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Reinhard Fiehler Was sind die Grundeinheiten gesprochener Sprache? Ein altes Problem und ein neuer Lösungsvorschlag "Eines der linguistischen Grundprobleme ist nun, inwieweit sich Gliederungen der gesprochenen Sprache mit denen der geschriebenen in kate- gorisier Hinsicht decken." (Rehbein 1995, 3) Abstract This article revives the question of what the fundamental units of spoken language are. In chapter 2 some answers of current and previous theory are listed. In chapter 3 I argue that turns are the basic units of conversation, although the question of the constituents of a single turn arises. In chapter 4 a turn is broken down into atomistic units: the functional units. A functional unit is the smallest constituent of interaction to which a recipient can ascribe function for the communicative process. Functional units are distinguished into three types: contigently independent, projective and associated. A tentative account of different subtypes is suggested. 1 Einleitung Fragt man nach den grundlegenden Einheiten der geschriebenen Sprache, so wird man sehr schnell auf die folgenden vier kommen: Buchstaben, Wörter, Sätze und Texte.1 Buchstaben sind (zumindest 1 Sicherlich könnten auch noch weitere Einheiten genannt werden. So z.B. zwischen der Ebene des Wortes und des Satzes Einheiten wie Satzglieder, Phrasen oder Einschübe (Parenthesen, Appositionen) und zwischen der Ebene des Satzes und des Textes Einheiten wie Absätze, Abschnitte und Kapitel oder thematische Einheiten und Episoden (vgl. van Dijk 1982). Sie sind m.E. aber Erschienen in: Sprachtheorie und germanistische Linguistik Jg. 13 (2003) H. 2, S. 145-172.

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Page 1: Reinhard Fiehler Was sind die Grundeinheiten gesprochener

Reinhard Fiehler

Was sind die Grundeinheitengesprochener Sprache?Ein altes Problem und ein neuer Lösungsvorschlag

"Eines der linguistischen Grundprobleme ist nun, inwieweit sich Gliederungen der gesprochenen Sprache mit denen der geschriebenen in kate-gorisier Hinsicht decken." (Rehbein 1995, 3)

Abstract

This article revives the question of what the fundamental units of spoken language are. In chapter 2 some answers of current and previous theory are listed. In chapter 3 I argue that turns are the basic units of conversation, although the question of the constituents of a single turn arises. In chapter 4 a turn is broken down into atomistic units: the functional units. A functional unit is the smallest constituent of interaction to which a recipient can ascribe function for the communicative process. Functional units are distinguished into three types: contigently independent, projective and associated. A tentative account of different subtypes is suggested.

1 EinleitungFragt man nach den grundlegenden Einheiten der geschriebenen Sprache, so wird man sehr schnell auf die folgenden vier kommen: Buchstaben, Wörter, Sätze und Texte.1 Buchstaben sind (zumindest

1 Sicherlich könnten auch noch weitere Einheiten genannt werden. So z.B. zwischen der Ebene des Wortes und des Satzes Einheiten wie Satzglieder, Phrasen oder Einschübe (Parenthesen, Appositionen) und zwischen der Ebene des Satzes und des Textes Einheiten wie Absätze, Abschnitte und Kapitel oder thematische Einheiten und Episoden (vgl. van Dijk 1982). Sie sind m.E. aber

Erschienen in: Sprachtheorie und germanistische Linguistik Jg. 13 (2003) H. 2, S. 145-172.

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in Alphabetschriften) die elementaren Konstruktionseinheiten, Wör-ter die zentralen lexikalischen Einheiten zum Bezug auf die Welt, Sätze die elementaren Aussageeinheiten2 und Texte die in sich abge-schlossenen, kommunikativen Einheiten.

Stellt man die gleiche Frage in Hinblick auf gesprochene Sprache, so fällt die Antwort schwerer. Die einfachste und durch die dominant schriftsprachliche Prägung des Sprachbewusstseins3 auch nahe-liegendste Lösung ist zu versuchen, gesprochene Sprache nach dem Modell der schriftlichen zu verstehen, und die eben genannten Ein-heiten zu übertragen bzw. Analogisierungen vorzunehmen. Den Buchstaben entsprechen dann die Laute, dem geschriebenen das gesprochene Wort, dem geschriebenen Satz der gesprochene und dem Text als kommunikativer Einheit korrespondiert das Gespräch (oder der Diskurs). Diese Parallelisierung erscheint zunächst einsichtig - bis auf den Punkt, dass das Gespräch nicht in gleicher Weise aus Sätzen besteht, wie der Text es tut. An dieser Stelle entzieht sich die gesprochene Sprache aufgrund ihres Eigencharakters einer einfachen Analogi sierung.

Die Frage, was dem Satz in der gesprochenen Sprache entspricht, oder allgemeiner: was auf dieser Ebene Grundeinheiten mündlicher Kommunikation sind, hat eine Reihe verschiedener Antworten gefun-den, auf die ich im Abschnitt 2 kurz eingehen werde. Wenn ich mich in Abschnitt 3 der Auffassung anschließe, dass der Beitrag (turn) eine grundlegende Einheit gesprochener Sprache bzw. des Gesprächs ist, ist damit eine genuin mündliche Ebene von Einheiten etabliert, zu-gleich wird dadurch aber auch die Frage aufgeworfen, aus was für Elementen der Beitrag seinerseits besteht. In Abschnitt 4 werde ich funktionale Einheiten als Bausteine des Beitrags charakterisieren und ansatzweise das Inventar dieser funktionaler Einheiten beschrei-ben. Mit funktionalen Einheiten ist eine weitere Ebene grundlegen-der Elemente gesprochener Sprache postuliert, so dass für mündliche

nicht in gleicher Weise grundlegend und tragen z.T. schon wissenschaftlich-analytischen Charakter.

2 Buchstaben sind als isolierte Zeichen, Wörter sind durch Spatien und Sätze durch Satzzeichen, vor allem durch den Punkt, in der Form der Schriftlichkeit verankert und treten so sinnfällig vor Augen, vgl. Fiehler (2000, 25-26).

Vgl. Fiehler (2000, 23-34).3

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Kommunikation fünf grundlegende Einheiten anzunehmen sind: das Gespräch, der Beitrag, funktionale Einheiten, Wörter und Laute.4

2 Positionen zu grundlegenden Einheiten gesprochener Sprache

Im Folgenden wird eine Reihe von Konzepten aufgelistet, die als Grundeinheiten gesprochener Sprache vorgeschlagen worden sind. Die Konzepte können hier nur benannt, nicht aber dargestellt und diskutiert werden (vgl. hierzu Fiehler/Barden/Elstermann/Kraft i.Dr., Abschnitt II.2).

(1) Satz

(z.B. Projekt 'Grundstrukturen der deutschen Sprache', vgl. Texte gesprochener deutscher Standardsprache I 1971, 36ff., Schröder 1975; Höhne-Leska 1975; Lindgren 1985, 1987, 1988)

Lange Zeit wurde die Satzsegmentierung umstandslos auf die ge-sprochene Sprache übertragen:

Die regelmäßige Wiederkehr von Subjekt und Prädikat (Nominal- und Verbalphrase) ist auch im gesprochenen Deutsch in jedem Redeablauf zu beobachten. Sie kann als ein sicheres formales Kriterium für die Segmentie-rungsverfahren an Texten eingesetzt werden [...] (Texte I, 44).

Je intensiver jedoch die Auseinandersetzung mit gesprochensprach-lichen Daten wurde, desto mehr tauchten Zweifel daran auf, ob das Sprechen in gleicher Weise aus Sätzen besteht, wie es bei schrift-lichen Texten der Fall ist. Entsprechend wurde die Übertragung der Kategorie 'Satz' auf die Analyse gesprochener Sprache zunehmend kritisiert und mit der Aufforderung verbunden, nach angemesseneren Kategorien zu suchen.5

4 Auch hier sind natürlich weitere Einheiten denkbar und sinnvoll: Zwischen der Ebene der Beiträge und dem Gespräch z.B. Themen als Einheiten. Zudem muss ergänzt werden, dass Gespräch als Einheit nur bei kommunikativ dominierten Interaktionen anzusetzen ist. Bei empraktisch eingebetteten Beiträgen ist der auf ein Ziel gerichtete Handlungszusammenhang als übergeordnete Einheit anzusehen (vgl. Fiehler 1993).

5 "Wenn Sie also versuchen wollen, Sätze des spontanen Gesprächs mit den Methoden der schriftsprachlichen Grammatik und Norm zu analysieren, dann werden Sie in sehr vielen Fällen in Schwierigkeiten geraten. (...) wie läßt sich hier

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Als Konsequenz dieser Kritik wurde eine Reihe alternativer Konzepte für grundlegende Einheiten gesprochener Sprache vorge-schlagen.6

(2) Sprachliche /kommunikative Handlung; Sprechakt; kommunika-tive Minimaleinheit

(z.B. Austin 1962, Searle 1969, Zifonun/Hoffmann/Strecker et al. 1997)

(3) Äußerungseinheit

(z.B. Rath 1976, 1985, 1990 und 1997)

(4) Äußerung

(z.B. Rehbein 1995)

(5) Intonation unit

(z.B. Chafe 1988)

(6) Talk unit

(Halford 1996)

(7) Syntaktische Basiseinheiten

(Jürgens 1999)

noch sagen, was ein Satz ist? (...) Das heißt also, man muß hier ganz neue wissenschaftliche Kategorien suchen." (Rupp 1965, 28)

"Wir unterscheiden zwar zwischen "Buchstabe" und "Laut" [bei der Reflexion der Unterschiede zwischen geschriebener und gesprochener Sprache; R.F.], behalten aber ganz selbstverständlich "Satz" bei - obwohl die Zuordnung zwischen "Satz" (in der geschriebenen Sprache) und der betreffenden Äußerungs-einheit in der gesprochenen sicher nicht weniger verwickelt und problematisch ist als jene zwischen "Buchstabe" und "Laut"." (Klein 1985, 13)

6 Mitte der 90er Jahre wurde dann das Satzkonzept erneut - deutlich dynamisiert und interaktionistisch perspektiviert als "möglicher Satz" - von Selting (1995) in die Diskussion gebracht. Im Rahmen der Renaissance des Satzbegriffs stehen auch die Arbeiten von Kindt (1994) und Schreiber (1995).

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(8) Syntaktische, prosodische und semantisch-pragmatische Zäsu- rierungen

(Auer 1996; Ms.)

(9) Turn und turn constructional unit

(z.B. Sacks, Schegloff und Jefferson 1974; Ford/Fox/Thompson 1996; Selting 1996, 1998)

Ohne dies im Einzelnen hier zeigen zu können, muss festgestellt werden, dass die Debatte um Grundeinheiten der mündlichen Kommunikation - als Folge der ursprünglichen Orientierung am Satz - zu strukturell-formorientiert verlaufen ist und dass so die funktionale Gliederung der Beiträge, an der sich die Beteiligten primär orientieren und die im Folgenden die zentrale Rolle spielen wird, zu wenig beachtet worden ist.

Zugleich soll auch schon an dieser Stelle - um Missverständnissen vorzubeugen - festgehalten werden, dass natürlich auch Sätze, verstanden als Komplex aus Referenz und Prädikation, als Einheiten in der gesprochenen Sprache Vorkommen, sogar mit einem erheblichen quantitativen Anteil. Dies darf aber keinesfalls zu dem Schluss führen, dass der Satz die zentrale Einheit auch der gesprochenen Sprache ist und dass alle Einheiten der gesprochenen Sprache, die nicht Sätze sind, außer Acht gelassen werden können. Insbesondere muss geklärt werden, was solche nichtsatzförmigen Einheiten möglich und erforderlich macht.

3 Der Gesprächsbeitrag und das Problem seiner Untereinheiten

Ich möchte mich im Folgenden der Auffassung anschließen, dass der Beitrag die grundlegende Einheit der mündlichen Kommunikation ist. Nimmt man ernst, dass sich mündliche Kommunikation in Gesprächen vollzieht, so scheint es angemessen, als nächstniedrige Einheit unterhalb des Gesprächs das anzusetzen, was die Gesprächs-beteiligten in zeitlicher Abfolge hierzu beitragen. Außer den Konver-sationsanalytikern betrachten von den oben genannten Autorinnen auch Rath, Rehbein und Haiford den Beitrag als wichtige Einheit mündlicher Kommunikation, wenngleich auch nicht als die zentrale.

Ein Beitrag ist eine Äußerung, die mit Rederecht gemacht wird. Dass jemand einen Beitrag macht, heißt, dass er zu einem bestimm-

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ten Zeitpunkt mit Rederecht spricht. D.h. sein Recht zu reden, ist von den anderen Gesprächsteilnehmern ratifiziert bzw. wird nicht durch Handlungen irgendwelcher Art in Frage gestellt.

Nicht jede Äußerung ist zugleich auch ein Beitrag. Es gibt zwei Gruppen von Äußerungen ohne Beitragsstatus: Äußerungen im Rahmen des aktuellen Gesprächs, für die der Beitragsstatus nicht beansprucht wird (Rückmeldesignale, Einwürfe etc.), und Äuße-rungen, die nicht als Beitrag zum aktuellen Gespräch intendiert sind (z.B. Exothesen oder Äußerungen im Rahmen einer Nebenkommu-nikation).7

Der Beitrag hat eine mentale und eine interaktionale Seite. Die mentale Seite kann man explizieren als das, was der Sprecher - wie bewusst und klar vorstrukturiert auch immer - im nächsten Zug zum Gespräch beizutragen beabsichtigt (beabsichtigter Beitrag). Dies braucht einerseits aufgrund von Momenten der Versprachlichung (Produktionsbedingungen), andererseits aufgrund von 'Umplanungen' im Vollzug des Beitrags und drittens als Folge interaktionaler Bedingungen (z.B. Interventionen der anderen Gesprächsbeteiligten) nicht dem zu entsprechen, was im faktischen Beitrag und ent-sprechend dann auch im Transkript aufzufinden ist (realisierter Bei-trag, vorfindbar im Transkript zwischen zwei Beitragswechseln). Der realisierte Beitrag ist ein interaktives Produkt, eine interaktive Hervorbringung. Die Interaktionspartner gestalten ihn gemeinsam.

Die Feststellung, dass der Beitrag die zentrale Grundeinheit mündlicher Kommunikation ist, zieht aber - wegen der sehr variab-len Größe von Beiträgen - sofort die Frage nach sich, aus welchen Einheiten er seinerseits bestehen kann. Der Beitrag ist zweifellos ein strukturiertes Gebilde und gerade ausgebaute Beiträge werfen das Problem ihrer Binnenstrukturierung auf. Gefragt ist hier nach abgrenzbaren, substanziellen Bestandteilen, nicht nach analytisch-theoretisch differenzierbaren Einheiten (wie z.B. illokutionärer - pro- positionaler Akt, Prozeduren).

Einen Aspekt der Struktur und des Aufbaus von Beiträgen thema-tisiert Streeck, wenn er schreibt:

Weiterhin ist zu beachten, daß Turns, wie immer sie sonst beschaffen seinmögen, nicht selten eine Struktur aus drei Teilen aufweisen; dies scheint derTatsache geschuldet zu sein, daß Turns meist Turns in Sequenzen, Nach-

7 Dies hat zur Konsequenz, dass zwischen Sprecherwechsel und Beitragswechsel zu unterscheiden ist: Nicht jeder Sprecherwechsel, z.B. wenn ein Einwurf gemacht wird, ist zugleich auch ein Beitragswechsel.

