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- Region der unterschiedlichen Wahrheiten -
von Filiz Polat und Georgia Langhans
(Bündnis 90/Die Grünen im Niedersächsischen Landtag)
Kosovo- Reisebericht - März 2006 Georgia Langhans & Filiz Polat
www.fraktion.gruene-niedersachsen.de 2
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG ........................................................................................................3
ZUSAMMENFASSUNG........................................................................................5
TAGESBERICHTE ...............................................................................................7
Pristina, 28. März 2006...............................................................................................................................7 Gespräch mit Eugen Wollfarth, Leiter des Deutschen Verbindungsbüros zur Einschätzung der politischen Lage im Kosovo ..........................................................................7
Pristina/Mitrovica, 29. März 2006 ............................................................................................................9 Gespräch mit Laurie Wiseberg, UNMIK-Beraterin für Minderheitenrechte und Leiterin des Roma-Mahalla-Projektes ........................................................................................................9 Camp Cesmin Lug und die „schnelle Zwischenlösung“ Camp Osterode................................9 Schulbesuche begleitet von Axel Sachs (Projektmanager) und Lazer Prnokaj (Projektassistent), GTZ-Projekt Berufliche Aus- und Weiterbildung im Kosovo ..................12 Xhemail Mustafa – Schule (1-9. Klasse) ........................................................................................12 Technische Sekundarschule „Shtjefen Gjecovi“ ............................................................................13 MITROVICA - Camp Osterode und Wiederaufbau der Roma Mahala......................................15 Mitrovica-Fahrt begleitet von Karsten Luethke und Enver Vrajolli, UNMIK-Amt für Rückführungen ...............................................................................................................................16 Wiederaufbau der Roma Mahala ...................................................................................................17
Pristina, 30. März 2006.............................................................................................................................20 Sicherheitslage.............................................................................................................................20 Gespräch mit Brigadegeneral Hans-Erich Antoni, KFOR ..............................................................20 Gespräch mit Peter Caesar, Fachschaftsberater für Deutsch als Fremdsprache der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen (ZFA)...........................................................................21 Gespräch mit Reinhard Schmidt-Grüber und Birgit Budde (Abgeordnete vom BAMF für Rückführungen im Deutschen Verbindungsbüro) ..........................................................................24 Gesundheitssystem .....................................................................................................................28 Gespräch mit dem Leiter der psychiatrischen Abteilung der Uni-Klinik Pristina ............................29 Gespräch mit dem Leiter der Institute for Public Health Prof. Dr. ı Dedushaj................................31 Besuch des Kosovo-Rehabilitations-Zentrums für Folteropfer (Kosova Rehabilitation Centre for Torture Victims, KRCT) .............................................................................................................32 Gespräch mit Frau Sebahate Pacolli, Medizinische Koordinatorin ................................................32 Frauenrechte.................................................................................................................................34 Besuch der NGO Norma, Gespräch u.a. mit der Juristin Valbona Salihu......................................34
Kosovo- Reisebericht - März 2006 Georgia Langhans & Filiz Polat
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Einleitung Georgia Langhans, migrationspolitische Sprecherin der Grünen Landtagfraktion
Niedersachsen, und Filiz Polat, Petitionsausschussmitglied der Grünen im
niedersächsischen Landtag, haben vom 28.03.2006 bis 31.03.2006 das Kosovo
bereist. Die Reise hatte das Ziel zu dokumentieren in wieweit sich die Lage im
Kosovo durch die Ereignisse der letzten Monate verändert hat.
Ein breit gefächertes Programm ermöglichte einen Einblick in die Sichtweise
sowohl diplomatischer VertreterInnen, deren ausführender MitarbeiterInnen als
auch die Sichtweise von Rückkehrern und Praktikern wie Ärzten, Schülern,
Lehrern und NGO-MitarbeiterInnen.
Es sollte der Frage nachgegangen werden, in wieweit die abgeschobenen
Familien und insbesondere die Kinder und Frauen dort eine Lebensperspektive
finden können. Da die bisherigen Informationen in Deutschland - je nach Quelle -
sehr unterschiedlich ausfallen, ist es für die Flüchtlingsarbeit und die Arbeit im
Petitionsausschuss des niedersächsischen Landtags sehr wichtig, ein möglichst
genaues Bild von den Entwicklungen
1. im Bildungssystem, 2. auf dem Arbeitsmarkt und 3. in der Gesundheitsversorgung zu bekommen.
Darüber hinaus galt es festzustellen, wie die aktuelle Situation und die konkreten
Angebote für die Roma-Flüchtlinge aussehen und unter welchen Bedingungen
diese Menschen zurzeit leben.
In diesem Zusammenhang muss auch die aktuelle politische und wirtschaftliche
Situation im Kosovo berücksichtigt werden, da sie von nicht unerheblichem
Einfluss auf die Rückkehrer ist.
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Die InterviewpartnerInnen waren folgende Personen:
Eugen Wollfarth, Leiter des Deutschen Verbindungsbüros
Reinhard Schmidt-Grüber und Birgit Budde, Abgeordnete vom BAMF für
Rückführungen im Deutschen Verbindungsbüro
Laurie Wiseberg, UNMIK-Beraterin für Minderheitenrechte und Leiterin des
Roma-Mahalla-Projektes
Axel Sachs (Projektmanager) und Lazer Prnokaj (Projektassistent),
GTZ-Projekt Berufliche Aus- und Weiterbildung im Kosovo
Qazim Ceta (Schuldirektor) sowie LehrerInnen und SchülerInnen der
Xhemail-Mustafa–Schule (1. bis 9. Klasse)
Schuldirektor und Lehrer der Technischen Sekundarschule
„Shtjefen Gjecovi“
Karsten Luethke und Enver Vrajolli, UNMIK-Amt für Rückführungen
Brigadegeneral Hans-Erich Antoni, KFOR Peter Caesar, Fachschaftsberater für Deutsch als Fremdsprache der
Zentralstelle für das Auslandsschulwesen (ZFA)
Familie Jahirovic, abgeschobene Familie aus Steinfurt (Camp Osterode)
Familie Kadrija, abgeschobene Familie aus Ganderkesee (Mitrovica)
Norma („Lawyers Association Norma“ - Rechtsberatung), Gespräch u.a. mit
der Juristin Valbona Salihu
Yusuf Ulaj, Leiter der psychiatrischen Abteilung der Uni-Klinik Pristina
Prof. Dr. ı Dedushaj, Leiter des “Institute for Public Health” in Pristina und
Prof. Dr. Selvet Krasniqi, Leiterin der Abteilung Umwelthygiene
Sebahate Pacolli, Medizinische Koordinatorin des Kosovo-Rehabilitations-
Centers für Folteropfer (Kosova Rehabilitation Centre for Torture Victims,
KRCT)
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Zusammenfassung
Bildungssystem
Noch heute wird in 2 Schichten Unterricht erteilt. In den ländlichen Gebieten sind 3 Schichten keine
Seltenheit. Die Raumnot an Schulen ist ein dauerhaftes Problem. Viele Schulen haben keine Heizungen
und keinen Wasseranschluss.
Es mangelt an Fachräumen und an der finanziellen Ausstattung. Ethnisch gemischte Schulen gibt es in
Pristina nicht. Die berufliche Ausbildung findet in Ermangelung von Ausbildungsbetrieben in
entsprechenden Fachschulen statt. Das geringe Lehrergehalt (180 Euro pro Monat) zwingt Lehrer häufig an
mehreren Schulen gleichzeitig zu unterrichten.
Mitrovica
Camp Cesmin Lug und Kablar, die Übergangslösung Camp Osterode und der Wiederaufbau der Roma
Mahalla:
In den Lagern nördlich von Mitrovica leben nach Schätzung der UNMIK ca. 550 Roma, Ashkali und Ägypter
in bleiverseuchten Lagern unter unvorstellbaren Lebensbedingungen. Die WHO hatte bereits im Juni 2004
hohe Bleikonzentrationen im Blut von Kindern festgestellt, die von alten Bleiminen in unmittelbarer
Umgebung herrühren. Zwischenzeitlich ist das Camp Osterode als Übergangslösung für eine sichere und
menschenwürdige Unterkunft der Roma errichtet worden. Lange Zeit haben die Roma dieser
Zwischenlösung misstraut. Sie befürchteten, eine Rückkehr nach Roma Mahalla, wo vor dem Krieg 8000
Roma gelebt hatten, werde damit immer unwahrscheinlicher. Nach einer Überschwemmung und einem
Brand im bleiverseuchten Lager Cesmin Lug sind die ersten Familien während unseres Besuchs ins Camp
Osterode umgezogen. Auch hier sind die Wohnverhältnisse äußerst beengt. In Gesprächen mit einer
Familie, die aus Deutschland abgeschoben wurde und dort seit mehreren Monaten lebt, hat sich leider
bestätigt, worauf viele Organisationen seit Jahren hinweisen: Minderheiten haben auch heute im Kosovo
kaum eine Chance.
Vucitrn
In der Stadt Vucitrn, aus der die gesamte Ashkali-Bevölkerung im Zuge der März-Unruhen 2004 vertrieben
worden war, wo danach die Häuser geplündert und in Brand gesteckt wurden, beginnt langsam der
Wiederaufbau.
Aber bis heute fühlen sich die Menschen dort nicht sicher und leben in der Angst, weiteren Repressalien
schutzlos ausgesetzt zu sein.
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Gesundheitsversorgung
Nach Aussagen des Leiters der Abteilung für Psychiatrie der Uniklinik Pristina leiden mehr als 25% der
Bevölkerung an psychischen Erkrankungen, die derzeit überwiegend medikamentös behandelt werden.
Engpässe in der medikamentösen Versorgung sind die Regel. Psychologische Betreuung wie
Gesprächstherapie findet nicht statt. Bestätigt wurde, dass die Behandlung von schweren
posttraumatischen Belastungsstörungen im Kosovo nicht möglich ist. Für die Therapie von psychisch
gestörten Kindern fehlt es an Fachpersonal. Die Selbstmordrate ist seit dem Krieg deutlich angestiegen.
Verunreinigtes Leitungswasser, hohe Luftverschmutzung und Abwässer, die ungeklärt ins Grundwasser und
in die Flüsse geraten, führen zu dramatischen Gesundheitsschäden in der Bevölkerung. Die hohe
Sterberate bei Säuglingen und die niedrige Lebenserwartung von 65 Jahren sind ein erschreckender Beleg
dafür.
Norma - Ein kleiner Lichtblick
Seit 1998 existiert eine Gruppe namens Norma. 12 Juristinnen haben sich zusammengeschlossen, beraten
und betreuen seit Juni letzen Jahres unentgeltlich Menschen, die es sich finanziell nicht leisten können ihr
Recht vor Gericht einzuklagen.
Sie drängen auf die Einhaltung von Menschenrechten, setzen sich für die Gleichbehandlung von Männern
und Frauen ein, kämpfen gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution. Bereits 2000 haben sie den Mut
aufgebracht eine serbische Enklave zu besuchen, um dort ein deutliches Signal der Versöhnung zu geben.
Sie haben die serbischen Frauen bei einem Besuch in Pristina begleitet, um ihnen die Angst zu nehmen.
Neben ihren beruflichen Aufgaben bieten sie Fortbildungen für Juristinnen an, informieren in Seminaren
und Vorträgen über die rechtliche Situation im Kosovo. Ihr Engagement ist beeindruckend. Solange es
solche Frauen im Kosovo gibt, gibt es auch Hoffnung für ein friedliches Zusammenleben aller Menschen im
Kosovo.
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Tagesberichte
Pristina, 28. März 2006
Gespräch mit Eugen Wollfarth, Leiter des Deutschen Verbindungsbüros zur Einschätzung der politischen Lage im Kosovo
Nach dem Tod von Präsident Rugova haben sich Befürchtungen, es könne
wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen im Kosovo kommen, nicht
bestätigt. Der neue Präsident Fatmir Sejdiu gilt als besonnen und moderat. Als
ehemaliger Generalsekretär der LDK gehörte der Jura-Professor zu den ersten,
die wieder politische Kontakte zu den Serben knüpften. Nach der Wahl hat
Fatmir Sejdiu das Kabinett weitgehend neu besetzt, inklusive Innen- und
Justizressort. Agim Ceku wurde zum Premierminister und Kole Berisha zum
Parlamentspräsidenten gewählt.
Fast könnte man meinen, die
Situation beginne sich zu
entspannen. Doch der Schein trügt.
Die ungeklärte Statusfrage bleibt
ein permanenter Risikofaktor im
Kosovo. In der geteilten Stadt
Mitrovica kommt es heute noch
immer zu Auseinandersetzungen
zwischen Serben und Albanern. Überall in den Straßen von Pristina ist an den
Wänden der Spruch „Keine Verhandlungen mehr, Entscheidung jetzt!“ zu lesen.
Die im März in Wien begonnenen Statusverhandlungen sollen für die notwendige
Ruhe sorgen. Scharfmacher beider Seiten halten sich derzeit zurück. Serben
und Albaner bemühen sich um einen moderaten Ton am Verhandlungstisch, und
das, obwohl serbische radikale Kräfte im Schulterschluss mit der orthodoxen
Kirche im Hintergrund die Stimmung aufzuheizen versuchen. Erleichtert werden
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die Gespräche durch die Entscheidung, zunächst keine Beschlüsse zu fassen,
sondern Empfehlungen auszusprechen. Am Ende dieser Gespräche soll die
Unabhängigkeit des Kosovo stehen. Die Hoffnungen für einen erfolgreichen
Verhandlungsverlauf richten sich auf den Uno-Unterhändler Martti Ahtissari, der
bis zum Ende des Jahres ein Ergebnis vorlegen will. Voraussetzungen für die
Unabhängigkeit sind: Rechtsstaatlichkeit, Beachtung der Menschenrechte,
Unterstützung und Anerkennung aller ethnischen Gruppen im Lande. Tatsache
ist, auch ein unabhängiges Kosovo wird nicht ohne die Hilfe des Westens
auskommen können. Die katastrophale wirtschaftliche Lage bleibt ein
Sicherheitsrisiko. Extrem hohe Arbeitslosigkeit, insbesondere unter
Jugendlichen, mafiöse Strukturen und Korruption, die bis in Regierungskreise
hineinreichen, sorgen für permanente Spannungen.1 Spannend dürfte auch
weiterhin die Haltung des charismatischen Führers der AAK, Ramush Haradinaj,
bleiben. Er war wegen Kriegsverbrechen vor dem Den Haager Gerichtshof
angeklagt worden. Während des laufenden Verfahrens ist Haradinaj mit der
Auflage, sich nur eingeschränkt öffentlich politisch zu betätigen, in das Kosovo
zurückgekehrt. Da er großes Ansehen in der Bevölkerung, insbesondere unter
den Jugendlichen und Studenten genießt, wird es unter anderem auch von
seinem Einfluss abhängen, ob die gespannte Ruhe weiterhin anhält.2
1 Jüngste Bevölkerung Europas (33% < 15 Jahre, 61% zwischen 15 und 64 Jahren), 13% der Bevölkerung leben in extremer Armut, 47% leben in Armut, Arbeitslosenrate liegt zwischen 35-50% (Bericht KFOR) 2 weitere Informationen unter http://de.wikipedia.org/wiki/Kosovo
Einwohner im Kosovo (2 Mio. insgesamt)
90% Kosovo-Albaner 3% Serben 3% Roma 4% Andere (Ashkali, Ägypter, Türken)
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Pristina/Mitrovica, 29. März 2006
Gespräch mit Laurie Wiseberg, UNMIK-Beraterin für Minderheitenrechte und Leiterin des Roma-Mahalla-Projektes
Camp Cesmin Lug und die „schnelle Zwischenlösung“ Camp Osterode
Laurie Wiseberg gab uns eine Einführung in die Minderheitensituation im
Kosovo, insbesondere die der Roma und deren Lebendbedingungen.
Die Roma-Familien leben nach Aussagen von Laurie Wiseberg unter
unvorstellbaren Lebensbedingungen. Sie zitiert in diesem Zusammenhang in
einer ihrer Veröffentlichungen (Focus Kosovo Jan/Feb 2006) den UN-
Sonderbeauftragten Søren Jessen-Pedersen, der folgendes dazu sagte:
„We are facing in those three camps one of the most serious humanitarian
problems in the entire region of the Western Balkans. The living conditions
experienced by the Roma families in those camps are an affront to human
dignity.”
Zentrales Problem ist die Verseuchung der Lager durch Blei aus alten Bleiminen
in unmittelbarer Nähe. Die WHO hatte bereits im Juni 2004 hohe
Bleikonzentrationen im Blut von Kindern festgestellt. Deshalb wurde seitens der
UNMIK eine Strategie entwickelt, die 3 Ziele formulierte:
1. Risikomanagement in den Camps
2. Erforschung von Möglichkeiten für eine Umsiedlung als Übergangslösung auf
sicherem Boden
3. Langfristig der Wiederaufbau der Roma-Siedlungen
In den Camps Cesmin Lug und Kablar nördlich von Nord-Mitrovica leben seit 6
Jahren nach Schätzung der UNMIK ca. 550 Roma, Ashkali und Ägypter als
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intern Vertriebene. Diese Lager sind durch Altlasten, insbesondere
Schwermetalle, hoch kontaminiert.
