.«

»Er hat ganz sicher da vorne gewartet«, sagte die Polizistin. »Sonst würde die Leiche nicht

dort liegen.«

Kluges Kind, dachte Wenger, verkniff sich aber die Bemerkung, weil er wußte, daß junge

Frauen auf Ironie manchmal allergisch reagierten.

Wenger bedankte sich bei ihr, und sie nickte eifrig, die Kälte schien ihr nichts mehr anhaben

zu können. Morgen wird sie sich vielleicht bei der Kripo bewerben, dachte er.

Er ging langsam weiter, suchte mit den Augen den Waldboden und den Waldrand ab, ohne

zu wissen, wonach er suchte. Er sah, daß zwei Männer noch immer damit beschäftigt waren,

Spuren zu sichern. Um sie nicht bei der Arbeit zu stören, ging er über die zwei Holzbretter, die

behelfsmäßig auf den Waldboden gelegt worden waren, um allenfalls vorhandene Abdrücke im

Boden nicht zu zerstören. Die Leiche war mittlerweile abtransportiert worden, und im

Waldboden rund um den Tatort waren die Spuren numeriert. Es gab über ein Dutzend Spuren,

die meisten davon Blutspritzer. Wenger verließ den Tatort und ging zum Aussichtspunkt. Er

setzte sich auf eine Parkbank und zückte seinen Notizblock. Wenger schrieb.

Er hat auf ihn gewartet. Er wußte, daß er kommen würde. Er kannte sich aus. Er wollte ihn

töten.

Wenger hob das Wort ihn hervor, in dem er es mehrmals unterstrich.

5

Das Wohnzimmer war überraschend groß und hell. Ein Sofa, zwei Sessel, eine Glasvitrine, ein

kleiner Salontisch, ein Fernseher. In einer Ecke Spielzeug und an einer Wand ein gerahmter

Druck eines bekannten Schweizer Malers, der früher Zirkusclown war. Laura Bruggisser war

eine zierliche Frau um die 30. Die Haare rötlichbraun und mittellang, auffällige

Wangenknochen und ein Muttermal über der Oberlippe. Sie wirkte einigermaßen gefasst, noch

schien die Tragweite der Ereignisse nicht ganz bis zu ihr vorgedrungen zu sein. In den nächsten

Stunden und Tagen, und vor allem in den Nächten, wird die Trauer und die Fassungslosigkeit

einkehren wie eine Krankheit, gegen die es keine Medikamente gibt. Stauffer wußte, was es

hieß, von einem Augenblick zum nächsten einen geliebten Menschen zu verlieren. Jedesmal,

wenn er Hinterbliebenen gegenübersaß, kam die Erinnerung in ihm hoch. Keine Gedanken, nur

intensive Gefühle, die Wiederkehr des Entsetzens. Laura Bruggisser rauchte eine Zigarette. Ihre

Hand zitterte, sie wirkte fahrig, aber ihre Stimme war fest.

»Er ging aus dem Haus wie jeden Samstag. Er fragte mich, ob ich nicht mitkommen wollte.

Das fragte er jedesmal, wenn die Sonne schien, aber er wußte, daß ich mir nichts aus Joggen

mache.«

»Ging er jeden Samstag zur gleichen Zeit aus dem Haus?«, fragte Locher und starrte auf

ihren Notizblock, ohne jedoch etwas darin einzutragen. Wir halten uns alle an etwas fest, dachte

Stauffer und betrachtete die Fernbedienung, die er in der Hand hielt, ohne sich daran zu

erinnern, sie vom Tisch genommen zu haben. Er legte sie neben die Programmzeitschrift.

»Er stand jeden Morgen um die gleiche Zeit auf. Am Samstag und Sonntag etwas später als

unter der Woche, aber immer zur gleichen Zeit.«

»Und er ging jeden Morgen in den Wald joggen?«, fragte Stauffer. Laura Bruggisser schaute

kurz zu ihm auf und nickte, senkte den Blick wieder und zog zweimal heftig an der Zigarette.

»Er stoppte die Zeit. Das war ihm wichtig. Er sagte, man muss sich Ziele setzen. Immer.«

»Das heißt, er rannte immer die gleiche Strecke?«

»Ich glaube schon.«

Locher machte sich eine Notiz.

»Ist Ihnen in den vergangenen Tagen und Wochen etwas aufgefallen? War Ihr Mann

ungewöhnlich nervös? Gab es Vorkommnisse, die Sie irritiert haben? Anrufe, Besuche?«

Laura Bruggisser dachte nach. Sie drückte die Zigarette aus und zündete sich gleich eine

neue an. Stauffer bemerkte, wie sich Locher im Wohnzimmer umsah. Ihm fiel auf, daß ihr Blick

lange in der Ecke mit dem Kinderspielzeug verharrte.

»Ich weiß nicht«, sagte Laura Bruggisser. »Mir ist nichts aufgefallen.«

»Gab es vielleicht Schwierigkeiten im Beruf?«

Die Frage ließ ihren Kopf hochschnellen, Stauffer wußte sofort, daß er einen Punkt berührt

hatte, über den sich die junge Witwe offenbar Gedanken gemacht hatte.

»Es gab, glaube ich, Probleme mit einem Arbeitskollegen.«

Locher schaute zu Stauffer, dieser nickte unmerklich.

»Wissen Sie, wie der Kollege heißt und welche Probleme ihr Mann mit ihm hatte?«

»Ingold«, sagte sie. »Stefan hat sich nicht mit ihm verstanden.«

Locher versuchte nachzuhaken, aber es stellte sich heraus, daß Stefan Bruggisser seiner Frau

nur wenig über seine Arbeit erzählt hatte.

Stauffer wußte, daß jetzt der unangenehme Teil der Befragung kam.

»Wir wissen zur Zeit nicht, ob ihr Mann zufällig das Opfer eines Verbrechens wurde oder

ob ihr Mann gezielt attackiert wurde. Wir müssen deshalb beides in Erwägung ziehen. Bei einer

gezielten Attacke ist die Suche nach einem Motiv sehr zentral. Das Motiv kann dem

beruflichen, aber auch dem privaten Umfeld entspringen.«

Stauffer ärgerte sich ein wenig darüber, daß die Sätze in seinen Ohren gestelzt klangen. Er

liebte einfache, direkte Formulierungen, auch wenn sie ihm nicht immer gelangen. Doch jetzt

wäre Direktheit unangebracht gewesen, brutal beinahe wie die Tat, die sich im Wald ereignet

hatte. Stauffer wartete und ließ die Sätze nachwirken. Er wußte, daß Tanja Locher bereit war,

die delikate Frage zu stellen, die Stauffer vermied, weil er hoffte, daß die junge Frau von selber

auf das Thema zu sprechen kam.

»Ich kann mir kein Motiv denken«, sagte Laura Bruggisser, doch Stauffer glaubte eine

Unsicherheit herauszuhören.

»Sie lebten harmonisch zusammen?«

Stauffer staunte über Lochers Frage. Sie kommt auf den Punkt, ohne aufdringlich zu

werden, dachte er.

»Es ist nicht immer einfach«, sagte Laura Bruggisser und wandte sich jetzt ganz Locher zu.

»Kinder sind nie einfach«, sagte Locher lächelnd. Wieso Kinder? Stauffer runzelte die Stirn.

Eine Ehe ist nicht einfach, da musst du ansetzen. Doch er schwieg, als er sah, daß sich Laura

Bruggissers Gesichtszüge entspannten.

»Sie ist sehr fordernd. Sehr aktiv. Sie will alles wissen und alles ausprobieren.«

»War ihr Mann oft ausser Haus?«

»Er war immer da, wenn ich ihn brauchte. Aber die Arbeit war ihm sehr wichtig. Er wollte

weiterkommen. Er hat ein Darlehen aufgenommen, damit wir uns dieses Haus leisten können.

Er wollte, daß wir glücklich sind.«

Eine Frau, ein Kind, ein Haus, eine Karriere. Die simple Formel für ewiges Glück.

»Ihr Mann hat Schulden gemacht?«, fragte Stauffer.