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folger eines vorigen und Vorläufer eines nächsten Turns sind. Während eine Einheit der Struktur des Turns dessen Verbundenheit mit dem vorigen demonstriert, ist ein anderer Teil auf die Aufgaben des gegenwärtigen Turns zugeschnitten und ein dritter der Herstellung einer Beziehung zu möglichen oder wünschenswerten Nachfolgeturns gewidmet. (Streeck 1983, 79)

Einen weiteren Aspekt der Binnenstrukturierung von Beiträgen beschreibt Rehbein:

Ein turn (=Beitrag) im gesprochenen Diskurs ist häufig in zwei Portionen gegliedert:(i) eine erste Turn-Portion, in der der Sprecher in einer Hörerrolle direkt auf

die Vorgänger-Äußerung des vorhergehenden Sprechers Bezug nimmt (dies z.B. mittels einfacher Bestätigungen, Verneinungen, Interjektionen usw.);

(ii) eine zweite Tum-Portion, in der der Sprecher in einer Sprecherrolle einen eigenen Plan umsetzt. (Rehbein 1995, 49)

Abgesehen davon, dass beide Bestimmungen hinsichtlich des dritten Teils nicht übereinstimmen, handelt es sich bei beiden Einteilungen noch um großflächige Segmentierungen des Beitrags.

Feiner kalibriert ist die Differenzierung, die Sacks, Schegloff und Jefferson vornehmen: "sentences, clauses, phrases, and one-word constructions, and multiples thereof' (Sacks/Schegloff/Jefferson 1974, 721). Sofern sie sich mit den Bestandteilen eines Beitrags oder den "elements out of which turns are built" (Sacks/Scheglofl/Jefferson 1974, 721) befassen, bestimmen sie diese Einheiten also syntaktisch:

Our discussion [...] of the tum-constructional component of the turn-taking system identifies the types of turn-constructional units as sentential, clausel, phrasal, and lexical - i.e. syntactically. (Sacks/Schegloff/Jefferson 1974, 720)

Und sie betonen "the deep ways in which syntax matters to turn-taking, albeit a syntax conceived in terms of its relevance to turn-taking" (Sacks/Schegloff/Jefferson 1974, 720).

Die Idee, die im Folgenden vorgestellt werden soll, besteht darin, eine Binnensegmentierung des Beitrags nicht in syntaktischen Begriffen - wie es bei Sacks, Schegloff und Jefferson der Fall ist - oder nach syntaktischen, prosodischen und semantisch-pragmatischen Zäsurie- rungen vorzunehmen - wie Auer und Ford/Fox/Thompson es tun - , sondern eine funktionale Konzeption für die Segmentierung des Bei-trags zu entwickeln. An die Stelle letztlich formorientierter Kriterien der Einheitenbestimmung tritt damit eine funktionale Perspektive auf

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die Struktur von Beiträgen. Gefragt wird danach, an welchen Stellen der Hörer in der online-Prozessierung eines Beitrags zu der Auf-fassung kommen kann, dass etwas abgeschlossen ist, dem er - als Einheit - eine kommunikative Funktion zuschreiben kann. Funktio-nale Einheiten sind also Einheiten, denen die Beteiligten im Vollzug des Gesprächs eine Handlungsfunktion zuschreiben können, die im jeweiligen Kontext zur Fortentwicklung der Interaktion beiträgt. Es geht nicht um die Zuschreibung einer beliebigen Funktionalität, also z.B. von grammatischen Funktionen, sondern um eine Funktionalität im Kommunikationsprozess. Mit diesen Einheiten werden spezifische Gesprächsaufgaben bearbeitet, z.B. das Äußern einer Bewertung, das Geben einer Antwort oder die Adressierung eines Gesprächspartners etc.

Der Prozess der Identifizierung solcher Einheiten basiert primär auf der semantischen und funktionalen Interpretation der einlaufen-den sprachlichen Elemente. Die Identifizierung funktionaler Ein-heiten stützt sich dabei auch auf syntaktische und prosodische Ein-heiten (syntaktische Gestaltschlüsse, geschlossene prosodische Kon-turen), sie ist aber weder allein noch primär von ihnen abhängig: Die Zuschreibung von kommunikativen Funktionen ist in vielen Kontex-ten unabhängig von syntaktischer oder prosodischer Vollständigkeit bzw. Geschlossenheit. Beim Verstehen von Beiträgen geht es nicht per se um das Erkennen von syntaktischen, prosodischen oder ande-ren Gestalten, d.h. Formen, sondern um das Erkennen und Interpre-tieren von Handlungen bzw. Funktionen.

Meine Hypothese ist damit, dass die Beteiligten bei der Identifizie-rung von Einheiten im Rahmen von Beiträgen darauf orientiert sind, was die jeweils anderen in ihren Gesprächsbeiträgen machen, und dass sie als Einheiten Aktivitäten separieren, denen sie eine kommu-nikative Funktion im Rahmen des interaktiven Austauschs zu-schreiben können.

4 Funktionale EinheitenOrientiert man sich an der Perspektive von Gesprächsbeteiligten, so sind ihre Aktivitäten im Prozess des Verstehens darauf gerichtet, zu erkennen und zu interpretieren, welche Handlungen der andere mit seinem Gesprächsbeitrag vollzieht. Sobald sie Teile eines Gesprächs-beitrags als solche Handlungen identifizieren können, separieren sie diese als funktionale Einheiten. Auf eine Kurzformel gebracht: Die

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Beteiligten betrachten das als elementare Einheit, dem sie eine Funktion im und für den Kommunikationsprozess zuschreiben kön-nen. Funktionale Einheiten sind die kleinsten Bestandteile des Bei-trags, denen eine solche (separate) Funktion zugeschrieben werden kann.

Mit funktionalen Einheiten werden bestimmte Aufgaben im Kom-munikationsprozess bearbeitet. So können z.B. die Aufgaben: einen Gesprächspartner adressieren, eine Mitteilung/Aussage machen8, zu etwas Stellung nehmen, eine Bewertung äußern, fluchen, jemanden grüßen, eine Frage stellen, antworten, einen thematischen Wechsel ankündigen, einen Gegenstand/eine Person identifizieren, eine Rede-wiedergabe ankündigen, eine Verstehensanweisung für eine andere Äußerung geben, jemanden zu etwas auffordern, einen Grund nennen, eine Bedingung formulieren, etwas verneinen, etwas ab-lehnen, Bestätigung einfordern etc. etc. durch elementare funktionale Einheiten (aber natürlich auch durch Kombinationen aus mehreren solcher Einheiten) realisiert werden.

Ersichtlich sind diese Funktionen außerordentlich vielfältig und heterogen, gleichwohl handelt es sich aber um kommunikative Funktionen, die Kommunizierenden sehr wohl vertraut sind und die alltagsweltlich auch explizit benannt werden können. Versucht man die elementaren funktionalen Einheiten zu systematisieren, so handelt es sich zum einen um bestimmte kommunikative Hand-lungen (Sprechhandlungen), zum anderen um Aktivitäten, mit denen die Funktion anderer funktionaler Einheiten expliziert werden und zum dritten um Aktivitäten, die den Kommunikationsprozess organi-sieren und strukturieren (Adressierung, Auswahl des nächsten Sprechers, Gliederung eines Beitrags (z.B. durch Gliederungssigna-le)).

Funktionale Einheiten werden dadurch konstituiert, dass ihnen eine Funktion im und für den Kommunikationsprozess zugeschrieben werden kann. Zu unterscheiden davon ist, dass Einheiten eines Bei-trags eine Funktion für den Formulierungsprozess des Sprechers

8 Ich gehe davon aus, dass die Kommunizierenden einer Aussage/Mitteilung nur als Ganzer eine Funktion zuschreiben, d.h. dass sie z.B. Referenz- und Prädikations-akt nicht als gesonderte funktionale Einheiten wahrnehmen. Diese werden erst dann als eigenständige Einheiten erfahren, wenn Referenz und Prädikation - wie es bei Referenz/Thematisierung-Aussage-Strukturen (vgl. Fiehler/Barden/Elster- mann/Kraft i.Dr. Abschnitt II. 1) der Fall ist - deutlich separiert sind (z.B. durch prosodische Abgrenzung oder durch lexikalischen Verweis auf die Referenz/ Thematisierung).

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haben. So kann ein einleitendes äh zum Beispiel funktional als Signal für die 'Artikulation' von Problemen der Äußerungsplanung bzw. — Verbalisierung gedeutet werden. Andere Elemente signalisieren Ab-brüche, Neuansätze, Korrekturen/Reparaturen, Reformulierungen, Wortsuchprozesse, die Wiederaufnahme von Konstruktionen, die Modalisierung von Konstituenten, Nachträge/Expansionen etc. Diese Einheiten haben ihre primäre Funktion im (individuellen) Formulie-rungsprozess, sie dienen nicht der Organisation und Strukturierung des gemeinsamen Kommunikationsprozesses und sind deshalb im Regelfall nicht als eigenständige Bestandteile des Beitrags zu werten. Gleichwohl können aber bestimmte Formen von Nachträgen bzw. Expansionen oder nachgestellte Reformulierungen - insbesondere durch eine entsprechende prosodische Gestaltung - den Charakter von funktionalen Einheiten annehmen. Ob Einheiten eine Funktio-nalität im Rahmen des Formulierungsprozesses oder aber im Rahmen des Kommunikationsprozesses zugeschrieben wird, stellt einen we-sentlichen kategorialen Unterschied dar: Der eine Typ von funktional bestimmten Einheiten strukturiert und organisiert das Formulieren, der andere das Gespräch.

Die Zuschreibung von kommunikativen Funktionen im Prozess des Verstehens von Beiträgen beginnt bei den funktionalen Einheiten, sie endet aber nicht dort. Besteht ein Beitrag aus einer einzelnen funk-tionalen Einheit, so sind für sie Funktionszuschreibungen auf ver-schiedenen Ebenen möglich. Eine funktionale Einheit, die in einem Interpretationsrahmen als Aussage/Mitteilung erscheint, kann in anderen bzw. übergeordneten Interpretationsrahmen z.B. als Gegen-argument oder als Versuch der sozialen Diskreditierung erscheinen. Besteht ein Beitrag aus mehreren funktionalen Einheiten, so sind sie zu einer übergeordneten kommunikativen Gesamtfunktion des Bei-trags zu integrieren. Die Zuschreibung von kommunikativen Funk-tionen zu Beiträgen ist so, auch wenn sie bei funktionalen Einheiten den Anfang nimmt, hierarchisch strukturiert und multidimensional.

Betrachtet man realisierte Beiträge, so bestehen sie zumindest aus einer, häufig aber auch aus mehreren funktionalen Einheiten. Das minimale Format eines Beitrags ist eine funktionale Einheit, wobei diese Einheit sehr unterschiedlich gefüllt sein kann. Erfüllt sie z.B. die Funktion einer Verneinung oder Ablehnung, so kann dies kommunikativ durch ein Kopfschütteln, ein Nein, oder durch ganze Äußerungen wie Stimmt nicht., Das ist nicht wahr. etc. realisiert werden.

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Besteht ein Beitrag aus mehreren funktionalen Einheiten, so ist er mehrgliedrig, d.h. ein strukturiertes Gebilde, wobei diese Strukturie-rung feiner ist, als die oben von Streeck und Rehbein beschriebene. Die Bestandteile des mehrgliedrigen Beitrags haben unterschiedliche kommunikative Funktionen, und sie können als Folge dieser Unter-schiede im Zuge der Segmentierung von Beiträgen identifiziert wer-den.

Zwischen funktionalen Einheiten können Relationen sehr unter-schiedlichen Typs bestehen. Funktionale Einheiten können - sowohl innerhalb eines Beitrags wie auch über die Beitragsgrenze hinweg (z.B. reaktive sprachliche Handlungen wie Antworten, Gegengrüße etc.; reaktive bewertende Stellungnahmen) - rückbezüglich sein. Sie können aber auch andere funktionale Einheiten projizieren', auch dies kann wieder innerhalb eines Beitrags (vgl. unten die Klassen (11) bis (15)) wie auch zwischen Beiträgen verschiedener Sprecher (vgl. z.B. projizierende sprachliche Handlungen wie Fragen, Grüße etc.) ge-schehen. Auf diese Weise legen bestimmte Typen funktionaler Ein-heiten Beitragswechsel nahe. Zur Signalisierung bestimmter Relatio-nen zwischen funktionalen Einheiten steht eine Vielzahl sprachlicher Mittel zur Verfügung.

Zwischen funktionalen Einheiten bestehen weniger feste Beziehungen als zwischen den Elementen, aus denen sie bestehen. Dies ist so, weil funktionale Einheiten kommunikative Funktionen realisieren und diese Funktionen nicht kontinuierlich ineinander übergehen, sondern diskret und in zeitlicher Abfolge realisiert werden. Vor und nach funktionalen Einheiten sind Sprecher wie Hörer ebenso wie Personen, die diese Äußerungen nachträglich analysieren, also geneigt, zu segmentieren oder solche Grenzen in Erwägung zu ziehen. Funktionale Einheiten besitzen in diesem Sinne Segmentierungsrelevanz.

Die Mehrgliedrigkeit von Beiträgen kann auf verschiedene Weise zustande kommen. Zum einen können funktionale Einheiten, die ver-schiedene Handlungen realisieren, - entsprechend den je konkreten kommunikativen Absichten - kombiniert werden, so z.B. eine reaktive bewertende Stellungnahme, eine Aussage (die eine Ver-mutung zum Ausdruck bringt), eine Adressierung und eine Anforde-rung einer Antwort: Gut, aber damit kannst Du doch auch nicht ein-verstanden sein, Hans, oder?

Zum anderen ist Mehrgliedrigkeit aber auch Resultat der Tatsache, dass einige funktionale Einheiten projektive Kraft besitzen, d.h. weitere funktionale Einheiten mehr oder minder verbindlich

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erwartbar machen und nach sich ziehen. In diesem Fall bilden mehrere elementare funktionale Einheiten gemeinsam strukturelle Einheiten höheren Typs (Operator-Skopus-Strukturen, Referenz/ Thematisierung-Aussage-Strukturen etc.). Projizierende funktionale Einheiten können nicht alleine einen Beitrag bilden, d.h. nach ihnen ist keine übergaberelevante Stelle.9 Erst zusammen mit weiteren funktionalen Einheiten, die diese Projektionen erfüllen, stellen sie vollständige Strukturen und ggf. auch Beiträge dar. Beispiele für solche projizierenden funktionalen Einheiten sind z.B. die Adressie-rung (die erst zusammen mit einer Aussage oder einer anderen sprachlichen Handlung einen Beitrag bilden kann), die Ankündigung einer Redewiedergabe (z.B. ich/er sagte), Verstehensanweisungen (also z.B. Operatoren im Rahmen von Operator-Skopus-Strukturen; vgl. Fiehler 1999) oder abgesetzte referierende bzw. identifizierende Ausdrücke, wie sie in Referenz/Thematisierung-Aussage-Strukturen Vorkommen). Funktionale Einheiten sind also in projizierende und potenziell selbständige zu differenzieren. Selbständige funktionale Einheiten besitzen keine so ausgeprägte projektive Kraft und können im Prinzip alleine auftreten. Während selbständige funktionale Einheiten im Rahmen eines Beitrags - entsprechend den kommuni-kativen Zwecken - relativ frei mit anderen Einheiten kombiniert werden können, ist dies bei projizierenden funktionalen Einheiten erst dann möglich, wenn diese Projektionen erfüllt sind, also bei größeren Strukturen. Die Projektion führt also zu einer spezifischen Relationierung und Verknüpfung von funktionalen Einheiten zu selbständigen mehrgliedrigen Einheiten höheren Typs (im Rahmen von Beiträgen).10

Einen weiteren Typ unselbständiger Einheiten bilden die assoziierten funktionalen Einheiten. Man kann ihnen eine Funktion im Kommunikationsprozess zuschreiben, aber sie können nicht selbständig auftreten, sondern erfordern eine andere selbständige Trägereinheit, von der sie abhängig sind. Zu dieser Gruppe gehören Einheiten, mit denen Bedingungen, Folgen, Gründe etc. für etwas

9 Es sind also keine turn-constructional-units im Sinne von Sacks/ScheglofF Jefferson (1974).

10 Auch Beiträge können natürlich projektive Kraft in Hinblick auf mögliche Folge-beiträge des nächsten Sprechers haben. Diese Art von Projektion ist konstitutiv für Phänomene wie die konditionelle Relevanz oder sprachlich-kommunikative Handlungsmuster (im Sinne von Ehlich/Rehbein 1979).

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angeben oder mit denen nähere Angaben zu etwas gemacht werden.11 Auch Adressierungen, Augmente etc. sind dieser Gruppe zuzurechnen (vgl. unten die Klassen (4) bis (10)).

Analysiert man mehrgliedrige Beiträge, so gibt dies Aufschluss über häufige und typische Kombinationen bzw. Sequenzen von funktio-nalen Einheiten. Ein Teil der so feststellbaren Regelmäßigkeiten resultiert daraus, dass die projektive Kraft einzelner funktionaler Einheiten bestimmte Sequenzen wahrscheinlich macht. Doch gibt es auch andere Prinzipien, die regelhafte Sequenzen von funktionalen Einheiten zum Resultat haben. Insgesamt führt eine solche Analyse zu Einsichten über typische Grundstrukturen ('Baupläne') von Beiträgen.12

Es ist schon angesprochen worden, dass sprachlichen Einheiten sehr unterschiedlichen Umfangs und Typs kommunikative Funktio-nen zugeschrieben werden können. D.h. funktionale Einheiten können, was die verbalen und/oder nonverbalen Mittel bzw. Elemente angeht, sehr unterschiedlich gefüllt sein, sofern diese verschiedenen Füllungen nur geeignet sind, eine äquivalente Funktionszuschrei-bung zu ermöglichen. Eine Geste, ein einzelnes Wort, eine (Nominal- /Präpositional-)Phrase, ein freistehender 'Nebensatz' oder eine voll-ständige Aussage/Mitteilung in Satzform können so funktional äquivalent sein und eine funktionale Einheit bilden.

Was an sprachlichem Mitteln bzw. Elementen notwendig ist, damit der Hörer eine Funktionszuschreibung vornehmen kann, ist dabei keineswegs konstant, sondern hängt von einer Reihe von Faktoren ab, vor allem davon, was die Kommunizierenden als gemeinsames Wissen, das keiner expliziten Versprachlichung bedarf, voraussetzen (können). So variiert es stark, wie viel und was an sprachlichen Mitteln in einer konkreten Situation erforderlich ist, um etwas für den Hörer als eine funktionale Einheit bestimmten Typs hinreichend deutlich zu machen. Im Prozess der Identifikation einer funktionalen Einheit spielen die sprachlichen (verbalen und nonverbalen) Mittel und das jeweilige Wissen in spezifischer Weise zusammen:

11 Bei viel von dem, was in der Form von 'Nebensätzen' erscheint, handelt es sich um solche assozierten funktionalen Einheiten.

12 Analysiert man Beiträge in Hinblick auf funktionale Einheiten, aus denen sie bestehen, ist in Rechnung zu stellen, dass Einheiten diskontinuierlich realisiert sein können. So kann eine funktionale Einheit durch die Einlagerung einer anderen - z.B. in Form einer Parenthese - aufgespalten werden.

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Jegliche Kommunikation beruht auf dem Zusammenspiel zweier Formen derInformation- der Äußerungsinformation, also dem, was nach den Regeln der

betreffenden Sprache in der jeweiligen geschriebenen oder mündlichen Äußerung ausgedrückt ist, und

- der Kontextinformation, also dem, was der Hörer ansonsten weiß.(Klein 1985, 19)

Klein unterscheidet dabei drei Quellen für das Kontextwissen: Vor-gängerinformation, Situationsinformation und Weltwissen (vgl. Klein 1985, 19ff.).

Je mehr an gemeinsamem Wissen vorhanden ist, desto weniger muss tendenziell sprachlich (verbal und nonverbal) expliziert werden, um funktionale Einheiten kommunikativ zu realisieren und erkennen zu können. Es gibt also eine - vom als gemeinsam unterstellten Wissen abhängige - Varianz der sprachlichen Explizitheit bei der kommunikativen Realisierung funktionaler Einheiten. Diese Inter-dependenz von gemeinsamen Wissen und sprachlichem Material ist der rationale Kern dessen, was als Elliptizität gesprochener Sprache diskutiert wird. Hierbei wird nicht wirklich etwas ausgelassen - dies erscheint nur so, wenn man die für schriftliche Kommunikation not-wendigen Standards der sprachlichen Explizitheit voraussetzt und auf gesprochene Sprache überträgt - , sondern es ist aufgrund gemeinsamen Wissens und der situativen Präsenz von Sachverhalten lediglich nicht notwendig, bestimmte Elemente explizit zu ver- sprachlichen. Dies ist auch der Fall, wenn im Vorgängerkontext realisierte lexikalische Einheiten, syntaktische Strukturen oder Äußerungen als präsent vorausgesetzt werden und auf ihnen in Form von (Konstruktions-)Übernahmen oder Fortsetzungen aufgebaut wird, ohne dass sie noch einmal explizit wiederholt werden (vgl. Hoffmann 1999).

Die Möglichkeit, eine Funktionszuschreibung vorzunehmen, ist also in keiner Weise davon abhängig, dass die sprachlichen Mittel Satzform haben. Es gibt keine in der Sache liegende Verbindung zwischen Satzform und funktionalen Einheiten. Gleichwohl besitzen viele funktionale Einheiten (genauer: das sprachliche Material, dem eine bestimmte kommunikative Funktion zugeschrieben wird) mit hoher Regelmäßigkeit Satzform. Welche funktionalen Einheiten regelmäßig als Sätze realisiert werden und bei welchen dies nur im Ausnahmefall geschieht, bedarf der gesonderten Untersuchung.

Die Segmentierung von Beiträgen in funktionale Einheiten erfolgt von den Gesprächsbeteiligten online im Prozess der Rezeption der

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Beiträge. Dies hat eine Reihe von Konsequenzen. So können die Beteiligten - bedingt durch den nicht abgeschlossenen Stand der Realisierung des Beitrags - vorschnelle oder falsche Funktionszu-schreibungen vornehmen, die auf der Grundlage des folgenden sprachlichen Materials revidiert werden müssen. Umgekehrt ist es möglich, schon vor der (vollständigen) Realisierung des für eine spezi-fische Handlung notwendigen sprachlichen Materials diese Handlung zu antizipieren und ggf. darauf zu reagieren.