Schwerwiegende gesundheitliche Schäden sind die Folge. Das Europäische
Zentrum für Romarechte mit Sitz in Budapest hat im Februar 2006 eine Klage
gegen die UNMIK beim europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
eingereicht. Die UNMIK arbeitete intensiv an einer Lösung und fand als eine
Übergangslösung ziemlich schnell im Oktober 2005 das Camp Osterode
(ehemaliges französisches KFOR-Camp), welches nur etwa zweihundert Meter
von Cesmin Lug entfernt ist. Es
war laut Frau Wiseberg allen
Beteiligten klar, dass dieses
Camp zwar selber nicht
kontaminiert sein wird, die
Umgebung aber verseucht bleibt.
Um kurzfristig aber eine sichere
und gesunde Unterkunft zu
garantieren, entschied man sich
trotz des kontaminierten
Umfeldes für das Camp Osterode (wichtig war die Sicherstellung einer sauberen
Wasserversorgung, Heizung, ärztlichen Versorgung etc.).
Der internationale Druck, unter den die UNMIK durch die zahlreichen
Presseberichte (u.a. BBC) über die Bleikontamination der Lager geraten war,
beschleunigte die Suche nach einer „schnellen Lösung“.
Im Camp Osterode können 120 Familien (ca. 550 Personen) untergebracht
werden. Deutschland beteiligte sich mit 500.000 Euro am Aufbau.3
Das Camp Osterode wurde eine lange Zeit nach Fertigstellung von den Roma-
Familien - oder besser gesagt von den Roma-Führern - nicht akzeptiert. Sie
misstrauten den Verantwortlichen und befürchteten, dass das Camp Osterode
3 siehe hierzu auch „Mündliche Anfrage: Rückkehr von Roma-Flüchtlingen im Kosovo“ für die Fragestunde während der
März-Tagung 2006 von Gisela Kallenbach (MdEP) an den Rat (www.gisela-kallenbach.de)
v.l.n.r. Filiz Polat, Laurie Wiseberg, Karsten Luethke
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als Endlösung eingerichtet wurde. Eine Rückkehr nach Roma Mahala, wo vor
dem Krieg 8000 Roma gelebt hatten, sahen die Familien damit gefährdet.
Die Bedenken sind berechtigt. Denn die Unterbringung in den Camps Cesmin
Lug und Kablar war für maximal 45 Tage angedacht.
Deshalb ist die Angst seitens der Roma, wieder in ein Camp abgeschoben und
dort vergessen zu werden, groß und nachvollziehbar.
Hinzu kommt, dass die „Diaspora“ befürchtet, dass durch das Camp und dessen
Besiedlung die Politiker beginnen, ihren Schutzstatus aufzuheben und den
Abschiebungen grünes Licht geben.
Deshalb ist es ganz besonders wichtig, dass alle Beteiligten, die den Frieden
und die Stabilität im Kosovo langfristig sichern wollen, insbesondere für die
Minderheiten deutlich machen, dass Osterode nur solange eine sichere Lösung
bietet bis die Häuser der Roma wieder aufgebaut sind.
Der Wiederaufbau der Roma-
Siedlung direkt am Fluss in
Süd-Mitrovica (17,5 ha) ist ein
ehrgeiziges Projekt. Dort sollen
55, vielleicht 77 Häuser
entstehen und zwei kleine
Apartmentblocks für je 12
Familien. Der erste
Planungsprozess, der Rückbau
der restlichen Ruinen von 750
Häusern, ist weitestgehend
abgeschlossen. Bis zur Vollendung bedarf es aber noch internationaler
finanzieller Anstrengungen. Laurie Wiseberg warb für den Fond, der den
Wiederaufbau finanziert. Denn es fehlen heute noch ca. 7 Millionen Euro.
Am Nachmittag sollten wir eine Überraschung erleben als wir zu den Lagern
nach Mitrovica fuhren. (siehe Kapitel „MITROVICA“)
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Schulbesuche begleitet von Axel Sachs (Projektmanager) und Lazer Prnokaj (Projektassistent), GTZ-Projekt Berufliche Aus- und Weiterbildung im Kosovo
Ein wichtiger Teil unserer Reise war der Besuch von zwei Schulen.
Interessanterweise wurden LehrerInnen und SchülerInnen einer Schule eine
Woche seitens der Regierung vom Unterricht befreit, da sie an einem Streik für
höhere Lehrergehälter, der eine Woche zuvor statt gefunden hatte, nicht
teilgenommen hatten. Die LehrerInnen hatten Erfolg. Ihr Lohn wurde um 5 Euro
auf 180 Euro monatlich erhöht.
Xhemail-Mustafa – Schule (1-9. Klasse)
Diese Schule ist eine Vorzeigeschule mitten in Pristina, die vor knapp 2 Jahren
fertiggestellt wurde. Wir wurden sehr herzlich von dem Direktor Herrn Qazim
Ceta und drei Schülern der Xhemail-Mustafa-Schule empfangen.
Für den sehr guten Standard hatte die Xhemail-Mustafa-Schule erst kürzlich bei
einem Wettbewerb von 38
teilnehmenden Schulen den
ersten Platz erhalten.
Dennoch wurde immer
wieder darauf verwiesen,
dass das Gehalt der Lehrer
und Lehrerinnen mit knapp
180 Euro monatlich viel zu
niedrig sei. Darüber hinaus
findet trotz guter
Infrastruktur auch in der
Xhemail-Mustafa-Schule der Unterricht in 2 Schichten statt. In der Schule
unterrichten 45 LehrerInnen ca. 1000 SchülerInnen.
Schülerinnen der Xhemail-Mustafa-Schule
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Der Rektor verwies darauf, dass sie beim Ministerium beantragt habe auch
Deutsch als zweite Fremdsprache unterrichten zu können. Denn viele der Kinder
seien sehr sprachbegabt und es seien doch immer wieder viele Kinder dabei, die
aus Deutschland kommen oder dort noch Verwandte haben.
Auch wir trafen einen Jungen, der zwar vor 5 Jahren abgeschoben wurde, aber
dennoch hervorragend deutsch sprach.
Technische Sekundarschule „Shtjefen Gjecovi“ Diese Berufsbildende Schule (Technische Sekundarschule), die wir danach
besuchten, zeigte hier schon ein ganz anderes Bild.
Die Schule wurde 1968 gegründet. Zurzeit werden dort 750 SchülerInnen
unterrichtet. Neben der Beschulung von
Jugendlichen bildet die Schule auch seit 1976 Erwachsene weiter. Derzeit
werden 100 Erwachsene
fortgebildet. An der Schule
arbeiten 48 LehrerInnen (18
Frauen) plus technischer
Hilfsarbeiter. Die Einstellung
von LehrerInnen erfolgt
gemeinsam mit den
Gemeinden, die Träger der
Schulen im Allgemeinen
sind. Erst seit 1991 ist die
Schule in dem
Gebäudekomplex untergebracht, den wir besucht haben. Auf Grund des Krieges
hat der Unterricht von 1991 bis 1999 außerhalb des Schulgebäudes in
Privathäusern statt gefunden. Die Schule verfügt über 25 Schulklassen mit
durchschnittlich 30 SchülerInnen pro Klasse.
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Der erste Schritt nach dem Krieg galt dem Wiederaufbau des Schulgebäudes
und der Wiederherstellung der Infrastruktur.
Diese technische Schule ist mit ihrem schulischen Angebot auf eine
Grundausstattung von Maschinen, Werkzeugen und Materialien angewiesen, die
sie ohne internationale Hilfe und durch die Zusammenarbeit mit der GTZ nicht
gehabt hätten. Der Direktor
erzählte, dass außer der
Bezahlung der Lehrer keine
weiteren Mittel zur Verfügung
gestellt werden. Alles müsste
beantragt werden. „Sogar für
einen Besen müssen wir Geld
beantragen“, sagte der
Direktor. Alle Schulen egal
welcher Art bekämen das
gleiche Budget.
Eine weitere Schwierigkeit ist die große Anzahl der SchülerInnen, was gerade für
eine praxisbezogene Ausbildung sehr schwierig sei. Einige SchülerInnen können
in Betriebspraktika gehen, andere arbeiten in Gruppen an den Maschinen
zusammen.
Die Schüler haben nach einer 2-jährigen Ausbildung den Grad eines „unskilled
worker“ (= Hilfsarbeiter), nach 3-jähriger Ausbildung den Grad eines „skilled
worker“ (= Facharbeiter) und nach 4 Jahren den Grad des „highly skilled worker“.
Letzterer ermöglicht den Zugang zu einer Hochschulausbildung.