»Ein Darlehen bei einem Onkel.«

Locher schaute Stauffer vorwurfsvoll an. Er hatte ihre Strategie durchkreuzt. Er

entschuldigte sich, in dem er die Hand leicht hob.

»Haben Sie ihrem Mann vertraut?«

Ein Fragezeichen mitten ins Herz. Die beiden Frauen sahen sich einen Moment wortlos an.

Laura Bruggisser nickte schließlich. Langsam, dann schneller.

»Ich muss Sie das jetzt fragen«, sagte Locher, ohne die Frage tatsächlich auszusprechen.

Laura Bruggisser nickte, schüttelte dann aber bestimmt den Kopf.

»Es gibt keinen anderen Mann«, sagte sie. »Und ich glaube nicht, daß er mich betrogen hat.

Wir hatten Probleme. Wie alle anderen auch. Es ging alles so schnell.«

Sie senkte den Kopf und zündete sich wieder eine Zigarette an. Stauffer ahnte, daß die Frau

an die Grenze ihrer Belastbarkeit gekommen war. Ein kurzer Seitenblick zeigte ihm, daß

Locher ähnlich dachte. Betont sachlich erkundigte er sich nach dem Arbeitsort von Stefan

Bruggisser, nach Freunden, Verwandten und dem Namen des Onkels. Locher notierte sich die

Angaben und fragte abschließend, ob Laura Bruggisser Hilfe benötigte.

»Meine Eltern sind unterwegs. Sie holen mich und die Kleine zu sich.«

»Und die Eltern Ihres Mannes?«

»Sie leben in Spanien. Werden Sie sie benachrichtigen?«

Stauffer nickte und stand auf.

6

Vor dem Haus blieben Sie stehen. Laura Bruggisser hatte ihnen einen Schlüssel ausgehändigt.

Sie wollte die nächsten Tage nicht in dem Haus bleiben, vielleicht wollte sie überhaupt nicht

mehr in dem Haus leben, was Stauffer durchaus verstehen konnte. Vor der Garage stand ein

schwarzer Audi, gepflegt, neben dem Wagen ein Eimer voll Wasser. Auch das gehörte offenbar

zur samstäglichen Routine des Stefan Bruggisser. Joggen und danach den Wagen waschen.

»Männer und ihr Auto«, sagte Locher.

»Was sagt uns das?«, fragte Stauffer und zeigte auf den Wagen.

»Sieht ziemlich neu aus. Und teuer. Wie ich das verstanden habe, hatte Bruggisser einen

guten Job bei der Bank, aber keinen sehr guten. Er hat Schulden gemacht.«

»Die halbe Welt lebt auf Pump«, sagte Stauffer.

»Du auch?«

Er dachte an sein altes Häuschen und an das Darlehen, ohne das er sich das Haus niemals

hätte leisten können.

»Es gibt verschiedene Arten, sich zu verschulden. Für ein Haus, für Luxus, für Frauen, fürs

Spielen.«

»Und für den schönen Schein«, sagte Locher und zeigte in die Umgebung.

»Laß uns etwas trinken gehen. Danach setzen wir uns mit Wenger zusammen.«

Sie gingen schweigend zum Wagen. Beide ließen ein letztes Mal die Umgebung auf sich

wirken, schauten noch einmal zum Tatort rauf und zurück zu dem Haus, in dem eine Frau und

ein Kind darauf warteten, abgeholt zu werden in eine ungewisse Zukunft.

Stauffer fuhr langsam an den Häusern vorbei. Überall waren jetzt Menschen zu sehen, und

Stauffer glaubte in den Gesichtern lesen zu können. Erstaunen, Entsetzen, aber auch

Erleichterung darüber, daß der Tod nicht in ihrem Garten, in ihrem Haus zu Besuch war. In den

nächsten Tagen und Wochen würden sie das Leben anders sehen, die Sorgen, die kleinen

Streitereien, die persönliche Unzufriedenheit. Sie würden sich vornehmen, ihr Leben zu ändern,

ihre Einstellung dazu. Doch schon bald würde der Alltag wie ein Schleier alles wieder

zudecken, bis zum nächsten Ereignis, dem nächsten Unglück, dem nächsten Tod.

Locher telefonierte mit Wenger, der bereits zu Hause war, sie konnte im Hintergrund das

Kind hören. Sie sagte ihm, daß sie sich um drei Uhr auf der Hauptwache treffen würden.

»Nein, nicht auf der Hauptwache«, sagte Stauffer viel zu laut. »Bei mir. Wir treffen uns bei

mir zu Hause.«

»Hast du gehört?«, fragte Locher in das Handy, und Stauffer glaubte Wenger lachen zu

hören. Was ist daran komisch?, dachte er. Er bog in die Hauptstraße ein und suchte nach einem

Café oder Restaurant. Das erste gefiel ihm nicht, weil es miefig aussah, das zweite war eine

Pizzeria, die ihm ebenfalls nicht zusagte.

»Was machst du eigentlich, wenn er fragt, ob er die Kleine mitbringen darf?«, fragte Tanja

Locher und verstaute ihr Handy.

»Hat er das gefragt?«

»Nein.«

»Gut«, sagte Stauffer.

»Wonach suchst du?«, fragte sie, als sie bemerkte, wie er sich umschaute und dabei ganz

langsam auf der Hauptstraße fuhr.

»Gibt es auf dem Land keine Landgasthöfe mehr?«

»Landgasthof? Was ist das?«, fragte Locher lachend.

»Löwen, Hirschen, Engel, Kreuz, ganz normale Restaurants. Keine Pizzerien, keine

Neonbars.«

»Da vorne. Ein Sternen«, sagte sie und zeigte auf eine Tafel.

»Immerhin«, sagte Stauffer und bog auf den Parkplatz ein.

Als er den Wagen abstellte, sah er, daß der Sternen spanische Küche anbot.

»Ist doch egal«, sagte Locher. »Oder willst du was essen?« Sie schaute auf die Uhr, es war

kurz vor zehn Uhr morgens.

Sie setzten sich an einen der hintersten Tische. Vorne bei der Tür saßen vier Jugendliche bei

Orangensaft, zwei Tische dahinter eine alte Frau vor einem Kaffee. Am Fenster saß ein Mann

der frühstückte und Zeitung las. Stauffer bestellte sich einen Kaffee, Locher eine Cola. Sie

warteten, bis die Getränke serviert wurden, ehe sie sich über den Mordfall unterhielten.

»Wir wissen noch nicht sehr viel«, sagte Stauffer. »Aber in ein paar Stunden werden wir die

ersten Erkenntnisse von der Spurensicherung und der Obduktion haben. Jetzt geht es darum,

unsere Eindrücke zu ordnen. Was ist uns aufgefallen, was für Fragen stellen sich, was für

Gefühle lösen die Tat und die Umstände der Tat aus?«

»Du willst mit mir über Gefühle sprechen?«, fragte Locher grinsend.

»Ja. Ich möchte wissen, was du für Gefühle hast, wenn du an die Tat denkst. Oder an die

Frau, das Haus, den Wald.«

»Stefan Bruggisser wurde in seiner privaten Umgebung umgebracht.«

Stauffer nickte auffordernd, doch Locher nippte schweigend an ihrer Cola.

»Wir wissen, daß er ein Gewohnheitsmensch war«, sagte er. »Wir alle sind bis zu einem

gewissen Grad Gewohnheitsmenschen. Nur schon unser Berufsalltag ist mit Gewohnheiten

verbunden. Wir stehen meist zur gleichen Zeit auf, verlassen zur gleichen Zeit die Wohnung,

das Haus, fahren zur Arbeit und stehen mit all den anderen Gewohnheitsmenschen im

morgendlichen Stau.«

»Ist dein Samstag genauso verplant wie der Rest der Woche?«, fragte Locher.

»Ich jogge nicht, und ich wasche meinen Wagen äußerst selten und eigentlich nie am

Samstag.«

»Und du bist sicher, daß du ein Schweizer bist?«

Stauffer trank die Tasse Kaffee in einem Zug leer. Er war lauwarm und nicht sehr stark.

»Stefan Bruggisser war also berechenbar. Er hatte seine ganz persönliche Samstagsroutine.«

»Vielleicht gehörte dazu auch, daß er nach dem Autowaschen mit seiner Frau schlief. Oder

vielleicht war das die Sonntagsroutine.«

Stauffer grinste. Er hatte vor fünf Jahren ein einziges Mal mit Tanja Locher geschlafen. Er

wußte nicht genau, weshalb es bei diesem einen Mal geblieben war, hatte aber auch nie gefragt,

ob sie an einer Wiederholung interessiert wäre. Damals war sie noch verheiratet gewesen.

»Was fällt dir zum Tatort ein?«, fragte Stauffer und schielte dabei auf den Brotkorb, der vor

ihm stand. Sie schob ihm den Korb zu, und Stauffer griff sich ein Hörnchen.

»Ungewöhnlich«, sagte sie und schenkte sich Cola nach.

»Was assoziieren wir normalerweise mit dem Wald?«

»Sexualmorde.«

Stauffer nickte und kaute. Es schmeckte hervorragend, und für einen Moment vergaß er, daß

er sich in einem Sternen mit spanischen Spezialitäten befand.

»Der Unhold, der einer jungen Frau auflauert. Mehr Mythos als Realität. Aber wenn es im

Wald zu einem Mord kommt, dann ist es tatsächlich sehr oft ein Sexualdelikt.«

»Wobei Morde im Wald sehr selten sind.«

»Genau«, sagte Stauffer und kaute den Rest des Hörnchens. Er schielte erneut auf den

Brotkorb, schob ihn aber demonstrativ weg. Jetzt war es Locher, die sich ein Vollkornbrötchen

griff.

»Wir dürfen nicht ausschließen, daß der Mörder uns mit der Wahl des Tatortes etwas

mitteilen will«, sagte Stauffer.

»Daß das Motiv etwas mit dem Triebleben Bruggissers zu tun hat?«

»Was hattest du für ein Gefühl, als du seine Frau nach seiner Treue gefragt hast?«

»So explizit habe ich sie nicht gefragt«, sagte sie. »Aber du hast schon recht. Da stimmt

etwas nicht. Aber ich bin mir nicht sicher, was es ist.«

»Ob sie glaubt, daß er fremdging oder ob sie selber ein Verhältnis hat?«

»Ich tippe eher darauf, daß sie etwas mit einem anderen hat. Sie ist eine überforderte Mutter,

kurz vor dem Nervenzusammenbruch.«

»Das sehe ich ähnlich.«

»Das Kind, das Haus, das neue Leben. Das ist alles viel zu schnell für sie gegangen. Ihr

Mann wollte alles auf einmal, sie hätte sich wahrscheinlich lieber Schritt für Schritt etwas

aufgebaut.«

»Ein Liebhaber hätte ein Motiv», sagte Stauffer. Locher schüttelte den Kopf.

»Ein Liebhaber, der im Wald auf seinen Nebenbuhler wartet?«

»Der erste Schlag kam vermutlich von vorne. Wenn Bruggisser seinen Mörder gekannt hat,

erklärt das zumindest, weshalb er nicht einen großen Bogen um ihn machte.«

»Macht ein Jogger einen großen Bogen um jemanden, der ihm entgegenkommt?«

»Hier in der Gegend begegnet man selten einem völlig Fremden. Die Leute kennen sich mit

der Zeit.«

Locher schaute zum Fenster. Sie dachte an die Jahre zurück, als sie selbst in einem Dorf

wohnte, in dem jeder jeden kannte.

»Er war ehrgeizig«, sagte sie. »Er hat die Zeit gestoppt. Das war ihm wichtig. Einer, der die

Zeit stoppt, schaut nicht, wer ihm entgegenkommt.«

Sie hat recht, dachte Stauffer. Bruggisser war vermutlich in seiner morgendlichen

Joggingroutine ganz auf sich selber konzentriert. Er hat jeden Quadratmeter des Waldweges

gekannt, jeden Baum, jede Weggabelung. Wahrscheinlich hat er viel zu spät reagiert, als er

seinem Mörder begegnete.

»Können wir eigentlich davon ausgehen, daß es nur einen Täter gibt?«, fragte Locher, tupfte

Brotkrumen vom Tischtuch und schnippte sie in den Aschenbecher.

Stauffer schüttelte den Kopf.

»Zur Zeit können wir nichts ausschließen. Es kann sich um einen Einzeltäter handeln, einen

Mann, eine Frau, es können aber auch mehrere Täter gewesen sein.«

»Mein Gefühl sagt mir, daß es ein Einzeltäter war, männlich«, sagte sie.

»Gut, lassen wir das mal so stehen. Und gehen wir davon aus, daß der Täter auf Bruggisser

gewartet hat, daß er wußte, wann Bruggisser den Waldweg betreten würde.«

»Er hat ihn beobachtet. An einem anderen Samstag.«

»Es gibt noch eine andere Variante«, sagte Stauffer. »Wenn der Täter Bruggisser gekannt

hat, gut gekannt, dann kannte er gewiß auch seine Samstagsroutine.«

»Oder er hat von Bruggissers Frau darüber erfahren.«

»Das wäre die einfachere Variante«, sagte Stauffer. »Ein simples Beziehungsdelikt. Liebe,

Hass und Leidenschaft. Wenn er aber nichts davon gewußt hat, musste er es herausfinden. Er

muss ihn beobachtet haben.«

Tanja Locher nickte. »Mehr als einmal. Wenn er sichergehen wollte, daß Bruggisser jeden

Samstag zur gleichen Zeit durch den Wald joggte, dann musste er ihn an mehreren Samstagen

beobachtet haben.«

»Genau hier können wir ansetzen«, sagte Stauffer. »Der Täter wird schon in den Wochen

zuvor in der Gegend gewesen sein. Mit seinem Wagen, dem Motorrad, dem Fahrrad oder zu

Fuß.«

»Die unauffälligste Art, jemanden zu beobachten, ist in einem Wagen zu sitzen und zu

warten.«

»In der Stadt vielleicht. Aber hier draußen fällst du auf, wenn du stundenlang in einem

geparkten Wagen sitzt.«

»Es muss ihn jemand gesehen haben«, sagte Locher bestimmt.

Stauffer nickte.

»Wir fahren zurück an den Tatort«, sagte er. »Wir sollten mit Frick sprechen und uns die

Aussagen der Nachbarn anschauen.«

»Die meisten haben geschlafen, als es geschah«, sagte Locher.

»Ich weiß. Aber haben sie auch letzten Samstag geschlafen, oder vorletzten Samstag?»

»Es gibt noch eine andere Variante«, sagte Locher plötzlich.

»Was meinst du?«

»Einer der Nachbarn könnte der Täter sein.«

»Ein Grund mehr, noch mal mit allen zu reden«, sagte Stauffer und schaute auf seine

Armbanduhr.

»In der Nachbarschaft wohnen ein paar ältere Leute. Die schlafen nicht mehr so lange.«

»Dafür sehen und hören sie auch nicht mehr so gut. Vielleicht ist das die Gnade des

Altwerdens.«

Stauffer winkte der Bedienung. Sie zahlten getrennt und rundeten den Betrag jeweils auf.

Der junge Mann bedankte sich und begann sofort damit, den Tisch abzuräumen. Stauffer und

Locher gingen beide auf die Toilette. Als Stauffer ins Freie trat, war Tanja Locher bereits beim

Wagen. Auf der Rückfahrt schwiegen sie, bis Stauffer vergaß abzubiegen und Locher ihn

darauf aufmerksam machte.

»Was taugen eigentlich die Navigationssysteme im Auto?«, fragte Stauffer und fuhr einmal

im Kreisel herum, um wieder auf Kurs zu kommen.

»Weniger als eine intelligente Beifahrerin.«

»Wohl wahr«, sagte Stauffer.

»Da schau«, sagte Locher grinsend und zeigte auf ein Schild, das Werbung für einen

Landgasthof machte.

