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Detecon Management Report 09 / 2015 dmr Mobilität und Vernetzung Special Automotive Ende-zu-Ende-Sicherheit für das vernetzte Auto Die Geister, die ich rief Interview mit Luz G. Mauch, T-Systems International IT sticht PS Connected Car und Customer Experience Management Sternstunde in Chinas Automobilindustrie? Interview mit Dr. Tom Kirschbaum, Door2Door GmbH „Die Technologie dient dem Menschen, nicht umgekehrt.“ Industrie 4.0 in der Automobilindustrie Hype und Hürde zugleich!

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2015

Künstler haben unsere Themen neu interpretiert und unsere neue Webseite mitgestaltet.

Besuchen Sie uns unter: www.detecon.com

Wir geben Kunst eine Bühne.

Art meets Consulting

Wir stehen mit unseren Geschäftsfeldern

an einer der spannendsten Baustellen unserer Zeit:

Die Vernetzung globaler Information und Kommunikation.

Detecon Management Report

09 /

2015

dmrMobilität und Vernetzung

Special Automotive

Ende-zu-Ende-Sicherheit für das vernetzte Auto Die Geister, die ich rief Interview mit Luz G. Mauch, T-Systems InternationalIT sticht PS

Connected Car und Customer Experience ManagementSternstunde in Chinas Automobilindustrie?

Interview mit Dr. Tom Kirschbaum, Door2Door GmbH„Die Technologie dient dem Menschen, nicht umgekehrt.“

Industrie 4.0 in der AutomobilindustrieHype und Hürde zugleich!

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1 Detecon Management Report dmr • Special Automotive 2015

Liebe Leserinnen und Leser,

„Nun muss zusammenwachsen, was zusammengehört!“, sagte der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt im Zuge des Mauerfalls. Dieser bedeutungsvolle Satz kommt uns auch in den Sinn, wenn wir über die Herausforderungen der Automobilindustrie nachdenken.

Als Detecon vor einigen Jahren damit begann, die Beratungskompetenz stark nach Branchen auszurichten, war für uns klar, dass wir als Technologie- experten unsere „Gene der Vernetzung“ aus der Telekommunikationsindustrie in das Beratungsportfolio einfließen lassen wollten. Heute haben wir vor allem in den Bereichen Connected Car und Industrie 4.0 große, gemischte Teams im Projekteinsatz. Entsprechend sind Erfahrungen aus unseren Knowledge- Management-Initiativen und Projekten in die folgenden Artikel eingeflossen – von der Datenverarbeitung bis hin zum autonomen Fahren.

Gleichwohl müssen wir aber auch resümieren, dass sich die Automobilindustrie speziell bei den beiden oben genannten Themen in der Umsetzung schwer tut. Wir stellen immer wieder die gleichen Muster fest, welche die Innovationsge-schwindigkeit dieser – eigentlich innovationsgetriebenen Branche – ausbremsen.

Der Leitsatz lässt sich daher durchaus dahingehend verstehen, dass strate-gische Technologien Vorstandsthema sein sollten, um die notwendige interne Governance sicherzustellen und bestehende Mauern einzureißen – denn Ent-wicklung, Sales, Aftersales, Marketing, Produktion und IT arbeiten oftmals pa-rallel und ohne Abstimmung an diesen Themen, die wettbewerbsentscheidend sind oder in Kürze sein werden. Gleichzeitig müssen Kooperationen mit Part-nern, deren Kompetenz die eigene Kernwertschöpfung ergänzt, frühzeitig auf den Weg gebracht werden. Aus diesem Zusammenwachsen entsteht – Sie ahnen es schon – Wachstum!

Allseits gute Fahrt wünscht Ihnen herzlichst

Dr. Thomas SiemsManaging Partner, Detecon International GmbH

Mobilität und Vernetzung

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2 Detecon Management Report dmr • Special Automotive 2015

Inhalt

Herausgeber:Detecon International GmbHSternengasse 14-1650676 Köln

[email protected]

Aufsichtsrat:Thilo Kusch (Vorsitz)

Geschäftsführung:Francis Deprez (Vorsitz)Dr. Jens NebendahlHandelsregister: Amtsgericht Köln HRB 76144 Sitz der Gesellschaft: Köln

Druck:Druckerei Chmielorz GmbHOstring 1365205 Wiesbaden-Nordenstadt

Fotos:FotoliaiStockphoto

Impressum:

Industrie 4.0 in der Automobilindustrie

Hype und Hürde zugleich! 4

Digitale Planungs- und Steuerungsprozesse in der Fertigung?

Klar, agil und vollständig integriert! 10

Interview mit Luz G. Mauch, T-Systems International GmbH

IT sticht PS 16

Ende-zu-Ende-Sicherheit für das vernetzte Auto

Die Geister, die ich rief! 22

Car2X-Kommunikation

Mehrwert durch Vernetzung – worauf warten wir noch? 26

Wie autonomes Fahren zum nachhaltigen Erfolg wird

„Hände weg vom Steuer!“ 32

Geschäftsmodelle für Übermorgen

Connected Car und die Shareconomy: Zwei Szenarien für die Automobilitätsbranche 36

Die Zukunft der Automobilbranche

Das Auto ist tot – es lebe die Mobilität! 40

Interview mit Andreas Gahlert, CEO COBI GmbH

Tour de Byte 46

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3 Detecon Management Report dmr • Special Automotive 2015

Interview mit Magnus Schmidt, CEO scoo.me

SPEED.STYLE.SMILE: Scootersharing über App 50 Backend-Systeme für fahrzeugbasierte Onlinedienste

Für keine Handvoll Dollar 56

Interview mit Andreas Schneider, Vimcar GmbH

Fahrtenbuch smart umgesetzt 62

Connected Car? Connected Customer!

Kundenbindung im Aftersales 68

Interview mit Dr. Tom Kirschbaum, Door2Door GmbH

„Die Technologie dient dem Menschen, nicht umgekehrt.“ 72 Use Cases aus dem chinesichen Automobilmarkt

Big Data treibt Connected Car 76

Connected Car und Customer Experience Management

Sternstunde in Chinas Automobilindustrie? 80

Interview mit Yao Tang, CTO, Virtue Intelligent Network

Connected Car kann zur Cash Cow werden 86

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Industrie 4.0 in der Automobilindustrie – Hype und Hürde zugleich!

Neue Technologien schlagen im Automobilbau mitunter hart auf dem Boden der Realität auf. Wenn Industrie-4.0-Pro-jekte eine Chance haben sollen, sind vor allem die bestehenden Hürden genauer unter die Lupe zu nehmen.

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5 Detecon Management Report dmr • Special Automotive 2015

FID, 3D-Druck, Augmented Reality, vernetzte Produkte und Leichtbauroboter. Ingenieure, Techniker und Physiker aus IT oder Entwicklung begeistern sich sofort für neue, mögli-cherweise sogar „disruptive Technologien“ und spielen sogleich mögliche Einsatzszenarien, sogenannte Use Cases, durch. Auch der Autor kann sich davon nicht frei machen. Schließlich wird die innovationsgetriebene Automobilbranche doch durch uns kreative Geister beflügelt!

Doch wie so oft – der berühmte Hype Cycle lässt sich nicht „durchtunneln“ und die Ernüchterung erfolgt spätestens dann, wenn neue Technologien im Automobilbau hart auf den Boden der Realität – Produktion und Logistik – aufschlagen.

Detecon ist aktiv an der Ausgestaltung der Umsetzungsempfeh-lungen für die „Plattform Industrie 4.0“ (www.plattform-i40.de) beteiligt, einer bundesweiten Initiative der größten deut-schen Wirtschaftsverbände im Rahmen der Hightech-Strategie der Bundesregierung. Seit vielen Jahren begleiten wir in der Fertigungsindustrie, vor allem bei Automobilherstellern und Zulieferern, „Smart“- oder „Digital Factory“-Projekte in der Produktion und können aus dieser Erfahrung heraus beurteilen, was in der Realität aus Industrie 4.0 zu erwarten ist und wo die Probleme bei der Umsetzung liegen.

Bevor wir auf die Probleme eingehen, sollte man allerdings sicherstellen, dass jeder das gleiche unter Industrie 4.0 versteht. Tatsächlich wird es oft mit „Internet of Things“ oder auch „Smart Factory“ verwechselt, doch beides greift zu kurz!

In der Umsetzungsempfehlung für Industrie 4.0 werden drei Grundvoraussetzungen genannt, die das Thema ab- beziehungs-weise eingrenzen:

1. Horizontale Integration der Wertschöpfungskette über Un-ternehmensgrenzen hinweg: Von der Entwicklung eines Pro-dukts bis zur Auslieferung.

2. Vertikale Integration mit vernetzten Produktionssystemen, bidirektional bis hinunter auf die Maschinenebene: Komman-dos werden zur Produktbearbeitung abgesetzt, aber auch ebenso können Maschinen und Produkte Daten bis hinein in das ERP zur Geschäftssteuerung zurücksenden.

3. Digitale Durchgängigkeit des Engineerings über den Pro-duktlebenszyklus und des zugehörigen Produktionssystems: Technologiebrüche vermeiden!

Soweit die Theorie – ganz losgelöst von der Technologie. Schau-en wir uns aber nun einmal den aktuellen Stand von Industrie 4.0 in der Automobilindustrie an, wird dem geneigten Leser

schnell klar, warum die digitale Zukunft sich doch nicht so ein-fach gestalten wird:

Hürde #1: Effizienzdruck in der Kernwertschöpfung

Die Serienfertigung am Band wurde ziemlich genau vor 100 Jah-ren (durch Ford) eingeführt und seitdem gnadenlos auf Effizienz getrimmt und optimiert. Im Einzelnen heißt dies, es wurden

> Herstellungskosten und Ausfallzeiten minimiert,> Logistik und Sequenzierung optimiert,> Ausstoß (gebaute Einheiten pro Tag) und Qualität maximiert.

In der Serienfertigung zählt jede Minute und die in den letzten zehn Jahren durch Kundenindividualisierung bei der Fahrzeug-konfiguration drastisch zugenommene Komplexität hat die Au-tomobilfertigung durchaus zu einer Herausforderung wachsen lassen. Dieses optimierte und zugleich fragile Gebilde ändert man ungern ab, da der Druck zur Produktivität immens ist. Zu-dem drückt als weitere Folge der Komplexität die zunehmende Anzahl von Rückrufen auf die ohnehin sensible Umsatzrendite.

Aus diesen Gründen will niemand „Experimente“ verantwor-ten, die kostenintensiv sind oder Produktionsausfälle verursa-chen könnten. Stattdessen werden nur hier und dort vorsich-tig kleinere Lösungen pilotiert – sofern man immer noch eine Back-up-Lösung in der Hinterhand hat.

Lösungsansatz: Sofern Industrie 4.0 zur „Chefsache“ erklärt wird, müssen auch abseits des Tagesgeschäfts die nötigen Freiräume oder aber unabhängige „Start-up“-Zellen geschaffen werden.

Hürde #2: Unterschiedliche Kulturen

Oftmals treffen Welten aufeinander, wenn die IT mit einem Werksleiter oder einem Automatisierungstechniker redet, die schlicht an den unter #1 genannten Zielen gemessen werden. Die IT geht mit dem guten Vorsatz auf den Fachbereich zu, des-sen Bedarfe festzustellen und Ansätze zur Prozessoptimierung zu identifizieren. Der Fachbereich dagegen spricht oftmals lie-ber über konkrete Technologien. Da wird schon mal zum Test die Datenbrille beschafft oder man fragt sich gerade, wieso sich ein neues Handling-Gerät mit IP-Adresse nicht so ohne weiteres ins Netz hängen lässt (Sicherheitsanforderungen).

Blickt man weiter über den Tellerrand hinaus zu den weltweit verteilten Fertigungsstätten, merkt man schnell: Jedes Werk ist anders – oder behauptet es zumindest.

Lösungsansatz: Über die Etablierung der notwendigen Organisa-tionsstrukturen mit Innovationsmanagern, gemischten Teams,

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dedizierten Aufgaben und Gremien kann der Boden für ge-meinsames Verständnis und Ziele bereitet werden.

Hürde #3: Fehlende Governance und Zusammenarbeitsmodelle

Meist bekommt die zentrale IT vom oberen Management den Auftrag, Industrie 4.0 und Innovation „voranzutreiben“ – auf Konferenzen oder in Interviews ist der Druck groß, zu dem Thema aussagefähig zu sein.

Aber wo wird das Thema dann ausgebremst? Tatsächlich sind Matrixorganisationen ideal dazu geschaffen, Innovation im Keim zu ersticken und Standards zu verhindern:

> Fachbereiche haben andere Zielvorgaben als die nachgelager-te IT und stimmen sich meist nur dann ab, wenn es um die Schnittstellen zwischen MES (Manufacturing Execution Sys-tem) und ERP geht. In den Diskussionen wird dann generell sehr viel Energie auf die Bemühungen für Standardisierung ver-wendet.

> Die Werke sind unabhängige Geschäftseinheiten und stehen häufig sogar in Konkurrenz, wenn es um die Bewerbung für den Bau einer neuen Modellreihe geht.

> Die zentrale IT kümmert sich meist um Rechenzentren, Netze und global verfügbare Applikationen. Jedes Werk hat aber auch seine eigene, lokale IT-Mannschaft, die in der Matrix- Organisation zwischen zentraler IT und Werk hängt („solid/dotted Line“).

> Wenn Maschinen oder Produkte, beispielsweise über soge-nannte Verortungslösungen, vernetzt werden, wird der klas-sischen „MES-Pyramide“ ein weiterer Layer hinzugefügt (siehe Abbildung). Bei diesen echten Industrie-4.0-Lösungen ist je-doch unklar, wer die Verantwortung trägt, da sie einerseits di-rekt in die Produktion (Verantwortung Fachbereich) eingreifen, andererseits aber auch die sichere Anbindung an die Netze und Systeme gewährleistet sein muss, um das Produkt (Fahrzeug) mit dem Kundenauftrag zu verknüpfen (Verantwortung IT).

> Die großen OEMs haben meist noch spezielle Testfabriken, um neue Automatisierungstechnologien zu prüfen. Diese sind aber in der Regel auf die Hardwareseite fixiert, wohingegen Industrie 4.0 maßgeblich auch die Netzwerk-, Daten- und Applikationsseite umfasst!

Lösungsansatz: Alle Einheiten laufen erst im zentralen Vorstand zusammen – und genau dort muss die Hoheit über das Thema Industrie 4.0 liegen, um die Governance mit allen Stakeholdern

Abbildung: Zukünftige IT in der Produktion im Kontext Industrie 4.0 – das noch in der Fertigung vernetzte Produkt bildet einen weiteren Layer

Quelle: Detecon

Einkauf Lieferanten Produktionsplanung Logistik Sequenzierung Lagerverwaltung

ERP

MES

Produkt

Shopfloor IT

Kundenauftragsmanagement

Sequenzierung, Fabriksteuerung

Operationen am Band

Vernetzung und Verortung

DurchgängigerbidirektionalerDatenaustausch

6 Detecon Management Report dmr • Special Automotive 2015

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zu ermöglichen. Letztlich handelt es sich bei dem Thema tat-sächlich um eine weitreichende Business Transformation, welche Wettbewerbsvorteile (nur dann) bringen kann, wenn man sie richtig auf den Weg bringt. Ganz ähnlich verhält es sich üb-rigens mit dem Thema Connected Car, bei dem erstmalig das Problem erkannt und als Lösung die Vorstandsposition eines Chief Digital Officers vorgeschlagen wurde (CDO).

Hürde #4: Veraltete, monolithische Produktionssysteme

Eine „Operation am offenen Herzen“ mag niemand versuchen – wie kann man dennoch Veränderungen auf den Weg bringen? Es ist bislang nicht absehbar, dass sich die Produktion, die seit gut 100 Jahren nach dem gleichen, sequen tiellen Muster der Bandfertigung abläuft, in den nächsten Jahren wesentlich än-dert.

Die produzierenden Unternehmen haben fast alle in den 90ern mit sehr großem Aufwand die Produktionssysteme an das SAP angebunden – dies war allein schon wegen der komplexer wer-denden Logistik und der Sicherstellung des Materialflusses im richtigen Moment notwendig (Sequenzierung). Im Laufe der Zeit wurden diese großen, monolithischen Produktionssysteme weitab jedes Standards um immer mehr Sonderlösungen er-weitert. Aufgrund der direkten Verzahnung mit der Kernwert-schöpfung – nämlich den Bau von Automobilen – bilden sie das Herzstück und können in bestehenden, aktiven Fabriken praktisch gar nicht mehr abgelöst werden.

Darum fokussiert man sich meist auf sogenanten den Green Field Approach, also auf neue Fabriken – ohne bislang aber eine echte Alterna tive zu dem Altsystem zu haben. Nur kleinere, neue Komponentenwerke lassen sich vielleicht mit einer Stan-dard-MES-Lösung fahren.

Altfabriken lassen sich also aufgrund ihrer Struktur der Band-fertigung mit monolithischen Systemen, die zudem nicht mehr in die Leitplanken einer modernen IT-Architektur passen, nur in kleinen evolutionären Schritten ändern. Mehr Effizienz ist vielleicht noch durch weitergehende Ablösung der Werker durch Robotik zu erzielen. Hier steht man aber zurzeit noch eher an einer Vorstufe – gerade fallen die Schutzzäune zugun-sten sogenannter Leichtbauroboter, zum Beispiel Kuka LBR, die den kompletten Arm mit Sensoren bestückt haben, auf Berührungen sofort reagieren und daher mit Menschen Hand in Hand arbeiten oder ältere Werker entlasten können.

Lösungsansatz: Damit zumindest bei den neuen Fabriken eine echte Industrie-4.0-Revolution greift, müsste man in gerade-zu radikaler Abkehr von der (sequentiellen) Bandfertigung auf

eine sogenannte Stationsfertigung umstellen. Nach Schweißen, Lackieren und Ausstattung mit einem sogenannten Tag zur Ver-ortung in der Fabrik sucht sich das Fahrzeug seinen Weg durch die Produktion selbst! Die Technologien dazu sind durchaus vor-handen, zum Beispiel der Transport durch Automated Guided Vehicles (AGV), was zudem enorm Fläche einsparen würde, weil dann fix installierte Förderbänder nicht mehr gebraucht werden. Jedoch wird dadurch leider das Problem des Materialflusses noch komplexer (Just-in-Time, Just-in-Sequence, Just-in-Location).

Wenn allerdings dieser Zeitpunkt tatsächlich kommen sollte, wird vermutlich das Automobil auch nicht mehr das sein, was es einmal war – eher eine Art vollautomatisches, elektrifiziertes Kabinentaxi aus vielen gedruckten und verklebten Kunststoff-teilen, welches man nach Bedarf bucht. Rennsport adé.

Hürde #5: Fehlendes Zielbild und Industrie-4.0-Strategie

Es findet sich meist aus diesen Gründen noch keine ganzheit-liche, abgestimmte Roadmap oder ein Zielbild. Neben den feh-lenden, gemischten Teams und der Abstimmung der Stakehol-der in entsprechenden Gremien liegen noch nicht einmal für die Teilbereiche Strategien vor, beispielsweise nur Werks-IT oder nur Automatisierungstechnik.

Dies entspricht einem reinen, technologiegetriebenen Bottom-up-Ansatz: Anwendungen werden nicht nach Bedarf entwi-ckelt, sondern man probiert einfach aus, wofür eine Techno-logie taugt.

Lösungsansatz: So sehr dies auch seinen Reiz haben mag – eine Fabrik ist keine Start-up-Garage und Technologie darf nicht zum Selbstzweck verkommen. Es bedarf vielmehr der Einigung der Stakeholder auf eine Priorisierung der Domänen wie der Produktionsplanung im Einklang mit der Konzernstrategie, zum Beispiel der Vorgabe, die Zeit zwischen Bestellung und Auslieferung zu verkürzen oder flexibler fertigen zu können. Erst dann ist man in der Lage, Technologien auf Reifegrad und deren Anwendungen hinsichtlich ihres Strategiebeitrags zu eva-luieren!

Der richtige Ansatz ist eine gesunde Mischung aus Bottom-up-Strategie (Technologien „verproben“) und Top-Down-Strategie (Konzernstrategie als „Big Picture“, Anforderungsaufnahme aus den Fachbereichen, Priorisierung der Produktions domänen).

Darüber hinaus müssen in einem iterativen Prozess jedes Jahr neue oder reifer gewordene Technologien erkannt, geprüft und mögliche Anwendungen in den priorisierten Domänen geprüft werden.

7 Detecon Management Report dmr • Special Automotive 2015

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Hürde #6: Unzureichende Architektur ohne Ende-zu-Ende Sicherheit

Die Erblast eines alten MES mit dessen wenig durchgängigen Schnittstellen sowie geringer Vernetzung hat durchaus einen Vorteil: Das Herzstück der Kernwertschöpfung ist von außen kaum angreifbar.

Industrie 4.0 beruht jedoch auf horizontaler (entlang der gesamten Unternehmenswertschöpfungskette) und vertikaler Vernetzung (vom ERP, MES, Shopfloor-IT bis hinunter zum Produkt). Eine Vernetzung über den Kernwertschöpfungs-prozess bedeutet somit Chancen für mehr Effizienz und Syner-gien, aber auch ein erhöhtes Risiko (Beispiel: Stuxnet).

Lösungsansatz: IT-Architekten und Sicherheits-Experten müssen die Anwendungen mitgestalten und das ganze Konstrukt auf eine sichere Ende-zu-Ende-Architektur setzen. Hierzu gehört eine detaillierte Anforderungsaufnahme – dies ist allerdings ein Standardvorgehen für eben diese Spezialisten. Es sei an dieser Stelle der Hinweis erlaubt, dass Detecon seit über zehn Jahren in diesem Bereich Schulungen durchführt!

Hürde #7: Technologie als Selbstzweck

Häufig werden Technologie und Use Case verwechselt. Tatsäch-lich ist es aber so, dass oftmals eine neue Technologie nach Ein-satzprüfung verworfen wird, weil man nicht genug Fantasie für weitere Anwendungsfälle besaß.

Ein berühmtes und schon zehn Jahre altes Beispiel hierfür betraf die Betreibergesellschaft des Frankfurter Flughafens, welche RFID zur Gepäckverfolgung einsetzen wollte, dies aber schließ-lich aus Kostengründen verwarf. Ein Einsatz ergab sich dann aber an ganz anderer Stelle: im gesetzlich vorgeschriebenen Brandschutz. Am Frankfurter Flughafen betrifft dies etwa 22.000 Klappen und Rauchmelder! Die RFID-Tags wurden letztendlich zur Prozessverbesserung in der Wartung eingesetzt: Der PDA des Technikers protokolliert Aufenthaltsdauer in der Nähe der Klappe und die digital dokumentierten Arbeiten kön-nen direkt ins SAP übertragen werden.*

Lösungsansatz: Es gibt Standardverfahren, um ein Team zum „Thinking out of the box“ zu bewegen. Detecon hat hier erfolg-reich im Telekom-Konzern die „Design Thinking“-Methodik etabliert, welche über einen agilen, iterativen Prozess in kurzer Zeit in interdisziplinären Teams zu konkreten Ergebnissen führt (Bedürfnisanalyse, Ideenentwicklung, Rapid Prototyping).

Des Weiteren ist es seitens des Managements wichtig, auch Feh-ler zuzulassen. Nicht immer verfolgt man von vorne herein den richtigen Weg.

Fazit

Über diese sieben Brücken muss man gehen, wenn man nach 100 Jahren sequentieller Bandfertigung vielleicht doch den Mut findet, einmal etwas grundlegend anders zu machen. Zwingend erforderlich sind aus unserer Sicht:

• Top Management Buy-In

• Stakeholder-Management und Gremien zur organisationsübergreifenden Zusammenarbeit

• Für konkrete Themenstellungen Zweierteams aus Fachbereich und IT bilden

• Jährliches Technologie-Radar und fortwährende Evaluierung von möglichen Anwendungen

• Innovationsmanagement mit Freiräumen für Kreativität, sowie einer gesunden Fehlerkultur

• Aufnahme von Bedarf und Anforderungen aus den Fachbereichen

• Ein abgestimmtes und verankertes Zielbild, welches jedoch flexibel genug sein muss, um den schnell ändernden Technologien Rechnung zu tragen.

Letztendlich gehört zu einem Hype auch eine gesunde Einschät-zung, was aus der eigenen Situation heraus machbar erscheint. Eine Produktstrategie könnte auch lauten:

„Wir machen nicht das, was wir schon immer gemacht haben, komplett neu,

sondern besser.“

* http://www.computerwoche.de/a/fraport-spart-450-000-euro-pro-jahr,1051986

Dr. Thomas Siems ist Managing Partner und Leiter des Sector Automotive. Seine Leidenschaft ist die Innovationsgeschwindigkeit der Automobil industrie.

8 Detecon Management Report dmr • Special Automotive 2015

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10 Detecon Management Report dmr • 2 / 2015

in Kunde trug die Anforderung an uns heran, ihn bei der durchgängigen Gestaltung und vollständigen Digitalisierung der Planungs- und Steuerungsprozesse in der Komponenten-fertigung zu unterstützen. Gleichzeitig sollte die in einem großen Produktlebenszyklus-Management-System (PLM-System) im-plementierte Planung der Fertigung flexibilisiert werden. Än-derungen in der Fertigung sollten zurückgemeldet und in der Planung zukünftiger Fertigungsprojekte berücksichtigt werden können. Trotz der Flexibilisierung sollte der Prozess so imple-mentiert werden, dass er zu einer Entlastung des Personals führt und bei steigender Variantenvielfalt effizientere Planungszyklen ermöglicht. Die Herausforderung

Auf der Basis dieser Anforderung konnten wir die folgenden Ansatzpunkte für eine Optimierung der Prozessdigitalisierung identifizieren:

> Die Daten zur Fertigungsplanung befinden sich in verteilten Systemen. Innerhalb der Fertigungssteuerung werden zwar Messdaten erhoben, bislang aber nur partiell am Ort der Messung genutzt; sie sind daher auch nur dort verfügbar. > Der Fertigungsplanungsprozess ist nicht durchgängig – vom Fertigungsauftrag über die Fertigungsfreigabe, Bereitstellung bis hin zur Änderungsrückmeldung nach Start der Fertigung – definiert und implementiert.

> Eine zentrale Steuerungseinheit, in der – ähnlich dem menschlichen Gehirn – die über die Sensoren (Sinnesorgane) aufgenommenen externen Informationen (Reize) via Datenka-näle (sensorische Neuronen) zusammenkommen, auf Basis von Kontext und Erfahrung über eine Reaktion entschieden wird und diese wiederum über Datenkanäle (Motoneurone) an die ausfüh-

renden Ressourcen (Muskelzellen) zur Ausführung kommuni-ziert wird, ist in der Fertigungssteuerung nicht vorhanden.