Der Prozess der Identifizierung von Handlungen und der Segmen-tierung von Beiträgen in entsprechende funktionale Einheiten, wie Gesprächsbeteiligte ihn beim Verstehen vollziehen, kann an realisier-ten Beiträgen, die dokumentiert vorliegen, analytisch (nach)vollzogen werden, indem der Analysierende - in analoger Weise wie die Ge-sprächsbeteiligten - sich auf der Grundlage seines sprachlich-kommunikativen Wissens und seiner Interaktionskompetenz bemüht, den Handlungssinn der Beiträge zu verstehen und zu interpretieren. Die Methodik der Identifizierung elementarer Bestandteile besteht also darin, zunächst Beiträge abzugrenzen, in ihnen dann Hand-lungen zu identifizieren und den Beitrag entsprechend in funktionale Einheiten zu segmentieren. Dies gilt wohlgemerkt nur für den analy-tischen Prozess. Bei der online-Prozessierung, bei der auch funktio-nale Einheiten identifiziert werden, steht - wie schon verdeutlicht - das Ende von Beiträgen und damit die Gesamtheit ihrer funktionalen Einheiten noch nicht fest.

Die analytische Segmentierung basiert also allein auf der Identifizierung abgrenzbarer Handlungen. D.h. funktionale Einheiten müssen von den Interaktionsbeteiligten nicht zwangsläufig auch durch prosodische oder lexikalische Gliederungsmittel als solche explizit gekennzeichnet worden sein. Sie können auch identifiziert werden, wenn solche Markierungen nicht vorliegen. Andererseits können natürlich funktionale Einheiten entsprechend markiert sein. Dies ist eine zusätzliche Hilfe, aber keine notwendige Voraussetzung für ihre analytische Erfassung.

Ein Kriterium für die Validität der Segmentierung von Beiträgen in funktionale Einheiten besteht darin, dass verschiedene Personen (vor die Aufgabe gestellt, dies zu tun) einen Beitrag als analytische Leistung übereinstimmend in Einheiten aufteilen. Auf diese Weise wird rekonstruiert, was Personen intuitiv in einem Beitrag als kleinste abgrenzbare Handlungen und damit als funktionale Ein-heiten empfinden. Die Abgrenzung funktionaler Einheiten ist so letzt-lich eine empirische Frage, die am Maßstab intersubjektive Überein-

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Stimmung entschieden wird.13 Solange allerdings entsprechende methodisch kontrollierte Segmentierungstests nicht durchgeführt worden sind, ist man auf die subjektiv-individuelle Bestimmung funktionaler Einheiten angewiesen.

Eine zusätzliche Evidenz dafür, was funktionale Einheiten im Gesprächsbeitrag sind, ergibt sich überraschenderweise durch die Zeichensetzung im Schriftlichen (sofern dort die entsprechenden Phänomene vorhanden sind): Was durch Satzzeichen (insbesondere auch innerhalb des Satzes) separiert wird (z.B. Anreden, Interjektio-nen, Augmente, Operatoren, Ankündigungen von Redewiedergaben), sollte zumindest als Kandidat für funktionale Einheiten geprüft werden. Die Zeichensetzung basiert in einigen Bereichen auf einer funktionalen Analyse, die für die Identifizierung elementarer funktio-naler Einheiten genutzt werden kann. Umgekehrt bedeutet dies, dass im Schriftlichen zwischen zwei Punkten mehr und heterogeneres steht als .klassische* Sätze, die nur aus Referenz und Prädikation bestehen. Die Auffassung, dass schriftliche Texte sich aus einer Abfolge klassischer Sätze bzw. Satzgefüge zusammensetzen, bedarf vor diesem Hintergrund einer erneuten Reflexion.

Im Folgenden möchte ich wesentliche Typen von funktionalen Einheiten zusammenstellen und kurz kommentieren. Die Liste dient

13 Dabei muss allerdings gewährleistet sein, dass die Personen, die eine solche Segmentierung durchführen, sich ausschließlich am Kriterium abgrenzbarer Handlungen orientieren und dass nicht andere linguistische oder alltagsweltliche Einheitenkonzepte interferieren und die Segmentierungsentscheidungen beeinflussen.

Ferner muss gewährleistet sein, dass die Funktionszuschreibung bis zur Ebene elementarer Handlungen vorstößt. Wie fein Hörer Beiträge in funktionaler Hinsicht im Prozess des Verstehens (bewusst oder unbewusst) analysieren, hängt von einer Reihe von Faktoren ab (Aufmerksamkeit, Interesse etc.) und kann entsprechend variieren. So mag es für viele Situationen hinreichend sein, wenn ein Hörer die Äußerung Peter, sag mal, kannst du mir zehn Euro leihen? insgesamt als Frage bzw. Bitte identifiziert und entsprechend als Einheit behandelt, obwohl sie aus drei elementaren Handlungen und entsprechend aus drei funktionalen Einheiten besteht: Adressierung, Verstehensanweisung (die den Handlungstyp des folgenden Äußerungsteils vorgreifend verdeutlicht) und Frage.

Allerdings kann der Hörer die Funktionszuschreibung und Segmentierung nicht beliebig verfeinern. So sind in der Beispieläußerung nicht mehr als die drei genannten funktionalen Einheiten zu identifizieren. Die im folgenden zusammen-gestellten elementaren funktionalen Einheiten stellen m.E. die untere Grenze dar, unterhalb der keine weiteren Einheiten abgegrenzt werden können, denen eine gesonderte kommunikative Funktion zuzuschreiben wäre.

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dabei mehr der Verdeutlichung und Operationalisierung dessen, was ich unter funktionalen Einheiten verstehe, als dass sie eine (voll-ständige) Systematik darstellen soll. Ich untergliedere nach potenziell selbständigen funktionalen Einheiten, die alleine einen Beitrag bilden können, nach assoziierten funktionalen Einheiten, die eine Träger-einheit erfordern und nur mit ihr einen Beitrag bilden können, und nach projizierenden funktionalen Einheiten, die eine weitere funktio-nale Einheit erwartbar machen und ebenfalls nur mit dieser einen vollständigen Beitrag darstellen können.

Mögliche Bestandteile von Beiträgen im Sinne solcher funktionaler Einheiten sind u.a.:

Potenziell selbständige14 funktionale Einheiten

(1) Einheiten, mit denen sprachliche Handlungen ausgeführt werden

Kann sprachlichem Material die Funktion zugeschrieben werden, dass mit ihm eine konkrete sprachliche Handlung (wie z.B. Aussage/ Mitteilung, Frage, Antwort, Aufforderung, Versprechen, Warnung, Drohung, Einräumung, Begründung, Aufgabe stellen, Kritisieren etc.) vollzogen wird, so wird dieses - unabhängig von seinem Umfang - als elementare funktionale Einheit empfunden.

Zugeschrieben werden kann eine unübersehbare Vielfalt von Handlungstypen. Die Vielfalt ergibt sich u.a. daraus, dass einzelne sprachliche Handlungen - in Abhängigkeit vom Vorliegen bestimmter Kontextfaktoren - als Handlungen spezifischeren Typs interpretiert werden können. So kann eine Aussage, wenn entsprechende Kontext-bedingungen gegeben sind, als Versprechen oder als Kritisieren gedeutet werden, mit einer Frage kann die Handlung 'eine Aufgabe stellen' ebenso wie die Handlung 'etwas anzweifeln' vollzogen werden. Einheiten dieses Typs besitzen überwiegend Satzform (vgl. aber z.B. Grosse 1968 und Behr/Quintin 1996). Anders ist dies bei reaktiven sprachlichen Handlungen (wie z.B. Antworten, reaktiven Zustimmun-gen, Ablehnungen, Erlaubnissen oder Versprechen etc.), bei denen häufig einzelne lexikalische Elemente ausreichen, um den Hand-lungstyp zu realisieren bzw. zuschreiben zu können (ja, nein; bitte,

14 'Potenziell selbständig' gedeutet, dass diese Einheiten alleine auftreten können, aber keineswegs müssen. Sie können auch kombiniert mit anderen funktionalen Einheiten erscheinen.

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gerne; versprochen, ganz bestimmt). Auch sprachliche Grußhand-lungen besitzen - aus anderen Gründen - im Regelfall nicht die Satz-form.

Einen Spezialfall reaktiver sprachlicher Handlungen stellen Kumulationen dar. Bei ihnen wird die gleiche sprachliche Handlung zweimal vollzogen: Zunächst wird ein Kondensat geäußert, das dann in einem zweiten Zug kumulierend expandiert wird: Nein, mach ich nicht.; Bitte, greif doch zu. Während der erste Teil in der Regel nur aus einem lexikalischen Element besteht, stellt der zweite Teil häufig eine vollständige Aussage dar. Dem Nein lässt sich die Handlungs-funktion der Ablehnung zuschreiben, dem Bitte die der Erlaubnis oder Gewährung. Demnach handelt es sich in beiden Fällen um potenziell selbständige funktionale Einheiten, denen hier allerdings jeweils ein expandierter zweiter Teil folgt, der die gleiche Handlungs-funktion besitzt und ebenfalls potenziell selbständig ist. Kumulatio-nen bestehen also aus zwei funktionalen Einheiten, von denen jede hinreichend ist zur Erfüllung der betreffenden Handlungsfunktion. So besitzt der erste Teil auch keine projektive Kraft.

Von den Kumulationen sind einfache Verdoppelungen zu unter-scheiden (jau jau; gut gut), die wegen der formalen und funktionalen Identität der einzelnen Elemente in der Regel eher als eine - in sich verdoppelte - Einheit wahrgenommen werden.

(2) Reaktive bewertende StellungnahmenEbenfalls ein Spezialfall reaktiver sprachlicher Handlungen sind Be-wertungen, Stellungnahmen und Kommentare zu vorausgehenden fremden oder eigenen Äußerungen und Handlungen. Wegen ihrer Häufigkeit und Bedeutsamkeit werden sie hier als gesonderte Gruppe aufgeführt.

Zu dieser Klasse gehören bewertende Stellungnahmen und Kom-mentare wie gut, ok, klasse, super, (ganz) richtig, schön, gut gemacht, Himmel, oh Gott, Sauerei, Blödsinn, Scheiße, ganz schön gewagt und viele andere mehr. Ferner auch der Teil der Interjektionen, die eine emotional-bewertende Stellungnahme ausdrücken wie ach, oh, (h)ui, ih, igitt etc. sowie Flüche und Beschimpfungen (Verdammt noch mal; Du Trottel, etc.). Bewertende Stellungnahmen sind sowohl durch Einzellexeme wie auch in Satzform möglich (Ich finde das unmöglich.), die dann die Form von Aussagen haben. Auch bei den sogenannten selbständigen 'Nebensätzen' (Dass du mir das antun

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musstest.) wie auch generell bei den Exklamativsätzen handelt es sich um reaktive bewertende Stellungnahmen.

Bewertend Stellung genommen werden kann sowohl zu Äußerun-gen anderer wie auch zu eigenen Aussagen (M: dann filzt dat iii\ Er hat den Schlüssel wieder gefunden - ein Glück.). Auch wenn reaktive bewertende Stellungnahmen alleine auftreten können, sind sie doch häufig mit weiterführenden funktionalen Einheiten anderen Typs im Rahmen eines Beitrags kombiniert (Himmel so geht das nicht).

(3) Hörersteuernde Ausdrücke und ExothesenAusdrücke, die die Aufmerksamkeit des Hörers erregen und steuern (Achtung, Vorsicht, Moment etc.), können ebenfalls selbständige funktionale Einheiten bilden, aber auch mit anderen kombiniert auf-treten (z.B. A chtung die Vase; Moment ich mach das gleich). Auch Exothesen können - beabsichtigt oder nicht - solche hörersteuernde Funktion besitzen (Huch was war das?; Was wollt ich doch sagen? Ach ja ...).

Assoziierte funktionale Einheiten

Während die bis jetzt behandelten funktionalen Einheiten im Prinzip alleine stehen können, erfordern die folgenden eine Trägereinheit, der sie assoziiert sind.

(4) Einheiten, mit denen Bedingungen, Folgen, Gründe, Zwecke, nähere Angaben etc. für/von etwas benannt werden

Sprachliches Material, das die genannten und einige weitere Funktionen erfüllt und das syntaktisch nicht in einen Satz integriert ist (d.h. kein Satzglied ist), wird als gesonderte funktionale Einheit interpretiert. Angesprochen ist hiermit ein Großteil dessen, was üblicherweise als 'Nebensätze' bezeichnet wird. Äußerungen wie Wenn die Rahmenbedingungen gleich bleiben, können wir das Ergebnis wiederholen, und Wir können das Ergebnis - gleiche Rahmenbedingungen vorausgesetzt - wiederholen, werden demnach als aus zwei funktionalen Einheiten bestehend interpretiert, während die Äußerung Unter gleichen Rahmenbedingungen können wir das Ergebnis wiederholen, nur eine Einheit darstellt. Bei Einheiten dieser Art ist ihr Status als nichtintegriert, d.h. als gesonderte funktionale

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Einheit, obligatorisch markiert (z.B. durch Konjunktionen und Verbletztstellung (d.h. Nebensatzform), durch prosodische Absetzung etc.)

(5) AdressierungenAdressierungen verdeutlichen, an wen funktionale Einheiten anderen Typs (vorwiegend: sprachliche Handlungen) gerichtet sind (H err M eier nehmen sie doch bitte einmal Stellung; K inder so kommen wir nie zu einer Lösung; Mann nun fahr doch. (vgl. Redder 1999)). Insofern können sie nicht selbständig auftreten. Erfolgen Namens-nennungen ohne weitere funktionale Einheiten, handelt es sich in der Regel um Anrufe und damit um eine spezielle Art von Aufforderun-gen, die der Klasse (1) zuzurechnen ist (vgl. Hoffmann 1999, 229f.).

Adressierungen können bewertende Komponenten besitzen, die diese Ausdrücke dann in die Nähe reaktiver bewertender Stellung-nahmen rücken. Je nach Kontext und prosodischer Realisierung der Ausdrücke kann dabei die adressierende oder die bewertende Funktion überwiegen {Du Flasche bist du auch mal wieder da; Idiot kannst du nicht aufpassen.)

(6) SelbstidentifizierungenAuch Selbstidentifizierungen, wie sie regelmäßig bei Telefonge-sprächen, aber auch gelegentlich in Face-to-face-Interaktionen mit Unbekannten Vorkommen, bilden funktionale Einheiten. Sie treten nicht selbständig auf, sondern sind an andere funktionale Einheiten gekoppelt. Die Spannbreite ihrer sprachlichen Realisierung reicht von der Namensnennung bis hin zur vollständigen Aussage.

(7) Diskursprozessierende ImperativeIm Kontext der Hörersteuerung stehen diskursprozessierende Imperative (Sieh mal alles hat zwei Seiten; H ör mal so war das nicht gedacht; Sag m al kannst du mir fünf Mark leihen; vgl. Kraft 1999). Diese Imperative können nicht alleine stehen (wenn sie es tun, handelt es sich nicht um diskursprozessierende Imperative, sondern um Aufforderungen bzw. um reaktive bewertende Stellungnahmen). Sie gehen anderen funktionalen Einheiten voran. Wenn sie eine Verstehensanweisung für die folgende Einheit geben (d.h. projektive Kraft haben), handelt es sich um Operatoren (s.u. (14)).

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(8) AugmenteAugmente (wie z.B. ne, nich, nich wahr, ja, wa, gell, woll, weißte, verstehste, siehste, vgl. Rehbein 1979) folgen einer Trägereinheit, kön-nen ihr zum Teil aber auch vorangehen. Auch diese funktionalen Ein-heiten haben z.T. projektive Kraft und geben Verstehensanweisungen für die assoziierte Einheit. Sie sind dann ebenfalls als Operatoren aufzufassen.

(9) ModalisierungenNachgestellte, nichtintegrierte Modalisierungen (z.B. irgenwie, und so, sozusagen), die die Geltung einer Äußerung bzw. Einheit modifizieren, sind ein weiterer Typ assoziierter funktionaler Ein-heiten.

(10) GliederungssignaleAuch Gliederungssignale (z.B.: so, also, nun denn etc.) verweisen zwangsläufig auf andere funktionale Einheiten, die sie voneinander abgrenzen.

Projizierende funktionale Einheiten

Funktionale Einheiten, die projektive Kraft besitzen und andere Einheiten - wie spezifisch auch immer - erwartbar machen, bilden die dritte große Gruppe funktionaler Einheiten. Ihre projektive Kraft verhindert, dass sie selbständig auftreten. Zu dieser Gruppe gehören insbesondere Einheiten, die eine vorgreifende Verdeutlichung oder Ankündigung leisten.

(11) Vorgreifende Verdeutlichung des HandlungstypsIm Sinne einer metakommunikativen Verstehenshilfe kann eine funktionale Einheit verdeutlichen, welchem Typ sprachlicher Hand-lungen die folgende Einheit angehört. Sprachlich kann dies durch Matrixsätze (z.B. performative Formeln: ich verspreche (dir), ich warne dich etc.), aber auch durch eine Vielzahl anderer Konstruktio-nen (Nominalkomplexe (Großes Versprechen), Partizipialkonstruktio- nen (versprochen) etc.) realisiert werden.

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(12) Vorgreifende Verdeutlichung des mentalen Status der folgenden Einheit

In vergleichbarer Weise kann durch Matrixsätze, aber wiederum auch durch eine Vielzahl anderer Konstruktionen vorab verdeutlicht werden, welchen mentalen Status die folgende Einheit besitzt (Ich schätze, er wird nicht vor 5 Uhr hier sein; Ich befürchte, wir haben uns verirrt).

(13) Ankündigungen von RedewiedergabenDurch Matrixsätze kann auch verdeutlicht werden, dass es sich bei der projizierten Einheit um eine Wiedergabe sprachlicher Hand-lungen der eigenen oder anderer Personen handelt {Er r ie f uns zu,ob wir nicht noch zu ihm herüberkommen wollten.)

(14) OperatorenSofern eine funktionale Einheit eine weitere projiziert und für sie im Sinne einer vorgreifenden Verdeutlichung eine Verstehensanleitung gibt, handelt es sich nach meinem Verständnis, sofern auch einige formale Bedingungen (wie Kürze oder Formelhaftigkeit) erfüllt sind, um Operatoren, die zusammen mit der funktionalen Einheit in ihrem Skopus die von mir so genannten Operator-Skopus-Strukturen bilden (vgl. Fiehler 1999). Einheiten aus den Gruppen (7), (8), (11) und (12) können dabei Position und Funktion solcher Operatoren wahr-nehmen.

(15) Referenzkomplexe und ThemenexpositionenAls letzte Gruppe funktionaler Einheiten seien Referenzkomplexe und Themenexpositionen aufgeführt, wie sie im Rahmen von Referenz/Thematisierung-Aussage-Strukturen zu finden sind. Die Äußerung Was der Großmutter ihr Haus ist, das ist letzte Nacht abgebrannt, ist eine Beispiel für eine solche Referenz-Aussage- Struktur. Die kommunikative Funktion, die dem Referenzkomplex zugeschrieben werden kann (und die ihn damit zur funktionalen Einheit macht) ist, dass er die Identifikation einer Person, eines Gegenstands oder eines Sachverhalts leistet, über die/den dann mit einer weiteren funktionalen Einheit eine Aussage gemacht wird. Die Einheiten, mit denen identifiziert bzw. thematisiert wird, sind dabei ersichtlich nicht selbständig, sondern projizieren eine Aussage über sie. Die sprachliche Form der Referenzkomplexe und Themen-

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expositionen reicht von Nominalkonstruktionen bis zu relativsatz-ähnlichen Gebilden wie in obenstehendem Beispiel.

Die hier vorgestellte Liste funktionaler Einheiten ist - wie gesagt - tentativ und vorläufig. Sie müsste durch Abgleich mit größeren Materialmengen und durch den oben beschriebenen Segmentierungs-test mit größeren Personengruppen vervollständigt und sicherlich auch modifiziert werden. Im Rahmen einer solchen Untersuchung könnte auch aufgeklärt werden, wie funktionale Einheiten faktisch kombiniert werden und welche Kombinationsmöglichkeiten zwischen ihnen bestehen.

Die vorgestellten Überlegungen sollen abschließend durch die Analyse von zwei Gesprächsbeiträgen15 illustriert werden. Die beiden Beiträge werden, indem die Perspektive des Hörers eingenommen wird, in funktionale Einheiten (abgekürzt: FE) segmentiert, also in Einheiten, denen der Hörer eine Handlungsfunktion im und für den Kommunikationsprozess zuschreiben kann. Diese funktionalen Ein-heiten werden den oben angeführten Klassen durch Angabe der Ziffer zugeordnet und ggf. kommentiert.

Beitrag 1: (Z. 01)

C leopold gegen mayt * und abel gegen mayi

FE 1: leopold gegen may T *

Klasse (1); Funktionszuschreibung: Sprachliche Handlung: Aufruf einer Verhandlung.Es handelt sich um eine institutionsspezifische sprachliche Handlung, die nur im juristischen Rahmen gebräuchlich, dort aber frequent und routinemäßig ist. Dies erklärt auch ihre minimale, nicht satzförmige Realisierung.

FE 2: und abel gegen mayd

Klasse (1); Funktionszuschreibung: Aufruf eines zweiten Falls. Es folgen zwei Handlungen des Aufrufens hintereinander, die zwar durch und miteinander verbunden werden, die aber, da der Aufruf nicht lediglich redundant verdoppelt oder wieder-

16 Es handelt sich um die beiden eröffnenden Gesprächsbeiträge des Schlichters aus dem Schlichtungsgesprächs "Gegen Gotteslohn"; vgl. Schröder (1997, 194).

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holt wird, als zwei separate funktionale Einheiten zu werten sind.

Beitrag 2: (Z. 02+04)

C ja i * herr may was sagen se zu der kla:ge die klägerin sagt sie hätt noch geld zu kriegeni

FE 1: j a i *

Klasse (10); Funktionszuschreibung: Gliederung FE 2: herr may

Klasse (5); Funktionszuschreibung: AdressierungFE 3: was sagen se zu der kla:ge

Klasse (1); Funktionszuschreibung: Sprachliche Handlung: FrageFE 2 und FE 3 werden als eine prosodische Kontur realisiert. Sie sind formal nicht als gesonderte Einheiten gekennzeichnet.

FE 4: die klägerin sagt

Klasse (13); Funktionszuschreibung: Ankündigung einer Rede-wiedergabe

FE 5: sie hätt noch geld zu kriegeni

Klasse (1); Funktionszuschreibung: Aussage; genauer: Wieder-gabe der Aussage einer anderen Person

Die angedeutete Analyse hat ihren Hauptzweck darin, einen Eindruck zu vermitteln, zu welchen Segmentierungsergebnissen ein funktionaler Ansatz gelangt und wie er sich von anderen Segmentierungskonzepten unterscheidet. Dabei sollte insbesondere auch deutlich werden, dass eine Segmentierung gesprochener Sprache möglich ist, ohne in zentraler Weise auf das Satzkonzept rekurrieren zu müssen.

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