»Also doch«, brummte Stauffer und versuchte sich die Straße einzuprägen. Doch er sah

keinen Straßennamen und gab es schließlich auf, danach zu suchen.

»Wir könnten uns umschauen, wo wir unseren Wagen hinstellen würden, wenn wir

jemanden beobachten wollten«, sagte Locher.

»Unauffällig ist auffällig und umgekehrt.«

»Und was will der Kommissar uns damit sagen?«

»Auf dem Land herrschen andere Gesetze als in der Stadt.«

»Tatsächlich?«, fragte Locher lächelnd.

»Du hast doch eine Weile auf dem Land gelebt, oder?«

»Du meinst, ich sollte die Unterschiede kennen?«

»Auf dem Lande ist das vorherrschende Prinzip die Ordnung und nicht das Chaos. In der

Stadt ist es das Chaos, wenigstens in der Innenstadt. Und was zeichnet die Ordnung aus?«

»Alles ist an seinem Platz. Ich weiß, worauf du hinauswillst. Ein Wagen, der unauffällig

irgendwo geparkt ist, würde auffallen, weil er so unauffällig geparkt ist.«

»Er verletzt die Ordnung. Er ist wie ein Straßenschild, das plötzlich dasteht, wo vorher

keines war.«

Stauffer trat auf die Bremse, weil er sah, daß zwei spielende Kinder sich auf dem Gehsteig

schubsten. Eines der Kinder winkte ihm zu, als er an ihnen vorbeifuhr. Im Rückspiegel sah er,

daß das andere Kind die Zunge herrausstreckte.

»Wenn es aber eine klare Ordnung gibt, dann gibt es keinen Ort, an dem er hätte parken

können, ohne aufzufallen.«

Stauffer pflichtete ihr bei, dachte aber gleichzeitig daran, daß es auch auf dem Land keine

perfekte Ordnung gab. Besucher störten die Ordnung.

»Der Wald ist ein beliebtes Ausflugsziel«, sagte Locher. »Chaos mitten in der Ordnung.«

»Das macht es schwieriger«, sagte Stauffer. »Aber die meisten Ausflügler kommen erst

gegen Mittag. Und um diese Jahreszeit dürften es sowieso nur wenige sein.«

Als sie sich dem Eschenwald näherten, kam Stauffer die Gegend bereits vertraut vor. Wenn

ich noch einige Male herkomme, beginnt mir die Gegend noch zu gefallen. Dann kann ich die

Witwe Bruggisser heiraten und jeden Samstag meinen Wagen waschen. Er lachte, Locher

schaute ihn fragend an. Er zeigte auf die neuen Reihenhäuser, die durch eine Bretterwand von

der Straße abgeschottet waren.

»Könntest du hier leben?«, fragte Stauffer.

»Ich habe so gelebt. Ein paar Jahre. Es geht«, sagte sie ohne Begeisterung.

»Und was denkt man, wenn man in so einem Haus, in so einer Gegend lebt? Wovon träumt

man?«

»Ich glaube nicht, daß Stefan Bruggisser sich ein solches Reihenhaus gekauft hätte«, sagte

sie. Stauffer wußte, was sie meinte. Diese Reihenhäuser waren billige Massenkonfektion. Das

Haus der Bruggissers war teuer und individuell. Die Steigerung für so etwas wäre ein Haus, das

man selber bauen lässt.

»Hattest du keine Probleme damit, wieder in eine Wohnung zu ziehen?«, fragte Stauffer.

»Damals wäre ich sogar in ein Hotel gezogen oder in einen Wohnwagen.«

Sie näherten sich den schmalen Straßen, die zum Wald hinaufführten. Stauffer bemerkte,

daß sie beobachtet wurden, fast überall schienen Blicke ihrem Wagen zu folgen.

»Wir sind das Chaos«, sagte Locher grinsend.

Stauffer trat hart auf die Bremse, als er einen jungen Mann sah, der sich mit einer auffällig

großen Frau unterhielt.

»Ist das nicht Bolliger?«, fragte Locher.

»Ich kümmere mich später um ihn«, sagte Stauffer, als er weiterfuhr. Die Verärgerung war

ihm anzuhören. Wer hatte Bolliger hierher bestellt? War es Wenger? Stauffer konnte sich das

nicht vorstellen. Er wollte nicht gleich am ersten Tag Ärger mit dem jungen Polizisten. Deshalb

zog er es vor, ihn nicht sofort zur Rede zu stellen. Er parkte seinen Wagen unterhalb des

Aussichtsplatzes. Noch immer war der Tatort großzügig abgesperrt. Er sah Frick, der sich aus

einer Thermosflasche ein heißes Getränk einschenkte. Damian Stauffer und Tanja Locher

stiegen aus dem Wagen und gingen auf Frick zu.

7

»Ich sagte Ihnen doch schon, daß ich nichts gesehen habe.« Die Stimme der Frau klang sehr

gereizt, sie schaute Bolliger mit funkelnden Augen an.

»Jedes Detail ist wichtig», sagte Bolliger.

»Sie sind schon der Dritte, der mir das heute sagt. Aber es gibt keine Details. Ich bin gerne

bereit der Polizei zu helfen, aber ich bin nicht bereit, den ganzen Tag die gleichen Fragen zu

beantworten.«

»Sie leben alleine in dem Haus?«, fragte Bolliger und zeigte auf das Haus, das mindestens

fünf Zimmer hatte.

»Mein Mann ist mit unseren beiden Söhnen bei einem Wettkampf.«

»Ich habe früher auch Spitzensport betrieben«, sagte Bolliger, was mehr als übertrieben war.

»Das glaube ich Ihnen gerne«, sagte die Frau herablassend.

»Fahrrad, Fußball oder Turnen?«, fragte Bolliger.

»Schach«, sagte die Frau.

»Schach?«, fragte Bolliger.

»Das ist das Spiel mit den Springern und Türmen«, sagte die Frau.

»Ich weiß, was Schach ist«, sagte Bolliger. »Mein Bruder spielt Schach.«

»Das ist hochinteressant. Aber ich glaube nicht, daß es zur Aufklärung des Verbrechens

beiträgt«, sagte die Frau. Arrogante Fotze, dachte Bolliger und stellte sich vor, wie er die Frau

bei einem mehrstündigen Verhör weichkriegen würde. Er liebte solche Vorstellungen. Nach ein

paar Stunden würde sie darum betteln, ein Geständnis ablegen zu dürfen. Die Frau drehte sich

um und ließ Bolliger im Vorgarten ihres Hauses stehen. Einfach so. Bolliger spürte, wie die

Wut langsam hochkroch, vom Magen aufwärts unter die Rippen, in den Hals, in die

Stimmbänder.

»Danke für die Auskunft«, sagte Bolliger, doch es kratzte nur und klang nach einem

Lungenkranken. Er schaute auf seine Armbanduhr und tat so, als würde er etwas notieren. Die

Wut verrauchte nur langsam. Eine Stunde war er jetzt schon hier, und noch immer gab es

nichts, womit er Stauffer hätte beeindrucken können. Die Frau schloss demonstrativ laut das

Küchenfenster. Bolliger verließ den Vorgarten und unterließ es, das Gartentor zuzuknallen,

obwohl es ihn in den Fingern juckte.

Von einer jungen Polizistin hatte er erfahren, daß im Eschenwald eine Leiche gefunden worden

war. Sie hatte ihn aufgeregt angerufen, und wunderte sich darüber, daß er nicht schon längst

Bescheid wußte. Bolliger hatte ihr vor einiger Zeit voller Stolz gesagt, daß er jetzt der Kripo

angehört, Abteilung Gewaltverbrechen. Und jetzt war sie es, die zuerst am Tatort war, weil sie

an diesem Morgen Dienst hatte. Bolliger hatte sich in Rekordzeit angezogen und war mit

seinem Wagen in halsbrecherischem Tempo durch Zürich und die Vororte gerast. Heimlich

wünschte er sich sogar, von einer Streife angehalten zu werden, nur damit er den Kollegen

mitteilen konnte, daß er unterwegs zu einem Tatort war. Mord. Höchste Priorität. Lukas

Bolliger der Supercop. Er wollte unbedingt einen guten Eindruck machen, zeigen, wie motiviert

er war, bereit, Tag und Nacht zu arbeiten. Er stellte sich insgeheim vor, von Stauffer gelobt und

zu seiner rechten Hand befördert zu werden. Der alte Wenger würde es sowieso nicht mehr

lange bringen. Die Locher kannte er nicht gut. Stauffer auch nicht. Aber den Holzer kannte er.