Die Lösung

Für eine vollständige und durchgängige Digitalisierung der Prozesse und der Realisierung von Optimierungspotenzialen fiel zunächst Architekturarbeit an. Im ersten Schritt haben wir in die Prozesse eine Ende-zu-Ende-Betrachtung eingezogen und anschließend für die Implementierung eine Vier-Schichten- Architektur ausgestaltet. Erst nach Abschluss der Architektur-arbeit sind wir in die Ausgestaltung, Automatisierung und Inte-gration der Prozesse eingestiegen. Für die Prozessarbeit haben wir das subjektorientierte Business Process Management (S-BPM) verwendet und eine Tool-Suite eingesetzt, die S-BPM in der Modellierung und Implementierung von Prozessen unterstützt.

Ende-zu-Ende-Betrachtung im Prozess

Zur Strukturierung und Reduzierung der Prozesskomplexität haben wir in einem ersten Schritt die Ende-zu-Ende-Betrach-tung in die Prozessarchitektur unseres Kunden eingefügt. Auf diese Weise wurde ein Prozessmonolith in sechs Prozesse zerlegt. Für jeden Prozess wurde der funktionale Umfang definiert und eindeutig von anderen abgegrenzt. Die Ende-zu-Ende- Betrachtung ist darüber hinaus ein Ansatz zur vollständigen und konsistenten Identifizierung notwendiger Geschäftsobjekte und deren Lebenszyklus. Jeder Prozess hat nun einen dedizierten Aus-löser, über den er gestartet wird. Gleichzeitig wird sowohl das Geschäftsobjekt identifiziert, das notwendiger Eingang für den Prozess ist, als auch das Geschäftsobjekt, welches in dem Prozess bearbeitet und am Ende der Prozessdurchführung als Ausgabe zur Verfügung gestellt wird. Aus dieser Betrachtung lassen sich später wichtige fachliche Status für die Spezifizierung des Lebens-zyklus eines Geschäftsobjekts ableiten und somit Haltepunkte

Klar, agil und vollständig integriert!

E

Digitale Planungs- und Steuerungsprozesse in der Fertigung?

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11 Detecon Management Report dmr • 2 / 2015

Eine Säule zur Gestaltung der digitalen Transformation ist die Prozessdigitalisierung im Sinne einer durchgängigen, vollständigen Automatisierung und Integration der Prozesse. Einblicke in ein Kundenprojekt zeigen, wie die Umsetzung funktioniert.

für die Prozessmessung und Prozesssteuerung erkennen. Die Ende-zu-Ende-Betrachtung des Prozesses ergab die in Abbildung 1 dargestellte übersichtliche Struktur.

Aus der Ende-zu-Ende-Betrachtung des Prozesses ergaben sich unter anderem die folgenden Geschäftsobjekte mit entsprechenden relevanten, fachlichen Definitionen:

Der Planungsauftrag geht über E-Mail als strukturierte Excel-Datei oder strukturiertes Word-Dokument ein. Für jeden Planungsauftrag wird auf Basis eines entsprechenden Master-plans die Planung erstellt und abgestimmt, bis die Planungs-freigabe durch das zentrale Steuerungsgremium erteilt werden kann. Mit der Planungsfreigabe startet die Festlegung und Spezifikation der Komponenten, die eingekauft werden sollen. Nach abgestimmter Spezifikation wird die Einkaufsfreigabe für den Einkauf der Komponenten erteilt. In Folge der Einkaufs-freigabe wird entlang der Terminpläne die Komponenten- bereitstellung überwacht. Wenn die Komponentenbereitstellung sichergestellt ist, wird der Zusammenbau von Komponenten aus der Eigenfertigung und der Fremdfertigung erprobt, bis der Fertigungsstart zu 100% festgelegt werden kann.

Nach Fertigungsstart werden alle Änderungen im Fertigungs-ablauf an die Planung als Änderungsrückmeldung kommu-niziert. Jede Änderungsrückmeldung wird analysiert, um die Ursachen für die jeweilige Änderung zu identifizieren. Im Falle von systematischen Änderungen wird eine notwendige Planungs-änderung spezifiziert und als Masterplananpassung in zukünftigen Planungen berücksichtigt.

Architekturbild für die Prozessdigitalisierung

Im nächsten Schritt haben wir auf Basis dieser übersicht-lichen Ende-zu-Ende-Betrachtung die Prozessarchitektur um weitere Schichten ergänzt. Es entstand eine Architektur aus vier Schichten. Für die durchgängige und vollständige Prozessdigitali-sierung wurde die Prozesslogik in einer eigenen Schicht gekapselt. Auf diese Weise konnte der Prozess für die geforderte Prozess-digitalisierung von den Restriktionen bestehender Schnittstellen zwischen den Bestandssystemen entkoppelt werden.

In der Prozessschicht befindet sich der Prozess mit den fachlichen Prozessfunktionen und der Prozesslogik. Der Prozess ist subjekt-orientiert ausgeprägt. Die fachlichen Prozessfunktionen werden

Abbildung 1: Das Ende-zu-Ende der Prozesse

Quelle: Detecon

Planungsauftrag bis Planungsfreigabe1

Planungsfreigabe bis Einkaufsfreigabe2

Einkaufsfreigabe bis Komponentenbereitstellung3

Komponentenbereitstellung bis Fertigungsstart4

Fertigungsstart bis Änderungsrückmeldung5

Änderungsrückmeldung bis Masterplananpassung6

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12 Detecon Management Report dmr • Special Automotive 2015

als internes Verhalten eines Subjektes, also des Prozessbeteiligten, ausgeführt. Bei der Prozessausführung werden sie über ihre Kom-munikationsbeziehung, also den Austausch von Nachrichten, synchronisiert. Die Prozesslogik wird in einer Workflow-Engine implementiert. Jede Prozessfunktion wird entweder als manuelle Tätigkeit oder automatisch durch einen Webservice-Aufruf oder mehrere fachlich zusammenhängende Webservice-Aufrufe implementiert. In der Prozessschicht werden somit die für eine vollständige und durchgängige Digitalisierung notwendigen Services entlang der Prozesslogik fachlich orchestriert und mit den manuellen Tätigkeiten zusammengebracht.

In der Integrationsschicht liegen die Services zur Automa-tisierung des Prozesses und zur Integration der Fertigungs- ressourcen, datentragenden Systeme und Bestandssysteme. Die Services werden über Service-Aufrufe aus der Prozessschicht in den Prozess eingebunden. Die Ablagestruktur der Services ist entlang der zur Prozessausführung benötigten fachlichen Fähigkeiten aus-geprägt. Im vorliegenden Fall handelt es sich um die Fähigkeiten, die unser Kunde zur Planung und Steuerung seiner Fertigungsab-läufe benötigt. Diese fachlichen Fähigkeiten haben wir mit dem Kunden definiert, unabhängig von dem aktuellen Aufbau der Fertigung, der aktuell betriebenen IT-Systemlandschaft und den implementierten Prozessen. Mit der nach fachlichen Fähigkeiten

ausgeprägten Ablagestruktur wird die eindeutige Abgrenzung, die Wiederauffindbarkeit und damit eine möglichst hohe Wiederver-wendbarkeit der Services ermöglicht. In Abbildung 2 ist ein Aus-schnitt des hierdurch entstandenen Service- Repositoriums abge-bildet. Auf die Einbindung eines Enterprise Service Bus (ESB) haben wir zur Umsetzung der Integrationsschicht verzichtet, da die vom ESB angebotenen, hoch standardisierten Services aus fachlicher Sicht nicht den Anforderungen des Prozesses genügten.

In der Datenschicht liegen die Datenobjekte. Die Datenobjekte wurden fachlich abgegrenzt und überschneidungsfrei den zur Prozessausführung benötigten fachlichen Fähigkeiten zugeord-net. Dabei wurde gleichzeitig jedem Datenobjekt ein System zu-geordnet, dass die Create-, Read-, Update-, Delete-Funktionen für das Datenobjekt übernimmt. Auf diese Weise wurde auch die Verantwortung für die Datenpflege eindeutig und über-schneidungsfrei definiert. Die redundante Pflege der Daten sowie die notwendige Validierung und Konsolidierung der Daten im Rahmen der Prozessausführung konnten so auf ein Minimum reduziert werden. Als zentrales datentragendes System wurde das vorhandene Standard-PLM-System erhalten. Dies sicherte die Investitionen in das PLM-System. Der Anteil notwendiger Änderungen wird in der Zukunft zu einem sehr viel größeren Anteil mit den Standards des PLM-Systems abgedeckt. Auf-

Abbildung 2: Architekturbild für die Prozessdigitalisierung

Quelle: Detecon

Infrastrukturlayer der Fertigung

Integrationslayer

Datenschicht

Prozesslayer

PDM ERP PLM MES

Material transportieren

Materialmanagement

Material identifizieren

Planung

Fertigungsplan erstellen

Losgrößen ermitteln

Planabweichung analysieren

Fertigungsschritt durchführen

Fertigung

Maschine ansteuern

Exemplarischer Ausschnitt

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13 Detecon Management Report dmr • Special Automotive 2015

wände für notwendige kundenindividuelle Änderungen an dem PLM-System konnten durch die Verlagerung der Umsetzung in die Prozessschicht signifikant reduziert werden.

In der Infrastrukturschicht liegen die Fertigungsressourcen. Für jede Ressource werden Funktionen definiert, welche diese zum Aufruf über Services in der Integrationsschicht bereitstellen. Die Fertigungssteuerung kann Änderungen beispielsweise zur Optimierung oder Fehlerbehebung an den von der Ressource erbrachten Funktionen vornehmen. Dadurch, dass diese nun via Services „veröffentlicht“ werden, sind im Rahmen einer Service-Änderungsdokumentation oder Release-Dokumentation solche Veränderungen für die Prozessbeteiligten transparent. Kleinere Veränderungen werden im Rahmen einer neuen Revision doku-mentiert. Wirken sich solche Änderungen auf die Kompatibilität zu Eingangs- und Ausgangsgrößen aus, wird eine neue Nebenver-sion veröffentlicht und in der Integrationsschicht als verbesserte Alternative bereitgestellt. Größere Änderungen, die auch Ände-rungen an der Schnittstellendefinition mit sich führen, werden in einer neuen Hauptversion veröffentlicht. Über die Verbindung mit der Prozessschicht wird sichtbar, welche Version in welchem Prozess genutzt wird. Damit ist die Grundlage für Gespräche zwischen Disponenten, Steuerern und ITlern über den zukünf-tigen Einsatz und die Weiterentwicklung der von den Fertigungs-ressourcen bereitgestellten Funktionen geschaffen.

Subjektorientierte Ausgestaltung der Prozesse

In der Prozessschicht haben wir die Prozesse subjektorientiert ausgeprägt und eine Workflow-Engine verwendet, die es ermög-licht, aus den Prozessmodellen die Prozessapplikation zur Imple-mentierung der Prozesslogik zu generieren. Und dieser Aspekt ist zu betonen: Für die Implementierung der Prozesslogik muss nicht mehr programmiert werden, denn die Applikation wird aus den Modellen generiert. Änderungen an der Prozesslogik verursa-chen bei unserem Kunden also nur noch Modellierungsaufwand. Änderungen am Prozess sind nur dann mit Entwicklungsauf-wand verbunden, wenn die Webservices zur Prozessautomati-sierung und Prozessintegration geändert, ergänzt oder neu ent-wickelt werden müssen. Mit der subjektorientiert ausgeprägten Prozessschicht kann unser Kunde die Änderungszyklen und Änderungsaufwände signifikant reduzieren. Mit dieser Prozess-schicht war unser Kunde in der Lage, Änderungen am Prozess flexibel und schnell umzusetzen. Noch während des Projekts hat unser Kunde festgestellt, dass er ein Instrument zur Gestaltung

agiler Prozesse an der Hand hat, das ihn bei der Differenzierung im Wettbewerb unterstützt.

Bleibt die Frage, ob die Disponenten und Prozessbeteiligten in der Lage sind, diese flexiblen und schnellen Änderungen mitzu-machen und ihre tägliche Arbeit darauf einzustellen? Diese Frage konnte unser Kunde mit einem klaren „Ja“ beantworten. Die Begründung für dieses „Ja“ ist so einfach wie die Methode, die wir für die Ausgestaltung der Prozesse in der Prozessschicht verwendet haben. Die Disponenten aus der Fertigungsplanung und -steuerung haben ihre Prozesse und damit notwendige Änderungen selbst gestaltet und modelliert. Die selbst gestaltete Prozesslogik und Zusammenarbeit im Prozess konnte unmittel-bar nach der Modellierung in einer Prozessapplikation erlebt und angefasst werden.

Kritische Erfolgsfaktoren in der Prozessdigitalisierung

Die Anwendung des S-BPM Ansatzes wirkte sich insbesondere auf folgende kritische Erfolgsfaktoren in der Prozessdigitalisierung positiv aus.

Verwendung und Akzeptanz der Modellierungssprache bei den Fachanwendern

Nur fünf Modellierungssymbole in Kombination mit der natürlichen Sprache sprechen eine eindeutige Sprache. Die Disponenten haben sofort verstanden, wie die Modellierung funktioniert. Ein besonderes Aha-Erlebnis hatten wir, als die Fachanwender gesehen haben, dass die Bezeichnung von Prozess-funktionen und deren Erklärungen nicht nur in den Modellen, sondern eins zu eins auch in ihrer Prozessapplikation zu sehen waren. Dementsprechend dienten die Prozessmodelle nicht nur der Prozessbeschreibung, sondern auch als Handlungsanweisung in der Prozessapplikation.

Bereitschaft der Disponenten, sich in Modellierungsworkshops ein-zubringen

Im ersten Workshop haben wir „nur“ über die Kommunika-tionsbeziehung zwischen den Prozessbeteiligten gesprochen und ermittelt, welche Informationen ausgetauscht werden müs-sen. Das führte dazu, dass wir kritische Punkte im Zusammen- arbeitsmodell zwischen den Prozessbeteiligten aufgegriffen haben. Die Disponenten haben bereits im ersten Workshop festgestellt,

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dass Aufgaben in der Realität nicht so verteilt sind, wie sie laut Governance-Modell des Unternehmens verteilt sein sollten. Diese kritischen Punkte haben wir ausdiskutiert, um zu einem verbesserten und gleichzeitig machbaren Prozessablauf in der Organisation unseres Kunden zu kommen. Diese kritisch kon-struktive Auseinandersetzung mit den aktuellen Problemen und die leichtverständliche Darstellung einer Lösung mit nur zwei Symbolen (dem Subjekt und der Nachricht), hat jede anfäng-liche Zurückhaltung auf der Seite der Disponenten verschwinden lassen.

Nachhaltige Akzeptanz der Workshop-Ergebnisse und Zusammen-spiel mit der IT

In den Workshops saßen neben den Vertretern aus Fertigungspla-nung und -steuerung von Anfang an auch Vertreter der IT und Fertigungs-IT. Das hatte zunächst nur symbolische Bedeutung, um zu zeigen, dass Fachseite und IT gemeinsam an einem Modell arbeiten. In einer späteren Projektphase, in der zur Veredelung des Prozesses Webservices für die Automatisierung und Integration in den Prozess eingebaut wurden, haben wir gezeigt, dass über die Symbolik hinaus Fachanwender und IT eine Sprache und damit über dasselbe Modell sprechen. Die Disponenten haben unmittelbar erlebt, dass ihre fachlichen Modelle von der IT

genutzt und eins zu eins umgesetzt werden. Die Fachanwender haben die Workshop-Ergebnisse als nachhaltig auf der Arbeits-ebene verankerte Modelle und als ihre eigenen Prozesse und Applikationen akzeptiert.

Management-Support

Beim Einsatz von S-BPM haben wir ein Phänomen beobachtet, dass die verbindliche Einbindung des Managements erheblich erleichtert hat: Die Fachanwender haben die gestalteten Prozesse als ihre Prozesse erlebt und festgestellt, dass diese Prozesse eins zu eins in Prozessapplikationen umgesetzt werden. Demzufolge haben die Fachanwender von sich aus versucht, ihr Management von der Richtigkeit und Notwendigkeit der Prozessimplemen-tierung zu überzeugen. Die Fachanwender bei unseren Kunden haben die Rolle des Projekt-Marketings übernommen. In Terminen zur Präsentation von Zwischenergebnissen sind die Fachanwender selbst aufgetreten und haben die Prozessapplikation und ihre Vorteile präsentiert. Die Reaktion des Managements war naheliegend: „Wenn meine Mitarbeiter davon überzeugt sind und mit der Prozessapplikation einen Hebel zur Erreichung unserer Ziele an die Hand bekommen, dann unterstützen wir das.“ Von der ersten Präsentation der Zwischenergebnisse an war das Projekt nicht mehr unser Projekt, das wir als Berater für

Abbildung 3: Die Adaption des agilen Scrum-Rhythmus für die subjektorientierte Prozessdigitalisierung

Quelle: Detecon

Daily Scrum

Selected ProcessBacklog

Process BacklogChanges

Process Release

Process Owner

PO

PO

PO

Process Vision

Process Increment

SprintBacklog

ImpedimentBacklog

Process Backlog

Retrospective

Planning 2

Planning 1

Release Planning

Review

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unseren Kunden durchgeführt haben. Es wurde zum Projekt unseres Kunden, der Mitarbeiter aus dem Fachbereich und der IT, das wir als Berater lediglich begleitet haben.

Agile Vorgehensweise im Scrum-Rhythmus

Das Projekt wurde im Rhythmus von Scrum aufgesetzt, um die Komplexität handhabbar zu machen. Die Kommunikation zu den Projektergebnissen haben wir entlang des zunehmenden Verständnisses der Fachanwender für ihren Prozess proaktiv gestaltet. Die Prozessreleases haben wir an den Ende-zu-Ende- Prozessen ausgerichtet und entlang einer zunehmenden Prozess-automatisierung und -integration abgegrenzt. Am Ende eines jeden Sprints wurde im Sprint-Review als Prozessinkrement immer eine Prozessapplikation präsentiert. Die Prozessapplikation wurde von Sprint zu Sprint immer weiter veredelt – mit jedem Sprint ist der Grad der Automatisierung und Integration gestiegen. In Abbildung 3 ist dargestellt, dass alle Prozess-Back-log-Items immer auf die Erstellung und Veränderung einer Prozessapplikation als Prozessinkrement eingezahlt haben.

Kontinuierliche Verbesserung ist das Ziel

Schnelligkeit und Flexibilität in der Fertigungsplanung und -steuerung erfordern die Integration aller Prozessbeteiligten, der IT, Daten- und Fertigungsressourcen. Informationen sind in Echtzeit zu erheben und unverzüglich den jeweiligen Adressaten bereitzustellen, damit sie Änderungen umgehend nachvollziehen oder selbst anstoßen können. Dies betrifft vor allem die Akteure, die täglich damit arbeiten. Die subjektorientierte Prozessmodel-lierung gibt den Disponenten die Möglichkeit, ihre Prozesse selbst zu modellieren und ständig anzupassen. Das Modellierungsvor-gehen bringt Fachanwender und IT an einen Tisch – Missver-ständnisse und Kommunikationsprobleme werden signifikant reduziert, Änderungen schnell und für alle transparent nach dem Lego-Prinzip integriert. Alle Beteiligten arbeiten in einem Work-flow zusammen, der die involvierten Systeme in einem „Single User Interface“ vereinigt. Die Beteiligten verfügen somit über die für sie relevanten Informationen. Da subjektorientierte Prozess-modellierungstools die ausführbaren Prozessapplikationen direkt aus den Prozessmodellen generieren, sind Änderungen schnell und einfach „live“. Zusammen mit unseren Kunden gestalten wir eine ganzheitliche Fertigungsplanung und erleichtern die Evalu-ierung sowie die kontinuierliche Verbesserung von Strukturen und Prozessen in der Fertigung.

Zitation: Der Artikel basiert auf Lorbacher F. (2015) Designing an Agile Process Layer for Competitiv Differentiation In: Fleischmann A., Schmidt W., Stary Ch., S-BPM in the Wild Practical Value Creation, Spinger Open, S. 97 – 100.

Frank Lorbacher ist Managing Consultant. Er hat über 20 Jahre Erfahrung mit BPM in unterschiedlichen Branchen. Sein Schwerpunkt liegt in der Konzeption und Implementierung agiler Prozesse in serviceorientierten Architekturen. Er ist Experte für die Prozessdigitalisierung und die damit einhergehende Prozess-transformation.

Michael Spiller ist Consultant und berät Unternehmen der Automobilbranche in den Bereichen Digitalisierung von Prozessen und Unternehmensarchitektur-management. Als zertifizierter Scrum-Master beschäftigt er sich auch mit der agilen Prozessmodellierung und -implementierung.

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Interview mit Luz G. Mauch, Senior Vice President Automotive & Manufacturing Industry

bei T-Systems International GmbH

IT PSsticht

„Das reine Fahren wird immer mehr in den Hintergrund treten.“, prophezeit Luz G. Mauch im Gespräch mit Mark Heinrich, Partner bei Detecon, über das vernetzte Auto. Er sieht die IT als zukünftigen Differenzierungsfaktor im Auto sowie in dem Autokauf vor- und nachgelagerten Prozessen und unterstützt die Automobilindustrie mit entsprechenden Lösungen.

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DMR: Herr Mauch, Sie sind verantwortlich für den Geschäfts-bereich Automotive und Manufacturing Industry. Manufacturing Industry ist allerdings erst kürzlich hinzugekommen. Was ist der Hintergrund? Was verbindet beide Bereiche?

L. G. Mauch: Beide Branchen stehen vor den gleichen Herausforderungen. Schon lange geht es nicht mehr ohne Software in der Architektur, Planung und Fertigung. Dutzende Zulieferer müssen in unternehmenseigene Prozesse integriert werden. Darüber hinaus geht auch bei Ver-trieb und Wartung nichts mehr ohne Unterstützung durch Informationstechnologie. Schon heute setzen wir beispielsweise zur Ferndiagnose Augmented Reality ein, Predictive Main-tenance ist mehr als ein Schlagwort. Schlussendlich kann weder die Manufacturing Industry noch die Autoindustrie ihre Kunden ignorieren. Die Erwartungshaltung an Enter- und Infotainment ist bereits extrem hoch und steigt immer weiter. In Punkto IT-Sicherheit und Datenschutz müssen wir für beide Branchen Antworten auf gleiche Fragen geben. Von daher passt das gut zusammen. Beide Bereiche können von unseren Erfahrungen profitieren. Industrie 4.0 – Wirtschaftswunder 4.0 – ist ein Manufacturing-übergreifendes Thema mit ähn-lichen Prozessen, die übergreifende Herausforderung liegt in der Bündelung von Expertise und der Nähe zum Endkunden.

DMR: Das Ökosystem Auto wird in der digitalen Welt immer größer. Was sind Ihrer Meinung nach die größten Herausforderungen, die die Automobilhersteller aktuell und in Zukunft beschäftigen?

L. G. Mauch: Das Auto ist bereits jetzt mehr als Karosserie und Motor – schon heute ist es ein fahrendes Rechen- zentrum. Und wenn wir von IT oder digitaler Transformation sprechen, schauen wir uns die gesamte Wertschöpfungskette an. Das beginnt bei der Fertigung, betrifft Connected Car, die Car2Car-Kommunikation, die Echtzeitdaten-Analytics, die Sensorik und geht bis zur Betreuung der Kunden durch die Vertragswerkstätten. Dabei muss gerade die IT im Auto besondere Sicherheitsanforderungen erfüllen. Ein Fehler hier bedroht Menschenleben. Die Anzahl an Innovationen nimmt rapide zu und die Zyklen werden immer kürzer. Während Innovationszyklen in der Automobilbranche mehrere Jahre brauchen, gibt es in der IT-Welt alle 18 Monate neue Modelle und Versionen. Weiterhin belegen Studien, dass bis zu 90 Prozent aller Innovationen ohne den Einsatz der IT nicht funktionsfähig sind. Auf diese digitale Transformation des Autos müssen die Hersteller eine Antwort finden.

DMR: Die Automotive-Branche steht unter hohem Druck durch sinkende Absatzzahlen in Europa und steigende Konkurrenz. Wird die Informationstechnik in Zukunft entscheidend für die Attraktivität einer Automarke sein?

L. G. Mauch: Das ist die IT heute schon. Eine Studie des Center of Automotive Management zeigt, dass die Online-Nutzung im Fahrzeug besonders bei den unter 30-Jährigen hoch ausgeprägt ist, also bei Menschen, die mit dem Internet aufgewachsen sind und auch im Auto „always on“ sein wollen. Laut dieser iCar-Studie sind sie sogar eher bereit, auf das Auto zu verzichten als auf ihr Handy. Gleichzeitig signalisieren sie aber auch die Bereitschaft, für attraktive Mehrwertdienste im vernetzten Auto Geld auszugeben. 44 Prozent der Männer und 35 Prozent der Frauen äußersten hier sehr starkes Interesse an entsprechenden Zusatzangeboten und sind bereit, für ein Paket aus Sicherheits- und Informationsfeatures sowie Enter-tainmentfunktionen viel Geld auszugeben. Also ein klares Ja.

DMR: IT spielt nicht nur im Fahrzeug ein große Rolle. Wie hat sich das Kundenverhalten bei der Anschaffung eines Autos verändert? Ist der Autoverkäufer im Autohaus ein Auslaufmodell?

L. G. Mauch: Heute steht der Autoverkäufer vor einer sehr gut informierten Kundschaft und hat im Wesentlichen nur eine Chance, das Auto zu verkaufen. Früher kam der Kunde mehrfach in ein Autohaus und hat sich beim Käufer seines Vertrauens alle Features erklären lassen. Dank Internet, Online-Showrooms und -Konfiguratoren weiß der Interessent heutzutage sehr genau, was er will und was die Konkurrenz bietet. Bereits vier von fünf Neuwagenkäufer beginnen laut einer Studie ihre Kaufüberlegungen im Internet. In ein Autohaus geht ein Kunde nur noch zu Testfahrten und zum Autokauf, kaum noch, um sich zu informieren. Die Erstberatung findet also immer weniger in den Geschäftsräumen des Händlers statt. Hinzu kommt, dass die Kundenbindung abnimmt. Die heutige Kundschaft wechselt viel schneller die Automarke als früher. Dagegen haben unterschiedliche Untersuchungen ergeben, dass Autohäuser 20 Prozent ihrer Kunden halten können, wenn sie digitale Kommunikationskanäle in ihr Kundenmanagement einbinden. Hier ist eine nahtlose Verknüpfung von intelligenten Kundenmanagementsystemen (CRM) mit dem Produktionssystem erforderlich, um einen Mehrwert zu bieten und Kunden an eine Automarke zu binden. Über Customer Experience Management (CEM) beispielsweise

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können Händler die Reichweite ihres Kundenmanagements erhöhen und ihre Kunden enger an das eigene Haus binden. Hierzu bildet die Lösung sowohl den Verkauf als auch das Servicegeschäft ab.

DMR: Wie könnte die Wissenslücke von Händlern über ihre Kunden geschlossen werden?

L. G. Mauch: Im Gegensatz zu Onlinestores wissen tradi-tionelle Händler tatsächlich wenig über das Verhalten ihrer Kunden im Markt. Das gilt auch für Betreiber von Showrooms im Automobilhandel. Bislang werden manuelle Kunden- befragungen und Beobachtungen genutzt, um den Kunden besser zu verstehen. Dieses Vorgehen ist jedoch fehleran-fällig und ermöglicht nur eine Momentaufnahme. Indoor Analytics von Motionlogic bieten die Möglichkeit, diese Infor- mationslücke schrittweise zu schließen und mit Onlinestores auf einer technologisch gleichberechtigten Ebene hinsichtlich des Kundenwissens konkurrieren zu können. Die Lösung nutzt WLAN-Signale, die die Smartphones der Kunden in regel- mäßigen Abständen aussenden. Im Ladengeschäft fangen Messgeräte diese Signale auf und erlauben die Lokalisierung der Smartphones mit einer hohen Genauigkeit. Damit sind automatisierte, regelmäßige Echtzeit-Analysen über Besuchs-häufigkeit, Verweildauer und Laufwege der Kunden möglich. Nur Kunden, die zuvor eine Zustimmung zur Teilnahme (Opt-In) gegeben haben, werden in die aggregierten Analysen ein-bezogen. Die Daten werden zudem unmittelbar anonymisiert und vom System aufbereitet, analysiert, in einem Dashboard beispielsweise durch Heatmaps visualisiert oder als Report aus-geliefert. Zudem können auch Daten aus unterschiedlichen Showrooms verglichen werden. Damit haben Betreiber von Showrooms eine fundierte Grundlage für eine verbesserte Produktplatzierung und Markt- und Standortoptimierungen.

Wir setzen uns für die Vernetzung und Zusammenarbeit der Unternehmen und Organisationen ein, um Synergien zu heben, Standards zu setzen und die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. So unterstützen wir Automotive-Unternehmen bei ihrer Transformation in die zunehmend digitale Welt.

DMR: Die Menschen werden mobiler und erwarten auch unterwegs im Auto entsprechende Serviceangebote, die über Smartphone-Apps hinausgehen. Ist die Branche da bereits gut aufgestellt? Was kann das vernetzte Auto von heute schon und was ist in naher Zukunft denkbar?

L. G. Mauch: Wir haben auf der diesjährigen CeBIT vor-gestellt, was heute schon möglich ist, und ein reges Interesse bei der autoaffinen Kundschaft festgestellt. Mit In-Car- Entertainment wie der Telekom App MyKidio, der Vernet-zung des Smartphones mit dem Auto oder dem Anbinden des Smart Home und damit der Möglichkeit, die IT zu Hause vom Auto aus zu steuern, haben wir gezeigt, wie das Auto Teil des Internet der Dinge wird.

Dank intelligenter Vernetzung und Big Data werden wir zukünftig das Stauaufkommen wesentlich verringern, indem wir unser Fahrverhalten frühzeitig anpassen beziehungsweise Verkehrsleitsysteme vorausschauend agieren, die Werkstatt wird sich bei uns melden, bevor ein Verschleißteil ausfällt – Stichwort Predictive Maintenance –, und eine Parkplatz-suche wird der Vergangenheit angehören. Vielleicht sagen wir dem Auto zukünftig einfach, dass es in der Stadt parken soll, steigen aus, gehen ins Cafe und sehen auf dem Smartphone, wo das Fahrzeug geparkt hat. Prototypen der Premiumhersteller BMW und Audi zeigen jetzt schon, dass dies möglich ist. Das teilautonome Fahren wird weiter an Bedeutung gewinnen. Tesla hat es beispielsweise beim Model S schon durch ein

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einfaches Softwareupdate geschafft, zumindest auf privatem Gelände ein teilautonomes Fahren des Fahrzeugs zu realisieren. Darüber hinaus wird sich das Auto in den kompletten Ver-kehrsverbund eingliedern. Die persönliche Bindung zu einem Fahrzeug nimmt immer weiter ab und Car-Sharing-Angebote gewinnen an Attraktivität. Warum nicht eine Strecke von zu Hause mit dem Fahrrad beginnen, mit der Bahn fortsetzen und mit dem Auto beenden, gebucht mit einer App vom Smartphone aus? Die Voraussetzung dafür haben wir mit SIM-Karten im Auto und im vernetzten Fahrrad geschaffen und sind damit Pionier bei der Vernetzung.

DMR: Welche Rolle wird autonomes oder teilautonomes Fahren in naher Zukunft spielen? Und was bedeutet dieser Trend für die IT? Braucht es dafür spezielle Cloud-Lösungen?

L. G. Mauch: Die Vernetzung bietet viele neue Möglichkeiten. Dabei wird das All-IP-Netz zum Träger, zum Rückgrat und Enabler, damit diese neuen Möglichkeiten Realität werden können. Wir Menschen vernetzen uns, ebenso die Unterneh-men sowie vor allem auch die Geräte und Maschinen – Stich-wort Industrie 4.0. In 2020 wird es laut Machina Research*

1,8 Milliarden Machine-to-Machine-Internetverbindungen allein im Automotive-Umfeld geben. Laut Prognosen sollen im Jahr 2020 rund 152 Millionen Fahrzeuge über das Internet „connected“ sein. Das Auto wird selbst zum neuen IP-Knoten. Die Vernetzung bringt natürlich sehr viel mehr und einen wesentlich anspruchsvolleren Datenverkehr mit sich. Von heute 700 Exabyte, die Zahl 700 mit 18 Nullen hinten dran, wird der Datenverkehr bis 2017 auf 1.3 Zettabyte – 21 Nullen – ansteigen.

Ob OEM, Supplier oder Händler, kein Unternehmen der Automobilbranche kann sich diesem Trend entziehen. Eben deshalb lohnt es sich, sich proaktiv mit den Treibern und entsprechenden Innovationslösungen auseinanderzusetzen und rechtzeitig die Weichen zu stellen. Das Auto wird wich-tiger Bestandteil im Internet der Dinge – über das beste Netz verbunden und für den Endkunden wichtiger Teil des vernetzten Lebens und Arbeitens. Entscheidend sind eine schnelle und sichere Erhebung, Übermittlung und dynamische Verarbei-tung von großen Echtzeit-Datenmengen. T-Systems und Detecon als ICT-Partner der Automobilindustrie unterstützen bei dieser Transformation mit performanten Lösungen zu Cloud, Big Data, Collaboration sowie Mobile und ermögli-chen neue digitale Geschäftsmodelle.

DMR: In Zukunft sollen Autos auch mit der Infrastruktur – Ampeln, Verkehrsleitsysteme – kommunizieren. Inwieweit ist das überhaupt noch Zukunftsmusik oder hat sich die Branche schon darauf eingestellt?

L. G. Mauch: In Gesprächen mit unseren Kunden merken wir, dass vollautonomes Fahren ein Szenario für die weiter entfernte Zukunft ist. Derzeit liegt der Fokus der OEMs eher auf teilautonomen Konzepten außerhalb der großen Ballungszentren. Dazu gehört natürlich auch intelligente Infrastruktur. Bei Neufahrzeugen ist ab der Mittelklasse bereits jetzt schon vieles an Bord, was dafür nötig ist. Zahl-reiche Fahrzeuge besitzen bereits eine SIM-Karte, mit der eine Mobilfunkverbindung möglich ist. Zudem verfügen die Fahrzeuge über genügend Rechenleistung und elektronische Steuergeräte, um Eingriffe zu ermöglichen. Bereits jetzt können PKWs während Staus auf der Autobahn automatisch Abstand halten oder selbstständig einparken. In der Kette fehlt tech-nisch jedoch noch die Aufrüstung der Infrastruktur entlang der Straßen sowie regulatorische Richtlinien, die zum Beispiel Haftungsfragen, Datenhoheit und Datensicherheit klären.

* https://machinaresearch.com/ Internationales Beratungsunternehmen für M2M, das Internet der Dinge und Big Data

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DMR: Big Data ist ebenfalls ein großes Trendwort in der Auto-mobilbranche. Welche Daten sind für die Branche interessant? Welche konkreten Anwendungsfälle gibt es und wie aufwendig ist es, diese Daten sinnvoll zu nutzen?

L. G. Mauch: Für Staumeldungen werden heute schon verschiedene Quellen genutzt, wie Messgeräte an Autobahnen oder Meldungen durch Polizei und Privatleute. Diese Daten werden für viele Abnehmer aufbereitet und bereitgestellt, für Navigationsgeräte in Fahrzeugen und Smartphones oder dem klassischen Radio. Leider fahren wir immer noch häufig in einen Stau, weil diese Meldungen mit Verzögerungen bei uns ankommen. Im Radio erhalten sie sogar nur alle 30 Minuten eine Durchsage nach den Nachrichten. Das ist oft zu spät und man steckt für Stunden auf der Autobahn fest. Zukünftig werden wir dank Big Data unmittelbar mit der Stauentstehung direkt eine Alternativroute bekommen und damit nahezu jeden Stau umfahren. Dabei muss aber immer sicher- gestellt sein, dass die persönlichen Daten anonym bleiben und sicher sind. Hier helfen den Automobilherstellern erfahrene IT-Dienstleister wie T-Systems, die nach deutschen Daten-schutzgesetzen zertifiziert sind. Daten sind das Gold der Zukunft und wir helfen unseren Kunden dabei, Informationen aus ihren Daten zu schürfen. Die Herausforderung ist nicht die Datenbeschaffung, sondern die zeitnahe Analyse und Bereitstellung der relevanten Daten. Hier steckt viel Potenzial. Vorstellbar sind darüber hinaus auch Kooperationen mit Part-nern und die Entwicklung völlig neuer Geschäftsideen. Hier sind wir offen für Partnerschaften und suchen uns die besten Lösungen für unsere Kunden heraus, ganz im Sinne der Tele-kom-Strategie „Mit Partnern gewinnen“.

DMR: Haben sich die Anforderungen der Automobilkonzerne an Beratungs- und IT-Unternehmen durch die Zunahme der Informationstechnik geändert?

L. G. Mauch: In der Automobilindustrie reden wir schon lange nicht mehr ausschließlich über die Steuerung der Fertigungsstraße. Die Grenzen zwischen den Branchen

verschwimmen immer mehr und wir können heute keine Industrie mehr als einzeln betrachten. Industrie 4.0 ist nicht nur ein Schlagwort, es ist Tatsache, dass sich die Industrie vernetzt. Und die Erwartungen an uns sind dementsprechend hoch, dass wir diese Vernetzung professionell begleiten. Die Automobilkonzerne setzen auf unsere Expertise als Partner für die digitale Transformation, denn die IT ist Rückgrat und Differenzierungsfaktor geworden und damit für ALLE Fachbereiche beim Kunden vom Stellenwert her gewachsen.

DMR: Zum Schluss noch eine persönliche Frage: Wie sieht Ihre Vision der Mobilität in der Zukunft aus? Ist das Auto der Zukunft ein Büro oder ein Wohnzimmer auf Rädern?

L. G. Mauch: Es kommt immer auf den Einsatz an. Auf Geschäftsreisen hat man andere Ansprüche an ein Auto als auf dem Weg zum Skiurlaub. Das reine Fahren wird immer mehr in den Hintergrund treten. Das Auto hat eine Aufgabe zu erfüllen und das möglichst effektiv und selbständig. Nebenbei soll es uns unliebsame Aufgaben wie die Parkplatzsuche abneh-men und während der Fahrt Möglichkeiten zur Entspannung und Arbeit bieten. Das vernetzte Auto kommuniziert mit sei-nem gesamten Umfeld: anderen Autos, dem Fahrer, Ampeln, Herstellern und Werkstätten. Wenn dieses „Ökosystem Auto“ zusammenarbeitet, rückt das selbstfahrende Auto in greif-bare Nähe. Voraussetzung dafür ist ein schnelles und hoch-verfügbares Mobilfunknetz. Schon heute ist das LTE-Netz der Telekom mit Geschwindigkeiten von bis zu 300 Megabit pro Sekunde die Basis für digitale Geschäftsmodelle rund um das vernetzte Fahrzeug. Das Auto wird dann sowohl Büro als auch Wohnzimmer, je nachdem, wie wir es brauchen.

Das Interview führte Mark Heinrich, Partner im Bereich Automotive, Detecon International GmbH.

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Luz G. Mauch ist Senior Vice President Automotive bei T-Systems, der Großkundensparte der Deutschen Telekom. Der 45-jährige Mauch begann seine Karriere – nach dem Studium der Betriebswirtschaft am Institut für Auto-mobilwirtschaft in Geislingen/Steige – bei dem US-Riesen IBM. Hier war Mauch unter anderem im Marketing und Ver-trieb tätig und zuletzt Leiter des Geschäftsbereichs Transport und Verkehr sowie Mitglied der Geschäftsführung. Seit 2008 arbeitet Mauch für T-Systems.

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er Deutschen liebstes Kind und Spielzeug ist das Auto. Es trägt Emotionen und repräsentiert verschiedene Lebens-gefühle: mal Transportmittel, mal Hobby und Ausdruck von Individualität und Freiheit. Der Wert des Autos ist unterschied-lich zu bemessen. Doch in einem Punkt herrscht Konsens: Mehr Sicherheit ist immer gut – sicher ist sicher.

„Sicherheit“ im Wandel der digitalen Transformation

Sicherheit im Auto bedeutet, Menschenleben zu schützen. Die Weiterentwicklung der Sicherheit ist Kundenerwartung und als Ziel etabliert. Der Plan: Mehr Sicherheit durch technische Systeme und weniger Verkehrsopfer von Jahr zu Jahr. Bislang funktionierten einzelne Systeme wie ABS weitgehend autark voneinander und wurden nur verbunden, falls anders deren Funktion – zum Beispiel die geschwindigkeitsabhängige Servo-lenkung – nicht zufriedenstellend bereitgestellt werden konnte. Nun kommt das TCP/IP-Protokoll dazu, bald das Ethernet im Fahrzeug und damit Gateways, Router und Ethernet-Backbone. Datenströme und die interne Domain-Aufteilung werden aktu-ell für neue Baureihen gestaltet. Das vernetzte Fahrzeug geht als Rechner und IP-Netzwerk online.

Doch was bedeutet Sicherheit im vernetzten Fahrzeug? Wie bei jedem anderen Rechner im Netz müssen alle Datenströme

D „abgesichert“ werden. Denn: Alles, was online ist, kann auch gehackt werden! Und selbst offline folgen der Vernetzung neue Aufgaben in Punkto Sicherheit. Sicherheit im Sinne der funk-tionalen Sicherheit – Safety – ist im vernetzten Fahrzeugt nur noch in Verbindung mit IT Security möglich. Physische Sicher-heit im Auto hängt bereits jetzt von IT-Sicherheit ab, etwa von Krypto-Verfahren im Schlüssel- oder Fahrberechtigungssystem. Der Nutzer hat ein „Profil“ im Bordcomputer – wie am Rechner zu Hause. Damit ist die weltweite Lokalisierung zum Diebstahl-schutz oder die funkgesteuerte Freischaltung oder Sperrung von Funktionen Realität: Autos können per Laptop geknackt oder stillgelegt werden.

Automatisierung, Digitalisierung und Vernetzung stehen auch hinter Fahrerassistenzsystemen. Sie sollen menschliche Ent-scheidungen während der Fahrt ersetzen – umso „sicherer“ müssen sie sein. Die Chancen liegen in der Unfallvermei-dung, einer verbesserten Verkehrsführung oder Chiptuning on Demand und Serviceoptimierung.

Sicherheit ist wertvoll – aber wer bezahlt?

Die IT wird Teil des Produktes „Auto“, Fahrentscheidungen hängen von Software und Rechenpower ab. Ohne Pathos: Anders als bei E-Mails kann ein Leben davon abhängen!

Ende-zu-Ende-Sicherheit für das vernetzte Auto

Die Geister, die ich rief! Sicherheit im vernetzten Auto heißt, Safety und Security ganzheitlich zu betrachten. Neben die funktionale Sicherheit treten nun auch Fragen zum Datenschutz oder zur Abwehr von Hackern. Noch fehlt es an Konzepten, die diese Ende-zu-Ende-Sicherheit gewährleisten.

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Allerdings zeigen Sicherheitsmaßnahmen ihren wahren Wert aber erst im Notfall. Funktionale Sicherheit, wie sie Airbag oder ABS leisten, sind in ihrem Wert für den Kunden direkt spür-bar und konnten in der Vergangenheit separat bepreist werden. Zukünftig besteht Sicherheit aber aus Safety und IT Security. Das Dilemma: IT Security ist zwingend notwendig, denn die „dunkle Seite“ der Digitalisierung – Hacker und Angreifer aus dem Netz – ist durchaus real. Das Bewusstsein der Kunden über Cyber War im Auto ist jedoch noch nicht stark ausgeprägt. Ver-schiedene digitale Sicherheitsstufen mit unterschiedlichen Prei-sen sind deshalb zum heutigen Zeitpunkt noch schwer denkbar.

Betriebssicherheit, (IT-)Security, Informationssicherheit und Datenschutz müssen in Zukunft ganzheitlich betrach-tet werden. Das Zielbild der Entwicklungen, die es zukünftig „sicher“ zu gestalten gilt, ist klar: autonomes Fahren, intermo-dale Mobilität als Service, Verkehrskonzepte über Bahn, Schiene und andere Verkehrsträger steuern und lenken – auf der Basis von Daten und Informationen. Unter der Maßgabe Safety und Security, insbesondere der Abhängigkeit der Safety von Security, erfordert dies dringend Fortschritte in der bereits konzipierten und verbauten Security. Ansätze sind: > Zertifikate, Signaturen und Krypto-Verfahren je nach Kritikalität der Daten;> Dynamische Prozesse für neue zu bewertende Kritikalitäten – „Updates und Patching“ statt „Stand bei Auslieferung“;> Security by Desing mit Ausrichtung der Hardware und deren Rechenleistungen auch nach Security, Abwägung von Kosten und Gewicht gegen „Basis-Sicherheit“;> Ende-zu-Ende-Konzepte entlang der Datenströme, Privacy by Design im Sinne der informationellen Selbst- bestimmung der Kunden mit einer Lösung zum „Eigentum an Daten“; > Konzeption der notwendigen Sicherheit im Betrieb – dyna- misch, auch in den Auswirkungen auf Prozesse und Orga- nisation, nicht statisch zum Zeitpunkt der Produktion.

Physikalische Produkteigenschaften werden künftig durch digital definierte Eigenschaften überlagert. Es wäre deshalb ein Fehler, der Digitalisierung ausschließlich über Tech-nologie zu begegnen. Umfassende Ansätze integrieren alle Ebe-nen: Menschen, Organisation und Prozesse sowie Tools und Technologien. Für Hersteller und Zulieferindustrie werden Safe-ty & Security zum entscheidenden Kriterium auf der Ebene des Service- und Produktangebotes, im After Sales und damit auch in Einkauf, F&E und Fertigung.

Leistungsdaten des Autos– neu definiert

Persönliche Daten sind die Währung der Zukunft, sagt Jaron Lanier, Pionier des Internets und der Digitalisierung. Google,

Apple und viele andere machen es vor: „Predictive“ bedeutet, sich zielorientiert an einen prognostizierten Kundenbedarf zu richten. Wissen über zu erwartendes Konsumverhalten sowie künftige Kaufentscheidungen durch kontextbezogene Auswert-barkeit von Daten ist extrem wertvoll, für Anbieter ebenso wie für Hacker oder Angreifer. Dieses Spielfeld hat die Automo-bilbranche nun betreten. Kunden haben heute bereits ein Bewusstsein dafür, wie „sicher“ im Sinne der Safety ihr Auto mit den Assistenzsystemen ist. Zunehmend aber auch, wie „connected“ es ist: Welches Smartphone ist kom-patibel? Welches Infotainment ist verbaut? Wie aktu-ell ist die Software und welche Daten werden bewusst er-zeugt und gesendet? Wie viel Einfluss und Kontrolle der Mensch darauf noch hat – all dies sind digital definierte Produktmerkmale, die es im Rahmen von Bordcomputer-Soft-ware, Features und Bedienbarkeit oder Fahrzeugdiagnose-Infor-mationen zu bewerten gilt.

Aufgabe der Branche ist es nun, Transparenz darüber zu schaf-fen, wie viel „Sicherheit“ das Auto der Zukunft leistet und welche „Safety-Leistung“ von welcher „(IT-)Security-Leistung“ abhängt. Wenn personenbezogene Daten oder Bewegungsdaten erzeugt, übertragen und gespeichert werden, etwa im Rahmen der Verkehrsoptimierung, ergeben sich neue Risiken und Impli-kationen für die bestehenden Sicherheitskonzepte. Datenschutz- regulierung wird allerdings weltweit sehr heterogen gehandhabt. Die Speicherung und Übertragung von Daten ist daher nicht unbegrenzt weltweit standardisierbar. Dies bedeutet für Herstel-ler, dass Standorte und Kooperationspartner nicht frei gewählt werden können.

Zu schützen ist allerdings auch das „verbaute Know-how“: Software, spezielle Nutzungsrechte sowie die Konfiguration des Fahrzeugs, auch im Sinne der Haftung, Abwehr von Betrug und Aufklärungsfähigkeit bei Betrugsversuchen. Fatal wäre es beispielsweise, wenn einzelne Parameter der Motorsteu-erung manipuliert werden, ohne dass dies anzeigt wird, weil die Software nicht „sicher“ genug vom Hersteller in das Fahrzeug gelangt und die Kontrolle über den Fahrzeugzustand nicht mehr (nur) beim Fahrer liegt. Ist digitale Manipulation möglich, droht der Masse der Fahrzeuge gleicher Bauart eine Kostenfalle inklusive Imageschaden. Hier geht es um die Abwehr handfester kommerzieller Risiken.

„Security & Privacy by Design“ muss deshalb ebenso wie Kraft-stoffeffizienz, CW-Werte und Motorleistung ein Grundsatz der Entwicklung sein. AUTOSAR-Initiative, EVITA, EU-Daten-schutzrecht und IT-Sicherheitsgesetz in Deutschland gehen in die richtige Richtung.

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Rechtliche Rahmenbedingungen erschweren Standardisierung

Rechtssysteme in Europa sowie in anderen Teilen der Welt justieren unterschiedlich zwischen „Freiheit“ und „Sicherheit“. Anpassungen der regulatorischen Vorgaben sind bereits im Gange, etwa zur Frage des Eigentums an im Auto entstehen-den Daten. Dies hat Implikationen für die Konfiguration der Hard- und Software, Berechtigungskonzepte, den Zugriff auf Daten im Fahrzeug oder aus dem eigenen Backend des Her-stellers. Die zentralen Fragen lauten: Wie weit reicht das Recht der Selbstbestimmung des Fahrers gegenüber dem Interesse der Gemeinschaft an Verkehrsdaten zur Gesamtoptimierung des Systems über eine Plattform? Welche Daten darf (oder muss?) der Einzelne für nutzungs- und verhaltensabhängige Verträge wie Versicherungen freiwillig preisgeben, ohne am Ende durch kommerziellen Druck (oder Marktmacht?) zur teilweisen oder gänzlichen Aufgabe der informationellen Selbstbestimmung als Autofahrer gezwungen zu werden?

Im deutschen IT-Sicherheitsgesetz ist Automobilbau keine ge-nannte „kritische Infrastruktur“. Doch welche Cyber-Vorfälle müssen zukünftig gemeldet werden und von wem? Wie ist bei vollautomatisierten Assistenzsystemen die Haftung geregelt, wenn doch ein Unfall passiert? Erzeugen Videokameras im Auto

Abbildung: Informationssicherheit & Datenschutz werden Teil der Wertschöpfung. Die Konvergenz erzeugt Cyber-Risiken und erfordern E2E-Lösungskonzepte.

Quelle: Detecon

zugelassene Beweismittel? Wann greift die Produkthaftung des Herstellers oder seines Zulieferers, wenn die Software im Auto zum Fehlverhalten der Systeme – nicht des Menschen – führt?

Diese Rahmenbedingungen sind zumindest bei globaler Betrachtung nicht einheitlich geregelt und unterliegen einer eigenen Dynamik. Deutet man Sicherheit auch als Rechts-sicherheit oder Berechenbarkeit von Compliance-Risiken, ist auch dies eine wichtige Frage der Sicherheit im vernetzten Auto. In einer Ende-zu-Ende-Betrachtung werden diese Fragen bereits in der Produktentwicklung, in der Konzeption von Marktstrategien in Ländern oder Regionen und mit Konse-quenzen für Produktmerkmale und angebotenen (digitalen) Services analysiert. Für die Standardisierungsfähigkeit entste-hen hierdurch allerdings potenzielle Begrenzungen mit entspre-chenden Kosten.

Implikationen für Ende-zu-Ende-Sicherheit

Ende-zu-Ende-Sicherheit für das vernetzte Fahrzeug erfordert Ende-zu-Ende-Konzepte. Unabhängig vom Produkt ist deren Implementierung bereits eine immense organisatorische Leistung für jedes große, stark arbeitsteilig und nach Produkt-gruppen organisierte Unternehmen. Jeder Bereich hat eine

Menschen

Organisation & Prozesse

Technologien & Tools

Verhalten & Endgeräte Office-Systeme, Netzwerke

“Sichere IT”“Bewusstsein schaffen, Verhalten erzielen”

“Sichere Produktion & Services”

“Sichere Produktion & Services”

Produktionssysteme Embedded Systems

Abschreckung Minderung der Motivation /Einsicht & Erkenntnis

Prävention Minimierung von Verwundbarkeiten

Erkennung Logging, Monitoring & Resolution von Anomalien

Reaktion Strukturierte Verteidigungsmaßnahmen

Konvergenz: Connected Car, Cloud, Augmented Reality…

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andere Sicht auf Daten und Kritikalität und interpretiert des-halb den Schutzbedarf anders. Daten kennen allerdings keine Grenzen zwischen Legaleinheiten, Budgets und Organisationen, sie beachten keine internen Zuständigkeiten. Die Qualität des Gesamtproduktes wird zukünftig noch stärker vom gesamt-en Unternehmen, nicht von einzelnen Bereichen, bestimmt. Kooperation und Offenheit statt „Silos“ sind gefragt. Auch die Reaktionsfähigkeit über die gesamte Wertschöpfungskette ist relevant: Wissen um Sicherheitslücken ist besonders zeitkritisch – und potenziell imageschädlich wie eine Rückrufaktion. Die Daten Ende-zu-Ende zu betrachten bedeutet, vom Program-mierer des 3rd Tier Zulieferers über die Lieferkette bis zum ein-zelnen Steuergerät im Fahrzeug zu denken – vor, während und nach der Produktion, besonders auch im späteren Betrieb.

Für den späteren Betrieb des Fahrzeugs kann eine Art „Incident Response-Plan“ hilfreich sein. Dieser beschreibt den Patch- und Update-Prozess für Software im Fahrzeug und definiert ihn in Geschwindigkeit, Qualität und Kosten – wenn auch nicht im Stile einer CERT-Organisation (Computer Emergency Response Team für Bundesbehörden) oder einem Security Operations Center (SOC), wie es derzeit in der klassischen IT üblich ist. Erkenntnisse über Angriffe, Schemata und konkrete Verwundbarkeiten von Protokollen oder Funkstandards sind immer ein wichtiger Beitrag, um die Sicherheit für Fahrzeug und Fahrer auf digitaler Ebene den aktuellen Bedrohungen anzupassen. Und nicht nur die Automobilindustrie muss umdenken: Es gilt, von dem Paradigma des „Closed Shop“, beispielsweise bei IT-Plattformen für digital gestützte Dienste, hin zur Vorteilhaftigkeit des gegenseitigen Lernens in Fragen der „Sicherheit“ zu kommen. Die Nutzung der vorhandenen Lernkurve im Cyber War ist eine Form der Anwendung des Ende-zu-Ende-Gedankens für Safety & Security im vernetzten Auto. Sie zeigt die Konvergenz der „embedded IT“ im Auto mit der „klassischen IT“ (siehe Abbildung).

Das Fahrzeug als Frontend

Das Fahrzeug als „Frontend“ ist eine komplexe Einheit aus mehreren Endgeräten, die es abzusichern gilt. Je restriktiver man hier vorgeht, umso unkomfortabler wird das „Hand-ling“ für den Kunden. Aus diesem Grund ist ein mehrstufiges Update-Konzept denkbar, in der nach Kritikalität abgestuft wird. Diese sollte auch im laufenden Betrieb immer wieder neu bewertet werden:

> Sicherheitskritische Updates werden nur in der Werkstatt in einer sicheren IT-Umgebung über ein Kabel eingespielt, die übertragenen Daten sind verschlüsselt, Sender und Empfänger müssen sich mehrstufig authentifizieren, asymmetrische Verfah-ren und eine aktuelle Bittiefe der Verschlüsselung sind dringend

zu empfehlen – trotz der Auswirkung auf die Rechenleistung der betroffenen Komponenten und der Konsequenzen hinsicht-lich Kosten, Gewicht und Einkauf.

> Weniger sicherheitskritische Updates können auch über eine verschlüsselte und abgesicherte „Wireless“-Verbindung aufgespielt werden. Die Daten sollten verschlüsselt sein, eine einstufige Authentifizierung ist ausreichend.

> Content-Updates können auch über eine ungesicherte „Wireless“-Verbindung eingespielt werden, der Content muss nicht zwingend verschlüsselt sein. Eine einfache Authentifizie-rung ist ausreichend.

Aus Erfahrung ist zu empfehlen, öffentliche Schlüssel zu signie-ren. Das Risiko bei einer Public-Key-Infrastruktur kann sein, dass Verwaltung und Einsatz von Schlüsseln mit wachsender Anzahl unflexibel werden und zu Übergangslösungen führen, deren Verwaltung mit der Zeit aufwändiger wird als die konse-quente Umsetzung von Schlüsselsignaturen und einer Public-Key-Infrastruktur. Denn das Auto wird zu einem der komple-xesten Endgeräte auf dem Markt – bereits heute sind 50-60 Sensoren in den Premium-Modellen verbaut. Es ist abzuwägen, wie viele Risiken der Hersteller „ab Werk“ berücksichtigt und absichert und wie viel Verantwortung für Security und damit zunehmend für Safety auf den Kunden übertragen wird.

Ende-zu-Ende-Sicherheit als Differenzierungsmerkmal

Im vernetzten Fahrzeug wird das Auto selbst auf die „Hard-ware“ reduziert, die Wertschöpfung der Zukunft liegt in Soft-ware und Services. Damit rückt „Security & Privacy by Design“ in den Mittelpunkt. An Technologie fehlt es nicht. Aber an Konsequenz und zu Ende gedachten Prozessen. Der Hersteller, der als erster erkennt, dass Ende-zu-Ende-Sicherheit ein Differenzierungsmerkmal gegenüber der Konkurrenz ist und dies entsprechend konsequent umsetzt, wird einen nicht zu unterschätzenden Wettbewerbsvorteil für sich verbuchen können.

Mark Großer ist Managing Consultant und berät seit über zehn Jahren Kunden zu Coroprate Governance, Risk, Security und Compliance. Der Fokus liegt auf der Industrie, speziell der Automobilbranche, und der Ende-zu-Ende-Sicht auf Chancen und Risiken bei der Umsetzung der digitalen Transformation.

Claus Eßmann ist Managing Consultant und Experte für M2M und das Inter-net der Dinge. Er ist Mitglied des Connected Car Solution Center und berät seit mehr als 15 JahrenUnternehmen in der IT- und Telekommunikationsindustrie zu Innovationsthemen.

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Für neue Fahrerassistenzsysteme und nicht zuletzt das Zugpferd „autonomes Fahren“ wird der Informationsaustausch zwischen Fahrzeugen unverzichtbar sein. Zur Vernetzung der Fahr-zeuge untereinander stehen mit WLAN und Mobilfunk/LTE zwei alternative Technologien zur Verfügung – mit spezifischen Herausforderungen bei der Umsetzung neuer Dienste.

Mehrwert durch Vernetzung – worauf warten wir noch?

Car2X-Kommunikation

ovember 2018: Abendliche Heimfahrt über eine Neben-strecke. Nebel wabert im Scheinwerferlicht. Vor einer Kuppe warnt das Auto plötzlich seinen Fahrer – erst Sekunden später ist die Ursache zu sehen: ein Pannenfahrzeug, das die Fahrbahn blockiert.

Dezember 2018, München Innenstadt: Die Straßen sind wie immer eng mit parkenden Autos verstellt. Glücklicherweise fließt der Verkehr ganz gut und alle beeilen sich, um noch in der Grünphase die nächste Kreuzung zu schaffen. Plötzlich warnt das Auto seinen Fahrer – aus der kleinen Seitenstraße drängt ein Rettungswagen in den fließenden Verkehr. Zu sehen war er

N nicht, die Sicht war versperrt, zu hören war er auch nicht, das Radio war zu laut…

Die technologischen Voraussetzungen für diese Szenarien sind bereits geschaffen. Aber warum ist die Technologie noch nicht im breiten Einsatz?

Mehrwert durch Vernetzung

Unsere modernen Autos sind mit zahlreichen Sensoren ausgerü-stet, die Assistenzsysteme füttern. Diese wiederum warnen den Fahrer vor Gefahren und können zum Teil auch eigenständige

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Aufgaben wie das autonome Einparken übernehmen. Bislang befinden sich diese Sensoren im eigenen Fahrzeug, alle Ent-scheidungen und Aktionen müssen auf die Sicht, Reichweite und Auswertung der eigenen Sensorik aufsetzen. Genau dies zeigt aber auch die Grenzen: Entscheidungen für das Fahren mit höherer Geschwindigkeit erfordern vorausschauende Maßnah-men. In vielen Fällen ist eine solche „Weitsicht“ aus zahlreichen Gründen mit lokalen Sensoren technisch oder auch wirtschaft-lich nicht realisierbar. Viele Gefahrensituationen könnten aber entschärft werden, wenn Informationen dazu zwischen den Fahrzeugen und auch mit der Umgebung ausgetauscht werden könnten. Solch ein Informationsaustausch hat sich auch in der Biologie nach tausenden Jahren Evolution als tragfähiges Konzept zur Gefahrenminderung etabliert.

Auch die Vorstellung von autonom fahrenden Fahrzeugen, die zurzeit durch die Medien geht und die Automotive-Branche intensiv beschäftigt, setzt auf der Annahme auf, dass die Fahrzeuge sich in Zukunft über ihre Umgebung, über Wahr-nehmungen und Ereignisse austauschen können. Viele neue Anwendungen in und mit Fahrzeugen werden erst durch die ge-meinsam ausgewerteten Erkenntnisse benachbarter Fahrzeuge möglich. Hierzu zählt auch der Bereich der Schwarmintelligenz, der vollkommen neue Anwendungsbereiche erschließt. Weiter-hin bietet die Nutzung der Sensorik der anderen Fahrzeuge in der Umgebung eine gewisse Sicherheit: Störungen der eigenen Sensoren – seien es Unzulänglichkeiten wie eingeschränkte Blickwinkel, versperrte Sicht, Störungen durch natürliche Einflüsse oder böswillige Täuschungen von außen – könnten schnell im Abgleich mit den Daten aus der Umgebung erkannt und fehlerhafte Aktionen somit vermieden werden. Durch die Kombination der Sensordaten mehrerer Fahrzeuge kann zudem die Zuverlässigkeit der Situationseinschätzung signifi-kant gesteigert werden. Mit Hilfe von anderen Fahrzeugen oder Infrastrukturelementen kann das eigene Fahrzeug also praktisch „um die Ecke sehen“.

Neben der Entlastung des Fahrers können autonom fah-rende Fahrzeuge auch eine Verbesserung des Verkehrsflusses mit sich bringen. Platooning, das elektronisch gesteuerte Kolonnenfahren, erlaubt eine optimale Nutzung unserer hoch-belasteten Verkehrswege. Die Überwachung des Verkehrs und die direkte Kommunikation zwischen den Fahrzeugen lassen die Sicherheitsabstände massiv schrumpfen und die Kolonne erreicht bei relativ hoher Geschwindigkeit einen sehr hohen bis maximalen Fahrzeugdurchsatz. Nicht zuletzt sinkt auch der Kraftstoffverbrauch: Dank gleichmäßiger Geschwindigkeit und kleiner Abstände zum Vorausfahrenden werden optimale Betriebsbedingungen erreicht und der Luftwiderstand reduziert.Ohne Car2X-Kommunikation ist das wirtschaftlich kaum erreichbar.

Markteinführung von Schwarmdiensten

Während die sogenannten „Schwarmdienste“, zu denen auch die eingangs skizzierten Nutzungsszenarien zählen, einhellig positiv diskutiert werden, ist deren Markteinführung eine Herausforderung. Es gibt verschiedene Überlegungen, wie wir zu diesen Szenarien kommen können, also wie ein Schwarm initial entstehen kann. Der erfolgreiche Einsatz vernetzter Fahrzeuge und der Nutzen für den Einzelnen setzen voraus, dass andere Nutzer ebenfalls in diese Technik investiert haben. Umgangssprachlich formuliert stehen wir vor einem „Henne-Ei-Problem“: Die erfolgreiche Nutzung der Schwarmdienste setzt viele Nutzer voraus, die mit ihren Informationen die ande-ren Verkehrsteilnehmer versorgen können, aber die ersten Nut-zer müssen investieren und werden anfangs nur eingeschränkt davon profitieren, da die Verbreitung der damit ausgerüsteten Fahrzeuge noch gering ist.

Eine dazu passende Einführungsstrategie könnte beispielsweise sein, dass in dieser ersten Phase primär Dienste beworben werden, die schon bei relativ geringer Nutzerdichte erlebbar sind und somit schnell einen Nutzen demonstrieren können. Typische Vertreter solcher Dienste operieren mit ortsgebun-denen Ereignissen, die mit statischen Karteninformationen nicht abgedeckt werden können, etwa Gefahrenmeldungen von Unfall-stellen, liegengebliebenen Fahrzeugen oder Wetterphänomenen wie Glatteis und Platzregen, die eine besondere Aufmerksam-keit des Fahrers erfordern.

Soweit heute Diskussionen zur Einführung von Schwarm-diensten im großen Maßstab bekannt sind, begegnen wir einer gesplitteten Strategie bei den großen Herstellern: Sicherheits-kritische Anwendungen wie die Warnung vor Gefahren aller Art sollen herstellerunabhängig kommuniziert und verarbeitet werden können. Alle darüber hinausgehenden Applikationen, zum Beispiel im Bereich der Komfortdienste und des Info-tainments, sollen auf die eigene Herstellergruppe begrenzt werden, da sich die Firmen dadurch einen Wettbewerbsvorteil versprechen. Dieser Spagat beeinflusst natürlich auch die Über-legungen hinsichtlich der erforderlichen Infrastruktur, die für diese Dienste aufzubauen und zu betreiben ist.

Die ersten Einsatzszenarien und damit Anforderungen entste-hen im CAR 2 CAR Communication Consortium (C2C-CC), einem Zusammenschluss von Automobilherstellern, Zulieferern und Forschungseinrichtungen. Weiterführende Anwendungen werden auch innerhalb der Intelligent Transport Systems (ITS) Arbeitsgruppe bei ETSI intensiv diskutiert, welche zudem die Standardisierung in Europa durchführt.

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Die Realisierung von Schwarmdiensten kann auf zwei unter-schiedliche Arten erfolgen. Eine Variante setzt darauf, dass Fahrzeuge ihre Erkenntnisse über aktuelle Besonderheiten und Ereignisse im Straßenverkehr an ein zentrales Rechenzentrum melden, ein sogenanntes Backend. Dort werden die einge-henden Daten verarbeitet und bewertet, bevor daraus etwa eine Warnung generiert und diese an relevante Empfängerfahrzeuge gesendet wird. Man kann hierbei von einer internetbasierten Car2X-Cloud sprechen. Die andere, dezentrale Variante kommt ohne Netzwerkinfrastruktur aus, indem Daten unmittelbar per Funk mit Nachbarfahrzeugen ausgetauscht werden. Jedes Fahr-zeug wertet die erhaltenen Informationen für sich aus und leitet entsprechende Schlussfolgerungen ab, zum Beispiel eine Stau-warnung.

Abhängig von den Anforderungen der zu realisierenden Anwendung im Fahrzeug eignet sich die eine oder ande-re Variante besser. Neben der Bewältigung von technischen Herausforderungen sehen wir vor allem auch das jeweils damit verknüpfte Geschäftsmodell als ausschlaggebend für Zeitpunkt

und Umfang der Markteinführung einer Anwendung. Während einfache Dienste wie Stauwarnungen heute bereits in Form von Smartphone Apps existieren, werden komplexe Funktionen, die besonders in kritischen Verkehrssituationen den Fahrer unterstützen sollen, sowohl eine tiefergehende Integration in das Fahrzeug benötigen als auch erheblich höhere Anforderungen an das Kommunikationsmedium stellen.

Anforderungen an die Kommunikationstechnik

Das C2C-CC setzt auf IEEE 802.11p, einer neuen Variante des bekannten WLAN Standards 802.11, zur Kommunikation zwischen den Fahrzeugen. Auch Verkehrsinfrastruktur wie Lichtsignalanlagen und Wechselverkehrszeichen können mit dieser Technik in die Kommunikation eingebunden werden. Fahrzeuge innerhalb einer gewissen Reichweite bilden dabei ein sogenanntes Ad-Hoc-Netzwerk, in welchem sie untereinan-der Informationen und Nachrichten dezentral austauschen und diese auch gerichtet weitergeben können. Dafür soll ein lizenzfreies Frequenzband bei 5,9 GHz in der EU und den USA genutzt werden. Da die Reichweite der Funksignale auf diesen relativ hohen Frequenzen schnell durch das Gelände begrenzt wird, werten alle Fahrzeuge empfangene Nachrichten orts- und richtungsabhängig aus und leiten sie kooperativ weiter. Es ist leicht einzusehen, dass dieses Konzept eine ausreichende Dichte von Fahrzeugen mit Automotive WLAN-Kommunikation voraussetzt. In etwas erweiterter Sichtweite (50 bis 1000 m) braucht es einen weiteren Kommunikationspartner, damit eine Nachricht weitergegeben werden kann. Gegebenenfalls können Nachrichten auch im Fahrzeug kurz gepuffert werden, bis ein weiterer Empfänger in Reichweite kommt. Allerdings ist die kurze Latenzzeit durch die direkte Kommunikation ein nicht zu un-terschätzender Vorteil bei sicherheitskritischen Anwendungen, die oft sehr zeitkritisch sind und somit einer Pufferung ent-gegenstehen. Die Leistungsfähigkeit der WLAN-Technik in verschiedensten Netzkonstellationen ist daher Gegenstand von wissenschaftlichen Untersuchungen im Car2X-Kommu-nikationslabor des Forschungszentrums für Fahrzeugsicherheit CARISSMA an der Technischen Hochschule Ingolstadt.

Abbildung 1: Mobilfunk

BackendOEM A

Internetverbindung

Externe Datenquelle(z.B. Verkehrsüberwachung)

optionaleVernetzung

BackendOEM B

Internes Netzdes Mobilfunkbetreibers

Quelle: Technische Hochschule Ingolstadt

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Frequenzen genutzt werden, fallen für deren Nutzung und den Betrieb der Netze Gebühren an. Dienste wie die kooperative Umfeldwahrnehmung, welche wegen der Dynamik des Umfelds fortlaufend Daten austauschen müssen, würden die Mobilfunknetze übermäßig belasten und wären entsprechend teuer. Folglich wird man sich bei Mobilfunk auf Dienste mit geringerem Datenvolumen beschränken, die beispielsweise nur in besonderen Situationen wie einer Panne Daten senden.

Selbst mit dieser Einschränkung bleibt die Frage nach mög-lichen Gebührenmodellen im Raum, die Car2X-Diensten einen einfachen Start ermöglichen. Zudem arbeiten die Auto-mobilhersteller mit unterschiedlichen Netzbetreibern zusam-men. Wird hier ein nationales Roaming möglich sein, wenn im Interesse der Fahrzeugsicherheit eine garantierte Netzverfüg-barkeit notwendig ist? Wird der Fahrer künftig regelmäßig zur Kasse gebeten, wenn er Sicherheitsfunktionen nutzen möchte? Außerdem erwarten Kunden, dass die Technik ihres Fahrzeugs grenzüberschreitend und somit international funktioniert. Folglich ist nicht nur nationales, sondern auch internationales Roaming aufgrund der Kosten ein kritischer Punkt. Zudem ist

Speziell in der Einführungsphase dieser Fahrzeugdienste, die wesentlich von der langsamen Marktdurchdringung durch Neufahrzeuge bestimmt wird, wird man daher auf die normalen Mobilfunknetze zurückgreifen müssen, um zuverlässig größere Distanzen zu überbrücken. Die modernen LTE-Netze, die schon heute wesentliche Teile der Länder gut abdecken und bis in wenigen Jahren eine umfassende Versorgung mit Breit-band-Datendiensten sicherstellen, bieten sich zumindest in der Einführungsphase an. Moderne Fahrzeuge haben schon heute für ihre Infotainment-Anwendungen eine Anbindung an Mobilfunknetze, die dann auch für die Car2X-Kommunikation genutzt werden könnte. Die absehbare Weiterentwicklung der Mobilfunktechnik zu 5G enthält auch interessante Funktionen, die Einsatzfälle rund ums Fahrzeug abdecken können, zum Beispiel die geplante Device-to-Device-Kommunikation oder die Nutzung des kommenden Multicasts in LTE.

Allerdings muss sich die schnelllebige Kommunikationsindustrie auf Endgeräte einstellen, in diesem Fall Fahrzeuge, die 15 und mehr Jahre im Netz unterstützt werden müssen. Moder-ne Handys werden häufig nach anderthalb bis zwei Jahren aussortiert und durch ein besseres Nachfolgemodell ersetzt. Damit einher geht dann auch die Unterstützung der neuesten Mobilfunkstandards und Frequenzen. Ein derartiges Upgrade verbauter Technik im Fahrzeug ist jedoch unwahrschein-lich. Dennoch werden Fahrzeugbesitzer auf liebgewonnene Schwarmdienste nicht mehr verzichten wollen.

Beide Technologien – WLAN und Mobilfunk – schließen sich keinesfalls gegenseitig aus. Vielmehr spielen die infrastruktur-unabhängige, unmittelbare Ad-Hoc-Kommunikation sowie breitbandige Datennetze mit nachgelagerten Backends in kom-plementären Szenarien ihre Stärken aus.

Betreibermodelle der Zukunft

Während die Mobilfunknetze bereits heute schon einen nahezu flächendeckenden Dienst anbieten können, sind auch hier einige Aspekte zu berücksichtigen. Da für Mobilfunk lizenzierte

Quelle: Technische Hochschule Ingolstadt

Abbildung 2: pWLAN

Mobilfunk

Road Side UnitNetzwerk

Backends

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LTE-Mobilfunk:

LTE ist international die aktuelle (4.) Generation der Mobilfunknetze. LTE („Long Term Evolution“) ist die erste Mobilfunktechnik, die vollständig auf der Daten-technologie des Internets (IP) basiert. LTE-Netze sind für die schnelle, mobile Datenkommunikation entwickelt worden („Datenturbo“ mit hohen Übertragungsraten und sehr kurzen Verzögerungen).

LTE wird von den Mobilfunkbetreibern auf unterschied-lichen Frequenzbändern angeboten; im ländlichen Bereich bei 800 MHz, um große Gebiete mit schnellem Inter-net zu versorgen, und bei 1800 und 2600 MHz, um in Ballungsräumen vielen Nutzern einen schnellen Internetzugang zu ermöglichen. Somit ist kurzfristig eine sehr gute, leistungsfähige wie auch flächendeckende Versorgung zu erwarten. Wie in modernen Smartphones können die LTE-Empfangsmodule auch die anderen Mo-bilfunktechnologien benutzen, zum Beispiel 3G (UMTS / HSPA) in Gebieten ohne LTE-Abdeckung.

Car2X-Anwendungen verschiedener Fahrzeuge kommu-nizieren vorerst nur über das Mobilfunknetz miteinander, eine direkte Car2Car-Kommunikation ist aber mit den geplanten Erweiterungen der LTE-Technik (Device-to-Device Communication, Proximity Services) in der 5. Mobilfunkgeneration zu erwarten.

Für die Nutzung in Car2X-Anwendungen müssen mit den Mobilfunkbetreibern entsprechende Abkommen getroffen werden. Wichtig sind dabei anbieter- und netz-übergreifende Betreibermodelle, auch im internationalen Umfeld, da die Nutzung der Car2X-Anwendungen nicht auf ein einzelnes Netz begrenzt werden kann. Generell wird für die Nutzung von LTE aber eine Berechnung durch den Betreiber erfolgen.

In vielen modernen Fahrzeugen ist standardmäßig ein Mobilfunkmodul (mit LTE) verbaut, um während der Fahrt den Zugang zum Internet für die bekannten Info-tainment-Dienste zu ermöglichen. Auf dieser Infrastruk-tur des Fahrzeugs könnten aus technischer Sicht auch Car2X-Anwendungen aufsetzen.

Automotive WLAN:

Die Car2X-Kommunikation mittels Automotive WLAN ist als Ad-Hoc-Netzwerk (Vehicular Ad-Hoc Network VANET) organisiert, sodass Fahrzeuge unmittelbar Daten austauschen können, ohne auf weitere Netzwerkin-frastruktur angewiesen zu sein, und somit keine weiteren Kosten entstehen.

Sowohl in den USA als auch in Europa sind exklusiv Frequenzen im 5,9 GHz Band für die Ad-Hoc Kommu-nikation reserviert. Da auf beiden Seiten des Atlantiks die Modulations- und Kanalzugriffsmechanismen einheitlich durch den Standard IEEE 802.11p geregelt sind, kann identische Hardware in den Fahrzeugen für beide Märkte verbaut werden. Hinsichtlich der Software unterscheiden sich beide Systeme jedoch. So sind weder die Nachrich-tenformate noch die Mechanismen zum Verteilen dieser Nachrichten im Netzwerk identisch. Die Standardisierung der Nachrichten und Protokolle erfolgt in Europa durch das European Telecommunications Standards Institute (ETSI) unter Mitwirkung von Organisationen wie dem CAR 2 CAR Communication Consortium.

Während für die Nutzung der Funkkanäle im 5,9 GHz Band keine Kosten anfallen, sind die Hardwarekosten und nicht zuletzt die Entwicklungskosten für ein solches VANET im Vergleich zu etablierter Mobilfunktechnik höher. Mit steigender Verbreitung dieser Technik ist aller-dings auch mit fallenden Preisen für die WLAN-Hardware zu rechnen. Da ein lizenzfreies Frequenzband verwendet wird und keine Netzbetreiber involviert sind, fallen auch wesentlich geringere Kosten im laufenden Betrieb an.

Besonders für den Einsatz in der Fahrzeugsicherheit ist nach aktuellem Stand der Technik Automotive WLAN mit seinem direkten Kommunikationsweg zwischen Fahr-zeugen und den kurzen Latenzzeiten im Vorteil gegenüber Mobilfunk.

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die Frequenznutzung im Mobilfunk länderspezifisch. Heutige Smartphones unterstützen weitgehend diese verschiedenen Frequenzbänder, dennoch sind lokale Einschränkungen zu finden und geeignete Mobilfunkchips teurer als ihre Pendants, die nur weniger Bänder unterstützen.

Viele dieser Probleme erfordern eine gemeinsame, konzertierte Aktion von den Mobilfunkbetreibern, den Herstellern der Fahrzeugindustrie sowie den Regierungsvertretern und Regulie-rungsbehörden. Dies ist aktuell noch nicht erkennbar. Mit ge-eigneten Betreibermodellen muss der Komplexität der heutigen Mobilkommunikation und den zum Teil erheblichen Gebühren bei der Nutzung fremder Netze begegnet werden. Internationale Absprachen sind notwendig, damit die Dienste auch bei Fahrten ins Ausland nahtlos verfügbar sind. Für die Nutzer stellt sich dann die Frage, mit welchen Kosten die Kommunikation seines Fahrzeugs das eigene Budget belastet. Da beide Technologien orthogonale Vorteile besitzen, könnte die Ausstattung der Fahrzeuge sowohl mit 802.11p WLAN-Techniken als auch mit Mobilfunk vorgeschlagen werden. Damit profitiert man sowohl vom einfacheren Betreibermodell und freien Ressourcen als auch von der Verwendung der vorhandenen Kommunikati-onsinfrastruktur zur Behebung des geringen Nutzens für Early Adopters. Allerdings summieren sich dabei die Einbaukosten beider Komponenten und die Kosten der Betreibermodelle.

Spannende neue Anwendungen in der Zukunft

Das autonome Fahren bestimmt die Medien auf der ganzen Welt, vor allem in Zeiten der prestigeträchtigen Automotive Shows. Die CEOs namhafter Automobilkonzerne sind Stargäste auf den großen Elektronikmessen und begeistern das Publikum und die Fachpresse mit selbstfahrenden Autos. Die Realisierung dieser Vision und der konstant wachsende Individualverkehr verlan-gen eine intelligente und effiziente Kommunikation der Fahr-zeuge untereinander wie auch mit der Infrastruktur, der Cloud, um die einzelnen Erlebnisse kompetent zu bewerten und andere Verkehrsteilnehmer zu informieren und zu lenken. Während die Technik in vielen Komponenten und Konzepten greifbar ist, sind noch große Anstrengungen bei allen Beteiligten erforder-lich, um weltweit geeignete Betreiber- und Betriebsmodelle zu finden und zu etablieren. Kreative Ideen sind gefragt, um die Verbreitung und Nutzung der vielversprechenden Kommuni-kation von Fahrzeugen zum Wohl aller in die Breite des Markts zu bringen. Typische Einführungshürden – wenige Nutzer und teure Technik führen zu geringer Verbreitung und resultierend geringem Kundenmehrwert – müssen mit strategischer Weit-

Prof. Dr. rer. nat. Christian Facchi ist seit 2004 Forschungsprofessor für eingebettete und vernetzte Systeme an der Technischen Hochschule Ingolstadt. 2011 übernahm er die wissenschaftliche Leitung des zentralen Forschungsinstituts der Hochschule Ingolstadt (ZAF). Er forscht im Bereich Fahrzeugsicherheit an Themen der Car2X-Kommunikation. Zuvor war er in der Entwicklungs- abteilung für Mobiltelefone bei Siemens tätig.

Prof. Dr.-Ing. Ernst-H. Göldner hat die Entwicklung der Breitbandkommu-nikation bei Siemens und später Nokia über viele Jahre intensiv begleitet. Seit 2013 arbeitet er an der Technischen Hochschule Ingolstadt als Professor für technische Informatik und Kommunikationsnetze.

Raphael Riebl forscht an der Technischen Hochschule Ingolstadt seit Oktober 2013 im Bereich vernetzter Fahrzeuge. Sein Schwerpunkt liegt auf Leistungs-bewertungen und Tests für Car2X-Kommunikation auf Basis von Automotive WLAN/IEEE 802.11p.

sicht umgehend angegangen werden. Bei der Bedeutung der Automotive-Industrie in Deutschland einerseits und der Sicherheit im Straßenverkehr andererseits wären öffentliche Programme zur Unterstützung der Einführung ein volkswirt-schaftlich kluger Weg.

Wenn auch diese Hürde genommen ist, wird sich eine Viel-zahl von technisch neuen Lösungen ergeben. Im Bereich Fahr-zeugsicherheit und auch Fahreffizienz ist enormes Potenzial zu erwarten. Trotz aller bisher gelösten Probleme kann im Fahr-zeugsicherheitsbereich mit spannenden neuen Anwendungen und Forschungsthemen gerechnet werden, denen an der Tech-nischen Hochschule Ingolstadt im Forschungsbau CARISSMA, dem Forschungszentrum für Fahrzeugsicherheit, nachgegangen wird (www.carissma.eu).

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Wie autonomes Fahren zum nachhaltigen Erfolg wird

„Hände weg vom Steuer!“

Autonomes Fahren ist in Deutschland angekommen und genießt große Aufmerksamkeit. Doch Erfolgsfak-toren und Ökosystem unterscheiden sich von den klassischen automobilen Innovationen. Autonomes Fahren hat das Potenzial, den Automobilmarkt in den kommenden beiden Dekaden nachhaltig zu revolutionieren – und so könnte es eine der größten disruptiven Innovationen seit der Einführung des Automobils selbst sein.

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Autonomes Fahren, also das selbstständige Fortbewegen von Fahrzeugen, ist derzeit in aller Munde. Ob sich Bundes- verkehrsminister Alexander Dobrindt PR-wirksam hinter das Lenkrad einer autonom fahrenden Luxuslimousine setzt, Serienfahrzeuge alleine über Rennstrecken düsen oder aber selbstfahrende LKW deutscher Hersteller über die Straßen Nevadas donnern – Deutschland holt auf. Nahezu alle großen deutschen Automobilhersteller beschäftigen sich mittlerweile mit diesem Thema. So erforscht beispielsweise Volkswagen mit dem „intelligent Car“ – dem iCar – Fahrsituationen, in denen automatische Abläufe den Fahrer sinnvoll unterstützen können, und Daimler testet neben LKW in Nevada auch in Deutschland mit dem S 500 Intelligent Drive, wie eigenständig autonom fahrende Fahrzeuge wirklich agieren können.

Der Kunde als Erfolgsfaktor

Damit jedoch autonomes Fahren zu einem Erfolgsgaranten für die Automobilindustrie und vor allem die Automo-bilhersteller wird, müssen verschiedene Faktoren beachtet werden. Hierbei stellt sich insbesondere die Frage, inwieweit einzelne, alt bewährte Industriestrukturen und Geschäfts-modelle dazu in der Lage sind, dem Fahrer – also dem Kunden von Automobilherstellern und Mobilitätsanbietern – signifikante Mehrwerte bereitzustellen. Automobilhersteller sollten sich also nicht nur mit technischen, regulatorischen oder datenschutzrechtlichen Fragestellungen auseinanderset-zen, sondern vielmehr der Frage nachgehen, welche Vorteile für den Passagier autonom fahrender Fahrzeuge entstehen. Die Frage lautet schlicht: > Wie sieht die „Unique Selling Proposition“ autonom fahren-der Fahrzeuge aus?

Um dieser Frage nachzugehen, sollten sich Automobilhersteller vor allem mit den folgenden drei Aspekten befassen, die aus Sicht von potenziellen Kunden beim autonomen Fahren im Vordergrund stehen.

Sicherheit

Autonom fahrende Fahrzeuge versprechen, die Verkehrs-sicherheit zu erhöhen. Teilautonom fahrende Fahrzeuge sind durch Fahrerassistenzsysteme bereits heute dazu in der Lage, einen bestimmten Mindestabstand zum Vordermann einzu-halten, in Gefahrensituationen aktiv mit zu bremsen oder auch Ausweichmanöver eigenständig durchzuführen. Voll-ständig autonom fahrende Fahrzeuge können dabei den

„Unsicherheitsfaktor“ Mensch weiter minimieren. Doch inwieweit wollen sich Fahrer das Lenkrad komplett aus der Hand nehmen lassen? Wann muss, wann kann, wann möchte der Fahrer selbst eingreifen? Kann ein „Autonomic- Modus“ ähnlich wie ein Tempomat dazu geschaltet werden? Bei welchen Nutzergruppen und in welchen Baureihen er-scheinen solche Zusatzoptionen sinnvoll? Werden Fahrer nach wie vor die Fahrzeug-Automatik durch eigenes Eingreifen au-ßer Kraft setzen können, oder wird das Fahrzeug in gewissen Situationen autonom in das Fahrverhalten des Fahrers eingrei-fen können? Die Beantwortung dieser Fragen sowie die Auf-klärung potenzieller Nutzer über die Vorteile von autonom fahrenden Fahrzeugen sind dabei für die Automobilhersteller essenziell.

Zeit- und Effizienzgewinn

Die Automobilhersteller, die sich mit autonomem Fahren beschäftigen, sind sich weitestgehend darüber einig, dass man als Fahrer die Zeit, während der das Fahrzeug das Fahren über-nimmt, besser nutzen kann: Ob entspanntes Dahingleiten im hektischen Verkehr, das Schreiben von E-Mails oder auch die intensive Nutzung des Smartphones während der Reise von A nach B – alles scheint denkbar. Autonom fahrende Fahr-zeuge sind dazu in der Lage, diese neu gewonnene Zeit mit der unschlagbaren Flexibilität von Automobilen zu verbinden, denn anders als bei öffentlichen Verkehrsmitteln müssen keine Fahrpläne beachtet werden. Dabei ist es für Automobilhersteller jedoch wichtig zu verstehen, wie konkret die unterschiedlichen Fahrertypen die nun zur Verfügung stehende Zeit nutzen werden – und welche Features in den Fahrzeugen hierfür be-nötigt werden. Werden überhaupt noch fest installierte Mul-timedia-Devices benötigt? Oder gilt die Devise: „Bring your own device“, da das Smartphone während des „Autonomic-Modus“ ohnehin intensive Nutzung erfährt? Doch wie schaf-fen es Automobilhersteller dann, die intensiven Smartphone-Nutzer an das eigene Marken-Ökosystem zu binden? Wird es für Automobilhersteller unumgänglich, eigene Applikationen auf den Markt zu bringen, die eine Bindung des Kunden an die Marke forcieren? Wie sehen Mehrwert-bringende Use Cases für solche Applikationen aus? Wie können diese neuen Angebote den Use Case autonomes Fahren sinnvoll ergänzen?

Intermodale – autonome - Mobilität

Die Fragen nach dem „Wer?“ und „Wie?“ des autonomen Fahrens spielt auch hinsichtlich der sich wandelnden Mobilität eine große Rolle. Das Thema intermodale Mobilität, also die

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Nutzung unterschiedlicher Transportmittel, ist dabei besonders im urbanen Umfeld von Bedeutung, wodurch sich auch neue Potenziale für Automobilhersteller erschließen lassen. Die Verbindung von Carsharing-Konzepten und selbst fahrenden Fahrzeugen könnte einer der größten Trends im Automobil-bereich werden, da sich die Vorteile beider Welten synergetisch miteinander verbinden lassen: Zeitgewinn und Steigerung der Effizienz auf der einen Seite sowie die völlig flexible Nutzung von Fahrzeugen „on demand“ auf der anderen Seite.

Autonomes Fahren bietet dabei die Chance für Automobilhersteller, neben dem klassischen Verkauf von Fahrzeugen immer mehr zum Mobilitätsanbieter zu werden. So könnte man sich Carsharing-Fahrzeuge zukünftig „on de-mand“ reservieren, so dass diese eigenständig den Weg vor die eigene Haustür finden. Hierdurch könnten auch junge Käu-fergruppen frühzeitig an die jeweilige Marke und das Marken-Ökosystem gebunden werden. Das würde junge Mobilitäts-nachfrager bereits früh für die Innovationskraft der eigenen Marke sensibilisieren, um sie in späteren Lebensphasen dazu zu motivieren, ein Fahrzeug der eigenen Marke zu erwerben. Diese Schaffung eines ganzheitlichen Mobilitätsangebotes für jede Käufergruppe könnte für Automobilhersteller zu einem echten Wettbewerbs- und Positionierungsvorteil werden – und somit zu einer echten „Unique Selling Proposition“.

Autonomes Fahren als Wettbewerbsvorteil nutzen

Autonomes Fahren bietet großes Potenzial, darin sind sich alle Experten einig. Viele Umfragen und Studien haben sich bereits mit dem Thema beschäftigt, meist mit der mehr

oder minder vorhersagbaren Erkenntnis, dass die Proban-den solcher Studien prinzipiell die Bereitschaft signalisieren, autonom fahrende Fahrzeuge zu kaufen. Die wesentliche Frage lautet jedoch, welche Formen des Konzeptes vom eigenstän-dig fahrenden Fahrzeug sprechen welche Käufergruppen an? Die Herausforderung für Automobilhersteller besteht darin, herauszufinden, welche wirklichen Vorteile autonomes Fahren bietet. Potenzielle Kunden müssen nicht nur vom Nutzen eigenständig fahrender Fahrzeuge überzeugt werden, sondern auch langfristig an ein besonderes Mobilitätserlebnis – und somit an die eigene Marke sowie das Marken-Ökosystem – gebunden werden. Dabei sollte die Passung mit dem eigenen Branding oberstes Gebot sein, um die verschiedenen Käufer-gruppen mit dem richtigen Mobilitätsangebot zu versorgen. Nur durch eine solche Positionierung können es Automobil-hersteller schaffen, sich von Wettbewerbern abzugrenzen.

Die Automobilhersteller stehen dabei vor der großen Chance, eine der größten Revolutionen des Fahrens seit der Einführung des Automobils als echten Wettbewerbsvorteil zu nutzen. Ging es in den vergangenen Jahrzehnten beim Automobil um Dynamik, Sportlichkeit, Komfort, Status, Platzangebot, Kraft oder auch Zuverlässigkeit, geht es beim autonomen Fahren nun vor allem um die Frage, wie ich von A nach B komme und was Fahrer während dieser Zeit tun können. Es geht um Mobi-lität im klassischen Sinne. Mit dem autonomen Fahren werden Fahrzeuge plötzlich wieder auf das reduziert, wozu sie erschaf-fen wurden: als Fortbewegungsmittel. Die Automobilbranche sollte diese Chance nutzen und sich fragen, wie sie neben der Produktion von Fahrzeugen ein ganzheitliches Mobilitäts- erlebnis für alle Käufergruppen erlebbar machen können.

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Auch Detecon beschäftigt sich aktuell intensiv mit diesen Fragestellungen. Dabei gehen wir aktuell in einer Studie der Frage nach, welche Vorteile potenzielle Käufer wirklich mit dem Thema autonomes Fahren assoziieren und wie sich hie-rauf ihr potenzielles Nutzungs- und Kaufverhalten auswirkt. In Kürze werden wir Ergebnisse aus dieser Endkonsumenten-befragung veröffentlichen.

Dr. Stefan Gladbach beschäftigt sich mit digitalen Geschäftsmodellen rund um das vernetzte Leben mit dem Schwerpunkt auf Connected Car. Ihn beschäftigt vor allem die Frage, wie große Konzerne innovative Themen dynamisch und agil vorantreiben können – und dabei über den Tellerrand hinaus denken.

An dieser Stelle sei Lars Richter gedankt, der als Masterand bei Detecon das Thema autonomes Fahren aus einer Endkonsumenten-Perspektive erforscht und an der Erstellung dieses Artikels mitgewirkt hat.

Sie sind an der Studie interessiert? Dann registrieren Sie sich jetzt unter [email protected]!

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“Young man, that’s the thing; you have it. Keep at it. Electric cars must keep near to power stations. The storage battery is too heavy. Steam cars won’t do, either, for they require a boiler and fire. Your car is self-contained – carries its own power plant – no fire, no boiler, no smoke and no steam. You have the thing. Keep at it.” Thomas Edison zu seinem Angestellten Henry Ford auf der Jahrestagung der Edison Illuminating Company in New York im Jahre 1896.

Connected Car und die Shareconomy: Zwei Szenarien für die Automobilitätsbranche

Geschäftsmodelle für Übermorgen

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Bereits vor über hundert Jahren befand sich die Automobil- industrie in einer Phase des technologischen Umbruchs. Zu Beginn der Industrieentwicklung stand die Frage des Domi-nanten Designs in der Antriebstechnologie im Mittelpunkt. Die ablehnende Einschätzung der Elektromobilität aufgrund zu schwerer Batterien und dem Mangel an Stromquellen würde Thomas Edison aus heutiger Perspektive sicherlich revidieren. Die Automobilindustrie befindet sich nach über hundert Jahren der Dominanz von Verbrennungsmotoren erneut in einer Phase des Umbruchs: Die Elektromobilität wird kommen, die Frage ist lediglich, in welchem mittel- bis langfristigen zeitlichen Horizont. Es befinden sich aber nicht nur die Antriebstechnologien in einem radikalen Wandel, sondern auch die etablierten Geschäfts-modelle. Eine zentrale Rolle in den zukünftigen Geschäfts- modellen werden Informations- und Kommunikationstechno-logien spielen.

Auslöser dieses grundlegenden Wandels sind umfassende gesell-schaftliche und technologische Transformations- und Verände-rungsprozesse, die man auch mit dem Schlagwort Megatrend

etikettiert. Mindestens fünf für die (Auto-)Mobilität relevante Megatrends sind zu identifizieren:

> Umwelt- und Ressourcenschutz, insbesondere auch Dekar- bonisierung;> Demographischer Wandel, in der Triade vor allem der Zuwachs älterer Bevölkerungsgruppen;> Urbanisierung und das Entstehen von Megacities und städ- tischen Agglomerationsräumen;> Steigender Mobilitätsbedarf auch in BRIC-Staaten;> Individualisierung des Konsums weg von standardisierten Massenprodukten;> Shareconomy, weg vom Besitz und hin zum Teilen und Nut- zen von Gütern.

Diese Megatrends bilden den Nährboden für innovations-treibende Faktoren, zu denen die Veränderung von Kunden- bedürfnissen, die Konvergenz von Branchen – Fahrzeugindu-strie, Mobilitätsdienstleistungen, Energiewirtschaft, IT-Branche – und der Eintritt neuer und branchenfremder Akteure in die

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Automobilitätsindustrie zählen. Diese Innovationstreiber erzwin-gen auf lange bis mittlere Frist eine Neuausrichtung der gesam-ten Automobil- und Zulieferbranche und bedingen tiefgreifen-de Veränderungen in den Geschäftsmodellen. Insbesondere die traditionellen Geschäftsmodelle der Automobilhersteller geraten in Anbetracht des Übergangs zur Elektromobilität und den skizzierten Innovationstreibern zunehmend an ihre Grenzen und bedürfen einer strategischen Neuausrichtung.

Die Neuausrichtung betrifft die zentralen Gestaltungsparameter der Geschäftsmodelle: einerseits den Kern der Wertschöpfung und den Kundennutzen (Value Proposition) und andererseits die Konfiguration der Wertschöpfungskette (Value Chain Configu-ration) sowie die Erlösmodelle der Unternehmen. In der Value Proposition werden sich die Akteure in der Automobilindu-strie weg bewegen von den klassischen produktorientierten Konzepten hin zu serviceorientierten Geschäftsmodellen, die sich konsequenter an den Kundenbedürfnissen orientieren. Im Rahmen dieser Entwicklung wird das Fahrzeug in ganz-heitliche Bündel von Mobilitäts- sowie Informations- und Kommunikationsdienstleistungen integriert. Für die Kon-figuration der Wertschöpfungskette bedeutet dies, dass sich durch den Eintritt von Dienstleistern die Schwerpunkte des klassisch produktgetriebenen Geschäfts „downstream“ verschieben werden.

Dass ein solcher Wandel stattfinden wird, ist unbestritten. Offen ist nur, mit welcher Geschwindigkeit und Radikalität er statt-findet. Nachfolgend werden für die Triadeländer zwei extreme und polare Szenarien für das Jahr 2030, also für übermorgen, diskutiert und daraus die Rolle der Vernetzung des Fahrzeugs und komplementärer IT-Dienstleistungen abgeleitet:

Konservatives Szenario: Disruptiver Wandel bleibt aus und Connected Car bleibt peripher

An der Kernwertschöpfung und der Value Proposition ändert sich auf längere Frist erst einmal nichts. Das Fahrzeug bleibt für die meisten Kunden Teil des persönlichen Lebensraumes, den man ungern mit Fremden teilt. Der Fahrzeugbesitz bleibt also wichtig, auch weil das eigene Fahrzeug als Statussymbol dient oder identitätsstiftend wirkt. In diesem konservativen Szena-rio bleibt der Mehrwert durch Mobilitäts- und Kommunika-tionsdienstleistungen begrenzt. Intermodale Mobilitätsdienst- leistungen kämpfen mit Schnittstellenproblemen, und die Ver-netzung des Fahrzeugs und daran gekoppelte IT-Dienste liefern keinen signifikanten Nutzen und Mehrwert. Dies liegt unter an-derem auch daran, dass sich die Hersteller, die nach wie vor ihre eigene IT-Systemarchitektur im Fahrzeug kontrollieren, nicht auf einen gemeinsamen Standard einigen können. Diese mangelnde Vernetzung der Fahrzeuge ist auch ein Grund dafür, dass sich im

konservativen Szenario der Übergang zur Elektromobilität nur sehr langsam vollzieht. Schätzungen der Universität Duisburg von 2013 gehen davon aus, dass bis 2030 nur etwa 25 Prozent der Fahrzeuge reine Elektrofahrzeuge sein werden. Dies ist auch auf technische Defizite zurückzuführen: Defizite in der Lade-infrastruktur wie mangelnde Kapazitäten, Gebietsabdeckungen sowie Ladegeschwindigkeiten und zu langsame Entwicklungs-fortschritte in der Batterietechnik. Die Anschaffungskosten für Elektrofahrzeuge bleiben in diesem Szenario auch Übermorgen noch zu hoch. Es bestehen Reichweiten- und Flexibilitätsdefi-zite – eben auch wegen der nicht vorhandenen Vernetzung. In diesem konservativen Szenario bleibt die Grundkonfigurati-on der Wertschöpfungskette im Wesentlichen unangetastet. Zwar können sich Hersteller von E-Fahrzeugen wie Tesla in den Marktsegmenten für Elektromobilität etablieren und auch branchenfremden Akteuren wie Apple mit dem iCar oder Goo-gle gelingt der Markteintritt in urbane Nischen, die marktbe-herrschende Stellung der OEMs bleibt jedoch unangetastet. In der Wertschöpfungskonfiguration des konservativen Szenarios gewinnen Dienstleistungen an Bedeutung, jedoch sind diese überwiegend an das Fahrzeug gekoppelt. Auch IT-Dienste blei-ben auf das Fahrzeug beschränkt – eine integrierte und intermo-dale Vernetzung findet nicht statt. Der Spielraum für Fahrzeug-IT-Anbieter ist begrenzt.

Disruptives Szenario: Service Transition & Shareconomy

In diesem Szenario ändern sich Kernwertschöpfung und Value Proposition grundlegend. Die Bedeutung des Fahrzeugbesitzes rückt in den Hintergrund. Für die meisten Fahrzeugnutzer reicht ein temporärer Zugang – Share oder Pay-per-Use – zu Fahrzeugen aus, die Inanspruchnahme von (Auto-)Mobilitäts-dienstleistungen verdrängt das Fahrzeugeigentum. Das Schlag-wort „Shareconomy“ beschreibt dieses Grundprinzip des Teilens und gemeinsamen Nutzens. Bei den Wertschöpfungskonzepten in der Shareconomy konkurrieren zwei Modelle: Car-Sharing als B2C-Angebot, welches von profitorientierten Unternehmen angeboten wird, versus Crowdsharing-Konzepte (C2C), bei de-nen private Anbieter ihre Fahrzeugmobilität mit anderen Nut-zern teilen. Letzteres basiert auf „Peer-to-peer“-Plattformen, die private Anbieter und private Nachfrager zusammenführen. Grundlage für beide Modelle ist aber die Fahrzeugvernetzung. In Ergänzung zu den Carsharing-Diensten blühen nicht nur fahrzeuggebundene, sondern auch zunehmend fahrzeugun- gebundene Dienstleistungen auf. Dabei handelt es sich nicht nur um intermodale Mobilitätsdienstleistungen, sondern vor allem auch um Informations- und Kommunikationsdienstleistungen rund um das vernetzte Fahrzeug. IT-Dienste stehen im Zentrum der Wertschöpfung und ermöglichen flexible und intermodale Mobilität und sogar autonome Automobilität (autonomes Fahren). Im disruptiven Szenario dominieren Elektrofahrzeuge

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Prof. Dr. Michael Stephan ist Inhaber des Lehrstuhls für Technologie- undInnovationsmanagement sowie Leiter der Forschungsstelle Strategie, Innovation und Wettbewerb an der Philipps-Universität Marburg.

Thomas Schaper ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Technolo-gie- und Innovationsmanagement der Philipps-Universität Marburg.

– die zunehmende Fahrzeugvernetzung wirkt sich insbesondere positiv auf die Diffusion der Elektromobilität aus. Aber auch leistungsfähige Batterien und die verbesserte Ladeinfrastruktur schaffen Akzeptanz. Die Konfiguration der Wertschöpfungsket-te verändert sich in diesem disruptiven Szenario grundlegend. Die Dominanz der etablierten Fahrzeughersteller (OEM) ist ge-brochen. Die alten „Platzhirsche“ Audi, BMW, Daimler & Co. befinden sich „im Zangengriff“ neuer Akteure und besetzen nur noch ausgewählte Marktsegmente oder Nischen. Die Herstel-ler von Elektrofahrzeugen etablieren sich erfolgreich in breiten Marktsegmenten und auch branchenfremden Akteuren aus der IT-Branche wie Google oder Apple gelingt der Markteintritt – nicht nur in Nischen, sondern vor allem in den rapide wachsen-den Marktsegmenten der urbanen Mobilität. Dies erklärt sich in diesem Szenario auch dadurch, dass Dienstleistungen stärker in den Mittelpunkt der Wertschöpfung rücken. Infolge des Über-gangs zur Shareconomy gewinnen ferner Maklerdienste (B2C sowie C2C) weiter an Bedeutung – siehe Uber und BlaBlaCar – die auf Basis der zunehmenden Vernetzung der Fahrzeuge und dem Durchgriff auf viele Nutzer und Fahrzeuge auch Plattformen für ergänzende Informations- und Kommunikationsdienst- leistungen haben werden. In diesem Szenario werden Informa-tions- und Kommunikationsdienstleistungen eine zentrale Rolle spielen und die Akteure aus der IT-Branche – Apple, Google & Co. – eine marktbeherrschende Stellung erlangen.

Abschließende Bewertung der Szenarien zur Bedeutung von Connected-Car-Lösungen

Die zukünftige Bedeutung des vernetzten Fahrzeugs und die Rolle von Informations- und Kommunikationsdienstleistungen in der Automobilität hängen von zahlreichen Treibern ab. Die beiden Szenarien, das konservative und das radikale Szenario, beschreiben zwei extreme und entgegengesetzte Entwicklungsverläufe bezüglich dieser Innovationstreiber. Welches der beiden Szenarien erscheint wahrscheinlicher? Unbestritten in beiden Szenarien ist der beschriebene Übergang zur Elektromobilität, lediglich die Geschwindigkeit des Übergangs ist fraglich. In jedem Fall steht die Fahrzeugvernetzung mit der Elektromobilität in einem symbiotischen Zusammenhang. Nur die Fahrzeugvernetzung kann eine flexible Nutzung der Ladeinfrastruktur ermöglichen, zugleich rückt die Elektromobilität das „Connected Car“ stärker in das Zentrum. Auch die Verlagerung des Wertschöpfungs-schwerpunktes hin zu Dienstleistungen gilt in beiden Szenarien für Übermorgen als gesichert. Im Zuge des Bedeutungszuwachses von Dienstleistungen steigt auch die Relevanz der Fahrzeug- vernetzung und IT-Dienste. Während im konservativen Szenario jedoch IT-Dienste primär fahrzeuggebunden sind (Navigation, Internetzugang, Multimedia) und die Hersteller hier proprietäre Lösungen verfolgen, räumt das disruptive Szenario der Fahrzeug-vernetzung und den IT-Dienstleistungen eine zentrale und wert-

schöpfungstreibende Rolle ein. Kehrt man die Argumentation in diesem Zusammenhang um, so können die Fahrzeugvernetzung und daran gekoppelte IT-Dienste die Entwicklungsszenarien maßgeblich (mit)beeinflussen.

Prof. Dr. Michael Stephan ist Inhaber des Lehrstuhls für Technologie- undInnovationsmanagement sowie Leiter der Forschungsstelle Strategie, Innovation und Wettbewerb an der Philipps-Universität Marburg.

Thomas Schaper ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Technolo-gie- und Innovationsmanagement der Philipps-Universität Marburg.

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Autokonzerne transformieren zu Mobilitätsunternehmen. Innovation Hacking ist der Schlüssel, um die richtigen Geschäftmodelle zu entdecken. Nick Sohnemann, Gründer und Managing Director von FUTURECANDY, wagt mit seinem Team einen Report aus der Zukunft.

Die Zukunft der Automobilbranche

Das Auto ist tot – es lebe die Mobilität!

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A Drei große Entwicklungen im Zuge der digitalen Transformation wirken jetzt allerdings diesen ursprünglichen Erfolgsfaktoren entgegen und setzen das traditionelle Geschäftsmodell unter Druck:

1. Automatisierung der Steuerung: Selbstfahrende Autos werden den Nutzer „befreien“. Die klassische Autofahrt wird zur Taxifahrt, unabhängig, individuell und ohne Fahrer. Autos werden Nutzern die Vorteile der Mobilität bieten, ihnen aber gleichzeitig die Last des Fahrens nehmen.

2. Mobilität wird wichtiger als Besitz: Der Besitz eines Autos birgt Ballast. Die versprochene Wirkung der Abgrenzung und persönlichen Aufwertung tritt nicht mehr ein. Denn das Auto ist zu einer Commodity verkommen. Außerdem stehen Parkplatzsuche und Staus im Widerspruch zu dem Versprechen von Freiheit und Unabhängigkeit. Das eigentliche Leistungsversprechen des Autos ist aus dem Fokus geraten. Neue Geschäftsmodelle wie Carsharing und smarte digitale Ser-vices lösen dieses Problem: Denn es geht ja nicht nur um das Autofahren – es geht um das große Thema MOBILITÄT.

3. Das Auto wird zur digitalen Plattform: In Zukunft lässt sich in der Automobilindustrie vor allem damit Geld verdienen, die Zeit, die ein User im Auto verbringt, in Geld umzuwandeln. Somit geht es um Contentvermarktung, Werbevermarktung und Zusatzfunktionen. Das Auto wird zu einer neuen digitalen Plattform, ähnlich wie es das Smartphone heute ist. Sie bieten Potenzial als Abspielstation für personalisierte Inhalte und Zusatzangebote für die Nutzer.

utos werden in Zukunft nicht mehr Autos genannt. Wir kennen dieses Phänomen schon aus der Telekommunika- tionsbranche: Das Wort Handy verschwindet aus dem Sprach- gebrauch und wird durch „Smartphone“ ersetzt. Genauso wird es dem Begriff des Autos ergehen. Das, was wir heute noch als Auto bezeichnen, wird in Zukunft ein fahrender, smarter Com-puter sein. Ganz nach dem Motto: Das Auto ist das Smartphone der Zukunft! Autokonzerne müssen sich auf eine neue Form der Wertschöpfung vorbereiten. Es geht nicht mehr um die Hard-ware – das Auto selbst –, sondern um die digitalen Möglich-keiten und Inhalte.

Diese Entwicklung wird als digitale Transformation bezeich-net und ist die größte Umwälzung der Automobilbranche. Das Problem für viele etablierte Player im Markt: Die Erfolgs-faktoren der Vergangenheit werden durch die Digitalisie-rung zum Nachteil. Autokonzerne müssen sich also verän-dern. Es ist abzusehen, dass nicht alle heutigen Player diesen Wandel überleben werden. Nur diejenigen, die sich trans-formieren und an neue Geschäftsmodelle wagen, werden es schaffen. Dafür sind neue Denkweisen und Innovations-methoden notwendig – zum Beispiel Innovation Hacking. Erfolgsfaktoren werden zu Sargnägeln

Das Auto ist unumstritten eine der größten Erfindungen der Menschheit. Nicht umsonst hält der Siegeszug dieser Techno-logie an. Autos sind Ausdruck vermeintlicher Unabhängigkeit, Mobilität sowie Statussymbol und prägen das Bild unserer Infrastruktur und Großstädte.

Wir sehen drei Hauptgründe, die für den Erfolg des Automobils verantwortlich sind: 1. Unabhängigkeit: Autos sind flexibel einsetzbar. Autofahrer gehen davon aus, dass sie mit dem Auto bequemer und schneller ans Ziel kommen.2. Status: Autos haben schon immer etwas über den Fahrer ausgesagt. 3. Absatzorientiertes Geschäftsmodell: Autokonzerne haben vor allem damit Geld verdient, Fahrzeuge zu designen und die Technik weiterzuentwickeln.

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Um in diesem Marktumfeld erfolgreich zu sein, müssen Au-tomobilkonzerne sich neu erfinden. Denn zum einen wird der Wettbewerb intensiver: Ambitionierte Tech-Konzerne aus Kalifornien drängen auf den Markt. Apple beispielsweise sieht sich gerade offiziell nach Partnern um, die ein elektrisch ange-triebenes selbstfahrendes Auto bauen, Google arbeitet heute schon in seinen X Labs an einem eigenen selbstfahrenden Auto, Tesla hat im Juni 2015 ein eigenes autonom fahrendes Auto für 2018 angekündigt. Zum anderen verändert sich der Kern des Geschäftsmodells, denn das Geld wird in der Automobil- branche zukünftig nicht mehr mit dem Verkauf von Autos ver-dient, sondern mit dem, was User während der Fahrt machen. Oder mit individuellen Zusatzdiensten. Diese Branchenverän-derung konnte man bereits in der Luftfahrt beobachten: Viele Airlines verdienen heute nicht mehr an den Tickets selbst, sondern an verschiedenen Sonderdiensten.

Der Wachstumsmarkt „Auto“ hat also zumindest in der westlichen Welt ausgedient, neue Mobilitätskonzepte drän-gen nach vorne und werden den gesamten Mobilitätsbereich stark fragmentieren. Gerade entstehen neue Konzepte wie der Hyperloop, eine schnelle Tunnelbahn, die irgendwo zwischen Flugzeug, Bahn und Auto anzusiedeln ist. Für das Verständnis der Unternehmen aus der Automobilbranche bedeutet das, dass sie sich künftig als Mobilitätsunternehmen definieren müssen, deren Wertschöpfungskette sich um den Transport von Men-schen, Waren und Werten dreht. Mehr noch: Autokonzerne werden zu schnell agierenden Software- und Technologieunter-nehmen! werden. Das hat handfeste Konsequenzen: Weniger Maschinenbau und mehr Programmierung ist die Devise, der Produktion von Autos wird der schnelle Tech-Lebenszyklus auf-oktroyiert, die Hardware – das Auto – ist nur noch das Mittel zum Zweck, um die Plattform an den Nutzer zu bringen.

Was tun? Innovation Hacking – eine neue Herangehensweise ist die Lösung!

Erfolgreiches Innovieren scheint die einfache Antwort auf diese Frage. Wenn Märkte sich verändern, müssen Innovationen her, sonst verlieren Unternehmen den Anschluss. Allerdings gibt es viele Denkfehler, gefährliches Halbwissen und veraltete Innova-tionsmethoden. Die digitale Transformation erfordert eine neue Herangehensweise. Wir nennen es Innovation Hacking.

Innovation Hacking vereint die Grundsätze der modernen Inno-vationsmethoden des Silicon Valleys, die zwei Dinge besonders in den Mittelpunkt stellen: zum einen die frühzeitige Einbezie-hung des Endkunden in den Innovationsprozess und zum an-deren die schnelle Umsetzung innovativer Ideen mit möglichst geringem Kosten- und Zeitaufwand. Das bedeutet, dass eine neue Idee schnellstmöglich in kleinen „Testeinheiten“ auspro-biert, also einfach auf den Markt gebracht wird, ohne vorher bis ins letzte Detail erforscht, durchdacht und analysiert zu sein. Auf diese Weise kann man sehr viel schneller erkennen, was an der Idee funktioniert und was nicht. Mithilfe dieses Lernerfolges wird die Idee verbessert oder erweitert. Das Geheimrezept lautet iteratives Lernen.

Wenn ein Unternehmen sich also digital transformiert – hier, um den Wandel vom Autokonzern zum Mobilitätsunterneh-men zu vollziehen – , dann ist Innovation Hacking ein Schlüssel zum Erfolg, um die richtigen Geschäftsmodelle zu entdecken. Es ist ein Weg für etablierte Unternehmen, Innovationskul-tur und Methoden den aktuellen Erfordernissen der digitalen Transformation anzupassen.

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Nick SohnemannGeschäftsführer von FUTURECANDY GmbH, Hamburg

FUTURECANDY ist eine Innovationsberatung der nächsten Genera-tion. Das Team um Nick Sohnemann verwendet moderne Innovations-methoden mit dem Ziel, Unternehmen in Europa dabei zu unterstützen, die digitale Transformation zu meistern. Das Unternehmen wächst stetig und beschäftigt sich aktuell intensiv mit neuen Technologien und Gadgets, die das Potenzial haben, Geschäftsmodelle und ganze Branchen zu verändern. In den letzten Monaten hat sich das Team im Hamburger Headquarter mit den Veränderungen der Automobilbranche beschäftigt.

Abbildung: Innovation Hacking Diagramm

Quelle: FutureCandy

Production Marketing

Innovation Hacking

Understanding the Problem

The Hack

Idea

Marketing

Prototype

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Der Übergang in das digitale Zeitalter findet schleichend statt ...

2015 – 2017> Tankstellen werden zusätzlich zu Ladestationen für Elektroautos.

2017> Steigernder Absatz von Elektroautos.> Es gibt 15 verschiedene Elektroauto-Modelle.

2019 > Alle Hersteller stellen Hybrid-Modelle ein. Die Forschung zum Wasserstoff- antrieb kommt nicht voran. Viele Verbände rund um die Welt erklären den Sieg des Elektroantriebs.

2023 > Erste Städte ersetzen einen Großteil ihrer Taxiflotten mit selbstfahren den Auto-Fahrdiensten.> Die heutigen Tankstellen werden mehr und mehr zu Shopping- Flächen oder dezentralen Zwischenlagern von E-Commerce- Firmen, die von Tankstellen aus schnell ihre Waren zu den Bestel- lern schicken. Elektroladestationen sind in einem engen Netzver- fügbar. > Erste Straßenspuren werden abgesperrt für selbstfahrende Autos, damit der Verkehr schneller fließt, andere Auto- fahrer werden eingeschränkt und können nur noch auf wenigen Spuren vorankommen.> In Großstädten entstehen mehr und mehr Induktionsfahrbahnen, die die Ladestationen ersetzen. Elektroautos können während der Fahrt laden.

2024> Autokonzerne bauen zum ersten Mal mehr Elektro-Autos als Autos mit Otto-Normal-Motoren.> Tesla und Apple verkaufen Autos an selbstfahrende Taxi-Dienstleister weltweit und betreiben eigene Dienste.> Größter Kunde von selbstfahrend Autos ist die Firma UBER. > Google liefert für viele Autos das Betriebssystem und baut ein Werbever- marktungssystem auf.

2025> Geparkte Autos verschwinden aus dem Stadtbild. > Mehrere große und einige kleinere lokale Anbieter für selbstfahrende Taxi- Services stehen im Wettbewerb. > Große Tech-Firmen aus dem Silicon Valley treten in den Markt ein (jetzt auch Microsoft) und lassen sich von ehemaligen Autokonzernen wie VW Autos bauen.> Speditionen entlassen LKW-Fahrer und ersetzen sie mit automatisierten Zugmaschinen. > Zur Wartung der selbstfahrenden Taxiflotten werden große Wartungs- hangars in den meisten westlichen Großstädten gebaut. > Tankstellen sind kaum noch im Stadtbild vorhanden. > Parkhäuser sind verkleinert oder umgebaut zu Wohnungen. > Viele Fahrschulen müssen schließen. Einen Führerschein machen nur noch sehr wenige Leute – und wenn, dann via Internet.

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... und hat schon gestern begonnen

2026> Kraftfahrzeugsteuer für Ottomotoren verdreifacht in Europa. Der Wandel wird politisch beschleunigt.> Viele Menschen ziehen wieder aufs Land, da die selbstfahrenden Taxis ihr Geschäftsgebiet vergrößern

2027 > Digitale Nomaden entstehen. Autos, die noch an einzelne User ver kauft werden, werden immer weiter personalisiert. Einige sind so gut ausgestattet, dass sie eine Wohnung ersetzen können.> Hotelketten erkennen das Potenzial und vermieten fahrende Hotelzimmer.

2028 > Einige Städte verbieten Ottomotoren in der Innenstadt. Damit wird

Autofahren das neue Rauchen! > Rennstrecken entstehen, in denen Leute mit Otto-Motoren fahren können.

2030> Große ehemalige Autokonzerne, aber auch Zulieferer in Deutschland sind jetzt IT- und Service-Unternehmen und sind daher deutlich verkleinert. Auf dem Weg dahin sie ihr Personal fast komplett ausgetauscht. Ein haben Drittel der ehemaligen Zulieferbetriebe ist komplett verschwunden. > Viele westliche Städte sind komplett frei von privaten PKWs. Es gibt nur E-Roller, Fahrräder, E-Bikes, selbstfahrende Taxi-Flotten. > Erster Regelbetrieb von selbstfliegenden Flugzeugen, die auch mit

Elektromotoren betrieben werden.

2033> Die Automobilbranche aus dem Jahre 2015 existiert nicht mehr.

> Ehemalige Autokonzerne betreiben jetzt viele fragmentierte Platt- formen: autonom fahrende Taxiflotten, Fahrrad- und E-Roller-Sharing-Services und sogar Fluglinien. Das Auto ist nur noch ein Puzzleteil in einer komplexen, aber smart ausgesteuerten Welt.

2035 > Das Auto, so wie wir es heute kennen, gibt es nicht mehr. > Die Sterblichkeit im Straßenverkehr liegt nahezu bei Null!

Das Auto ist tot, es lebe die Mobilität!

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Interview mit Andreas Gahlert, CEO COBI GmbH

Tour de ByteSmarter Biken – die Idee dazu hatte COBI-Gründer Andreas Gahlert, während er

selbst in die Pedale trat. Vom Connected Car unterscheidet das Connected Bike vor allem die Möglichkeit, innovative Technologien direkt einzusetzen.

DMR: Wie wirkt sich die Digitalisierung der Gesellschaft auf unsere Mobilität und im Speziellen den städtischen Verkehr aus?

A. Gahlert: Connected Drive wird oft als dritte Revolution der Automobilindustrie bezeichnet. Da durch die Digitalisierung Fahrzeuge mit dem Internet verbunden sind, wird Mobilität, vor allem im städtischen Verkehr, effizienter und sicherer werden. Ein weiterer Ausbau dieser Konnektivität durch die Einbringung von Infrastruktur und Kommunikation der Fahrzeuge untereinander eröffnet neue Möglichkeiten für die Stauvermeidung, umwelt-freundliches Fahren und die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer.

DMR: Sie sind Gründer der COBI GmbH. Wie ist COBI entstanden?

A. Gahlert: Ich wohne am Fuße des Feldbergs und fahre schon immer Fahrrad. Ich fuhr also eines Tages den Berg hoch und habe mir meinen Lenker angeschaut mit dem iPhone, dem Board-computer, dem Fahrradcomputer und dem Licht - und das war einfach nicht schön. Ich dachte: Irgendwie geht das doch besser! So ist die Idee einerseits relativ zufällig entstanden. Andererseits ist COBI eine Kombination aus den Erfahrungen, die ich in der Vergangenheit im Bereich Automotive mit Audi und Connected Drive gemacht habe, und meiner Begeisterung für das Fahrrad fahren und den Sport im Allgemeinen.

DMR: Ist COBI durch die Trends der Automobilindustrie rund um Connected Car inspiriert? Falls ja: Geht COBI über Connected-Car-Technologien hinaus?

A. Gahlert: Ja klar. Im Grunde haben wir den Trend Connected Drive aus der Automobilbranche an das Fahrrad geholt. COBI unterscheidet sich jedoch auch vom Connected Car. Im Bereich Connected Car spielt Proprietät eine starke Rolle. Autobauer wie Audi und BMW lassen Smartphone-Hersteller wie Apple und Google nicht in den Vordergrund. Das Fahrzeug steht weiterhin

Andreas GahlertGründer und Geschäftsführender von COBI GmbH, Frankfurt

Andreas Gahlert ist ein begeisterter Sportler und Seriengründer. Das erfolgreichste Unternehmen, die Digitalagentur „Neue Digitale“ welche er 1996 gründete, hat er an das internationale Serviceunternehmen für digitale Kommunikation Razorfish verkauft. Weiterhin unter der Führung von Andreas Gahlert, entwickelte sich die Neue Digitale sich zu einer der erfolgreichsten Digitalagenturen weltweit. In dieser Zeit entwickelten er und seine Kollegen unter anderem Zukunftsstrategien für Audi im Bereich Connected Drive. 2012 verließ Andreas Gahlert die Neue Digitale, um eine neue Herausforderung zu finden. Seine Leiden-schaft für das Mountainbike fahren und seine Erfahrungen im Bereich Connected Drive resultierten in COBI.

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im Mittelpunkt. Außerdem haben Fahrzeuge eine lange Entwick-lungszeit und Technologien sind bereits veraltet, bis das Fahrzeug auf dem Markt ist. Autos werden im Schnitt auch nicht so häufig gewechselt wie Smartphones, welche durchschnittlich alle ein bis zwei Jahre ausgetauscht werden. Und da liegt COBIs Vor-teil: Neue und innovative Technologien können schnell umge-setzt und COBI schneller weiterentwickelt werden. COBI wurde so entwickelt, dass eine Vielzahl an Schnittstellen existiert, die Möglichkeiten zur Weiterentwicklung bieten.

DMR: Wie funktioniert COBI?

A. Gahlert: Wir bringen den Komfort aus dem Auto, quasi die Connected Features, in das Fahrrad. Wir haben an Elektronik alles verbaut, was das Smartphone nicht kann, zum Beispiel verschie-dene Sensoren wie ein Barometer oder Helligkeitssensoren, um das Licht zu steuern. Mit COBI kombinieren wir im Prinzip fünf bisherige Fahrradzubehörteile in einem: Das sind die Navigation, das Licht, der Smartphonehalter, die Klingel und die Alarman-lage. Und alles in einem schönen Design. Der größte Wert wird jedoch über die Software kommen. Wir haben über 100 Features in die Software reingepackt – und zwar alles was man sich vorstel-len kann und als Fahrer gerne hätte: von der Spotify-Integration über die Wetterintegration bis hin zur Navigation. Die Software kann man schön über den Daumenschalter bedienen.

DMR: Für welche Zielgruppe wurde das Connected Bike vorrangig entwickelt?

A. Gahlert: COBI wurde für „Playful digital biker“ entwickelt – Menschen, die ihr Smartphone lieben und es aktiv nutzen. Menschen, die sich für das Connected Car begeistern und den gleichen Nutzen für ihr Fahrrad wünschen, um sich damit zum Beispiel auf dem Weg zur Arbeit zu bewegen, gehören ebenfalls zu der Zielgruppe. Es soll aber für alle bezahlbar sein. Und das erreichen wir, indem wir das nutzen, was jeder in seiner Tasche hat: das Smartphone!

DMR: Was unterscheidet COBI vom Wettbewerb? Was hält Wett-bewerber davon ab, COBI zu kopieren?

A. Gahlert: Wir sind ein Technologieunternehmen, das Syste-me für Fahrräder entwickelt – kein Fahrradhersteller. Wir brin-gen ein ganz anderes Know-how mit. Die meisten Mitarbeiter sind ehemaligen Kollegen, die die mit mir von Razorfish ge-wechselt sind. Es bedurfte nicht viel Überzeugungskraft, da das Produkt einfach begeistert. Wir sind mit der Entwicklung und dem Design von COBI schon so weit voraus, dass es schwierig sein wird für Wettbewerber, mit uns zu konkurrieren. Bosch

beispielsweise stellt E-Bikes her, welche aber nur fünf Prozent der Gesamtproduktion ausmachen. Hier haben wir wieder das Problem des Proprietätsanspruchs und der integrierten Systeme. Darüber hinaus haben wir eine Vielzahl an Patenten angemeldet, um COBI vor Imitaten zu schützen.

DMR: Wie lange hat es von der Idee bis zum ersten Prototyp gedauert?

Die Idee kam mir im Oktober 2013. Die COBI GmbH haben wir dann im Mai 2014 gegründet. Wenn man so will, arbeiten wir nun seit 12 Monaten aktiv an COBI. Ich habe davor erste Recherchen bezüglich Machbarkeits-studien und Patentrechten betrieben und dann mit der ersten Investitionsrunde acht Investoren überzeugen können und 500.000 Euro zur Verfügung gehabt. Von diesem Geld habe ich Mitarbeiter eingestellt und Prototypen entwickelt. Wir mussten dann feststellen, dass Hardware sehr kapitalintensiv ist und wir an Kickstarter nicht vorbeikommen. Mit der Kickstarter-Kampagne wollten wir dann aber nicht nur Geld sammeln, sondern auch globales Customer Feedback einholen. Und das war sehr positiv. Wir haben 400.000 Dollar eingenommen, was für den Fahrradbe-reich großartig ist. Wir haben es damit geschafft, das zweiterfolg-reichste Bike-Tech Start-up weltweit zu werden. Das Geld aus der Kampagne haben wir in die Entwicklung der Hardware gesteckt. Und im April 2015 haben wir weitere vier Millionen Dollar von Investoren (Capnamic Ventures, Iris Capital und Creathor Venture) erhalten. Das Geld werden wir für Produktion, Aufbau des Vertriebs und Kundenservice nutzen.

DMR: Die Kickstarter-Kampagne hat ihr Ziel deutlich übertroffen.Warum begeistern sich Menschen Ihrer Meinung nach so für COBI?

A. Gahlert: Wir waren total überrascht von dem Feedback, das nach der Kickstarter-Kampagne kam. An die 200 bis 300 Feedbacks von Menschen pro Tag und über 450 Presseartikel! Aber wenn man sich das Potenzial anschaut, das Technologien rund ums Smartphone haben, dann kann man das erklären: 55 Prozent der Menschen in Europa besitzen ein Smartphone, wobei 40 Prozent dieser Personen es aktiv nutzen. Das bedeutet, es gibt großes Potenzial. Ich glaube, wir haben einfach mit COBI den Nerv der Zeit getroffen.

DMR: Wie steht es generell um die rechtlichen Voraussetzungen zur Nutzung von COBI auf öffentlichen Straßen?

A. Gahlert: In Deutschland ist es am härtesten. Die Blinker- funktion darf in Deutschland nicht eingesetzt werden, da sie nicht den Vorschriften entspricht. Für das Vorder-und Rücklicht haben

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wir das Ok vom Verkehrsamt bekommen. Für den Hub inklusive Smartphone brauchen wir keine Genehmigung. Ich glaube, dass wir mit unserem System für mehr Sicherheit sorgen, da der Fahrer das Smartphone nicht in der Hand halten muss, sondern sich auf den Verkehr konzentrieren kann. Mit dem Daumenschalter kann alles gesteuert werden, ohne die Hände vom Lenker zu nehmen. Einige Funktionen werden auch ausgeschal-tet, sobald sich das Fahrrad bewegt, und können erst wieder bei Stillstand des Fahrrads genutzt werden, um Ablenkungen zu ver-meiden. Das gilt für Europa im Allgemeinen. In den USA sind die Blinker kein Problem, dafür aber Katzenaugen (Reflektoren). Wir können über die Software und Anmeldeort bestimmen, welche Features für Nutzer freigeschaltet werden dürfen, da die Hard-ware über die Software gesteuert wird.

DMR: Welche Rolle spielen B2B- Kooperationen bei COBI?

A. Gahlert: Eine sehr wichtige Rolle. Wir sind mit zwei Dritel aller E-Bike- und Fahrradherstellern im Gespräch und arbeiten uns seit Monaten vom Größten zu den Kleineren durch. So richtig los ging es nach der Kickstarter-Kampagne, dann kamen alle auf uns zu. Diesen Zuspruch haben wir nicht erwartet. COBI wird 2016 zum Fahrrad dazugehören wie eine Shimano-Kette oder Bremse zum heutigen Fahrrad. Unsere Partner haben die Möglichkeit, COBI individuell anzupassen. Zurzeit wird sogar das COBI Bike entwickelt: ein Fahrrad, das um COBI herum designed wird. Partner fragen uns zum Beispiel, welchen Motor wir bevorzugen, und der wird dann eingebaut. Außerdem spielt Service eine große Rolle. Zum Beispiel kann über die Betriebs-daten ein Signal an den Fahrer geschickt werden, dass die Kette geschmiert werden muss. Unser Kunde wird dann sofort an eine Werkstatt vermittelt. Darüber hinaus gibt es Entwicklungs-möglichkeiten in Richtung Bike Sharing, Touristik und Gaming. Aber das wollen wir nicht selbst machen, sondern suchen dafür Partner. Wir sehen uns auch als Bestandteil zukünftiger ver-netzter Städte. Es gibt eine Vielzahl offener Schnittstellen für Weiter-entwicklungen, unter anderem bei der Kommunikation zwischen allen Fahrzeugen. Und mit COBI bieten wir die Fahr-radversion, die ein solches Netzwerk ergänzt.

DMR: Die Datensicherheit ist ein breit diskutiertes Thema. Wie behandelt COBI dieses Thema?

A. Gahlert: Daten spielen eine große Rolle bei COBI, seien es Fitnesswerte, Routenverläufe oder Kontaktlisten. COBI-Daten werden zwar in der Cloud abgelegt, gehören aber ausschließlich dem Kunden. Wenn diese Daten an Dritte weitergegeben werden sollen, kann der Kunde individuell seine Zustimmung geben, um zum Beispiel bestimmte Services von Anbietern zu nutzen. Wir

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haben in den letzten Wochen einen Spezialisten für Datensicher-heit eingestellt. Aber der Service und nicht das Sammeln von Daten steht bei COBI im Vordergrund.

DMR: Wie sieht die zukünftige Entwicklung für den Connected-Bike-Markt und COBI aus?

A. Gahlert: Wir haben Anfragen aus der Motorrad- und Roll-stuhlindustrie erhalten. Mit COBI gibt es viele Entwicklungs-möglichkeiten. Wir wollen Weltmarkführer werden im Bereich Connected Bike. Ich möchte aber an dieser Stelle nicht zu viel verraten, da unter Ihren Kunden ja nicht nur potenzielle Partner, sondern auch potenzielle Wettbewerber sein könnten.

DMR: Wo können die Kunden COBI kaufen und was kostet es?

A. Gahlert: COBI kann via E-Commerce auf unserer Homepage (http://cobi.bike) bestellt werden. Der Pre-Order Shop öffnet Ende Mai. Die Standardausstattung, bestehend aus dem Hub und dem Smartphone Case kostet ab 179 Euro. Die komplette Ausstattung inklusive Hub, Smartphone Case, Vorder-und Rück-licht und Thumbcontroller liegt bei zirka 300 Euro. Es wird auch eine kostenlose Lightversion des COBI App geben, welche man im App Store herunterladen und austesten kann.

COBI wurde von Andreas Gahlert in Frankfurt/Main Anfang 2014 gegründet und hat 20 Mitarbeiter. Mit COBI, dem weltweit intelligentesten integrierten Fahrradsystem, sind nicht mehr bloß Autos, sondern auch Fahrräder „connected“. Das COBI System verwandelt jedes Fahrrad in ein Connected Bike. Die fortgeschrittene Technologie sowie das smarte Design bieten dem Nutzer ein rundum verbessertes Erlebnis beim Fahrrad fahren. Weitere Informationen gibt es unter: http://cobi.bike/

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SPEED.STYLE.SMILE: Scootersharing über App

Interview mit Magnus Schmidt, CEO scoo.me

scoo.me bietet mit dem free-floating – nicht stationsgebunden – Roller- Verleihsystem eine zusätzliche Form der Mobilität im urbanen Raum. Das Unternehmen wurde 2014 gegründet und ist derzeit in einer Proof-of-Concept-Phase mit 13 Fahrzeugen – 12 Vespa-Rollern und einem Elektroroller in Mün-chen verfügbar. Nach einem erfolgreichen Start im November vergangenen Jahres wird die Flotte in diesem Sommer auf 30 Fahrzeuge erweitert.

Ein Stück Freiheit mehr bietet Magnus Schmidt an: Ganz unkompliziert kann sich der Lifestyle-orientierte Städter über eine App einen Scooter leihen. Weniger Silodenken und mehr Offenheit ist seine Devise für erfolgreiche Mobilitätskonzepte.

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DMR: scoo.me bietet mit dem Scooter-Sharing-Angebot eine weitere Form der urbanen Mobilität an. Wie würden Sie Ihr Unternehmen beschreiben und was wird dem Kunden geboten?

M. Schmidt: Mit unserem free-floating-Konzept besetzen wir eine interessante Lücke zwischen Bike- und Car-Sharing in der urbanen Mobilität. Mit scoo.me möchten wir den Nutzern vor allem ein Lifestyle-Gefühl vermitteln und eine Marke mit einem hohen Wiedererkennungswert kreieren, die das Potenzial hat, ein so genannter Love-Brand zu werden. Wir sind uns bewusst, dass dies eine schwierige Aufgabe ist – wir verfolgen diese Idee jedoch von Beginn an. Unser Kerngedanke ist, ein Lebensgefühl zu vermitteln, Spaß am Rollerfahren zu haben und mobil zu sein. Das geht viel weiter, als unseren Kunden nur eine weitere Möglichkeit zu bieten, um rational von A nach B zu kommen. Unser Firmenmotto lautet „Speed, Style, Smile“ und alles, was wir tun, wird diesem Motto gerecht. Wir arbeiten daher sehr stark aus einer Nutzerzentrierung heraus. Als wir beispielsweise unsere scoo.me-App entwickelten, haben wir konsequent danach entschieden, ob die App schnell ist, ob sie Spaß macht und ob sie uns zum Lachen bringt.

DMR: Welche Zielgruppe steht bei scoo.me im Fokus?

M. Schmidt: Grundsätzlich kann jeder erreicht werden. Der einzige limitierende Faktor ist die Smartphone-Abhängigkeit des Geschäftsmodells, das momentan noch auf Geräte mit iOS und Android-Betriebssystem beschränkt ist. Dass das Feld un-serer User Base sehr breit angelegt ist, bringt positive, aber auch negative Begleiterscheinungen mit sich. Negativ ist, dass sich eben keine konkrete Zielgruppe heraus kristallisiert. Das macht es für uns schwerer, zielgerichtet auf eine Gruppe zuzugehen. Bei unserer Kick-off Veranstaltung im vergangenen Jahr wa-ren es vor allem Frauen und Männer in der Altersklasse 50+, die an unserem Produkt interessiert waren. Diese Gruppe war begeistert, da sie mit Vespa-Rollern Jungenderinnerungen ver-bindet, viele haben sich schnell für eine Anmeldung bei scoo.me entschieden. Für die junge Generation ist es eher der Coolness-Faktor, ein neues, freies Mobilitätsmodell in der Stadt. Die jun-gen Nutzer haben weniger Lust auf Straßenbahn oder U-Bahn, Autos können oder wollen sie sich nicht leisten. Hier erkennen wir klar eine Zweiteilung.

DMR: In Asien oder Südeuropa sind Roller im alltäglichen Verkehr wesentlich etablierter als in Deutschland. Anbieter wie Cooltra, die laut eigenen Angaben über 100 Anleihstati-onen in Spanien besitzen, scheinen sehr erfolgreich zu sein. Welches Potenzial sehen Sie in einem saisonalen Markt wie Deutschland?

M. Schmidt: Sicherlich existieren hier saisonale Abhängigkeiten und Schwankungen, wir betreiben jedoch explizit kein reines Saisongeschäft. Wir sind im November vergangenen Jahres gestartet und haben vom ersten Tag an Umsätze erzielt und knapp 1000 Nutzer gewonnen. Das spricht klar dafür, dass unser Geschäftsmodell auch in regnerischen und kälteren Jahreszeiten attraktiv ist. Wir lassen die Fahrzeuge 365 Tage im Jahr draußen, so dass sie verfügbar sind, wenn es wetterbedingt machbar ist. Ausgenommen sind Tage mit vereister Fahrbahn, da dies ein zu großes Risiko darstellt. Das Wintergeschäft macht Spaß, da es kniffliger ist: Zum einen muss die Technik auch bei minus 20 Grad funktionieren, zum anderen ist es hoch span-nend, zu überlegen, welche Maßnahmen wir ergreifen kön-nen, damit der Kunde auch im Winter aktiv wird. Wir legen beispielsweise Daunenjacken oder Handschuhe bei, die die ersten behalten dürfen. Ideen gibt es viele, aus unserer Sicht ist hier ist noch viel Potenzial vorhanden.

DMR: Welche Vision und welche Ziele stecken hinter Ihrem Geschäftsmodell?

M. Schmidt: Was die Ziele anbelangt, so befinden wir uns für dieses Jahr noch in einer Proof-of-Concept-Phase für München und müssen zunächst Zahlen und Entwicklung abwarten. Hier sind wir eher konservativ und vorsichtig. Grundsätzlich sehen wir, dass das Geschäftsmodell als solches enorm viel Potenzial bietet – auch in Deutschland. Die Affinität zum Zweirad ist definitiv vorhanden, auch wenn das Auto noch einen höheren Stellenwert hat. Für unsere Vision heißt das: Wenn das Modell hier funktioniert, funktioniert es überall in Europa, wenn nicht sogar weltweit. Wir haben bereits konkrete Ideen entwickelt, wie wir die Themen Emotionalität und Lifestyle innerhalb des Geschäftsmodells in anderen Ländern adaptieren, um auch dort erfolgreich zu sein. Die Vision geht also ganz klar in Richtung Europa.

DMR: Als Free-floating-Anbieter stellen Sie Ihre Roller- Flotte selbst zusammen. Gab oder gibt es analog zu etablierten Car-Sharing-Anbietern Pläne, Ihr Geschäftsmodell mit einem Hersteller für Motor- und Elektroroller als starken Partner weiter auszubauen?

M. Schmidt: Wir sehen uns aus der digitalen Welt kommend als Vermarkter. Wir vermarkten Fahrzeuge auf eine andere Art und Weise – nicht über den Verkauf, sondern als Ausleihstation. Wir betreiben einen nutzerzentrierten Ansatz und wollen die Fahr-zeuge vermarkten, die dem Markt am attraktivsten erscheinen. Da engt sich der Kreis von möglichen Fahrzeuganbietern sehr stark ein. Eine Vespa ist dafür prädestiniert, weil sie qualitativ hochwertig ist und jeder dieses Produkt kennt und als attraktiv wahrnimmt. Dadurch lässt es sich leicht vermarkten. Ob dies

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auch in Zukunft so bleiben wird, wissen wir heute nicht. Wir wissen zum Beispiel nicht, was passiert, wenn die Elektro- mobilität bei Rollern an Bedeutung gewinnt. Generell kann Wachstum für uns mit einem Partner gestaltet werden, jedoch weniger über Hersteller, da aus unserer Sicht ein zu großes Interesse von Seite des Herstellers bestünde, Fahrzeuge zu ver-kaufen.

DMR: Scooter-Sharing ist ein weiterer Baustein in der multi-modalen Mobilität von heute. Welche Tendenzen sehen Sie für die Zukunft der Mobilität im urbanen Umfeld?

M. Schmidt: Ich sehe die Zukunft im multimodalen Mobi-litätskonzept. Hier gibt es viel Potenzial, das man für sich als Hersteller nutzen möchte. Die meisten denken aber zunächst in einem Silo, in einem geschlossenen System. Das Internet hat uns jedoch eines besseren belehrt: Alle Modelle, die offen und nutzerzentriert sind und Schnittstellen anbieten, sind die Modelle, die bisher erfolgreich waren. Ich vermute, dass es in der Mobilität noch einige Jahre dauert, bis die Hersteller sich öffnen und erkennen, dass sie es alleine mit einem abgekapselten System nicht schaffen. Erfolgreich ist beispiels-weise die Onlineplattform quixxit. Sie zeigt dem Nutzer auf einer durchgängigen Plattform, wie er mit unterschiedlichen Mobilitätskonzepten am schnellsten oder günstigsten von A nach B kommt. Erst diese Mobilitätskonzepte ermöglichen den Verzicht auf ein eigenes Fahrzeug, sofern man auf eine Infra-struktur zurückgreifen kann, die einen immer von A nach B bringt. Aus der nutzerzentrierten Sicht ist dies bereits erkannt. Wer jedoch noch nicht verstanden hat, wie es funktioniert, sind die Hersteller selbst. Die spannende Frage ist also: Wie gelingt es der Mobilitätsbranche, die Flexibilität und das Überangebot an Mobilität dem Nutzer als Paket so anzubieten, dass er immer genau die Möglichkeiten findet, die er im Moment braucht – heute so, morgen so.

DMR: Als Scooter-Sharing-Anbieter sind Sie Teil der Sharing Economy. Es existieren aktuelle Studien, nach denen die Zahl der privaten Autobesitzer in Deutschland trotz Bevölkerungs-rückgang weiter ansteigt, was im Widerspruch zum Prinzip des Teilens anstellle von Besitz steht. Wie sehen Sie die Entwick-lung der Sharing Economy im Bereich der Gebrauchsgüter? Hat das Modell Zukunft?

M. Schmidt: Sharing Economy hat für mich sowohl eine positive als auch eine negative Ausprägung. Die negative Seite ist, dass wir möglicherweise vieles, was wir heute als selbstver-ständlich ansehen, künftig nur noch gegen Geld erhalten. Der letzte Winkel des sozialen Miteinander wird monetarisiert und kapitalisiert. Ich hoffe, dass die Sharing Economy hier nicht zu weit geht, denn das würde ich zwischenmenschlich für bedenk-

lich halten. Die positive Seite ist, dass ich mir deutlich mehr Ressourcen zugänglich machen kann, wenn sie geteilt werden, als wenn ich sie besitzen muss. Ein Auto muss man nicht 24 Stunden am Tag besitzen. Im Normalfall genügen zwei oder vier Stunden am Tag, für die Fahrt in den Urlaub auch etwas länger. Dafür brauche ich aber für den Urlaub einen Kombi, für die täglichen Besorgungen nur einen Kleinwagen. Hier zeigt die Sharing Economy, dass durchaus andere Optionen vorhanden sind. Aus meiner Sicht konstatieren manche Studien voreilig, dass sich ein solches Konzept nicht durchsetzt. Ich glaube, es wird noch Jahre oder gar Jahrzehnte dauern, bis man wirk-lich erkennt, wie sich der Effekt der Sharing Economy auf die Mobilität auswirkt. Ich glaube aber daran, dass die Effekte groß und die aktuellen Entwicklungen unumkehrbar sind. Noch ist das Auto als Inbegriff von Freiheit und Mobilität ein Status-symbol, davon muss man sich auch unsere Generation erst einmal gedanklich verabschieden, zudem benötigt man eine verlässliche Infrastruktur. Dieses Ziel wird konsequent verfolgt.

DMR: Sie haben den Registrierungs- und Anmeldeprozess voll digitalisiert. Alle Ihre Roller sind permanent mit dem Internet verbunden. Welche Idee steckt dahinter?

M. Schmidt: Unser Ziel ist Convenience für den Kunden. Das schaffen wir über die Digitalisierung. Sie ist bei uns in zwei Stufen ausgebaut: der digitale Onboarding- und Anmelde- prozess und die schlüssellose Bedienung. Jedes Fahrzeug kann komplett über die App angemietet, geöffnet und gestartet werden. Die schlüssellose Bedienung des Fahrzeugs hatten wir zu Beginn noch nicht geplant, es stellte sich jedoch bald die Frage, wie wir mit dem Fahrzeugschlüssel umgehen. Wenn der Schlüssel am Fahrzeug in irgendeiner Form deponiert werden soll, muss man einen Use Case abbilden für den Fall, dass der Nutzer den Schlüssel versehentlich einsteckt und mit nach Hause nimmt. Wie geht man damit um, wie kommt man an den Nutzer und vor allem der Schlüssel wieder zum Fahrzeug? Wir haben uns dann für die schlüssellose Variante entschieden. Alles, was der Nutzer braucht, ist ein mobiles Gerät mit un-serer App. Daraus entstand die Idee der vollen Digitalisierung. Damit war auch klar, dass die Roller permanent mit dem Internet verbunden sein müssen und die Kommunikation zwischen den Fahrzeugen gegeben sein muss.

DMR: Welche technische Lösung steckt hinter dem digitalen Registrierungs- und Anmeldprozess? Dienten Ihnen andere Konzepte als Vorbild?

M. Schmidt: Wir sind der erste Anbieter, der diesen Prozess voll digitalisiert hat. Insbesondere der Registrierungsprozess mit der enthaltenen Führerscheinprüfung war eine Heraus-forderung. In Deutschland kann jede Gemeinde, Stadt oder

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Kommune Aussteller eines Führerscheins sein. Würde man also jeden Führerschein direkt an der Ausgabestelle prüfen wollen, müsste man zu sämtlichen Dienststellen in Deutsch-land eine Schnittstelle aufbauen. Das war keine Option für uns. Wir haben uns für einen Dienstleister entschieden, der uns bei der Führerscheinprüfung durch die digitale Prüfung über Sicherheitsmerkmale und biometrische Abgleiche unterstützt. Als Vorbild diente uns tatsächlich eine Bank, die eine Konto-eröffnung via Skype anbietet. Wir dachten uns, wenn eine Bank einen Registrierungsprozess über Skype lösen kann, dann können wir auch die Validierung des Führerscheins darüber abbilden. Wir orientieren uns bereits in Richtung Whatsapp, was sehr gut funktioniert.

DMR: Ihr bisheriger Lebenslauf mit Positionen bei Payback und United Internet Media lässt darauf schließen, dass Sie ein großer Anhänger der Digitalisierung sind. Welche Nach-teile sehen Sie in einer zunehmend digitalisierten Welt für die Mobilität der Zukunft und wo sehen Sie Hürden für die kommenden Jahre?

M. Schmidt: Die Digitalisierung hat einen großen Nachteil: Es bleibt weniger haften! Alles ist sehr flüchtig und vergänglich. Sobald man etwas Haptisches zur Verfügung hat, verankert sich dies deutlich besser im Kopf. Printmedien haben eine ganz andere Wirkung bezogen auf den Inhalt als E-Mailing. E-Mailing wird geklickt, gelöscht und ist weg. Wir versuchen das aufzulösen durch das Produkt auf der Straße. Als Unter-nehmen denken wir sehr digital, unsere Prozesse sind sehr stark digitalisiert und automatisiert. Marketingautomatisierung ist für uns das A und O und wir bauen eine sehr starke Software in die Kommunikation mit ein. Würden wir aber ausschließ-lich am PC sitzen und Banner-Werbung schalten, wäre das zwar konsequent digital, aber ohne längerfristigen Effekt. Als Marketeers ist uns sehr bewusst, dass ein haptisches Gefühl wichtig ist – Papier oder eine Karte als Trägermedium, etwas, das beim Kunden präsent ist. Genauso wichtig ist es uns jedoch, über die Fahrzeuge und Promotionteams auf der Straße selbst präsent zu sein. Emotionalität, haptische Erlebnisse und vor allem auch die Erinnerung daran müssen wir noch stärker auf- greifen. Das ist eine Kernaufgabe, die wir neben der Digitalisierung haben.

Als Hürde für die Mobilität nehme ich derzeit das Fehlen durchgängiger Ketten und einer nahtlosen Nutzung von Mobilitätsmöglichkeiten im Sinne einer intermodalen Mobilität wahr. Silodenken in den einzelnen Mobilitätskonzepten ist definitiv eine Hürde. Wenn das nicht aufgebrochen wird, kann dem Konsumenten kein durchgängiges Erlebnis ermöglicht werden – es bleibt fragmentiert und damit unattraktiv.

DMR: München besitzt neben Berlin und Hamburg eine der größten Start-up-Szenen Deutschlands. Konnten Sie bei der Gründung Ihres Unternehmens davon profitieren?

M. Schmidt: Teils ja, teils Nein. Wir profitieren als Start-up definitiv von diesen Veranstaltungen – insbesondere von den Informationsveranstaltungen. Es gibt in München sehr viele Anlaufstellen, bei denen man sich informieren kann, das war für uns extrem hilfreich. Man muss jedoch erwähnen, dass die Start-up-Mentalität in Deutschland generell nicht so gut aus-geprägt ist wie beispielsweise in den USA. Bei uns ist alles sehr traditionell, es gibt viele institutionellen Anleger, welche eher hochschulorientiert handeln und zum Beispiel Patente erwar-ten, am besten im Bereich Biotech. Wir besitzen kein Patent und sind auch nicht darauf ausgerichtet. Wir betreiben eher Stand der Technik. Daher war es für uns zu Beginn sehr schwer, mit Investoren, Banken und Business Angels ins Gespräch zu kommen und Geld einzusammeln. In diesem Bereich ist die Start-up- und Investoren-Szene noch nicht gut ausgebaut. Alles ist sehr langsam, sehr risikoorientiert, sehr konservativ – egal, ob in Berlin oder in München.

DMR: Welche Hürden gibt es aus Ihrer Sicht für Start-ups und wo sehen Sie Verbesserungspotenziale bei den Rahmen-bedingungen?

M. Schmidt:. An Verbesserungspotenzial wünsche ich mir zunächst eine höhere Risikobereitschaft von Investoren und auch von Banken und der Politik. Bei jeder Bank ist es vom ersten Tag an schmerzhaft, an die Fördermittel zu gelangen. Aus meiner Wahrnehmung gibt es von Seiten der Politik zu viele Lippenbekenntnisse. Hier würde ich mir andere Rahmen- parameter wünschen. Also: eine höhere Risikobereitschaft, eine höhere Flexibilität, Schnelligkeit.

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MAGNUS SCHMIDTGründer & Geschäftsführer scoo mobility GmbH

Magnus Schmidt gründete im Mai 2014 das weltweit erste „free-floating Scooting Sharing“-Angebot scoo.me, das sowohl Motorroller mit elektrischem und fossilem Antrieb aus einer Hand anbietet und auf durchgängige digitale Technologien setzt. Zuvor war der ausgewiesene Experte für Online-Mar-keting und Business Development in verschiedenen leitenden Funktionen tätig – zuletzt für die PAYBACK GmbH. Dort übernahm er im Juli 2012 die Leitung des neu geschaffenen Bereichs Digital Marketing. Weitere Stationen mit Führungs-verantwortung waren unter anderem die United Internet Media AG, die webmiles GmbH, ein Unternehmen der Bertelsmann-Gruppe sowie der Anbieter für Mobile-Marketing-Lösungen YOC AG. Als Marketing- und Vertriebsspezialist legt Magnus Schmidt den Fokus auf ganzheitliche Ansätze digitaler Wert-schöpfung und veröffentlichte bereits mehrere Fachartikel zum Thema digitale Kommunikation.

DMR: Eine persönliche Frage zum Schluss: Wie viele Kilometer legen Sie pro Jahr mit dem Roller zurück?

M. Schmidt: Hochgerechnet werde ich dieses Jahr auf zirka 3500 Kilometer kommen, was sehr gut ist. Wir sind jeden Tag auf den Straßen unterwegs, um zu sehen, wo die Leute die Roller abstellen und ob alles ordnungsgemäß funktioniert, damit keine Einfahrten blockiert werden, damit ein Roller nicht im Funkloch, zum Beispiel einer Tiefgarage, geparkt wird und so weiter. Dieser Kontakt zu unseren Verbrauchern ist uns sehr wichtig. Aktuell sind es unsere Early Adapters und die Fans, die sehr mitteilungs- und Feedback-freudig sind. Würden wir dieses Momentum jetzt nicht ausnutzen, würden wir sehr viel verlieren, denn es hilft uns, das Produkt und den Service zu ver-bessern. Wir haben kein Büro. Wir müssen erleben was passiert, um nah am Kunden zu sein.

Das Interview führte Dominik Fischer, Business Anyalst, Detecon International GmbH.

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Detecon ist die Heimat für Beraterinnen und Berater, die über den Tellerrand hinausschauen. Tunnelblick oder gar Karriere-Egoismus helfen nicht, den digitalen Wandel für alle Industrie- und Dienstleistungssektoren global zu gestalten. Unsere Kultur gibt Freiheiten, Möglichkeiten und auch Zeit, sich voll zu entfalten und ein echter Detecon- Consultant zu werden. Das gilt für die Arbeit an allen Firmenstandorten weltweit, genauso wie für das Leben zu Hause. Neugierig? Wir freuen uns auf Deine Bewerbung.

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Warum sind Backend-Systeme für fahrzeugbasierte Onlinedienste nur so kostenintensiv? Eine Analyse der Kostentreiber und -risiken für die Etablierung von Connected Car Service Backends gibt Aufschluss.

Für keine Handvoll DollarBackend-Systeme für fahrzeugbasierte Onlinedienste

s hätte alles so schön sein können. Wochenlang hatte eine Arbeitsgruppe an innovativen Mobilitätskonzepten gefeilt. Mit Kreativberatern, Incentive-Workshops in Schweizer Almhütten und allem Drum und Dran. Ein positiver Business Case war schnell geschrieben und der Vorstand von der Realisierung des Projekts im Handumdrehen

E überzeugt. Als ob die nur auf sowas gewartet hätten! Ein weltweiter Rollout innerhalb von fünf Jahren? Sportlich, aber machbar! Wenn nur der CFO nicht die Geduld verloren hätte. Und wenn nur die Kosten für die Backend-Entwicklung nicht so arg aus dem Ruder gelaufen wären …

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Zugegeben, unser Aufmacher basiert nicht auf einer wahren Geschichte – aber auf vielen ähnlichen. Carsharing, autonomes Fahren, Elektromobilität oder ganz allgemein der Wandel einer klassischen produzierenden Industrie in eine Dienst- leistungsbranche sind Megatrends der Automobil- und Zuliefer- industrie, denen sich kein Marktteilnehmer entziehen kann.

Folgerichtig investieren fast alle OEMs sowie zahlreiche Tier-1-Zulieferer in neuartige Mobilitätskonzepte und -produkte. Durch die neuen Geschäftsmodelle sind diese Unternehmen mit neuen Investitionsrisiken und Kostenstrukturen konfrontiert. Der Aufbau eines Connected Car Services erfordert in der Regel hohe Vorabinvestitionen in den Aufbau einer geeigneten IT-Infrastruktur, zum Beispiel zur Unterstützung von Buchungs-, Ortungs- oder Abrechnungsprozessen. Rückgrat dieser IT- Infrastruktur ist das Connected Car Service Backend (CCSB).

Neue Geschäftsmodelle und Kostenstrukturen

Der Betreiber eines CCSB muss hochverfügbare Dienste sowohl für die eigentliche Dienste-Nutzung als auch für Unterstüt-zungsprozesse wie Nutzerregistrierung, Serviceaktivierung und -konfiguration, sicheren Datenaustausch, Endkundensupport und Abrechnung zur Verfügung stellen.

Teilweise können oder sollen Inhalte („Content“) wie Kartenmaterial nicht durch den Betreiber selbst, sondern durch externe Contentlieferanten zur Verfügung gestellt werden. Dies erfordert die technische Integration einer im hohen Maße heterogenen Tool-Landschaft. Darüber hinaus muss es einem CCSB-Betreiber möglich sein, seine Geschäftsmodelle schnell an Änderungen im Markt anzupassen oder in kurzer Zeit neue Geschäftsmodelle einzuführen. Die Etablierung eines CCSB-

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Systems ist ein komplexes und kostspieliges Unterfangen: Alleine die Entwicklung eines Backend-Systems kann schnell einen mittleren zweistelligen Millionenbetrag kosten. Im Folgenden haben wir Kostentreiber in vier Kernbereichen untersucht:> IT-Anforderungen> IT-Architektur> IT-Organisationen und -Prozesse> Make-Or-Buy-Strategien.

Anforderungen als Kostentreiber

Bei der Entwicklung von CCSB-Systemen werden heutzutage fast durchgängig agile Ansätze verfolgt, was grundsätzlich zu begrüßen ist. Werden agile Methoden wie SCRUM unvollständig oder falsch umgesetzt, lässt sich allerdings eine kontinuierliche Veränderung und Erweiterung der Anforderungen beobachten. Dies hat zum einen zur Folge, dass die Entwicklung nie ganz abgeschlossen wird. Zum anderen entfernt sich die Lösung immer mehr von den ursprünglich angestrebten strategischen Geschäftszielen. Es werden potenziell Funktionen umgesetzt, die nicht mehr auf den Erfolg der umzusetzenden Geschäfts-modelle einzahlen und somit unnötig Mehrkosten erzeugen.Neben den anwendungsspezifischen funktionalen Anforderun-gen sind die folgenden nichtfunktionalen Anforderungen aus unserer Sicht entscheidende Kostentreiber bei der Umsetzung eines Connected Car Service Backends (CCSB):

Flexibilität und Erweiterbarkeit: Die einem CCSB zugrunde liegenden Geschäftsmodelle können und werden sich ändern. Wer ein Geschäftsmodell hart in einem Backend-System verdrahtet, läuft Gefahr, hohe Kosten für Änderungen oder gar Neuentwicklungen tragen zu müssen und wertvolle Zeit bei der Umsetzung einer geänderten Geschäftsstrategie zu verlieren.

Skalierbarkeit: Viele neuartige Mobilitätsdienste erfordern eine hohe Nutzerzahl, um profitabel zu sein. Bei skalierbaren Systemen flacht die Kostenkurve mit steigender Nutzerzahl ab (Skaleneffekt). Bei nichtskalierbaren Systemen ist ein um-gekehrter Effekt zu beobachten: Ab einer gewissen Schwelle steigen die Kosten für zusätzliche Nutzer exponentiell an. Ein CCSB muss darauf ausgelegt sein, auch stark steigende Nutzer-zahlen zu unterstützen, ohne dass die Kosten im gleichen Maße oder gar überproportional steigen.

Verfügbarkeit: Die Dienste eines CCSB werden vom Endnut-zer rund um die Uhr und an 365 Tagen im Jahr genutzt. Dies gilt nicht nur für die digitalen CCSB-Dienste selbst, sondern auch für die begleitenden Prozesse wie zum Beispiel den Service Desk.

Effizienz: Die für den Betrieb erforderlichen Ressourcen wie Speicher, Rechenzeit, Infrastruktur, Lizenzen oder Serviceperso-nal wirken sich direkt auf die Betriebskosten aus. Während in der Pilotphase mit nur wenigen Nutzern die Betriebsressourcen in der Regel einen geringen Kostenanteil ausmachen, kann gerade bei High-Volume-Diensten eine optimale Ressourcennutzung entscheidend für die Profitabilität eines Mobilitätsprodukts sein.

Regulatorische Vorgaben: Insbesondere im Bereich Safety und Security sowie Datenschutz müssen regional zum Teil stark unterschiedliche regulatorische Vorgaben für CCSB-Systeme beachtet werden.

Diese Vorgaben müssen in der Entwicklungsphase umgesetzt werden und machen in der Regel zwischen 20 und 50 Prozent der Entwicklungskosten aus. Werden nichtfunktionale Anfor-derungen nicht oder zu spät berücksichtigt, kann im schlimm-sten Fall eine komplette Neuentwicklung erforderlich sein, was die Entwicklungskosten noch einmal verdoppelt.

Um sicherzustellen, dass die richtigen Anforderungen effizient umgesetzt werden, schlagen wir folgende Maßnahmen vor:

1. Stellen Sie die bidirektionale Verfolgbarkeit zwischen strategischen Zielen und Rahmenbedingungen (Design Constraints) sowie den funktionalen und nichtfunktionalen Anforderungen sicher! Die bidirektionale Verfolgbarkeit sichert die Vollständigkeit – alle strategischen Ziele und Rahmen- bedingungen wurden berücksichtigt – wie auch die Notwendig-keit der Anforderungen – alle Anforderungen lassen sich durch ein strategisches Ziel oder eine Rahmenbedingung begründen.

Abbildung 1:

Quelle: Detecon

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Nicht-skalierbares SystemSkalierbares System

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2. Erstellen Sie einen Fahrplan (Roadmap) für die Entwicklung! Agil zu entwickeln heißt nicht, sich von Sprint zu Sprint zu hangeln. Eine Entwicklungs-Roadmap, welche die gesamte Entwicklung bis zum GoLive abdeckt, sollte von Anfang an vorliegen und kontinuierlich gepflegt werden. Ein erster wichtiger Meilenstein ist in der Regel das Minimal Viable Product (MVP), mit dem der Funktionsumfang neuar-tiger Backend-Dienste verprobt wird. Diesem folgt das Minimal Marketable Product (MMP), welches grundsätzlich für einen Markteintritt geeignet ist. Über solche Haupt- und zusätzliche Zwischenmeilensteine lassen sich agile Entwicklungsprozesse steuern und synchronisieren.

3. Berücksichtigen Sie frühzeitig den gesamten Produkt- lebenszyklus! Modellieren Sie frühzeitig Anwendungsfälle nicht nur für die operative Nutzung des Mobilitätsdienstes durch den Endkunden, sondern auch für alle anderen Phasen des Produktlebenszyklus wie Wartung, Administration, Monitoring sowie In- und Außerbetriebnahme. Planen Sie die Vervollstän-digung der daraus abgeleiteten Detailanforderungen ein.

4. Nehmen Sie die Anforderungsentwicklung in die eigene Hand. Gerade OEMs betreten bei CCSB-Systemen oft Neu-land und neigen dazu, die Anforderungsentwicklung ihren Lieferanten zu überlassen. Dies birgt die Gefahr, dass der von Eigeninteressen nicht freie Lieferant zusätzliche Anforderungen in die Entwicklung einsteuert, die nicht für den Geschäftserfolg notwendig sind.

Auf die Architektur kommt es an

Die Architektur eines CCSB-Systems ist gerade für die Umsetzung der nichtfunktionalen Anforderungen, zum Beispiel Erweiterbarkeit, Skalierbarkeit oder Sicherheit, ent-scheidend: Ohne eine klare Struktur werden Änderungen schnell unbeherrschbar, Engpass-Komponenten lassen sich nicht gezielt identifizieren und verbessern, Einfallstore für potenzielle Angreifer können nicht gezielt abgesichert werden.Das hierfür erforderliche Architekturwissen fehlt oftmals neuen Marktteilnehmern und muss entweder eingekauft oder mühsam aufgebaut werden. Ein Zeitraum von ein bis zwei Jahren ist hierfür durchaus realistisch. Drei goldene Regeln sind bei der Umsetzung einer kosten- effizienten CCSB-Architektur besonders hervorzuheben:

1. Achten Sie auf Modularität. Eine modulare Gesamtarchi-tektur mit klar definierten Schnittstellen ermöglicht es, einzelne Komponenten zu pflegen, auszutauschen, hinzuzukaufen oder wiederzuverwenden. Dies hat einen gleichermaßen positiven Einfluss auf Kosten und Umsetzungsgeschwindigkeit.

2. Maximieren Sie die Wiederverwendung. Um ein Portfolio aus mehreren Mobilitätsprodukten kosteneffizient umsetzen zu können, müssen Basisdienste wie Billing oder die Nutzerver-waltung von mehreren Produkten gleichzeitig genutzt werden können. Dabei dürfen diese sich nicht gegenseitig ungewollt beeinflussen. Wiederverwendbarkeit kann auch marktüber-greifend durch die Einbettung von Standardkomponenten und Drittdiensten, beispielsweise Karten- oder Wetterdienste, statt-finden.

3. Sorgen Sie bezüglich der Systemarchitektur für klare Prozesse und Verantwortlichkeiten. Definieren Sie die Rolle des Systemarchitekten zentral und produktübergreifend. Klären Sie die Schnittstellen und Prozesse zwischen den verschiedenen Rollen.

IT-Organisationen und -Systeme

Der Wechsel vom internen zum externen Dienstleister mit direkter Schnittstelle zum Endkunden ist ein Paradigmenwechsel für die unterstützenden IT Abteilungen der OEMs. Support-prozesse und IT-Systeme müssen auf die Bedürfnisse der End-kunden ausgelegt werden. Die bestehenden Qualifikationen, Prozesse und Systeme sind in der Regel auf Büro-IT und die Steuerung von Industrieanlagen ausgelegt. Die etablierten Stan-dards sind auf ein Umfeld mit vorhersagbarem Transaktions-volumen und wiederkehrenden Tätigkeiten optimiert.

Abbildung 2: Architekturbild für die Prozessdigitalisierung

Quelle: Detecon

Frontend (App)

Produkt Produkt

Enterprise Service Bus (ESB)

Frontend (Web UI)

Frontend (App)

Supplier Gateway

Dienst Drittanbieter

Basisdienste

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Endkundensysteme zeichnen hingegen sich durch ungleich dynamischere Transaktionsraten und kontinuierlich wechselnde Kundenanforderungen aus. Der Dienstanbieter muss schnell auf Änderungen im Markt reagieren und neben seinen IT- Systemen auch seine Betriebsprozesse schnell anpassen können.

Ohne eine hierfür optimierte IT-Organisation und passende IT-Prozesse besteht ein hohes Risiko für Ineffizienzen im laufenden Betrieb mit negativen Auswirkungen auf Kosten und die vom Kunden wahrgenommene Qualität. Der Unterschied zwischen Anspruch und tatsächlich vorhandenen IT-Organisationen und -Prozessen macht organisatorische Veränderungen erforderlich. Wir empfehlen, die Planung und Steuerung der Änderungen von Struktur und Prozessen als Change Management Programm durchzuführen. Die betroffenen Unternehmenseinheiten müssen identifiziert und einbezogen, Geschäftsprozesse unter-sucht und angepasst werden. Die Verprobung der angepassten Prozesse in einer Pilotphase minimiert die Umsetzungsrisiken.

Im Falle einer Neuentwicklung kann und sollte der Umbau der IT-Organisation parallel zur Entwicklung des CCSB-Systems erfolgen, zum Beispiel indem man eine neue Organisations-einheit schafft und diese kontinuierlich in die bestehende IT-Organisation integriert.

In den betroffenen Organisationseinheiten ist damit zu rech-nen, dass 10 bis 20 Prozent der vorhandenen Kapazitäten durch die organisatorischen Veränderungen gebunden werden und nicht für operative Arbeiten zur Verfügung stehen.

Kaufen oder selber bauen? Intelligent entscheiden!

Es muss abgewogen werden, inwiefern Zeit- und Investitions-kosten durch die Einbeziehung von Modulen und Diensten von Drittanbietern eingespart werden können. Die Kostenersparnis ergibt sich daraus, dass ein Drittanbieter seine Investitionsko-sten auf mehrere Kunden umlegen kann und diesen Kostenvor-teil teilweise an seine Kunden weitergibt.

In manchen Fällen ist die Entscheidung einfach: Falls Inhalte eingebunden werden sollen, die intern nicht zur Verfügung stehen, führt kein Weg an der Einbindung eines externen Con-tentlieferanten vorbei – Beispiel Wetterdienste. Komponenten, die strategische Kernkompetenzen abbilden, sollten allerdings grundsätzlich nicht ausgelagert werden, um das eigene geistige Eigentum zu schützen.

In anderen Fällen ist die Entscheidung „Make or Buy“ kompli-zierter. Wichtige, zu berücksichtigende Aspekte sind:

• Einfluss auf eigene Marktdifferenzierung: Kann der zugekaufte Dienst mit eigenen Leistungen so angereichert werden, dass es sich von der Konkurrenz erkennbar unterscheidet? Insbesondere die Möglichkeit, die Nutzerschnittstelle an ein eigenes, markenspezifisches Design anzupassen, ist von elemen-tarer Bedeutung.

• Performance und Verfügbarkeit: Ist es technisch und kom-merziell machbar, dass die nötigen Transaktionsvolumen und Reaktionszeiten durch den zugekauften Dienst abgebildet werden können? Ist der Dienstanbieter in der Lage, die erforderliche Verfügbarkeit zu garantieren? Nicht nur aktuelle Kapazitäts- und Service-Level-Anforderungen, sondern auch zukünftige Entwicklungen, etwa durch den geplanten Aufbau zusätzlicher Dienste, müssen berücksichtigt werden.

• Time To Market: Wie viel Zeitersparnis ist bei der Ein-führung eines neuen Mobilitätsproduktes möglich, wenn ein benötigter Dienst oder eine Komponente extern eingekauft wird? Der Ersparnis bei der Implementierung der Funktio-nalität des umzusetzenden Dienstes muss der Mehraufwand für die Anbindung und Integration der externen Schnittstelle gegenübergestellt werden.

Insbesondere Basisdienste und Funktionen bieten sich für ein externes Sourcing an. So sind zum Beispiel sogenannte „Operating Support Services“ wie Kundenmanagement oder Abrechnung gute Kandidaten. Es empfiehlt sich, an dieser Stelle frühzeitig auf geeignete Industriestandards zu setzen, die eine Integration und einen späteren Austausch von Diensten erleich-tern.

Neben der Integration von fremden Diensten und Kompo-nenten in die eigene Plattform ist schließlich noch die Umset-zung eigener Geschäftsmodelle auf einer fremden Plattform zu betrachten: Der eigentliche Mobilitätsdienstleister nutzt oder lizensiert die Serviceplattform eines externen IT-Dienstleisters und setzt dort die eigenen anwendungsspezifischen Mehrwert-dienste um. Der Vorteil ist, dass Infrastrukturkomponenten wie Konnektivität, Nutzerverwaltung oder Abrechnung bereits integriert zur Verfügung stehen. So kann das Projekt auf die fachlichen Aspekte fokussieren und eine wesentlich kürzere Time To Market realisieren.

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Bei der kostenseitigen Bewertung einer Make-Or-Buy-Ent-scheidung sind die Kostentreiber für den Bau und den Zukauf von Diensten gegeneinander abzuwägen.

Fazit

Die Implementierung eines Connected Car Service Backends für Mobilitätsdienste ist ein komplexes und kostspieliges Unterfangen. Wir haben Kostentreiber in den Bereichen Anforde-rungen, Architektur, Organisationen und Prozesse sowie Make- Or-Buy-Strategien untersucht.

Neben auf das Wesentliche reduzierten Anforderungen, einer sauberen Umsetzungsplanung, einer modularen Architektur sowie einer auf Endnutzersysteme ausgelegten IT-Organisa-tion und -Systemlandschaft halten wir den intelligenten Ein-satz von Standardkomponenten für entscheidend für eine kosteneffiziente Umsetzung von CCSB-Systemen.

Kostenkalkulation Dienst zukaufen (Beispiel)

Lizenzkosten 5 Jahre 250 T€

Wartungsvertrag 5 Jahre InklusiveIntegrationsaufwand 100 €Pflegeaufwand 5 Jahre 50 T€Schnittstellenkosten 5 Jahre 200 T€

600 TEUR

Kostenkalkulation Dienst bauen (Beispiel)

Implementierungsaufwand 500 T€Pflegeaufwand 5 Jahre 250 T€Betriebskosten 5 Jahre 300 T€

Summe 1050 TEUR

BUY !

Dietmar Bernreuther ist Senior Consultant und seit zehn Jahren als Spezialist für Veränderungsmanagement und Entwicklungsprozesse in der Automobil- und Zuliefererindustrie tätig.

Sven Schuchardt ist Managing Consultant und berät Kunden bei der strate-gischen Konzeption und der operativen Umsetzung von neuen digitalen Dien-sten und Servicekonzepten.

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Interview

Fahrtenbuch smart umgesetzt In der Zukunft sieht sich Andreas Schneider nicht mehr als Autobesitzer. Er wünscht sich Mobilitätskonzepte, die ihn bei maximaler Flexibilität und Individualität von allen lästigen Themen rund um das Auto befreien. Von dem Beitrag, den sein Unternehmen heute schon im Kontext von Connected Car leistet, profitieren Dienst-wagenfahrer und Fuhrparkleiter: Vimcar bietet ein digitales Fahrtenbuch der nächsten Generation an. Im Gespräch mit dem DMR erzählt Schneider, was sein Unternehmen erfolgreich macht, und analysiert das aktuelle Marktgeschehen im Bereich vernetztes Fahrzeug.

Andreas SchneiderMitgründer und Geschäftsführer von Vimcar GmbH, Berlin

Andreas Schneider ist verantwortlich für Marketing und Vertrieb. Er hat während eines Forschungsprojekts mit der Universität Stanford die Potenziale des vernetzten Fahrzeugs für den Automobilhersteller Audi analysiert. Nach Stationen bei Payback und der Otto Group sowie einem Master-Abschluss in Business Innovation an der Universität St. Gallen folgte dann die Gründung von Vimcar in Berlin. Schneider ist 28 Jahre alt und im oberbayerischen Ingolstadt geboren.

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DMR: Herr Schneider, Vimcar kann man schon jetzt als Start-up-Erfolgsgeschichte bezeichnen. Was haben Sie besonders gut gemacht, was ist Ihr Erfolgsgeheimnis?

Schneider: Wir stellen eine digitale Lösung für ein analoges Problem bereit, das der Kunde kennt. Dementsprechend versteht der Kunde das Produkt und legt – und das ist für uns besonders wichtig – die nötige Zahlungsbereitschaft an den Tag. Darüber hinaus gibt es Gründe für unseren Erfolg, die generell in den Vorteilen eines Start-ups liegen: Wir können flott unsere Entscheidungen treffen. In Wolfsburg oder in Stuttgart überlegt man sich bestimmt Dinge zwei oder gar drei Mal, weil man eine milliardenschwere Marke auf die Waage legt. Vimcar tut sich leichter, weil wir, plump formuliert, weniger zu verlieren haben.

DMR: Die Risikobereitschaft eines Start-ups ist also auch ein Erfolgsgeheimnis?

Schneider: Definitiv, ja.

DMR: Das Vimcar Fahrtenbuch ist das erste Produkt, das Sie auf den Markt gebracht haben. Was ist das genau, wie funktioniert es und an welche Zielgruppe richtet sich das Produkt?

Schneider: Unser Produkt richtet sich an den Fimenwagenfahrer beziehungsweise an den Fuhrparkleiter und löst auf digitale Art und Weise das Problem des Fahrtenbuchs. Aus den verschiedensten Gründen muss oder will jemand beweisen, wie ein Fahrzeug genutzt wird. In einem Unternehmen werden Fahrzeuge oft gar nicht so sehr als Mobilitätsfaktor oder Mobilitätsvehikel gesehen, sondern vor allem als Kostenfaktor: Wer nutzt wie das Fahrzeug? Wie viele Privatfahrten, wie viele Geschäftsfahrten werden damit gemacht? Welchen Projekten und damit welchen Kunden stelle ich Mobilitätsaufwände in Rechnung? Wie teile ich diese Kosten steuerlich auf? Das ist der Use Case, auf den wir uns gerade in Deutschland fokussieren. Das Produkt besteht aus zwei Teilen: Sie benötigen zunächst einen kleinen Stecker, den man in den Diagnoseanschluss des Fahrzeugs einsteckt und erkennt, wann Sie losfahren und wann die Fahrt zu Ende ist. Er speichert die entsprechende Distanz ab und schickt die Daten sofort an das verschlüsselte Vimcar Rechenzentrum. Auf der Nutzerseite gibt es dann verschiedene Softwareprodukte – eine Smartphone-App, einen Web-Client –, mit denen man auf die Fahr-zeugdaten zugreifen kann. Eine Minute nach Fahrtende sehen Sie Ihre Fahrt bereits auf dem Smartphone und können mit einem Click entscheiden, ob das eine private oder betriebliche Fahrt war oder ein Arbeitsweg. Anschließend können Sie entsprechende Exporte erstellen, die Sie zum Beispiel dem Steuerberater, am Ende des Jahres dem Finanzamt oder auch dem Arbeitgeber zur Reisekostenabrechnung vorlegen.

DMR: Richten Sie sich mit Ihrem Produkt primär an den Dienstwagenfahrer als Endkunden oder mehr an Flottenbetreiber – also B2B oder B2C oder beides?

Schneider: Definitiv beides. Im ersten Schritt war der Vertrieb vor allem auf B2C fokussiert, indem wir einzelne Dienstwagenfahrer angesprochen haben. Das sind oft Freiberufler oder Selbständige, die ihre Finanzen selbst managen. Parallel sprechen wir große Flotten an. Dort ist der Fuhrparkleiter oft der zahlende Kunde, der Nutzer aber letztlich auch der Dienstwagen-fahrer. Ein Beispiel wäre die Deutsche Bahn, bei der für über 15.000 Fahrzeuge Fahrtenbuch geführt werden muss, über viele Bereiche und Teams hinweg.

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DMR: Es gibt bereits eine Vielzahl vergleichbarer Produkte auf dem Markt. Was kann Ihr Produkt besonders gut?

Schneider: Erste elektronische Fahrtenbuchlösungen gab es ja bereits um die Jahrtausend- wende, als die ersten GPS-Produkte auf den Markt kamen. Sie waren allerdings mit dem Problem behaftet, dass man zuerst mal in die Werkstatt musste, weil das Gerät nachträglich eingebaut werden musste. Das war aufwendig und kostete Zeit und Geld. Hierin liegt der ganz große Unterschied: Bei uns bestellt man einen Stecker, den man bereits am nächsten Tag einfach einstecken kann. Damit ist auch die Hürde des Ausprobierens drastisch gesunken. Darüber hinaus hat sich viel in Sachen Nutzerfreundlichkeit getan. Wir legen viel Wert darauf, dass die Nutzeroberfläche sehr einfach gehalten ist und auf verschiedenen Endgeräten, also sowohl auf dem PC als auch dem Smartphone, verfügbar ist. Unsere Lösung ist für den Endkunden designt. Wenn man für den Handwerksbetrieb von nebenan ein SAP-ähnliches Produkt platzieren würde, dann wäre diesem nicht geholfen. Die Bereitstellung einer massentauglichen, pragmatischen Lösung war uns wichtig.

DMR: Das elektronische Fahrtenbuch ist Ihr erstes Produkt. Für welche weiteren Produkte sehen Sie Wachstumschancen, in welchen Bereichen wollen Sie sich engagieren?

Schneider: Wir haben einen klaren Fokus und der heißt: Wir möchten nur Produkte und Services für den Firmenwagenfahrer und den Fuhrparkleiter anbieten. Wir werden nichts im Privat- konsumentenbereich anbieten, sondern wollen helfen, den Firmenwagen der Zukunft clever in sein Ökosystem zu integrieren. Das ist heute noch nicht der Fall. Dabei geht es weniger um abstrakte Datenpunkte und Zukunftsvisionen, sondern sachliche Basisinformationen: Wie und von wem wird das Fahrzeug benutzt? Welche Fahrten sind damit gemacht worden? Wie viele Kilometer hatte diese Fahrt? Darauf aufbauend bieten wir clevere Services für die Abrechnung auf Kilometer- oder Fahrtbasis. Das ist unser Fokus.

DMR: Gibt es eine Produktlinie, die bereits am Horizont zu sehen ist?

Schneider: Nein, das gibt es ganz bewusst nicht. Als Start-up sind wir gut beraten, uns erst einmal auf ein Produkt zu konzentrieren und diese Aufgabe sehr gut zu erledigen. Diese Frage stellen auch Investoren sehr gerne: Was ist denn das nächste Produkt und welches das übernächste? Ich sehe aber in unserer Position gerade die Chance, zu beobachten, was am Markt passiert, wer dann unser Kunde ist und wie sich die Bedürfnisse bis dahin entwickeln. Das halten wir uns ganz bewusst offen.

DMR: Connected Car ist seit einigen Jahren nicht mehr Trend, sondern in vielen Bereichen bereits Realität. Jedes Jahr gibt es ein neues Fokusthema – in diesem Jahr ist es das autonome Fahren. Das Muskelmessen auf verschiedenen Automobilmessen hat bereits begonnen. Wie ist Ihre Sicht auf dieses Thema?

Schneider: Ich habe das Gefühl, dass es heute, zumindest aus Herstellersicht, vor allem um den Konsum von externen Informationen im Fahrzeug geht: Wie integriert man Infotainment ins Fahr-zeug, wie kann man externe Services clever und vielleicht auch individualisiert im Fahrzeug nutzen? Ich glaube aber, dass das große Potenzial darin liegt, dass man genau anders herum denkt, indem man sich fragt: Wie kann ich Fahrzeugdaten, die das Fahrzeug oder der Fahrer erzeugen, extern nutzen und somit das Fahrzeug clever in die Umwelt integrieren? Was man momentan beobachten kann, erinnert an die Smartphone-Situation von vor zehn Jahren. Damals haben viele Akteure versucht, sich eigene Plattformen zu bauen: die Handy-Hersteller hatten eigene App Stores, auch die Telekommunikationsunternehmen haben ihr Glück versucht, externe Anbieter wie Google

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sind auf den Markt gekommen. Dann hat sich dieser Markt konsolidiert. Rückblickend muss man sagen, dass sich ein Hersteller durchgesetzt hat, nämlich Apple, und dazu ein externer Anbieter, der vorher auf dem Markt noch gar nicht aktiv war, nämlich Google. So ähnlich fühlt sich das gerade an. Die Automobilhersteller haben den Anspruch, eine Plattform anzubieten und einen Teil die-ser Wertschöpfung abzugreifen, die Zulieferer möchten ebenfalls ein Wörtchen mitreden, weil sie ja bereits herstellerübergreifend ganz gut verdrahtet sind, Telekommunikationsunternehmen sind wieder dabei und natürlich Apple und Google. Es ist noch unklar, wer zum Schluss das Rennen machen oder in welcher Kombination man sich die Wertschöpfung aufteilen wird.

DMR: Inwieweit tangiert Sie dies?

Schneider: Wir verfolgen die Strategie, ein ganz spezifisches Problem zu lösen und innerhalb dieses Fokusthemas Exzellenz zu beweisen. Auf welcher Plattform die Lösung in Zukunft verfügbar sein wird, das heißt, ob wir weiter auf eine After-Market-Lösung in Form von OBD-Hardware zugreifen, ob wir unser Produkt im Rahmen von Hersteller-Ökosystemen wie zum Beispiel Audi Connect oder im Rahmen einer Apple- oder Android-Plattform fürs Fahrzeug anbieten, ist für uns nicht der entscheidende Punkt. Die Automobilindustrie muss aus unserer Sicht aber sehr deutlich hinterfragen, worin sich in naher Zukunft Alleinstellungsmerkmale und Begeisterungsmomente finden lassen.

DMR: Sie haben Apple und Google sehr oft genannt. Werden sich die deutschen und internationalen Automobilhersteller im Kontext von Connected Car am Ende des Tages als Zulieferer von Google, Apple & Co. wiederfinden?

Schneider: Ich glaube, dass Automobilhersteller Akteure wie Google und Apple nur dann als Gefahr für das Kerngeschäft sehen müssen, wenn versäumt wurde, sich in Sachen digitaler Produkte schnell und clever zu öffnen. Nutzer haben den Anspruch, dass die digitalen Lösungsansätze, die sie inzwischen in der Hosentasche mit sich herumtragen, in jeder Lebenslage zum Tragen kommen. In diesem Sinne kann man Fahrzeuge einfach wie eine weitere Hardwareplattform verstehen, die klare Regeln zur Datennutzung und gut gepflegte, sichere Inter-face-Standards benötigt. So könnte eine ähnliche Dynamik wie auf dem Smartphone-Markt ent-stehen, der seinen wirklichen Wert erst durch das Angebot der angeschlossenen App-Stores erhält. Wer diese Chance allerdings versäumt und vor allem hofft, alles allein machen zu können, so wie vor gar nicht so langer Zeit manche Handyhersteller, läuft womöglich Gefahr, nicht konkurrenzfähig zu bleiben. Und eröffnet Google und Apple das Feld, es mit eigenen Fahrzeugen besser zu machen!

DMR: Um weiter wettbewerbsfähig zu sein, müssen die deutschen Automobilhersteller also aus Ihrer Sicht stärker auf das Thema Partnerschaften fokussieren und nicht immer den Anspruch haben, alles selbst machen zu wollen. Gibt es darüber hinaus Aspekte für die deutschen Automobilhersteller, die für ihre Wettbewerbsfähigkeit wichtig sind? Muss sich vielleicht auch etwas innerhalb der Unternehmen kulturell ändern?

Schneider: Ich kann hierzu nur sagen, was uns auffällt, wenn wir mit Automobilherstellern sprechen. Und das ist noch mal ein anderer Aspekt als die grundsätzliche Offenheit, externe Services mit anzubieten: Viele glauben im Bereich „Vernetztes Fahrzeug“ an die zwingende Voraussetzung, First Mover zu sein oder einzelne Services anbieten zu können, die die Konkurrenz nicht im Programm hat. Da merkt man, dass es viele Ideen gibt, viele Apps und Services, die aus Kundensicht großes Potenzial besitzen, aber nur herstellerübergreifend erfolgreich funktionieren würden. Hersteller verbauen sich womöglich Chancen oder bringen Projekte gar nicht erst ins Rollen, weil sie noch im Exklusivitäts- und Patentierungsmodus stecken, wie man sie aus der Zubehör-Welt kennt.

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DMR: Können Sie ein Beispiel nennen für einen marken- oder herstellerübergreifenden Dienst?

Schneider: Wir finden solche Beispiele sehr oft im Flottenkontext. Wenn Sie eine Flotte haben mit 1000 Fahrzeugen, dann kommen vielleicht 100 von Audi, 400 von Renault und 500 von VW. Und in zwei Jahren kaufen Sie wieder anders ein. Da bringt Ihnen eine Insel- lösung einfach gar nichts. Ein anderes Beispiel ist die Ferndiagnose: BMW ist natürlich viel daran gelegen, Ferndiagnosen in Zusammenarbeit mit BMW-Partnerwerkstätten anzubieten. