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Zurich Open Repository and Archive University of Zurich Main Library Strickhofstrasse 39 CH-8057 Zurich www.zora.uzh.ch Year: 1995 Review of: Giovanni Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons, Übersetzt v. L. Hölscher, hg. v. J. Seifert, Paderborn 1993 Ferber, Rafael Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich ZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-113640 Newspaper Article Originally published at: Ferber, Rafael. Review of: Giovanni Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons, Übersetzt v. L. Hölscher, hg. v. J. Seifert, Paderborn 1993. In: Neue Zürcher Zeitung, 29, 4 February 1995, p.68.

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Page 1: Review of: Giovanni Reale, Zu einer neuen Interpretation ... fileGiovanni Reale: «Zu einer neuen Interpretation Platons» Von Rafael Ferber Das Buch Giovanni Reales, das hier in deut-scher

Zurich Open Repository andArchiveUniversity of ZurichMain LibraryStrickhofstrasse 39CH-8057 Zurichwww.zora.uzh.ch

Year: 1995

Review of: Giovanni Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons,Übersetzt v. L. Hölscher, hg. v. J. Seifert, Paderborn 1993

Ferber, Rafael

Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of ZurichZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-113640Newspaper Article

Originally published at:Ferber, Rafael. Review of: Giovanni Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons, Übersetzt v. L.Hölscher, hg. v. J. Seifert, Paderborn 1993. In: Neue Zürcher Zeitung, 29, 4 February 1995, p.68.

Page 2: Review of: Giovanni Reale, Zu einer neuen Interpretation ... fileGiovanni Reale: «Zu einer neuen Interpretation Platons» Von Rafael Ferber Das Buch Giovanni Reales, das hier in deut-scher

68 Samstag/Sonntag, 4./5. Februar 1995 Nr. 29

029-068LITERATUR UND KUNST Jlnirdunfterdritimg

Akropolis von /illien. Blick auf den Parthenon zwischen den Säulen der Propyläen hindurch. (Bild C. H. Beck)

Die ungeschriebenen LehrenGiovanni Reale: «Zu einer neuen Interpretation Platons»

Von Rafael Ferber

Das Buch Giovanni Reales, das hier in deut-scher Übersetzung vorliegt, ist in Italien ein Best-seller geworden: Seit dem Jahre 1984 sind bereitszehn Auflagen erschienen. Der Herausgeber derdeutschen Übersetzung, die wir Ludger Hölscherverdanken, meint sogar, man dürfe es «vielleichtals die klarste und umfassendste Deutung Platonsansehen [. . .], die jemals vorgelegt wurde». Nunsind im Verlaufe der platonischen Wirkungs-geschichte verschiedenste Deutungen Platons vor-gelegt worden, neuplatonische, neukantianische,neuhegelianische, phänomenologische, analyti-sche. Andere dürften wohl noch folgen. PlatonsDialoge sind offensichtlich offen für die verschie-densten, sogar gegensätzlichen Interpretationen.Wie wir das berühmte Kippbild von W. E. Hillsowohl als junge wie als alte Frau sehen können,so lassen auch die Dialoge Platons konträre Deu-tungen zu.

Nach Reale können wir idealtypisch drei Para-digmen unterscheiden: das neuplatonische, dasSchleiermacherianische und das von der Tübinger

Schule initiierte «neue Paradigma», welches dieDialoge im Lichte der «ungeschriebenen Lehren»zu lesen sucht. Die Tübinger Platon-Schule ist1959 durch zwei Standardwerke begründet wor-den, einmal durch Hans Krämers «Arete bei Pla-ton und Aristoteles. Zum Wesen und zur Ge-schichte der Platonischen Ontologie» und zumanderen durch Konrad Gaisers «Protreptik undParänese bei Platon. Untersuchungen zur Formdes Platonischen Dialogs», dem Gaiser 1964 seingrosses Werk «Platons ungeschriebene Lehre.Studien zur systematischen und geschichtlichenBegründung der Wissenschaften in der Platoni-schen Schule» folgen liess.

Danach haben wir bei Platon keineswegs nurdie Dialoge zu berücksichtigen, sondern auch dieZeugnisse über eine «sogenannte ungeschriebeneLehre», welche sich insbesondere bei Aristoteles(384-322 v. Chr.), Theophrast (372-287 v. Chr.)

und den Aristoteles-Kommentatoren Alexander(2. Jahrhundert n. Chr.) und Simplicius (6. Jahr-hundert n. Chr.) finden. Diese Zeugnisse teilenuns nach der Ansicht der Tübinger Schule erstmit, womit es Platon «ernst» war. Dahingegen

seien die Dialoge vorwiegend «Spiel», nämlichexoterische Werbeschriften von Platons «Privat-universität», der Akademie.