Ein alter Säufer, den man schon längst hätte in Pension schicken sollen. Er hatte sich bei seinen

Kollegen nach Stauffer erkundigt. Bei ihrem Gespräch unter vier Augen hatte er keinen

schlechten Eindruck gemacht. Ein wenig undurchschaubar vielleicht. Und genau das hatten ihm

auch andere gesagt. Schwer einzuordnen sei er, der Stauffer. Aber er hatte ihn, Bolliger,

vorgeschlagen. Er wollte ihn in seiner Truppe. Endlich einer, der merkt, wie gut ich bin, hatte

Bolliger gedacht und sich geschworen, die Chance zu nutzen. Deshalb war er hier. Deshalb ließ

er sich von einer arroganten Ziege runtermachen. Zwei Söhne, die Schach spielten.

Wahrscheinlich beide schwul, zumindest aber blass und schwächlich. Er spannte die Muskeln

seines Bizeps. Ein Schlag, und du bist schachmatt. Er schaute sich auf der schmalen Straße um.

Hier hatte er schon alle befragt. Auch den Alten, der ihn hinter dem Vorhang beobachtete, als er

an seinem Haus vorbeiging. Hatte aus dem Mund gestunken und ihm erzählt, daß man nachts

manchmal seltsame Lichter am Himmel beobachten konnte. Die Leute haben Geld und nichts

zu tun. Sie werden verrückt. Wer nichts tut, wird verrückt. Bolliger haßte es, untätig zu sein.

Ein kleiner Hinweis nur, ein klitzekleiner Verdacht, eine winzige Beobachtung. Er flehte nach

einem Anhaltspunkt, als er um die Ecke bog und ein weiteres Gartentor öffnete.

8

Stauffer lehnte freundlich ab, als Frick ihm einen Schluck Tee anbot. Auch Locher war nicht

darauf erpicht, aus dem braunen Plastikbecher zu trinken. Frick verschloss die Thermosflasche

und verstaute sie in seinem Wagen. Vom Rücksitz nahm er einen Notizblock, der mit kleinen

Buchstaben vollgekritzelt war. Stauffer schaute auf die Notizen und beneidete Frick um dessen

Handschrift. Frick überflog seine Notizen. Er nickte einige Male und zeigte mit dem Stift auf

ein Wort, doch Stauffer konnte die Worte nicht lesen, sie waren zu klein und zudem hielt Frick

den Notizblock schräg nach oben.

»Todesursache und Todeszeitpunkt scheinen mehr oder weniger klar. Zwischen 7 und 8 Uhr

wurde der Mann mit einem Metallgegenstand getötet.«

»Wie viele Schläge waren es?«, fragte Locher. Frick schaute kurz über den Rand seiner

Brille.

»Ein halbes Dutzend. Mindestens. Alle Schläge wurden mit großer Wucht ausgeführt.«

»Wurde auf das Opfer auch noch eingeschlagen, als der Mann schon tot war?«, fragte

Stauffer.

»Vermutlich«, sagte Frick.

»Wut«, sagte Locher. »Wut und Hass.«

»Oder jemand, der den Anschein erwecken wollte, als wäre die Tat in großem Zorn oder

Hass geschehen«, sagte Frick und der tadelnde Unterton war nicht zu überhören. Stauffer

schaute zu Locher, er wollte nicht, daß sie wegen einer Lappalie einen Streit entfachte. Sie

schien ruhig zu bleiben.

»Gibt es verwertbare Spuren?«, fragte Stauffer.

Frick ließ seinen Finger über den Schreibblock wandern.

»Schuhabdrücke, aber undeutlich und kaum brauchbar. Können, müssen aber nicht vom

Täter stammen.«

»Wenn wir davon ausgehen, daß es sich um einen Täter handelt«, sagte Locher. Bitte jetzt

keinen Geschlechterkrieg, dachte Stauffer, als er in ihr triumphierendes Gesicht blickte. Frick

räusperte sich und fuhr betont sachlich mit seinen Erläuterung fort.

»Was wir mit Sicherheit sagen können, ist, daß der Mann am Leichenfundort getötet wurde.

Die vielen Blutspritzer belegen das. Die Wahrscheinlichkeit, daß der Täter«, Frick schaute kurz

auf, ohne Locher dabei ins Gesicht zu sehen, »daß die Täterschaft ebenfalls Blut abbekommen

hat, ist sehr groß.«

»Was ist mit der Tatwaffe?«, fragte Stauffer.

»Wir sind noch dabei, den Wald und die angrenzenden Grundstücke abzusuchen. Bis jetzt

ohne Resultat.«

Stauffer atmete tief durch.

»Da rennt oder geht einer aus dem Wald, die Kleidung voller Blutspritzer, einen blutigen

Metallgegenstand in der Hand, und keiner hat etwas gesehen.«

»Das stimmt nicht ganz«, sagte Frick.

»Es gibt Zeugen?«, fragte Locher erstaunt.

»Wie man’s nimmt«, sagte Frick. Sein Finger wanderte wieder über die Notizen.

»Eine Frau hat das Opfer kurz vor der Tat gesehen.«

»Im Wald?«, fragte Locher.

»Sie hat gesehen, wie das Opfer zum Wald hochlief.«

»Das ist alles?«, fragte Stauffer ungeduldig.

»Er hat ihr zugewunken«, sagte Frick und zeigte auf den Schreibblock.

»Wo wohnt die Frau?«, fragte Locher. Frick nannte ihr die Adresse, und zeigte auf eine

Häuserzeile.

»Bannwart? Da war ich schon. Der Mann sagte, daß seine Frau einkaufen sei. Er hat nichts

gehört oder gesehen.«

»Die Aussage stammt von Frau Bannwart«, sagte Frick.

»Ist sie die einzige, die etwas mitbekommen hat?«, fragte Stauffer.

»Ein Mann will einen Schuss gehört haben. Eine Frau glaubte, einen Wagen gehört zu

haben, der auffällig laut und schnell an ihrem Haus vorbeigefahren sei. Als nachgefragt wurde

stellte sich heraus, daß das irgendwann in der Nacht war. Das ist alles.«

Stauffer nickte und streckte Frick seine Hand hin.

»Wenn was ist, möchte ich sofort informiert werden. Und die Kollegen sollen nicht

lockerlassen, bis sie die Tatwaffe gefunden haben oder sicher sein können, daß sie nicht hier im

Wald liegt.«

Frick drückte auch Locher die Hand, sah ihr aber nicht in die Augen, als sie sich bei ihm

bedankte.

Sie gingen zu Stauffers Wagen. Locher schaute sich nach Frick um.

»Auch einer der Frustrierten, der sich ständig übergangen fühlt, wenn eine Frau einen

besseren Job hat als er.«

Stauffer hatte keine Lust zu antworten. Er erinnerte sich daran, daß im Zusammenhang mit

Frick über Scheidung geredet worden war, ein Scheidungskrieg, aber er war sich nicht sicher,

ob es tatsächlich zutraf. Geredet wurde viel, auch unter Polizisten.

»Was ist mit Bolliger?«, fragte Locher.

»Später«, sagte Stauffer und zeigte auf die Häuserzeile, die in den Hang hinein gebaut

worden war. Ein halbes Dutzend Häuser mit dunklen Fassaden und großen Gärten.

»Herr Bannwart hat mir erzählt, daß seine Frau erst um acht aus dem Haus gegangen war.«

»Vielleicht trifft das ja auch zu. Von da drüben sieht man bis zum Waldrand.«

»Die Frau muss über Adleraugen verfügen, wenn sie vom Garten aus Stephan Bruggisser

gesehen hat.«

»Wohl wahr«, sagte Stauffer und ging weiter. Unterwegs schaute er sich mehrmals nach

Bolliger um, konnte ihn aber nicht sehen. Es schien so, als hätte sich die Lage normalisiert. Wie

nach jeder Katastrophe. Langsam kehrt der Alltag zurück, die gewohnte Ordnung. Störend

waren nur noch die Polizisten und die Absperrung oben am Wald. Lochers Handy piepste zwei

Mal. Sie starrte auf das Display und schüttelte den Kopf. Sie blieb stehen, als sie den Privatweg

erreichten, der die einzelnen Grundstücke miteinander verband. Eines der Häuser schien

unbewohnt zu sein. Eine Abfallmulde stand hinter dem Gartentor, war aber leer. Stauffer sah

durch eines der Fenster auf dunkle Holzwände und vergilbte Tapeten.

»Das ist es«, sagte Locher und zeigte auf einen Garten, der voller Gartenzwerge, Elfen,

Kobolde und anderen Fantasiefiguren war. Sie betraten das Grundstück, und Stauffer tätschelte

einem riesigen Zwerg die Mütze. Er zuckte zurück, als er das Bellen eines Hundes vernahm.

Locher deutete auf ein Gitter, hinter dem ein großer Schäferhund die Zähne fletschte.

»Schon gefrühstückt?« rief Stauffer dem Hund zu und hielt ihm eine Hand entgegen. Der

Hund stellte sich auf die Hinterbeine und scharrte mit den Vorderbeinen am Gitter, dazu bellte

er laut.

»Schon gut, Arthur«, sagte eine stämmige Frau, die plötzlich vor ihnen stand. Stauffer hatte

sie nicht kommen sehen.

»Frau Bannwart?«, fragte Locher und ging auf die Frau zu. Diese sah strafend auf den

Hund, der sich nur langsam beruhigte.

»Ein guter Wachhund«, sagte Stauffer.

»Fremde machen ihn nervös«, erwiderte Frau Bannwart und schüttelte Stauffer und Locher

die Hand. Stauffer glaubte eine Bewegung hinter einem der Fenster wahrzunehmen.

Wahrscheinlich ihr Mann, der uns beobachtet, dachte er.

»Wir sollten vielleicht besser ins Haus gehen«, sagte Locher und zeigte auf die Haustüre.

»Nicht nötig«, sagte Frau Bannwart. »Die Gigers sind weg am Wochenende, und die

Schelberts sind schon vor einem halben Jahr weggezogen. Seither steht das Haus leer. Mich

geht es ja nichts an, aber ich glaube, es ist in einem schlechten Zustand. Solche Häuser lassen

sich nicht so einfach verkaufen. Gerade heutzutage, wo überall gebaut wird. Möchten Sie etwas

trinken?«

Stauffer und Locher schüttelten beide den Kopf.

»Setzen wir uns«, sagte Frau Bannwart und lud sie auf die gedeckte Veranda ein. Die Sonne

schien direkt auf die Stühle und den Tisch. Es war angenehm warm, und Stauffer öffnete den

Reisverschluss seiner Jacke.

»Ich kann es immer noch nicht fassen«, sagte Frau Bannwart, aber sie machte alles andere

als einen fassungslosen Eindruck. Eine starke Frau, dachte Stauffer. Er schaute nach oben, in

der Erwartung, das Gesicht von Herrn Bannwart hinter der Fensterscheibe zu sehen, aber die

Fensterläden über der Veranda waren geschlossen. Starke Frau und schwacher Mann, dachte

Stauffer. Der Garten gepflegt, nicht übertrieben, und überall die Figuren, eine gewaltige

Sammlung. Vielleicht war der Hund nur da, um die Gartenzwerge zu bewachen.

»Wie gut haben Sie Herrn Bruggisser gekannt?«, fragte Locher.

»Besser als all die anderen«, sagte Frau Bannwart.

»Sie haben ihn gut gekannt?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

Stauffer zog die Stirn hoch und räusperte sich. Doch ehe er eine Frage stellen konnte,

begann Frau Bannwart zu reden, als habe sie den ganzen Morgen auf Zuhörer gewartet.

»Die Leute ziehen hierher, weil sie ihre Ruhe haben möchten. Viele kommen aus der Stadt.

Wir lebten früher auch in der Stadt. Aber wer es sich leisten kann, zieht aufs Land. Hier gibt es

keine Ausländer und keine Drogen. Hier können die Kinder noch gefahrlos aufwachsen. Aber

es ist nicht mehr so wie früher. Wenn es schön ist, kommen die Russen.«

Stauffer und Locher schauten Frau Bannwart fragend an.

»Ja, die Russen. Sie machen ein Feuer, braten Fleisch, trinken und singen. Ganze Horden

von Russen.«

Das ist neu, dachte Stauffer. Russen, die ländliche Gemeinden unsicher machten, nachdem

sie sich in Zürich an der BahnhofSstraße mit Schweizer Uhren eingedeckt hatten.

»Die Russenmafia ist überall. Das kann man im Fernsehen sehen«, sagte Frau Bannwart

bestimmt.

»Gab es Streit zwischen den Russen und Herrn Bruggisser?«, fragte Locher. Stauffer sah ihr

erstaunt in die Augen. Sie schaltet schnell, dachte er. Während ich mich in Gedanken über ihre

Ansichten lustig mache, versucht sie auf den Hintersinn einer absurden Aussage zu kommen.

»Die Russen kommen erst am Sonntag. Am Sonntag geht niemand aus der Nachbarschaft in

den Wald. Ist voll von Spaziergängern.«

»Und Russen«, ergänzte Stauffer.

»Genau«, sagte Frau Bannwart.

»Haben Sie Herrn Bruggisser jeden Morgen beim Joggen gesehen?«

»So ist es. Wir sind beide Frühaufsteher.«

»Sie gehen mit dem Hund raus?«, fragte Locher mit Blick nach links auf das Gehege, in

dem der Schäferhund jetzt friedlich saß und die Gartenzwerge anstarrte. Vielleicht zählt er sie,

und wenn einer fehlt, schlägt er Alarm, dachte Stauffer.

»Jeden Morgen. Bei Wind und Wetter«, sagte Frau Bannwart.

»Und heute morgen haben Sie Herrn Bruggisser gesehen. So wie jeden Samstag?«, fragte

Stauffer.

Frau Bannwart reagierte nicht auf seine Frage. Sie wandte sich Locher zu.

»Die Bruggissers sind auch hierher gezogen, weil sie ihre Ruhe haben wollten. Der

Bruggisser arbeitete bei einer Bank. Seine Frau habe ich fast nie gesehen. Das ist eine, die

vorher nur in der Stadt gelebt hat, denen fällt es schwer, die Leute auf der Straße zu grüßen.«

»Herr Bruggisser hat Sie immer gegrüßt?«, fragte Locher.

»Ausgesprochen nett war er. Hat mir zugewinkt.«

»Auch heute morgen?«

»Immer.«

So wenig braucht es, um zu einem netten Nachbarn zu werden, dachte Locher. Jeden Tag

freundlich grüßen und die richtige Partei wählen.

»Um welche Zeit gingen Sie heute aus dem Haus?«, fragte Stauffer.

»Halb acht etwa.«

»Haben Sie außer Herrn Bruggisser sonst noch jemanden gesehen?« Stauffer schaute auf

das Immergrün, das in einem kleinen Beet vor der Hauswand blühte.

»Heute morgen?«

Stauffer und Locher nickten synchron. Frau Bannwart dachte nach, setzte zum Sprechen an,

zögerte und schüttelte den Kopf.

»Nein, da war nichts. Ich habe niemanden gesehen.«

»Sie zögern«, sagte Locher.

»Ja. Weil ich für einen Moment glaubte, jemanden gesehen zu haben. Oben, im Wald. Aber

als ich genauer hinsah war da nichts. Und die Sonne schien. Da sieht man nicht viel.«

»Das ist wichtig Frau Bannwart. Beschreiben Sie genau, was Sie zu sehen glaubten.«

Stauffer änderte seine Sitzposition, Locher beugte sich leicht vor, beide warteten gespannt auf

Frau Bannwarts Ausführungen.

»Herr Bruggisser war stehengeblieben. Es sah aus, als würde er einen Schnürsenkel binden.

Und da glaubte ich, eine Bewegung wahrzunehmen oben im Wald. Ja, wie wenn jemand nach

vorne treten würde, hinter einem Baum hervor oder so und gleich wieder zurück. Aber ich kann

nicht sagen, daß ich tatsächlich jemanden gesehen habe. Es war mehr ein Gefühl. Wie wenn Sie

in einem Raum stehen und spüren, daß hinter ihnen jemand den Raum betreten hat. Sie haben

nichts gehört und gesehen, aber Sie sind sich sicher, daß jemand hinter ihnen ist.«

»Und genauso fühlten Sie diese Person im Wald?«, fragte Stauffer.

»Da war etwas. Aber ich kann Ihnen nicht sagen, was es war. Ein Tier vielleicht.«

»Aber als sie es wahrnahmen, dachten Sie nicht an ein Tier, oder?« Lochers Finger der

linken Hand trommelten auf den Aluminiumtisch.

»Nein«, sagte Frau Bannwart und senkte den Kopf. »Für einen Augenblick war ich mir

sicher, daß da oben jemand steht.«

»Eine Person oder mehrere?«, fragte Stauffer und dachte an die Russen, doch die schienen

in Frau Bannwarts Überlegungen keine Rolle mehr zu spielen.

»Eine Person. Ein Mann. Ja, ich war mir sicher, daß da oben ein Mann stand. Sich

versteckte. Aber da war niemand, als ich hinschaute. Es war alles wie immer. Ein schöner

Samstagmorgen. Herr Bruggisser, der freundlich grüßt, und Arthur, der mir zu verstehen gibt,

welchen Weg er einschlagen möchte. Alles wie immer. Aber es war nicht wie immer. Das Böse

ist in unser Dorf gekommen.«

Sie sagte es so unheilvoll, als wäre gerade die Pest ausgebrochen.

»Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen«, sagte Locher und berührte Frau Bannwarts

Hand. So etwas würde ich nie tun, dachte Stauffer. Aber es war genau das Richtige. Erst jetzt

wurde ihm klar, daß sich Frau Bannwart tatsächlich Vorwürfe machte. Wenn Sie Bruggisser

gewarnt hätte, ihm zugerufen hätte, da ist jemand oben im Wald, dann wäre Bruggisser

vielleicht noch am Leben. Oder auch nicht. Es war sinnlos, darüber zu spekulieren.

»Wer rechnet schon mit so etwas?«, fragte Frau Bannwart. »Wir leben hier, weil es so etwas

hier nicht gibt. Hier kennt jeder jeden. Vielleicht nicht besonders gut, aber man kennt sich. Man

achtet sich gegenseitig. Man grüßt sich. Wo soll man denn noch leben?«

Stauffer dachte daran, daß es, statistisch gesehen, wahrscheinlich nicht einmal alle 100 Jahre

einen Mord in dieser Gegend gab. Vielleicht einmal ein Ehedrama. Mann erschießt seine Frau

und dann sich selber. Und natürlich Selbstmorde. Polizisten wußten, wie viele Selbstmorde es

in diesem Land gab. Erschreckend viele. Täglich. Überall. Auch auf dem Lande. Aber

Selbstmorde zählten nicht. Davor fürchtete sich niemand, das war kein Grund wegzuziehen. Es

sei denn es geschieht im Haus, in dem man lebt. In der eigenen Wohnung. Im Keller. Ein Mann,

der sich an einem Heizungsrohr erhängt. Stauffer verscheuchte den Gedanken.

»Ist Ihnen vielleicht noch etwas anderes aufgefallen? Etwas, das erst jetzt, im nachhinein

merkwürdig ist?«, fragte Stauffer.

»Merkwürdig?«, fragte Frau Bannwart. Drücke ich mich so unverständlich aus?, dachte

Stauffer.

»Ein Geräusch, ein Auto, etwas, das man nicht jeden Samstag Morgen hört oder sieht«,

sagte Locher.

»Die Sonne schien«, sagte Frau Bannwart. Großartig, dachte Stauffer. Nur die Sonne war

Zeuge. Gab es nicht einen Film, der so hieß?

»Mit Herrn Bruggisser stimmte etwas nicht«, sagte Frau Bannwart.

»Ja?« sagte Locher erwartungsvoll.

»Er bückte sich.«

»Um sich einen Schnürsenkel zu binden«, sagte Stauffer.

»Es sah so aus. Aber für einen Moment dachte ich, daß er umkehren wolle. Er brach seinen

Lauf ab.«

Stauffer wurde hellhörig.

»War das bevor oder nachdem Sie die Bewegung im Wald wahrnahmen?«

»Davor. Unmittelbar davor. Als ich nämlich wieder auf Herrn Bruggisser schaute, rannte er

bereits wieder. Ja. Zuerst brach er seinen Lauf ab, und dann glaubte ich, jemanden zu sehen.«

»Das ist gut«, sagte Stauffer, mehr zu sich selbst.

»Gut?«, fragte Frau Bannwart irritiert.

»Sie haben uns sehr geholfen«, sagte Stauffer, und es war ehrlich gemeint. Er schaute zu

Locher, diese nickte kurz und stand auf. Sie verabschiedeten sich von Frau Bannwart. Stauffer

gab ihr seine Karte mit dem Hinweis, daß sie ihn jederzeit anrufen könne, wenn ihr noch etwas

einfalle.

»Sie werden ihn finden, nicht wahr?« sagte Frau Bannwart eindringlich. Stauffer blieb ihr

eine Antwort schuldig, doch sein Gesichtsausdruck markierte Entschlossenheit. Locher drückte

Frau Bannwarts Hand lange und ihre andere Hand berührte Frau Bannwarts Schulter. So etwas

kann ich nicht, dachte Stauffer und war froh, daß er Tanja Locher zu seiner engsten

Mitarbeiterin berufen hatte. Sie verließen den Garten. Stauffer winkte Arthur zu, der in der

Sonne saß, die Zunge hing ihm aus dem Mund. Stauffer unterließ es diesmal, einen der

Gartenzwerge zu tätscheln. Sie gingen schweigend bis zum Wagen. Locher lehnte sich an die

Vordertür und schaute auf den Acker, Stauffer blieb neben dem Kotflügel stehen.

»Sie hat ihn gesehen«, sagte Locher.

»Nicht gesehen. Aber sie hat ihn wahrgenommen. Da bin ich mir sicher.«

»Und wenn es nur eine Luftspiegelung war?«

»Es passt alles haargenau. Da oben steht einer und wartet auf Bruggisser. Er weiß, welche

Route er wählt, jeden Samstag. Dann aber geschieht etwas Ungewöhnliches.«

»Bruggisser bleibt stehen und schnürt sich einen Schuh.«

Stauffer schüttelte den Kopf.

»Frau Bannwart sagte, es sah so aus, als würde er sich bücken und einen Schnürsenkel

binden. Sie sagte nicht, daß es so war. Aber das ist auch nicht entscheidend. Entscheidend ist,

daß sie glaubte, Bruggisser wolle umkehren. Wie sagte sie? Für einen Moment sah es so aus, als

wolle er umkehren.«

Locher drehte den Kopf zu Stauffer.

»Der Mann im Wald muss das ebenfalls geglaubt haben«, sagte sie. Stauffer lächelte.

»Deshalb trat er aus seinem Versteck hervor. Um sich zu vergewissern, ob es tatsächlich so

war«, sagte Locher.

»Sie hat ihn gesehen«, sagte Stauffer.

»Ein Mann. Ein Einzeltäter.«

»Es können mehrere gewesen sein. Aber nur einer trat aus dem Versteck hervor. Hinter

einem Baum vielleicht.«

»Etwas will mir nicht in den Kopf«.

»Nur zu«, forderte Stauffer sie auf weiterzusprechen.

»Der Mann, der aus dem Wald trat, er muss auch Frau Bannwart gesehen haben.«

Stauffer hatte diesen Gedanken auch schon gehabt.

»War es nicht ein zu großes Risiko? Musste er nicht damit rechnen, daß der Hund anschlug

oder daß Frau Bannwart ebenfalls in den Wald kam?« Als Locher dies sagte, wußte Stauffer,

daß sie vergessen hatten, Frau Bannwart zu fragen, ob sie mit ihrem Hund ab und zu in den

Wald ging. Man vergisst immer eine Frage. Immer. Aber es gibt Fragen, die beantworteten sich

von selbst, dachte Stauffer.

»Er war sich sicher«, sagte Stauffer.

»Er wußte, daß Frau Bannwart mit ihrem Hund einen anderen Weg einschlagen würde.« Der

Satz war Frage und Feststellung zugleich. Locher war zum gleichen Schluss gekommen wie

Stauffer.

»Er muss über einen längeren Zeitraum alles genau ausgekundschaftet haben«, sagte

Stauffer. Locher schaute an ihm vorbei, ihr Gesicht verzog sich zu einer Grimasse.

»Was ist?«, fragte Stauffer, und noch während er fragte, sah er Bolliger, der sich ihnen

näherte. Mit federnden Schritten. Ein Cop aus einem amerikanischen Film. Gut, dachte

Stauffer, bringen wir es hinter uns.

9

Sie gingen zur Feuerstelle. Bolliger erzählte hastig von den Gesprächen, die er geführt hatte.

»Die verheimlichen etwas«, sagte er immer wieder. Stauffer und Locher schwiegen, bis sie

so weit weg vom nächsten Haus waren, daß niemand etwas von ihrer Unterhaltung

mitbekommen konnte.

»So geht das nicht, Bolliger«, sagte Stauffer und schaute dem jungen Polizisten direkt in die

Augen. Bolliger hielt dem Blick stand, aber Stauffer glaubte zu sehen, daß er leicht errötete.

»Ich dachte, je schneller ich hier bin, um so besser für die Ermittlungen«, sagte Bolliger.

»Ich will wissen, wo meine Leute sind und was sie tun«, sagte Stauffer. Locher steckte sich

einen Kaugummi in den Mund.

»Gut, ja. Es war ein Fehler. Ich war aufgeregt. Mein erster Mordfall«, sagte Bolliger.

»Dein Mordfall?«, fragte Locher und runzelte die Stirn.

»Wir sind doch jetzt ein Team«, sagte Bolliger und schaute von Stauffer zu Locher und

wieder zu Stauffer.

»In einem Team kann nicht jeder machen, was ihm gerade als richtig erscheint«, sagte

Stauffer. »Jemand muss den Überblick behalten. Und das geht nicht, wenn alle auf eigene Faust

ermitteln.«

Bolliger nickte, und Stauffer kratzte sich am Kinn.

»Du hast gesagt, daß die Nachbarn etwas verschweigen?«, fragte Stauffer. Bolligers

Gesichtsausdruck hellte sich auf.

»Ich bin überzeugt davon.«

»Und weshalb?«

Locher spuckte den Kaugummi wieder aus. Stauffer dachte daran, daß der Kaugummi ein

tolles Indiz für ihre Anwesenheit war. Abdrücke der Zähne, Speichel im Kaugummi, damit

konnte man jeden Mörder überführen. Wenn er lange im Wald gewartet hat, gibt es vielleicht

einen Kaugummi von ihm oder eine Zigarettenkippe, überlegte er.

»Die sagen alle, daß sie nichts gesehen oder bemerkt haben. Keiner. Das ist doch nicht

normal«, sagte Bolliger und zeigte auf die Häuser.

»Du glaubst, die waren alle wach und haben weggeschaut, als Bruggisser getötet wurde?«

»Warum nicht? Solche Dorfgemeinschaften halten zusammen.«

Stauffer lachte laut, und auch Locher schien sich über Bolligers Aussage zu amüsieren.

»Das ist keine Dorfgemeinschaft, Bolliger. Das ist eine Vorstadtsiedlung. Die Leute arbeiten

wochentags und schlafen am Samstag etwas länger. Auch wenn der Mord mitten in der Stadt

verübt worden wäre, hieße das noch lange nicht, daß es Zeugen geben muss.«

»Ich finde, wir sollten die Leute vorladen und einzeln befragen. Die sagen doch erst etwas,

wenn Druck da ist.«

Du meine Güte, dachte Stauffer. Er ist noch schlimmer, als ich gedacht habe. Er sah, wie

zwei junge Männer aus einem Wagen stiegen, der eine hatte eine Kamera in der Hand.

Lokalfernsehen. Stauffer konnte sich gut vorstellen, wie der Beitrag aussehen würde. Brutaler

Mord. Idyllische Gegend. Scharfe Kontraste. Das mochten die Journalisten.

»Hast du irgend etwas erfahren, das uns weiterhelfen könnte?«, fragte Locher ungeduldig.

Bolliger zückte eine elektronische Agenda aus seiner Jackentasche. Er drückte eine Taste

und drehte sich ein wenig ab, damit das Sonnenlicht nicht auf das Display schien.

»Bruggisser hatte öfter Streit mit seiner Frau.«

»Eine konkrete Aussage oder nur eine Vermutung?«, fragte Locher.

»Zwei Nachbarn sagten mir unabhängig voneinander, daß sie in den vergangenen Wochen

mehrmals Auseinandersetzungen zwischen dem Ehepaar Bruggisser gehört oder gesehen

hätten.«

»Sagten Sie, worum es bei den Auseinandersetzungen ging?«, fragte Stauffer.

Bolliger schüttelte den Kopf und steckte die elektronische Agenda in seine Jackentasche

zurück.

»Sie haben nur mitbekommen, daß es laut zuging, und das Ehepaar wild gestikuliert hat.«

»Wir müssen die Witwe darauf ansprechen«, sagte Stauffer zu Locher. Diese nickte und

schaute auf ihre Armbanduhr.

»Später«, sagte Stauffer. »Das eilt nicht.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Bolliger. »Wir sollten sofort mit ihr reden.«

»Und sie foltern und zu einem Geständnis zwingen«, sagte Locher ohne Ironie. Bolligers

Augen funkelten wild.

»Nur weil sie eine Frau ist, heißt das noch lange nicht, daß wir sie mit Samthandschuhen

anfassen müssen.«

»Sie hat vor wenigen Stunden ihren Mann verloren«, sagte Stauffer.

»Ich stelle mir das so vor«, sagte Bolliger, den Blick zurück auf die Häuser gerichtet. »Er

hat seine Frau geschlagen, vielleicht sogar misshandelt. Die Nachbarn haben das gewusst. Als

sie sich rächte oder jemand für sie den Rächer gespielt hat, haben alle Nachbarn weggeschaut.

Ein Komplott.«

Tanja Locher seufzte laut. Stauffer versuchte sie mit einem kurzen Blick zu beschwichtigen.

»Das sind Spekulationen, Bolliger. Wir wissen noch viel zu wenig über den Toten und sein

Umfeld. Ich möchte, daß du herausfindest, wer seine Arbeitskollegen waren. Jene, mit denen er

täglich zu tun hatte. Es wird nicht einfach sein am Wochenende. Die Banken haben in der

Regel eine Notfallnummer, ruf dort an, frag nach dem Filialleiter. Zuerst aber rufst du Anna

Herold an. Sag ihr, was vorgefallen ist. Du wirst mit ihr zusammenarbeiten. Und um drei

treffen wir uns bei mir zu Hause. Du weißt, wo das ist?«

Bolliger nickte. Nachdem er gegangen war, schauten sich Stauffer und Locher fragend an.

»Es wird nicht einfach mit ihm«, sagte sie. Warte, bis du Holzer kennengelernt hast, dachte

Stauffer.

»Ich möchte, daß du dich noch einmal mit Frau Bruggisser unterhältst. Ich fahre zurück in

die Stadt«, sagte Stauffer und öffnete die Wagentüre.