pierre-gilles de gennes (1932–2007)

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Pierre-Gilles de Gennes (1932–2007) Pierre-Gilles de Gennes verstarb am 18. Mai. Fɒr einige kam es ɒberraschend, aber seine engeren Mitarbeiter wussten seit langem von seiner Krankheit. Anfang des Jahrzehnts war er von der Leitung der Ecole SupȖrieure de Chimie et de Physique Industrielles der Stadt Paris (ESPCI) und seinem Lehrstuhl am Collŕge de France zurɒckgetreten, blieb aber danach am In- stitut Curie wissenschaft- lich noch sehr aktiv und arbeitete vor allem an biologischen Themen. De Gennes erhielt 1991 den Nobelpreis fɒr Physik fɒr die Entde- ckung, dass Methoden, die fɒr das Studium von Ord- nungsphȨnomenen in einfachen Syste- men entwickelt wurden, auf komplexere ZustȨnde der Materie verallgemeinert und insbesondere auf Flɒssigkristalle und Polymere angewendet werden kɆnnen“. Dabei handelt es sich um eine sehr ungewɆhnliche Aussage eines No- belkomitees, da es nicht eine einzelne Entdeckung prȨmierte, sondern nur all- gemein auf ein wissenschaftliches Stu- dienobjekt abhob, das meist als weiche kondensierte Materie bezeichnet wird. Eigentlich hȨtte de Gennes genauso gut einen Nobelpreis fɒr Chemie erhalten kɆnnen wie Paul Flory 1974, sein Vor- gȨnger bei der Anwendung der statisti- schen Physik auf Polymere. Pierre-Gilles de Gennes nahm 1951 ein Studium an der Ecole Normale SupȖrieure in Paris auf. SpȨter beschrieb er diese Zeit, in der er sich ausfɒhrlich mit PhȨnomenologie, Beobachtung und Analyse beschȨftigte, als wesentlichen Teil seiner Ausbildung. Er erhielt 1951 die Zulassung zum hɆheren Schuldienst (AgrȖgation) sowohl in Chemie als auch in Physik. Den Nachteil dieser allzu klassischen Bildung glich er durch Be- suche der Sommerschule fɒr theoreti- sche Physik in Les Houches und bei Charles Kittel in Berkeley aus. Er begann seine unabhȨngige For- schung 1955 am Kernforschungsinstitut in Saclay ɒber Spinfluktuationen in magnetischen Systemen in der Umge- bung des Curie-Punktes. Auf Betreiben Jacques Friedels wurde er 1961 Assis- tent, dann Professor am Institut fɒr FestkɆrperphysik in Orsay, wo er eine Gruppe aufbaute, die sich experimentell und theoretisch mit SupraleitfȨhigkeit beschȨftigte: Sein Buch ɒber Supralei- tung in Metallen und Legierungen bleibt ein klassisches Nachschlagewerk. [1] Er widmete sich dann der Physik von Flɒssigkristallen, ɒber die er eben- falls ein legendȨres Buch verfassen sollte. Dieses Gebiet war mit der Schwarmtheorie in gewisser Weise in eine Sackgasse geraten; de Gennes be- schrieb ihre Physik dagegen zutreffend mithilfe kontinuierlicher Modelle und verwendete Analogien mit anderen Gebieten der kondensierten Materie. Den kontinuierlichen Ƞbergang zwi- schen der nematischen und der smekti- schen A-Phase sowie die Ɛnderung des Kippwinkels des Direktorfeldes am Ƞbergang zwischen der smektischen A- und C-Phase beschrieb er als Analogie zum l-Ƞbergang in Supraleitern. Auch hier legte er großen Wert auf Experi- mente: InstabilitȨten in Gegenwart Ȩu- ßerer Felder in der Gruppe um Georges Durand, ich selbst arbeitete mit Pavel PiȖranski ɒber Hydrodynamik, Maurice KlȖman ɒber Defekte, darɒber hinaus Randbedingungen und Effekte der OberflȨchenanbindung. Um diese Pro- jekte erfolgreich durchfɒhren zu kɆnnen, bestand er darauf, dass ein Chemielabor in der Gruppe vorhanden sein sollten; er betrachtete Chemiker wie Lionel LiȖbert und Lechek Strzel- ecki als gleichwertige Partner. Gerne berichtete er von einer Diskussion mit Robert Meyer (Harvard University): Bob verbrachte 1974 einen einjȨhrigen Forschungsaufenthalt in Orsay, und er schlug, wȨhrend beide in der Cafeteria anstanden, vor, dass der Symmetrie- bruch, der zu FerroelektrizitȨt in Flɒs- sigkristallen fɒhren sollte, durch die Verwendung einer chiralen smektischen C-Phase herbeigefɒhrt werden sollte. Die Phase wurde innerhalb weniger Wochen synthetisiert und zeigte tat- sȨchlich ferroelektrische Eigenschaften. De Gennes zog 1971 an das Collŕge de France, wo er sich sehr mit Polyme- ren beschȨftigte. [3] Unter seinen zahl- reichen Entdeckungen auf diesem Gebiet stechen zwei besonders heraus: die LɆsung einer Renormalisierungs- gruppe, die so genannte n = 0-Grenze, und das Reptationsmodell, das die Ent- knȨuelung von Polymerketten be- schreibt, wobei er stark mit Sam Ed- wards zusammenarbeitete. Er interessierte sich stets dafɒr, was an GrenzflȨchen vor sich ging: Proxi- mity-Effekte in Supraleitern, Randbe- dingungen in Flɒssigkristallen, Propfen von Polymeren und der Einfluss der OberflȨche auf die Konfiguration von Polymerketten oder die so genannte Naviersche GleitlȨnge bei Scherung einer Flɒssigkeit entlang einer festen OberflȨche Er forschte auch viel zur Statik und Dynamik der Benetzung, bei der je nach LȨngenskala ViskositȨt oder TrȨgheit die StrɆmung bestimmen. De Gennes interessierte sich auch fɒr industrielle Anwendungen, soweit er meinte, etwas beitragen zu kɆnnen, aber auch um sich inspirieren zu lassen. Alles, was mit Wissenschaft und dem Leben zu tun hat, interessierte ihn, aber er wollte nicht als Tausendsassa gelten. Er behan- delte seine Themen stets mit grɒndlicher Tiefe, genoss es aber auch, sie so einfach und didaktisch wie mɆglich zu prȨsen- tieren, egal vor welchem Publikum. Gern teilte er seine Neugier und Erkenntnisse mit seiner Gruppe, in der er darauf achtete, Frauen und MȨnner gleichermaßen zu berɒcksichtigen. Er war auch Jɒngeren gegenɒber sehr offen, wenn er sie in Schulen besuchte, wobei er sich eines unverwechselbaren und unprȨtentiɆsen Stils bediente. Seine engste Mitarbeiterin und Partnerin Franȱoise Brochard-Wyart wurde einmal gefragt, wie es sei, im Schatten eines so großen Mannes zu leben. Sie antwortete: „Nicht im Schatten, son- dern im Licht!“ Die meisten seiner Mitarbeiter teilen diese EinschȨtzung. Etienne Guyon Ecole Normale SupȖrieure (Paris) [1] P.-G. de Gennes, Superconductivity of Metals and Alloys , Advanced Book Classics, Perseus, Reading, 1999. [2] P.-G. de Gennes,J. Prost, The Physics of Liquid Crystals , 2. Ed., Clarendon Press, Oxford, 1993. [3] P.-G. de Gennes, Scaling Concepts in Polymer Physics , Cornell University Press, Ithaca, 1979. DOI: 10.1002/ange.200702849 Nachruf 6108 # 2007 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Angew. Chem. 2007, 119, 6108

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Page 1: Pierre-Gilles de Gennes (1932–2007)

Pierre-Gilles de Gennes(1932–2007)

Pierre-Gilles de Gennes verstarb am 18.Mai. F�r einige kam es �berraschend,aber seine engeren Mitarbeiter wusstenseit langem von seiner Krankheit.Anfang des Jahrzehnts war er von derLeitung der Ecole Sup'rieure de Chimieet de Physique Industrielles der Stadt

Paris (ESPCI) und seinemLehrstuhl am Coll.ge deFrance zur�ckgetreten,blieb aber danach am In-stitut Curie wissenschaft-lich noch sehr aktiv undarbeitete vor allem anbiologischen Themen.

De Gennes erhielt1991 den Nobelpreis f�rPhysik „f�r die Entde-ckung, dass Methoden, dief�r das Studium von Ord-

nungsph�nomenen in einfachen Syste-men entwickelt wurden, auf komplexereZust�nde der Materie verallgemeinertund insbesondere auf Fl�ssigkristalleund Polymere angewendet werdenk#nnen“. Dabei handelt es sich um einesehr ungew5hnliche Aussage eines No-belkomitees, da es nicht eine einzelneEntdeckung pr6mierte, sondern nur all-gemein auf ein wissenschaftliches Stu-dienobjekt abhob, das meist als weichekondensierte Materie bezeichnet wird.Eigentlich h6tte de Gennes genauso guteinen Nobelpreis f�r Chemie erhaltenk5nnen wie Paul Flory 1974, sein Vor-g6nger bei der Anwendung der statisti-schen Physik auf Polymere.

Pierre-Gilles de Gennes nahm 1951ein Studium an der Ecole NormaleSup'rieure in Paris auf. Sp6ter beschrieber diese Zeit, in der er sich ausf�hrlichmit Ph6nomenologie, Beobachtung undAnalyse besch6ftigte, als wesentlichenTeil seiner Ausbildung. Er erhielt 1951die Zulassung zum h5heren Schuldienst(Agr'gation) sowohl in Chemie als auchin Physik. Den Nachteil dieser allzuklassischen Bildung glich er durch Be-suche der Sommerschule f�r theoreti-sche Physik in Les Houches und beiCharles Kittel in Berkeley aus.

Er begann seine unabh6ngige For-schung 1955 am Kernforschungsinstitutin Saclay �ber Spinfluktuationen inmagnetischen Systemen in der Umge-

bung des Curie-Punktes. Auf BetreibenJacques Friedels wurde er 1961 Assis-tent, dann Professor am Institut f�rFestk5rperphysik in Orsay, wo er eineGruppe aufbaute, die sich experimentellund theoretisch mit Supraleitf6higkeitbesch6ftigte: Sein Buch �ber Supralei-tung in Metallen und Legierungen bleibtein klassisches Nachschlagewerk.[1]

Er widmete sich dann der Physikvon Fl�ssigkristallen, �ber die er eben-falls ein legend6res Buch verfassensollte. Dieses Gebiet war mit derSchwarmtheorie in gewisser Weise ineine Sackgasse geraten; de Gennes be-schrieb ihre Physik dagegen zutreffendmithilfe kontinuierlicher Modelle undverwendete Analogien mit anderenGebieten der kondensierten Materie.Den kontinuierlichen Hbergang zwi-schen der nematischen und der smekti-schen A-Phase sowie die Inderung desKippwinkels des Direktorfeldes amHbergang zwischen der smektischen A-und C-Phase beschrieb er als Analogiezum l-Hbergang in Supraleitern. Auchhier legte er großen Wert auf Experi-mente: Instabilit6ten in Gegenwart 6u-ßerer Felder in der Gruppe um GeorgesDurand, ich selbst arbeitete mit PavelPi'ranski �ber Hydrodynamik, MauriceKl'man �ber Defekte, dar�ber hinausRandbedingungen und Effekte derOberfl6chenanbindung. Um diese Pro-jekte erfolgreich durchf�hren zuk5nnen, bestand er darauf, dass einChemielabor in der Gruppe vorhandensein sollten; er betrachtete Chemikerwie Lionel Li'bert und Lechek Strzel-ecki als gleichwertige Partner. Gerneberichtete er von einer Diskussion mitRobert Meyer (Harvard University):Bob verbrachte 1974 einen einj6hrigenForschungsaufenthalt in Orsay, und erschlug, w6hrend beide in der Cafeteriaanstanden, vor, dass der Symmetrie-bruch, der zu Ferroelektrizit6t in Fl�s-sigkristallen f�hren sollte, durch dieVerwendung einer chiralen smektischenC-Phase herbeigef�hrt werden sollte.Die Phase wurde innerhalb wenigerWochen synthetisiert und zeigte tat-s6chlich ferroelektrische Eigenschaften.

De Gennes zog 1971 an das Coll.gede France, wo er sich sehr mit Polyme-ren besch6ftigte.[3] Unter seinen zahl-reichen Entdeckungen auf diesemGebiet stechen zwei besonders heraus:die L5sung einer Renormalisierungs-

gruppe, die so genannte n= 0-Grenze,und das Reptationsmodell, das die Ent-kn6uelung von Polymerketten be-schreibt, wobei er stark mit Sam Ed-wards zusammenarbeitete.

Er interessierte sich stets daf�r, wasan Grenzfl6chen vor sich ging: Proxi-mity-Effekte in Supraleitern, Randbe-dingungen in Fl�ssigkristallen, Propfenvon Polymeren und der Einfluss derOberfl6che auf die Konfiguration vonPolymerketten oder die so genannteNaviersche Gleitl6nge bei Scherungeiner Fl�ssigkeit entlang einer festenOberfl6che Er forschte auch viel zurStatik und Dynamik der Benetzung, beider je nach L6ngenskala Viskosit6t oderTr6gheit die Str5mung bestimmen.

De Gennes interessierte sich auch f�rindustrielle Anwendungen, soweit ermeinte, etwas beitragen zu k5nnen, aberauch um sich inspirieren zu lassen. Alles,was mit Wissenschaft und dem Leben zutun hat, interessierte ihn, aber er wolltenicht als Tausendsassa gelten. Er behan-delte seine Themen stets mit gr�ndlicherTiefe, genoss es aber auch, sie so einfachund didaktisch wie m5glich zu pr6sen-tieren, egal vor welchem Publikum.

Gern teilte er seine Neugier undErkenntnisse mit seiner Gruppe, in derer darauf achtete, Frauen und M6nnergleichermaßen zu ber�cksichtigen. Erwar auch J�ngeren gegen�ber sehroffen, wenn er sie in Schulen besuchte,wobei er sich eines unverwechselbarenund unpr6tenti5sen Stils bediente. Seineengste Mitarbeiterin und PartnerinFranNoise Brochard-Wyart wurdeeinmal gefragt, wie es sei, im Schatteneines so großen Mannes zu leben. Sieantwortete: „Nicht im Schatten, son-dern im Licht!“ Die meisten seinerMitarbeiter teilen diese Einsch6tzung.

Etienne GuyonEcole Normale Sup rieure (Paris)

[1] P.-G. de Gennes, Superconductivity ofMetals and Alloys, Advanced BookClassics, Perseus, Reading, 1999.

[2] P.-G. de Gennes, J. Prost, The Physics ofLiquid Crystals, 2. Ed., Clarendon Press,Oxford, 1993.

[3] P.-G. de Gennes, Scaling Concepts inPolymer Physics, Cornell UniversityPress, Ithaca, 1979.

DOI: 10.1002/ange.200702849

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6108 " 2007 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Angew. Chem. 2007, 119, 6108