rezension: lebende körper. biologisches und anthropologisches wissen bei rilke, döblin und jünger...
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Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 30 (2007): Rezensionen
DOI: 10.1002/bewi.200701287
Benjamin B�hler: Lebende K�rper. Biologisches und anthropologisches Wissenbei Rilke, D�blin und J�nger. W�rzburg: K�nigshausen & Neumann 2004. 325Seiten, gebunden e 45,–; ISBN 3-8260-2930-5.
Am Leitfaden von Erkl�rungsschemata organi-scher Regulation und Organisation untersuchtB�hler die „Wissensfigur des lebenden K�rpers“ inder ersten H�lfte des 20. Jahrhunderts, um Wech-selwirkungen zwischen Literatur, Gesellschaft undNaturwissenschaft darzustellen. Methodischschließt er hierf�r an Hans Blumenbergs Metapho-rologie, Michel Foucaults Diskursanalyse und Jo-seph Vogels Entwurf einer Poetologie des Wissensan. Inhaltlich orientiert er sich an Wolfgang Rie-dels, Thomas Lemkes, Stefan Riegers und PhilippSarasins Arbeiten zur Schnittfl�che von Gesell-schaft, Anthropologie und Lebenswissenschaftenin der Moderne. Zur Moderne gelangt B�hler an-hand einer dichten Rekonstruktion des Problemsvon Regelungssystemen und der Vitalismus-Me-chanismus-Debatten vom 18. bis zum Ende des 19.Jahrhunderts. Grundlage dieser Rekonstruktion istGeorges Canguilhems Aufsatz Die Herausbildungdes Konzepts der biologischen Regulation (1974);dieser endet mit Hans Drieschs Regulationsschriftum 1900. B�hler nimmt Drieschs der Entwicke-lungsbiologie entstammenden Regulationsbegriffauf und �berf�hrt ihn in Wolfgang K�hlers Ge-staltpsychologie und Ludwig von Bertalanffys Sy-stemtheorie. Hieran schließt mit Max Schelers Ge-gensatz von Geist und Leben, Helmuth PlessnersStufenmodell des Organischen und Arnold Geh-lens Anthropo-Biologie eine Analyse der Positio-nen der Hauptvertreter der sogenannten Philoso-phischen Anthropologie an.
Zwei Motive leiten f�r B�hler die literarischeRezeption der bisher gekennzeichneten Wissens-felder: zum einen die Konstruktion der Wissensfi-gur ,lebender K�rper‘, die als nat�rlich ausgewie-sene Entit�t selbstreguliert existiert, und zum an-deren die technische Modellierung dieser Regula-tion als Steuerungsvorgang innerer und �ußererExistenzbedingungen. Das Objekt ,lebender K�r-per‘ wird auf diese Weise zur Matrize und zumPhantasma von Regulierungs- und Kontrolltech-niken, die sich neben monistischen Naturentw�r-fen vor allem auf Tiere und Menschen als Subjektevon Regulationsprozessen beziehen.
Die an Friedrich Nietzsche anschließende Thesedes „Formierungszwangs“ des Menschen als desnicht festgestellten Tieres, das sich seinen Weltzu-gang zuallererst schaffen muß, ist f�r B�hler so-wohl minimale gemeinsame Plattform von Kybe-rnetik und Philosophischer Anthropologie alsauch Rainer Maria Rilkes, Alfred D�blins und
Ernst J�ngers Ankn�pfungspunkt an Lebenswis-senschaft und Anthropologie. In drei aufeinanderfolgenden Kapiteln stellt B�hler ausgehend vomMensch-Tier-Verh�ltnis in der achten DuineserElegie Rilkes Konzeption der Offenheit des Men-schen dar, der zur „Selbst-Formung“ gezwungenist, D�blins Kritik eines naturalisierenden Regulie-rungsdispositivs des Verh�ltnisses von Ich und Na-tur in Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine(1918), und J�ngers Verherrlichung des Arbeitersals Inbegriff eines neuen Menschentums, dessenMetaphysik ein �konomischer Funktionalismusist, der auch faschistisch gedeutet wurde.
Durch diesen weitgespannten Bogen gelingt esB�hler, in einer spannenden Perspektive die Ver-dichtung und Differenzierung der „Wissensfigur“,lebender K�rper‘ in verschiedenen Wissensfeldernund Disziplinen in der ersten H�lfte des 20. Jahr-hunderts mit einem Schwerpunkt in der Literaturdarzustellen. Ausgangpunkt und Fokus dieserPerspektive ist Foucaults These der doppelten Be-setzung des ,lebenden K�rpers‘ als sich selbst regu-lierende und regulierbare Einheit in der Moderne.
Eine etwas gek�rzte Rekonstruktion der diskur-siven Entfaltung dieser Problemlage vor dem An-fang des 20. Jahrhundert h�tte mehr Raum f�r dieEinbeziehung von Soziologie und Lebensphiloso-phie sowie einige vergleichende Perspektiven zwi-schen nationalen Kontexten gegeben. Martin Hei-degger etwa reagierte auf Regulierungstechnikenin seiner Deutung von Rilkes achter Duineser Ele-gie im Rahmen einer eigenen Technik- und Selbst-formierungsphilosophie. Georg Simmel verwiesauf einen un�berwindbaren Zwiespalt zwischenIndividuierung und Vergesellschaftung des Men-schen und grenzte sich damit zugleich von Zell-staatstheorien ab, die seit Rudolf Virchow in ver-schiedenen Wissensfeldern tradiert wurden. Auchkommt es in Frankreich in den ersten Jahrzehntendes 20. Jahrhunderts zu wirkm�chtigen literari-schen und k�nstlerischen Bewegungen, die sichgegen Milieutheorien der doppelten Besetzung le-bender K�rper wandten. Des weiteren h�tte eineAkzentuierung der zum Teil erheblichen Differen-zen zwischen Scheler, Plessner und Gehlen deutli-cher zeigen k�nnen, an welche Positionen der Phi-losophischen Anthropologie Rilke, D�blin undJ�nger anschlossen. Doch bleiben dies letzten En-des nur �ffnungen, die B�hler durch seine in sichstimmige und zielgerichtete Untersuchung selbstfreilegt. Tobias Cheung, Berlin
176 i 2007 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Ber.Wissenschaftsgesch. 30 (2007) 166–178