Das Projekt der GTZ im Speziellen unterstützt darüber hinaus das kosovarische
Bildungsministerium bei der Etablierung eines tragfähigen, nach europäischen
Grundsätzen ausgerichteten beruflichen Aus- und Fortbildungssystems.
Staatliche Bildungsträger und die Wirtschaft sollen Bildungsinvestitionen als
nationale Herausforderung zur Sicherung einer größeren wirtschaftlichen
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Autonomie und als Vorbereitung auf den bevorstehenden europäischen
Wettbewerb begreifen.4
Als Zukunftsinvestition für die Jugend werden Fach- und Führungskräfte für
technische Sekundarschulen und Ausbildungszentren fortgebildet. Bis zu diesem
Zeitpunkt, so Herr Sachs, wurden 3500 LehrerInnen weitergebildet.
MITROVICA - Camp Osterode und Wiederaufbau der Roma Mahalla
Einwohner in Mitrovica (221.000 insgesamt) 82% Kosovo-Albaner 10% Serben 2% Roma 6% Andere (Ashkali, Ägypter, Türken 2%)
Mitrovica (Косовска Митровица, Kosovska Mitrovica) ist eine Stadt im
nördlichen Kosovo. Bis 1989 hieß sie Titova Mitrovica (alb. Mitrovica e Titos). Im
Kosovo-Krieg wurde die Stadt ethnisch gesäubert und getrennt in einen Südteil
mit rein albanischer Bevölkerung (65.000 Einwohner) und einen Nordteil mit
überwiegend serbischer Bevölkerung (13.500 Einwohner). Ende 2003 lebten in
der Gesamtstadt noch 68.929 Einwohner. Die beiden Stadtteile werden von der
UNMIK und KFOR-Truppen bewacht, um Übergriffe auf die serbische
Bevölkerung möglichst zu verhindern. Dennoch konnte nicht verhindert werden,
dass bei den Unruhen im März 2004 serbische Häuser in Brand gesteckt oder
geplündert wurden.5
4 Infos unter http://www.gtz.de/de/weltweit/europa-kaukasus-zentralasien/kosovo/8909.htm 5 http://de.wikipedia.org/wiki/Kosovska_Mitrovica
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Mitrovica-Fahrt begleitet von Karsten Luethke und Enver Vrajolli, UNMIK-Amt für Rückführungen
Auf unserer Fahrt nach Mitrovica
am Nachmittag begleiteten uns
der Leiter des Amtes für
Rückführungen der UNMIK,
Karsten Luethke, und sein
Mitarbeiter, Enver Vrajolli. Erst
schien es als ob wir die Reise
dorthin nicht antreten könnten,
weil am Tag zuvor der Sohn des
Brückenwächters niedergestochen wurde und die Lage dort unsicher schien. Wir
entschieden uns aber dennoch zu fahren.6
Auf dem Weg dorthin machten wir
Halt und Herr Luethke beschrieb
uns die Lage um die Stadt Vucitrn. In der Stadt Vucitrn, aus
der die gesamte Ashkali-
Bevölkerung im Zuge der März-
Unruhen 2004 vertrieben worden
war, die Häuser geplündert und in
Brand gesteckt wurden, beginnt
langsam der Wiederaufbau. Aber
bis heute fühlen sich die Menschen dort nicht sicher und leben in der Angst
weiteren Repressalien schutzlos ausgesetzt zu sein.
6 siehe hierzu ausführlicher „Kosovo Reisebericht (25.-30. März 2006) von Boris Kanzleiter, Dirk Auer, Smone Böcker – www.roma- kosovoinfo.de
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In Mitrovica angekommen war die Lage trotz des Vorfalls am Vorabend recht
ruhig. Allerdings war die Hauptbrücke für den allgemeinen Verkehr gesperrt und
die KFOR zeigte verstärkte Präsenz. Wir überquerten zunächst den Fluss über
eine Fußgänger-Brücke. Im serbischen Teil vor uns lagen die sogenannten
„Three Towers“. Diese 3
Apartmentblocks stehen wie
Wachtürme im Zentrum der
Auseinandersetzungen, da sie
mehrheitlich von Albanern
bewohnt werden. Der
Quadratmeterpreis liegt
mittlerweile bei angeblichen 500
Euro, da die Serben sich in die
kleine Albaner-Enklave einkaufen
wollen.
Wiederaufbau der Roma Mahala
Als nächstes machten wir uns ein Bild vom Rückbau der zerstörten Roma-
Mahala. Ein riesiges Areal gleicht einem Meer aus Schutt, wo hier und da
Menschen für sich Baumaterial abtrugen. Einen Monat nach unserer Abreise
fand am 25. April 2006 die Grundsteinlegung zum Wiederaufbau der Roma-
Mahala in Mitrovica statt. Die Zeremonie wurde begleitet von Protesten der
betroffenen Roma-Flüchtlinge.7
Schwierig beim Wiederaufbau ist und war die Klärung der
Eigentumsverhältnisse. Karsten Luethke erzählte, dass die Serben nun endlich
altes kartographisches Material frei gegeben hätten, was teilweise die Klärung
der Eigentumsverhältnisse erleichtere.8
7 siehe hierzu „Über unsere Köpfe hinweg“ vom 26. April 2006, www.roma-kosovoinfo.de 8 Eigentum klären bedeutet in diesem Sinne, wer hat vorher wie und wo gewohnt.
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Wir fuhren weiter zum Camp
Cesmin Lug. Gerade
angekommen rief Herr Luethke
„Sie ziehen um!“. Es wurde
deutlich, dass auf den UNMIK-
MitarbeiterInnen ein sehr großer
Druck lastete, ob die Familien das
Camp Osterode auch annehmen
würden.
Uns kam ein junges Mädchen mit einer Schubkarre entgegen gefolgt von einem
Kleinlaster. Es war eindeutig: Die Familien begannen umzuziehen und brachten
ihre Sachen in das 200 m entfernte Camp Osterode. Wir selber waren zunächst
geschockt vom Anblick der Lager Cesmin Lug und Kablar und einigen
verwahrlosten Kindern, die uns entgegen kamen. Im Camp Osterode hatten
schon mehrere Familien den Einzug hinter sich gebracht, andere hatten durch
das Aufkleben von Namensetiketten an die Türen bekundet, welche Zimmer sie
wollten.
Auslöser für den erfolgten
Umzug war wohl eine
Überschwemmung und ein
Brand im Lager Cesmin Lug (7
Häuser wurden niedergebrannt).
Die Wohnverhältnisse im Camp
Osterode sind äußerst beengt.
Für eine Familie (oft bis zu 9
Personen) steht jeweils nur ein
Raum zur Verfügung. Es gibt
Gemeinschaftsküchen und
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Waschräume. Heizung und fließend Wasser sind vorhanden, und der Zugang zu
medizinischer Versorgung soll gewährleistet sein.9
Als wir aus einem der Häuser kamen sprachen uns zwei Kinder (6 und 11 Jahre
alt) an. Sie erzählten uns, dass sie vor fünf Monaten aus Deutschland
abgeschoben wurden und dass es hier „schrecklich“ sei. Sie brachten uns zu
ihrer 16 Jahre alten Schwester. Die freute sich sichtlich und sagte: „Endlich mal
wieder Menschen mit denen ich mich normal unterhalten kann!“. Sie erzählte uns
ihre Geschichte. Wir erinnerten uns an Sie. Denn über die Familie
Jahirovic wurde in dem Beitrag „Vergiftet und Vergessen - bleiverseuchte Flüchtlingslager im Kosovo“ von ML Mona Lisa im ZDF am 5. März 2006
berichtet.10
Zunächst waren unsere Begleiter von der UNMIK irritiert, dass eine Roma-
Familie abgeschoben wurde. „Normalerweise passiert das nicht“, so Enver,
Experte für Minderheitenfragen. Es stellte sich dann aber heraus, dass die
Familienmitglieder getrennt voneinander abgeschoben wurden. Da Herr
Jahirovic als Roma Abschiebungsschutz genoss, wurde Frau Jahirovic als
Mazedonierin allein mit den Kindern nach Skopje abgeschoben. Der Vater blieb
zunächst in Deutschland und ging dann unter dem Druck der Behörden freiwillig
nach Mitrovica, um der
Abschiebehaft zu entgehen.
Dorthin ließ er seine Familie
nachkommen. Hier konnten sie
zunächst bei einem Onkel im
Camp Cesmin Lug unterkommen
bis sie in das Camp Osterode
zogen.
Die Kinder hatten sichtlich
gelitten.
9 siehe hierzu ausführlicher „Kosovo Reisebericht (25.-30. März 2006) von Boris Kanzleiter, Dirk Auer, Smone Böcker – www.roma-kosovoinfo.de 10 siehe hierzu und http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/10/0,1872,3927850,00.html
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Es muss ein Schock für die Kinder gewesen sein, sich von einem Tag auf den
anderen in der für sie neuen Welt zu Recht finden zu müssen.
Die Mutter ist krank. Ihre letzten Medikamente neigen sich dem Ende zu. Wie sie
ohne die notwendigen Medikamente zurechtkommen soll, weiß die Frau nicht.
Im Gespräch bestätigte sich auch, dass Minderheiten auch heute im Kosovo
kaum eine Chance haben. Die Kinder dieser Familie berichteten von Übergriffen,
von Ausgrenzung wegen fehlender Sprachkenntnisse und dass sie nicht in die
Schule gehen könnten, weil der Lehrer schlage.
Aus einer berechenbaren Umwelt herausgerissen zu werden in eine Situation in
der nichts mehr stimmt, ist besonders für Kinder sehr belastend. Minimale
humanitäre Grundvoraussetzungen wie Zugang zu sauberem Wasser,
medizinische Versorgung, Freiheit und das Recht auf körperliche Unversehrtheit
sind in Frage gestellt bzw. werden derzeit nur sehr zögerlich gewährleistet.
Pristina, 30. März 2006
Sicherheitslage
Gespräch mit Brigadegeneral Hans-Erich Antoni, KFOR
Brigadegeneral Antoni gab uns
eine Einführung in die aktuelle
politische und wirtschaftliche Lage
des Kosovo und berichtete über
den Einsatz der KFOR
insbesondere über die
Umstrukturierungen in der
nächsten Zeit. Seit 1999 hat sich
die Zahl der KFOR-Soldaten im
Einsatzgebiet von 41.000 auf
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16.000 Soldaten reduziert. 13.000 Soldaten aus 24 verschiedenen Nato-
Nationen und 3000 Soldaten aus Nicht-Natostaaten.
Das Haupteinsatzgebiet der deutschen Einheit liegt mit den türkischen Truppen
zusammen in Prizren. Die Präsenz der KFOR-Truppen soll zur Sicherheitslage
beitragen.11 Die Soldaten stimmen sich bei ihren Patroulien, Check Points und
Beobachtungsstandorten etc. eng mit der kosovarischen Polizei (KPC) ab.
Herr Antoni betonte vor dem Hintergrund der immer noch sehr schlechten
wirtschaftlichen und damit auch instabilen sicherheitspolitischen Lage, dass
Rückführungen seiner Meinung nach kontraproduktiv seien.
Ganz interessant waren seine Äußerungen zum Funktionieren des Systems:
Wir haben uns immer wieder gefragt wie die Menschen überleben können, wenn
ihr Lohn, sofern sie überhaupt verdienen, nicht einmal für die Wohnungsmiete
reicht.
Herr Antoni vermutete, dass sich das System zu einem Drittel durch die
Internationalen, zu einem Drittel durch die Diaspora und zu einem Drittel durch
Korruption finanziert.
Gespräch mit Peter Caesar, Fachschaftsberater für Deutsch als Fremdsprache der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen (ZFA)
Herr Caesar gibt seit einigen Jahren Deutschunterricht an Schulen im Kosovo.
Damit können die Schüler das Deutsche Sprachdiplom erhalten. Damit wird den
Schülern ein Zertifikat erteilt, das sie berechtigt in Deutschland ein Studium
aufzunehmen. Dieses Angebot ist natürlich eines für Rückkehrerkinder. Viele
Kinder kamen in den Jahren 1999 bis 2001 als freiwillige Rückkehrer. Später
kamen die Kinder zum größten Teil zwangsweise. Er betonte ebenfalls, dass die
Familien sich oft nur durch die in Deutschland lebende Verwandtschaft
finanzieren können. Die Zahl nehme aber seit kurzem ab. Er erzählte, dass die
11 http://www.unmikonline.org/misc/N9917289.pdf
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Kinder oft verwirrt und verstört seien. Oft sprechen sie gar kein albanisch. Einige
von den Rückkehrerkindern wurden in Behindertenschulen entdeckt, weil man
glaubte dass sie aufgrund ihrer Sprachprobleme lernbehindert seien.
Herr Caesar unterrichtet 45 SchülerInnen in zwei Gruppen. Davon bestanden 15
die Prüfung. In der zweiten Gruppe mit 30 Schülern bestanden die Prüfung 20
SchülerInnen.
Oft erfahren die Familien auf inoffiziellem Weg durch Bekannte von dem
Unterricht und nehmen zum Teil 30 km Anfahrt in Kauf. Die Aufnahme an der
jeweiligen Schule ist die erste Voraussetzung, um am Deutschunterricht
teilnehmen zu können. Darüber hinaus werden nur die Fähigsten aufgenommen,
die auch über schriftliche Sprachkompetenz verfügen.
Er berichtete insbesondere von einer Schule am Rande der Stadt Pristina, an
der das Unterrichten unter extremen Bedingungen erfolge. Diese Schule, das
sprachliche Gymnasium der Stadt, bestehe aus zwei kleinen Gebäuden mit 11
Klassenräumen. Hier würden 700 SchülerInnen in 2 Schichten unterrichtet. Eine
Unterrichtsstunde dauere 40 Minuten. Fachräume existierten nicht. Die
Zufahrtsstraße sei nicht mehr öffentlich zugänglich, da die Stadt die Zuwegung
privatisiert habe. Daraufhin seien dort private Häuser errichtet worden, so dass
die SchülerInnen nur über einen sporadisch planierten Weg das Schulgebäude
erreichen könnten, was im Winter natürlich die Situation noch verschärfe.
Der Deutschunterricht am Nachmittag, der als Zusatzunterricht gelte, bedeute in
der Konsequenz, dass eine reguläre Klasse in der Zeit nicht unterrichtet werden
könne. Man müsse dazu sagen, dass es sich hier um einen Raum von knapp 18
qm für ca. 25 Schüler handele. Für unsere Verhältnisse eher eine
Abstellkammer. Das wären 0,7 qm pro Schüler. International gilt ein Standard
von 2 bis 3 qm pro Schüler. Ein weiteres Problem sei die Wasserversorgung. An
dieser Schule gebe es am Nachmittag keine Wasserversorgung.
Was das für 350 Schüler bedeute müsse man nicht ausführen, sagte Herr
Caesar. Er erzählte, dass er sein Tafelputzwasser in einer Flasche von zu Hause
mitnimmt. Am schlimmsten seien aber die Winter im Kosovo. Denn die Schulen
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verfügten nur selten über eine funktionierende Heizung. Die Kinder würden zum
Teil bei bis zu –15°C unterrichtet. Es sei ein Armutszeugnis für das
Bildungssystem im Kosovo. „Wir fragen uns schon wo das Geld hingeflossen ist.
Wir sprechen hier von ‚dem’ Sprachgymnasium in Pristina. Da kann man sich
bald gar nicht vorstellen wie die Schulen in den ländlichen Regionen aussehen,
die angeblich noch schlechter dran sind“, so Herr Caesar.
Alle seine Schüler wollten in Deutschland studieren, da die Perspektive für die
jungen Menschen im Kosovo aussichtslos sei.
Bei zurückgeführten Kindern und Jugendlichen trete immer wieder das Problem
auf, dass vorhandene Dokumente, Zeugnisse und Zertifikate nicht mehr
vorhanden seien, nicht mitgenommen werden konnten. Darüber hinaus gebe es
aber auch die Probleme, wenn diese Dokumente vorhanden sind, dass die
Übersetzung und/oder die Beglaubigung sich als sehr schwierig erwiesen und
sehr kostenintensiv seien.
Herr Caesar erwähnte wie wichtig der Austausch zwischen Schulen in
Deutschland und im Kosovo sei und bat uns und das Verbindungsbüro hierin um
Unterstützung. Oft scheitere es an der Finanzierung. Denn die kosovarischen
LehrerInnen müssten während des Austausches ihre Vertretung in der Schule
selber bezahlen.
Darüber hinaus warb er für den pädagogischen Austauschdienst. Das Kosovo
brauche gut ausgebildete deutsche Lehrer.12
Herr Lüttenberg, Referent für Politik, Kultur und Presse im Verbindungsbüro
berichtete noch vom aktuellen Bau der Association „Loyola-Gymnasiums“ in
Prizren. Das Gymnasium mit angeschlossenem Internat ist zusammen mit
Renovabis - Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen in
Osteuropa – und der Deutschen Provinz der Jesuiten 2003 zum Leben erweckt
worden. Im September wurden Teile der Schule und der Internate eingeweiht.13
12 Infos unter http://www.kmk.org/pad/home.htm 13 Nähere Informationen bei Association „Loyola-Gymnasium“, Rr. E Tranzitit Petrove, 200000 Prizren, Kosovo UNMIK,
Geschäftsführung P. Walter Happel SJ ([email protected])
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Gespräch mit Reinhard Schmidt-Grüber und Birgit Budde (Abgeordnete vom BAMF für Rückführungen im Deutschen Verbindungsbüro)
Die seit letztem Jahr bestehende Vereinbarung zwischen der UNMIK und dem
Bundesinnenministerium (BMI) in Bezug auf die Rückführungen von
europäischen Aufnahmeländern in das Kosovo wird vor Ort nun federführend
von 4 MitarbeiterInnen der UNMIK durchgeführt.
Das für Rückführungsfragen zuständige UNMIK-Büro wird kurzfristig für die
Dauer von vorerst sechs Monaten mit zwei deutschen Bediensteten personell
verstärkt, die dort ausschließlich mit der Durchführung des individuellen
Prüfverfahrens der von der deutschen Seite zur Rückführung angekündigten
Minderheitenangehörigen der Roma, Ashkali und Ägypter beauftragt werden.
Diese beiden MitarbeiterInnen sind seit September 2005 im Kosovo (Herr
Schmidt-Grüber und Frau Budde).
Die Vereinbarung von 2005 sieht vor, dass von den 10.000 Ashkali und Ägyptern
(kamen vorwiegend aus der Region Peja/Pec), die in Deutschland Schutz
gesucht hatten, im Mai und Juni 2005 jeweils 300 abgeschoben werden sollten
und diese Zahl sich ab Juli 2005 auf monatlich 500 Flüchtlinge erhöhen sollte.
Dabei geht die Vereinbarung davon aus, dass rund 20 %, das heißt 100
Personen, tatsächlich abgeschoben werden. Laut Aussagen der MitarbeiterInnen
vor Ort wird diese Zahl nicht erreicht.
Darüber hinaus sollen 20 bis 30 vorbestrafte Roma monatlich abgeschoben
werden. In Deutschland leben über 38.000 Angehörige der ethnischen
Minderheiten der Roma (24.000), Ashkali, Ägypter und Serben. Insgesamt sind
es 50.000 Kosovaren. Die Rückführung von Minderheiten der Bosniaken,
Gorani, Torbesh und Türken sind bereits seit Juni 2004 wieder möglich.14
14 Zahlen für Niedersachsen unter: http://www.niedersachsen.de/master/C18044793_L20_D0_I522_h1.html
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In Anknüpfung an ein weiteres Treffen zwischen Bundesinnenminister Dr.
Schäuble und dem UN-Sonderbeauftragten für das Kosovo, Herrn Søren Jessen-Pedersen, am 12. Januar 2006 in Berlin, fanden am 13. Januar 2006
auf Arbeitsebene weitere Gespräche zwischen Vertretern des BMI und dem
Leiter des zuständigen UNMIK-Büros für Rückkehrfragen statt.
Das derzeitige Verfahren zur Ankündigung von monatlich 500 Ashkali und
Ägyptern sowie von 40 Straftätern aus der in der ,,Abgestimmten Niederschrift"
vom 26. April 2005 näher bezeichneten Volksgruppe der Roma zum individuellen
Prüfverfahren durch die UNMIK wurde am 01. März 2006 umgestellt.
1. Rückführungsquote von Ashkali und Ägyptern
2. Keine weitere Rückführung von Roma (Ausnahme 40 Straftäter)
3. Nachweis einer „nachhaltigen Unterkunft“
4. Neues Prüfverfahren
Die deutsche Seite übermittelt der UNMIK jeweils innerhalb der ersten 10 Tage
eines Monats eine entsprechende Liste (zentrale Stellen Düsseldorf und
Karlsruhe). UNMIK unterzieht diese Personen einem individuellen Prüfverfahren
gemäß der bisher zwischen beiden Seiten getroffenen Vereinbarungen und teilt
der deutschen Seite innerhalb von 33 Tagen abschließend etwaige Bedenken
gegen eine Rückführung der Betroffenen mit; andernfalls gilt die Zustimmung zur
Rückführung als erteilt. Dabei stützen sich die MitarbeiterInnen der UNMIK auf
die Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen.15
Die deutsche Seite übermittelt UNMIK die Flugliste der zurückzuführenden
Personen spätestens 7 Tage vor dem Flugtermin. Die Übermittlung der Flugliste
soll der UNMIK die Feststellung ermöglichen, ob es sich hierbei um Personen
handelt, die von ihr zuvor positiv geprüft worden sind (,,Rückführungspool"). Die
15 http://www.unmikonline.org/misc/N9917289.pdf
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UNMIK sichert zu, dass die auf dieser Liste befindlichen Personen jedoch keiner
weiteren Prüfung unterzogen werden.
Abgeschobene Personen, die mit Charterflügen Pristina erreichen, haben
oftmals das Prüfverfahren durchlaufen. Es kommt aber laut UNMIK und BAMF
MitarbeiterInnen auch vor, dass Personen von Ausländerbehörden nicht
angemeldet werden. Diese Personen werden oftmals per Linienflug
abgeschoben.
Die UNMIK erwähnte darüber hinaus, dass es ab und zu vorkommen kann, dass
die MitarbeiterInnen am Flughafen in Pristina bei ankommenden abgeschobenen
Personen die Aufnahme ablehnen.
Die Ausländerbehörden müssen der UNMIK die relevanten Informationen
- zur Person (Name, Vorname, Geburtsort/-name)
- zur Volkszugehörigkeit
- zum letzten Wohnort - dabei ist die vollständige Angabe der Adresse für die
Prüfung am Wohnort notwendig (Bsp.: Existenz/Zustand des Hauses/der
Wohnung)
- humanitäre Lage (Gesundheitszustand)
der zur Abschiebung vorgesehenen Personen übermitteln.
Die MitarbeiterInnen der UNMIK prüfen diese Angaben zum Teil selber, zum Teil
werden Kontaktpersonen in den verschiedenen Städten und Regionen
beauftragt nach dem Haus und nach Verwandten zu suchen. Die
Kontaktpersonen machen Fotos und sprechen mit Menschen aus der näheren
Umgebung, um die notwendigen Informationen zu erhalten.
Wichtig sind vollständige Angaben. Es wurde auch darauf verwiesen, dass es für
die Prüfung sehr wichtig sei alle zusätzlichen Unterlagen insbesondere bei
Krankheiten mitzuschicken, damit die MitarbeiterInnen genau prüfen können, ob
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die notwendigen Medikamente vorhanden sind. In diesen Fällen stehen die
MitarbeiterInnen in engem Kontakt mit ÄrztInnen und den Public Health Centern.
Die UNMIK-MitarbeiterInnen bekräftigten mehrmals, dass nicht nur die
allgemeine Sicherheitslage entscheidend sei, sondern auch die humanitäre
nachhaltige individuelle Lage der Personen. Das bedeutet, dass, wenn Personen
nachweisbar keine Verwandten im Kosovo mehr haben und ihre Wohnung oder
Ihr Haus zerstört sind, die UNMIK diese Personen auf Grundlage der Resolution
1422 nicht akzeptieren wird - unabhängig von der Volkszugehörigkeit.
Die Zusammenarbeit zwischen UNMIK-und BAMF-MitarbeiterInnen hat sich
dabei als schwierig herausgestellt.
Deutschland schickt als größter damaliger Aufnahmestaat die meisten
Flüchtlinge in Relation zu den anderen Staaten zurück. Fast 50% aller
RückkehrerInnen sind aus Deutschland (3.350 in 2005, davon ca. 1.000
Angehörige von Minderheiten). Im Jahr 2003 waren es 3.000 Personen und im
Jahr 2004 ca. 2.000 Personen. Dieser Rückgang war bedingt durch die Unruhen
im März 2004.
Für freiwillige RückkehrerInnen und
Abgeschobene gibt es vor Ort keine Hilfe.
Die Menschen werden am Flughafen nur
registriert.
Allerdings gab es in Richtung Mitrovica ein
Lager, wo vorübergehend Menschen
untergebracht werden können, die
obdachlos sind. Wir konnten diesen Ort
besuchen. Zurzeit war dort niemand
untergebracht.
Die MitarbeiterInnen des BAMF verwiesen
auf zwei beantragte Projekte bei der EU-
Kommission die speziell RückkehrerInnen
Unterstützung geben sollen, vorausgesetzt
diese Personen sind freiwillig aus Deutschland ausgereist.
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Gesundheitssystem
Die Gesundheitsversorgung, insbesondere die für traumatisierte Menschen ist
ein umstrittenes Thema. Offizielle Stellen sagen, die Standards seien niedrig
aber dennoch ausreichend, andere Stellen sagen die Gesundheitsversorgung
sei katastrophal und es überlebe nur, wer im Netz der Korruption sei und/oder
Geld habe. Ein UNMIK-Mitarbeiter sagte in diesem Zusammenhang: „Im Kosovo
gilt der Satz, dass man lieber nicht krank werden sollte.“
Nach der Rechtsprechung kann sich ein individuelles Abschiebungshindernis
nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG unter anderem daraus ergeben, dass sich die
geltend gemachte Krankheit der ausreisepflichtigen Person in ihrem
Herkunftsstaat verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort
unzureichend sind.16
Für die Urteilsfindung ist es daher wichtig, ein genaues und wahres Bild über die
medizinische Versorgung, die Behandlungsmöglichkeiten und deren Zugang zu
bekommen. Zwar sind laut Auskunft des Deutschen Verbindungsbüros Kosovo
vom 18. Juni 2004 beispielsweise psychische Erkrankungen, insbesondere
anhaltende depressive Verstimmungen im Kosovo medikamentös und durch
kontinuierliche nervenärztliche Betreuung behandelbar. Personen, die an
psychischen Problemen leiden würden, könnten in den 2003 aufgebauten
kommunalen „Mental-Health-Care-Centren in Pristina, Prizren, Djakovika, Pec,
Gnjilane, Urosevac und Mitrovica ambulant und kostenfrei behandelt werden. Als
Basismedikamente für psychische Erkrankungen stünden u.a. Fluanxol,
Amitriptylin, Diazepam, Lexilium, Clomipramin und Haloperidol zur Verfügung.17
Andererseits wird zudem berichtet, dass in Nachkriegsgebieten wie dem Kosovo
mit einer deutlich erhöhten Rate an psychisch Kranken, die einer Behandlung
16 vgl.VG Oldenburg, Urteil vom 29. April 2005, S 14 ff 17 Deutsches Verbindungsbüro vom 21.04.2004 und 21.3.2005
Kosovo- Reisebericht - März 2006 Georgia Langhans & Filiz Polat
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bedürfen, zu rechnen sei und dass insbesondere die psychiatrische
Grundversorgung katastrophal sei.18
Entsprechend lautet auch die gemeinsam von der UNMIK, dem Office of Returns
and Communities und dem Gesundheitsministerium des Kosovo erarbeitete
Stellungnahme, wonach eine ausreichende Behandlung psychisch kranker
Menschen, insbesondere an PTBS Erkrankter im Kosovo nicht gewährleistet
ist.19 Dort ist im einzelnen ausgeführt, dass eine über die Verabreichung von
Medikamenten hinausgehende für diese Patienten erforderliche Behandlung vor
allem an Kapazitätsproblemen scheitert. Die UNMIK sei daher der Auffassung,
dass Personen, die an PTBS erkrankt sind und sich aufgrund dieser Erkrankung
in Behandlung befänden, nicht zwangsweise in das Kosovo abgeschoben
werden sollten. Gleichzeitig behauptet das Verbindungsbüro, dass eine PTBS im
Kosovo durch kontinuierliche nervenärztliche Betreuung behandelbar sei.
Gespräch mit Yusuf Ulaj, dem Leiter der psychiatrischen Abteilung der Uni-Klinik Pristina und Frau Prof. Dr. Selvet Krasniqi, Leiterin der Abteilung Umwelthygiene
Der Leiter der psychiatrischen Abteilung sprach von einer sehr schwachen
psychiatrischen Grundversorgung. Die Kapazitäten zur Behandlung
insbesondere psychisch kranker Menschen sind kaum vorhanden.
1999 litten ca. 17% der Menschen an psychischen Erkrankungen und bereits
2000 stieg die Zahl auf 25% (ca. 50.000 Menschen).
Bei dem Besuch in der Universitätsklinik Pristina wurde uns die erschreckende
Gesamtsituation vom Abteilungsleiter der psychiatrischen Abteilung erläutert.
Die psychiatrische Abteilung hat 72 Betten, die neurologische Abteilung 52
Betten mit 6 Intensivplätzen.
18 Schlüter-Müller, Sachverständigengutachten an VG Frankgurt am Main vom 29.03.2003 und Mental Health Service of Kosovo 2005, Mental Health Department in the Ministry of Health of Kosovo Memorandum 18.06.2004 von Dr. Ismet Abdullahu, Psychater 19 Stellungname des Office of Returns and Communities der UNMIK und des Gesundheitsministeriums, Availability of adequate medical treatment for post-traumtatic stress disorder (PTSD) in Kosovo vom Januar 2005
Kosovo- Reisebericht - März 2006 Georgia Langhans & Filiz Polat
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Laut seinen Ausführungen gibt es im Kosovo (Stand 9.11.05)
- 37 spezialisierte NeuropsychiaterInnen,
- 22 FachärztInnen für Psychiatrie,
- 3 PsychologInnen und
- 9 NeurologInnen.
Die Behandlung erfolgt fast ausschließlich medikamentös. Für die medizinische
Grundversorgung existiert eine „Essential Drug List“. Die notwendigen
Medikamente sind oft nur in geringem Umfang vorhanden, und müssen häufig
selbst bezahlt werden. Die Medikamente werden monatlich durch Abteilungen
der Krankenhäuser bei den „Zentral-Apotheken“ geordert. Wenn die georderte
Menge in der Mitte eines Monats ausginge, müsse bis zum nächsten
Monatsanfang gewartet werden. Die Medikamente bekommt man für 50 Cent
plus 2 Euro Gebühren. Das scheint für deutsche Verhältnisse wenig. Allerdings
muss man in diesem Zusammenhang erwähnen, dass sich die Menschen oft
schon die Busfahrt für 1 Euro zum Krankenhaus nicht leisten können.
Eine psychotherapeutische Behandlung im Rahmen der staatlichen
Gesundheitsfürsorge ist nur dann für die Betroffenen kostenlos, wenn diese in
der staatlichen Krankenversicherung versichert sind. Andernfalls sind für die
Medikamente und Psychotherapie die üblichen Marktpreise zu entrichten. Für die
kostenlose Behandlung im Rahmen der staatlichen Gesundheitsfürsorge ist eine
Registrierung in Serbien und Montenegro erforderlich. Die Registrierung stellt in
der Praxis ein ernsthaftes Hindernis bei der Ausübung grundlegender Rechte
wie dem Zugang zu Sozialleistungen, Gesundheitsfürsorge,
Bildungseinrichtungen und Wohnraum da, die von offiziellen deutschen Stellen
oft nicht gesehen wird.20 In der Praxis sind die lokalen Behörden nicht bereit, aus
anderen Gemeinden stammende mittellose Personen zu registrieren und ihnen
20 vgl .VG Oldenburg, Urteil vom 29. April 2005, S 23
Kosovo- Reisebericht - März 2006 Georgia Langhans & Filiz Polat
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Sozialleistungen zu gewähren. Bei den aus dem Ausland zurückgekehrten
Kosovaren herrscht oft das Vorurteil, diese hätten genügend Geld erwirtschaftet.
Der Leiter fügte hinzu, dass insgesamt das Budget im Gesundheitssektor so
niedrig sei, dass ohnehin nur 3 Euro pro Kopf pro Jahr zur Verfügung stünden.
Die Versorgungssituation habe sich im Vergleich zu 1999 einerseits verbessert,
weil mehr Ärzte in der psychiatrischen Weiterbildung seien, andererseits
verschlechtert, da ausländische Hilfsorganisationen ihre Arbeit mit psychisch
Erkrankten eingestellt hätten (lediglich KRCT arbeitet noch in diesem Bereich).
Therapeutische Einzel- oder Gruppengespräche würden nicht geführt.
Die Angebote privater Therapeuten seien ebenfalls nicht ausreichend und
darüber hinaus zu teuer. Privat nehmen die Ärzte oft 40 bis 50 Euro für eine
Behandlung. Damit verdienen sie sich neben ihrem Krankenhausjob etwas dazu.
Ein Oberarzt verdient 250 bis 350 Euro monatlich.
Für Patienten ist eine private Behandlung kaum möglich, da die soziale
Grundsicherung im Kosovo für Einzelpersonen maximal 35 Euro beträgt. Für
Familien maximal 75 Euro.
Der Leiter der Abteilung bestätigte, dass eine Behandlung von PTBS nicht
möglich sei und dass psychische Erkrankungen nur medikamentös behandelt
werden können, wobei er hinzufügte, dass die Medikamente oft nicht verfügbar
sind.
Gespräch mit dem Leiter des Institute for Public Health Prof. Dr. ı Dedushaj
Dr. Dedushaj stellte uns die Arbeit der PHC vor und erläuterte die 14
Abteilungen seiner Institution. Insgesamt existieren sieben Health Center im
Kosovo. Das Health Center in Pristina deckt verschiedene Bereiche ab. Von der
Umwelthygiene über Mikrobiologie bis hin zur Abteilung der Epidemiologie.
Er bestätigte, dass die öffentlichen Krankenhäuser in einer katastrophalen Lage
sind. Es fehlten erstens die wesentlichen Medikamente, trotz der sogenannten
„Drug List“. Darüber hinaus vertraue zweitens das Volk den MedizinerInnen nicht
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mehr, da ihnen Korruption und Handel mit den wenig verfügbaren kostenlosen
Medikamenten unterstellt werde.
Ein Schwerpunkt des Gesprächs war die Wasserversorgung im Kosovo. Hierzu
wurde sehr ausführlich diskutiert. Die Health Center arbeiten aktiv an einer
Trinkwasserversorgung, die auch die ländlichen Regionen erschließt. Denn nach
Aussagen der Ärzte ist oft das Wasser in den Brunnen der Dörfer auf dem Lande
kontaminiert. Deshalb sollten gerade Schulen an das öffentliche Netz
angeschlossen werden.
Die Abwasserentsorgung bedarf dringender Weiterentwicklung. Bisher fließt das
Abwasser ungefiltert in die Flüsse.
Besuch des Kosovo-Rehabilitations-Zentrums für Folteropfer (Kosova Rehabilitation Centre for Torture Victims, KRCT) Gespräch mit Frau Sebahate Pacolli, Medizinische Koordinatorin
Das Rehabilitationszentrum für Folteropfer (KRCT) ist eine unabhängige NGO.
Es betreut und behandelt traumatisierte Menschen. Darüber hinaus versucht das
Zentrum ÄrztInnen und MitarbeiterInnen in diesem Bereich zu schulen und
fortzubilden. Die medizinische Koordinatorin Dr. Sebahate Pacolli bestätigte,
dass im Jahr 2000 ca. 24% der Bevölkerung an psychischen Erkrankungen
litten. Das Zentrum beschäftige sich auch mit chronischen Fällen und manisch
depressiv erkrankten Menschen. In diesem Zusammenhang berichtete sie, dass
ein Indikator der sehr hohe Selbstmordanstieg sei. In der Region Skanderi mit
ca. 100.000 Einwohnern wurde vor dem Krieg kein Selbstmord registriert. Nach
dem Krieg gab es 60 registrierte Fälle. Das sei im Vergleich sehr hoch.
Frau Pacolli sagte, dass das größte Problem in Anbetracht der großen Zahl von
zu behandelnden Personen das geringe Budget sei und das Defizit an
Fachleuten. Sie bestätigte, dass auch die PHC nicht über ausreichende
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Kapazitäten verfügen. Es existieren Wartelisten mit Wartezeiten von bis zu sechs
Monaten.
KRCT selber beschäftige einen Psychologen, drei Psychiater, einen Mediziner
und einen Sozialarbeiter. Regional ist das Rehabilitationszentrum mit sechs
Außenstellen vertreten. Dort stehen die Experten einmal pro Woche den
Patienten zur Verfügung. Allerdings könne laut Frau Pacolli in dieser Form
natürlich lediglich eine medikamentöse Behandlung vorgenommen werden. Laut
Internationalem Roten Kreuz werden immer noch 2.000 Menschen vermisst.
Viele Familienangehörige, Witwen aber auch ehemalige Kriegsgefangene
suchen die Hilfe des KRCT. Die wenigen Fachleute behandeln 400 bis 500
Patienten pro Jahr. Eine durchschnittliche Behandlung dauert 6 Monate.
Abhängig von der sozialen Situation ist die Dienstleistung durch das KRCT
kostenlos. Allerdings müssen die Medikamente in der Regel selber besorgt
werden.
2005 waren ca. 60% der PatientInnen weiblich. 10% waren Minderjährige. Frau
Pacolli betonte in diesem Zusammenhang, dass sie keinen Kinderpsychologen
beschäftigen. Auch sie beklagte die Korruption und die Verfügbarkeit der
Medikamente. Es gebe nur ca. 7 bis 8 Medikamente, die überhaupt zur
Behandlung psychischer Erkrankungen zur Verfügung stehen. Verwendet wird
aber vorwiegend das Medikament Diazepam (7-Chlor-2,3-dihydro-1-
methyl-5-phenyl-1H-1,4-benzodiazepin-2-on), ein Arzneistoff der Gruppe der
Benzodiazepine. Es wird insbesondere als Psychopharmakon zur Behandlung
von Angstzuständen, in der Therapie epileptischer Anfälle und als Schlafmittel
angewendet.
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Frauenrechte
Besuch der NGO Norma, Gespräch u.a. mit der Juristin Valbona Salihu
Seit 1998 existiert eine Gruppe namens Norma „Lawyers Association Norma“. 12
Juristinnen haben sich zusammengeschlossen, beraten und betreuen
unentgeltlich Menschen, die es sich finanziell nicht leisten können ihr Recht vor
Gericht einzuklagen. Dazu zählen sie diejenigen Menschen, die bis zu 200 Euro
monatlich verdienen. Das sind allerdings 70% der kosovarischen Bevölkerung.
Deshalb haben die Frauen auch mittlerweile in 7 Jahren 5.350 Menschen
beraten. Bisher wurde ihr Verein durch öffentliche Fördermittel gestützt. Seit
letztem Jahr halten sie sich ohne
diese Mittel über Wasser und
leisten neben ihrem Job die
kostenlose Rechtsberatung und
die Bürokosten aus eigenen
Mitteln.
Sie drängen auf die Einhaltung
von Menschenrechten, setzen
sich für die Gleichbehandlung von
Männern und Frauen ein,
kämpfen gegen Menschenhandel
und Zwangsprostitution. Bereits im Jahr 2000 haben sie den Mut aufgebracht
eine serbische Enklave zu besuchen, um dort ein deutliches Signal der
Versöhnung zu geben. Sie haben die serbischen Frauen bei einem Besuch in
Pristina begleitet, um ihnen die Angst zu nehmen. Sie haben neben der
juristischen Beratungsarbeit, 172 Workshops in vorwiegend ländlichen Regionen
organisiert und durchgeführt, an denen bisher 4.000 Frauen teilgenommen
haben und 12 Fortbildungen für Juristinnen organisiert. In den Seminaren und
Vorträgen informieren sie über die rechtliche Situation im Kosovo. Schwerpunkt
der Workshops sind vor allem die Rechte der Frauen.
Kosovo- Reisebericht - März 2006 Georgia Langhans & Filiz Polat
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Durch die Fortbildung konnten sie 24 Juristinnen an kommunalen Gerichten
unterbringen. Allerdings stehen für diesen Bereich ihrer Arbeit nun keine Mittel
mehr zur Verfügung.
Im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit haben die Frauen vier Broschüren
herausgebracht, in denen sie den Frauen kurze Informationen zu ihren Rechten
geben und AnsprechpartnerInnen und Adressen anbieten, an die sich die Frauen
auch anonym wenden können. Ihr Engagement ist beeindruckend.
So haben die Juristinnen auch ihren
Beitrag zur Gesetzgebung geleistet. Ihre
Stellungnahme zum Strafgesetzbuch und
zur Strafprozessordnung wurde in Teilen
berücksichtigt und eingearbeitet.
An einem Friedensmarsch „Frauen
überschreiten Grenzen“ sind die Frauen
vorne weg mitmarschiert und haben mit
den Pässen in ihren Mündern die
Grenzen der Balkanländer Hand in Hand
überschritten, um für den Frieden zu
demonstrieren. Sie haben sich schon
sechs Monate nach Kriegsende mit
serbischen Frauen an einen Tisch
gesetzt und sie haben sich „geschlagen und beschimpft“, aber, so die Frauen,
„sie haben sich an einen Tisch gesetzt“.
Sie selber sagten sie seien wie ein „Bienenstock“, was wir nach dem Gespräch
nur bestätigen konnten. Solange es solche Frauen im Kosovo gibt, gibt es auch
Hoffnung für ein friedliches Zusammenleben aller Menschen im Kosovo.
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KONTAKT
BÜNDNIS ’90/DIE GRÜNEN im Landtag Niedersachsen Hinrich-Wilhelm-Kopf-Platz 1, 30159 Hannover
www.fraktion.gruene-niedersachsen.de
Georgia Langhans, MdL Migrationspolitische Sprecherin
Tel. 0511/3030-3305
Fax 0511/3030-99-3305
Email [email protected]
www.georgia-langhans.de
Filiz Polat, MdL Mitglied im Petitionsausschuss
Tel. 0511/3030-3303
Fax 0511/3030-99-3303
Email: [email protected]
www.filiz-polat.de