SCHRIFTKRITIK

Für diese Interpretation wird in den Dialogen

einerseits auf die Schriftkritik am Ende des«Phaedrus» und zum anderen auf die «Aus-sparungsstellen» verwiesen, an denen Platon ab-bricht, bevor er das Entscheidende sagt. Als wei-teres Dokument wird der von der TübingerSchule für echt gehaltene «Siebte Brief» ange-

führt. Darin schreibt der Verfasser: «Von mir gibt

es darüber [worum ich mich ernsthaft bemühe]

keine Schrift, noch wird es je eine geben. Denn esist keineswegs sagbar wie andere Lehren, sondernaus vielem Zusammensein im Umkreis der Sacheselbst und aus dem Zusammenleben entsteht esplötzlich wie ein von Feuer springendes in derSeele angezündetes Licht und nährt sich sogleich

selbst.»Das, worum es dem Verfasser, wenn er denn

Platon ist, eigentlich ging, die Wesenserkenntnisund insbesondere die Wesenserkenntnis desGuten, lässt sich so keineswegs allein den Dialo-gen entnehmen. Sie wurde von Platon nur münd-lich ausgewählten Schülern mitgeteilt bzw. wohleher in «wohlgesinnten dialogischen Prüfungen»

aus ihnen selber zu erfragen versucht.

Platon scheint nämlich nicht nur davon über-zeugt gewesen zu sein, dass philosophische Er-kenntnis infolge der Begrenztheit der Erkenntnis-

mittel grundsätzlich inadäquat bleibt: Die Er-kenntnismittel, insbesondere Namen und Defini-tionssätze, führen uns zwar zum Wesen hin, ver-mögen aber nur «Beschaffenheiten», nicht aberdas «Wesen» wiederzugeben. Es muss Platon imVerlaufe seiner Lehrtätigkeit wohl immer deut-licher geworden sein, dass auch die Rezeption derphilosophischen Erkenntnis an gewisse intellek-tuelle und charakterliche Voraussetzungen gebun-

den ist. Diese lässt sich aber besser in einemmündlichen Dialog überprüfen als in einerschriftlichen Publikation, welche zu verschieden-sten Missverständnissen Anlass geben kann.

Nun haben aber - wohl zum Leidwesen Pla-tons - jüngere Mitglieder der Akademie gleich-

wohl summarisch niedergeschrieben, womit esihrem Lehrer «ernst» war. Die hauptsächlicheStelle findet sich im sechsten Kapitel des erstenBuches der Aristotelischen «Metaphysik». Da-nach vertritt Platon eine Zwei-Prinzipien-Lehre,wonach sich die Realität auf zwei Prinzipien zu-rückführen lasse, das Prinzip des «Einen» unddas der «unbestimmten Zweiheit».

Durch das Zusammenwirken dieser Prinzipienentsteht dabei sowohl die sinnliche als auch diegeistige Welt, wobei die geistige durch eine Artvon qualitativen, nichtaddierbaren Zahlen struk-turiert ist, welche den quantitativen übergeordnet

sind. Der Kosmos bildet so ein quasimathe-

matisches Ganzes, das in einem System zweierPrinzipien gipfelt.

DAS NEUE BILD

Das Novum von Reales Interpretation liegtnun darin, dass er das «neue Bild» des «aristote-lischen» Platons als eines mündlichen Prinzipien-theoretikers mit der Kuhnschen Wissenschafts-theorie in Verbindung bringt und den Leser zueinem Gestaltwandel in der Wahrnehmung derPlatonischen Dialoge zu veranlassen sucht. Pla-tons geistige Entwicklung ist danach weitgehendunabhängig von der Chronologie der Dialoge,weiche primär nur einen adressatenbezogenen,protreptischen Charakter haben.

Dabei kann allerdings, wie auch G. Peale ein-gesteht, nur in einem analogen Sinne von einemParadigmenwechsel in der Forschung gesprochen

werden. Denn die verschiedenen Paradigmen,

insbesondere das Schleiermachersche und das derTübinger Schule, sind ja nicht inkommensurabel,wie es für Thomas Kuhns ursprüngliche Konzep-tion verschiedene Paradigmen sind: Die Vertreterder verschiedenen Paradigmen leben nicht in ver-schiedenen Welten, sondern lesen denselben Pla-tonischen Text.

Man kann aber von einem Gestaltwandel odervielleicht besser von einem Aspektwechsel in derWahrnehmung der Platonischen Dialoge spre-chen, insofern nun die «ungeschriebenen Lehren»ins Zentrum des Sehfeldes rücken und als dasHermeneuticum der Platonischen Dialoge dienen.Als Motto stellt Reale Leibniz' Ausspruch voran:«Si quelqu'un reduisoit Platon en systeme, ilrendroit un grand service au genre humain.» Die-ses ungeschriebene Platonische «System» wirduns nun von Reale vorgestellt und mit ausgewähl-

ten Stellen der Dialoge in Verbindung gebracht.

Denn mit den Platonischen Dialogen sei es imPrinzip wie mit einer Bergwanderung: «Die Pla-tonischen Schriften lassen uns den ganzen Berghinaufsteigen, aber sie lassen uns nicht den Gipfelerreichen; die indirekte Tradition versetzt unshingegen in die Lage, diesen Gipfel [die zweiPrinzipien] zu erreichen.»

Das Buch gliedert sich in vier Teile. Der ersteTeil stellt die Wissenschaftstheorie Kuhns vor undwendet sie auf die Platon-Forschung an, der

Von der Amöbe bis Einstein?Karl R. Poppers letztes Buch

Kurz nach seinem Tode im September 1994 istPoppers letztes Werk erschienen, das bereits imTitel die Erkenntnistheorie anzeigt, für die derkritische Rationalismus bekanntgeworden ist:«Alles Leben ist Problemlösen» - denn die Wis-senschaft beginnt nach Poppers Interpretationnicht mit dem Sammeln von Daten oder Fakten,sondern mit Problemen. Diese Probleme stellenden Ausgangspunkt für eine Reihe von Bearbei-tungsschritten dar, wie sie Popper in all seinenSchriften wiederholt. Zunächst wird eine Ver-suchstheorie von möglichst grossem Aussage-gehalt, eine «Tentative Theory», aufgestellt, diesich der Kritik auszusetzen hat, um darin enthal-tene Fehler ausmerzen zu können. Was nach die-ser «Error-Elimination» übrigbleibt, ist dann abernoch lange nicht die reine Wahrheit, sondernlediglich eine bewährte Lösung, die jederzeit er-neut zum Problem werden kann.

Auf diese Weise entfaltet Popper eine Wissen-schaftstheorie, die er in allen Bereichen ange-wandt findet. Denn wenn es heisst, dass allesLeben aus Problemlösungen nach diesem Musterder «Trial-and-error-Strategie» besteht oder - wieer in einem früheren Sammelband betont hat -«von der Amöbe bis Einstein», dann ist damiteine gewagte Hypothese zum Ausdruck gebracht.

Denn dann wäre das Poppersche Falsifikations-kriterium mit einer Aussage verbunden, die sichselbst überprüfen und auf Fehlerhaftigkeit hinuntersuchen liesse. Eine einzige Ausnahme diesesPrinzips wäre die Widerlegung der Verallgemei-nerung, der zufolge alles Leben nach demSchema von Versuch und Irrtum vorgehen würde.

Deshalb fragt Popper auch selbst in seinemjüngsten Buch: «Was ist der entscheidende Unter-schied zwischen einer Amöbe und . . . Einstein?»,obwohl es sich bei beiden zunächst einmal umnichts anderes handelt als um Problemlöser. DieAntwort ist ebenso einfach, wie das ganze Buchgeschrieben ist: Einstein kann seine Fehler aufTheoriebasis begehen und durch Kritik aus ihnenlernen. Die Amöbe hingegen büsst einen Fehlernotfalls mit ihrem Leben. So einfach ist dies, wiees Popper betont: «Alle vorwissenschaftliche Er-kenntnis, ob tierisch oder menschlich, ist dogma-tisch; und mit der Erfindung der nichtdogmati-schen Methode, d. h. der kritischen Methode, be-ginnt die Wissenschaft.»

VON FEHLERN LERNEN

Die Wissenschaft lebt folglich nach Popperausschliesslich von der Kritik und von ihren Feh-lem, aus denen sie lernen und sich dadurch - wiePopper meint - der Wahrheit annähern könne.Deshalb plädiert er für einen Theoriendarwinis-mus, dem alle anderen, d. h. nicht wissenschaft-lich oder kritisch verfahrenden Lebewesen sozu-sagen persönlich zum Opfer fallen. Die Evolu-tionstheorie Darwins wird somit zur Folie erklärt,nach welcher sich alle Lebensprobleme ihrerseitserklären liessen. N ur mit der Einschränkung, dassmenschliches Wissen zur Reflexion fähig ist undsich selbst als fehlbar wissen kann. Dies ist eineGrundeinsicht der Philosophie seit ihrem Be-stehen, eine mit Xenophanes und Sokrates hin-reichend belegte Tradition, auf die Popper gernezurückgreift. Er begreift sich auch gerne als Nach-folger Immanuel Kants in den Fragen der Er-kenntnis und der Aufklärung, wenngleich er einsehr einseitig zurechtgestutztes Kant-Bild propa-giert.

Denn was er von Kant übernimmt, ist ausserder Fehlbarkeit der Vernunft noch die konstitutive

Funktion unseres Denkens, das der Wirklichkeitihr Gepräge verleiht. «Unser Kosmos trägt denStempel unseres Geistes», wie Popper sich aus-drückt. Was er jedoch unmöglich von Kant habenkann, sondern womit er eher hinter diesen zu-rückfällt, ist sein unreflektierter Ausgangspunktdes Realismus, den er für sein Falsifikationskri-terium voraussetzen muss. Theorien können frei-lich nur an der Wirklichkeit scheitern, wenn diesesich selbst eingeteilt haben konnte, was auf dasGegenteil der Kantischen Philosophie hinausliefe.So kann man sich mit Kant auch nicht auf Pop-persche Weise der Wahrheit «annähern», sondernimmer nur zu plausibleren Theorien kommen, diekeineswegs in der transzendenten Wahrheit ihrenMassstab haben können. Wenn man, wie Popperselbst einräumt, die Wahrheit nicht kennen - unddeshalb auch niemals «wissen», sondern nur«raten» - kann, dann ist auch die Vorstellung voneiner Annäherung recht problematisch. Woransoll man sich annähern, wenn man nicht weiss,woran?

THEORIE UND POLITIK

Theorien scheitern deshalb auch nicht ernsthaftan einer subjektunabhängigen Realität, sonderneher scheitert das empirische Falsifikationskrite-rium daran, dass uns eine Wirklichkeit ohne ihreBeschreibung per se unbekannt bleibt. Wasjedoch von Popper mühelos übernommen werdenkann, ist seine eigene Übertragung des Falsifika-tionismus auf die Politik, wo er diese als «Ab-wählbarkeitsprinzip» einführt. Dort trifft auch dasvon ihm behauptete Modell des Theoriendarwi-nismus zumindest als versteckte Ethik zu, wenn«Theorien an unserer Stelle sterben» sollen.Dann ist die Frage tatsächlich wichtig, ob eineRegierungsform demokratisch genannt werdenkann. Denn hierbei geht es nicht um die Frage,

wer der beste Herrscher oder Führer sei, sondernob und wie man diesen «ohne Blutvergiessen»

wieder los wird. Dazu sind freie Wahlen und freieMeinungsäusserung, freie Kritik und freies Ab-wählen von unliebsamen Regierungen erforder-lich. Dies wird auf der Ebene liberaler Aufklärungausgefochten, so dass die Meinung des einen ander Meinung des anderen scheitern kann. Ob erdabei einen realistischen oder einen reflektierten,einen rationalen oder philosophischen Stand-punkt vertritt, ist hierbei völlig unerheblich.

Doch dies ist es in der Wissenschaft auch, inder sich von Zeit zu Zeit Lösungsvorschläge

durchsetzen und wieder verschwinden, ohne dassdaran jemals eine standpunktneutrale Wirklich-keit beteiligt sein müsste. Was wir von Popper ler-nen können, ist der pragmatische Aspekt seinerProblemlösungsversuche, was wir vermeiden kön-nen, ist sein eigener Methodendogmatismus.

Denn ob die Wissenschaft ausschliesslich empi-risch nach Poppers Methode verfahren müsse, umwiderlegbar zu sein, ist mindestens so sehr dieFrage wie der Aspekt, ob nicht doch ein dogmati-scher Kern in Poppers Antidogmatismus erkenn-bar wird. Wenn alles Leben Problemlösen dar-stellt, dann ist auch Poppers Erkenntnistheorieein Problem, denn sie lebt vom kritischen Dis-kurs, der niemals an ein Ende kommt - mit kei-nem letzten Wort. Und das heisst in Poppers eige-

nen Worten: «unended quest».Eberhard Döring

Karl R. Popper: Alles Leben ist Problemlösen. Über Er-kenntnis, Geschichte und Politik. Piper-Verlag, München/Zürich 1994. 336 S., Fr. 40.20.

zweite Teil charakterisiert treffend die «zweiteSeefahrt» als den Weg über die Reden statt dieunmittelbare Wahrnehmung. Im dritten Teil wirdgezeigt, wie die Ideenlehre zu ergänzen ist durcheine «Protologie», d. h. durch eine Lehre von denersten Prinzipien. Der letzte behandelt das Plato-nische Gottesproblem in seinem Zusammenhang

mit der Prinzipienlehre. Alle Kapitel sind didak-tisch ausgezeichnet gestaltet, mit Schemata undz. T. auch mit Bildtafeln verziert, welche die ent-scheidenden Ergebnisse dem Leser einprägen sol-len und auch Verbindungen zur griechischen bil-denden Kunst ziehen. Das Buch stellt ohne Zwei-fel eine grosse synthetische und didaktische Lei-stung dar.

Der interessanteste Teil scheint mir RealesInterpretation des «Timaius» zu sein, wo ihm inder Interpretation des Platonischen Gottes eineeigenständige Deutung gelingt: Platons Gott istein personaler Gott, nämlich der Gute, welchersich an dem Guten oder der Idee des Gutenorientiert, nach der er die Welt in einer Art«Semikreationismus» geschaffen hat. Die Schwä-che des Buches scheint mir darin zu liegen, dasseine selbständige philosophische Auseinander-setzung sowohl mit der Ideen- als auch mit derPlatonischen Prinzipienlehre fehlt. Platon wirdeher als grosses Museumsstück inszeniert.

Nun lässt sich ein solches Werk nicht schrei-ben, ohne viel zu ignorieren und zu vereinfachen.Überraschenderweise lässt jedoch Reale auch ita-lienische Standardwerke zu Platon ausser acht.Vermisst habe ich denn auch insbesondere dieaporetische und skeptische Seite Platons. Realeglaubt sie in einer Art von ungeschriebenem Dog-matismus hinsichtlich der Erkenntnis der beidenPrinzipien aufheben zu können, zu der die Dia-loge nur hinführen sollen.

Hier kommt Reales Platon einer philosophi-schen Richtung nahe, die heute von der Inter-nationalen Akademie für Philosophie im Fürsten-tum Liechtenstein vertreten wird. Es ist eine Rich-

tung, die glaubt, dass eine letzte Erkenntnis derWahrheit nicht nur angestrebt, sondern erreichtwerden kann und wir auch wissen, dass wir sie er-reicht haben. Dahingegen lässt Platon Sokrateshinsichtlich seiner Hoffnung oder Hypothese vomGuten im Anschluss an das Höhlengleichnis un-zweideutig sagen: «Gott mag wissen, ob sie wahrist.» Doch auch wenn dieser systematische PlatonReales dem «wahren» nahekommt, so stellt sichimmer noch die Frage, ob mit einem solchenschriftlich fixierten System zweier Prinzipienschon das «Licht in der Seele» des Lesers ange-zündet und nicht einem philosophischen Forma-lismus ohne originäre innere Erfahrung Vorschubgeleistet wird, was Platon durch die Entschei-dung, die Prinzipienlehre nicht niederzuschrei-ben, eben verhindern wollte.

Doch das sind Kontroversen, die im Momentin der Platon-Forschung im Gang sind. Sie berüh-ren die Annahme der Existenz von «ungeschrie-benen Lehren» nicht, wohl aber den Wahrheits-status des «Ungeschriebenen» und dessen philo-sophische Bedeutung. Abgesehen von solchenEinwänden wird man jedoch Reales luzides Buchmit grossem Gewinn lesen, da es die Ergebnisse

der Tübinger Schule in einer didaktisch hervor-ragenden Art und Weise darstellt.

Es handelt sich hier nicht nur um das Bucheines bedeutenden Kenners, sondern auch um diebeste «exoterische Werbeschrift» der TübingerSchule. Von Reale ist auch eine neue Übersetzung

sämtlicher Dialoge mit Vorwort und knappemKommentar in handliche Form und erschwing-licher Preislage herausgegeben worden: «Piatone.Tutti gli scritti. A cura di Giovanni Reale», Rus-coni, Milano 1991, die inzwischen auch schon diezweite Auflage erlebt hat. Zu bedauern bleibt,dass es im deutschen Sprachraum nichts Ver-gleichbares gibt.

Giovanni Reale: Zu einer neuen Interpretation Platons.Übersetzt von Ludger Hölscher. Hrsg.: Josef Seifert (Internatio-nale Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein).Ferdinand-Schöningh-Verlag, Paderborn 1993. 640 S.. Fr. 125.-.

Neue Zürcher Zeitung vom 04.02.1995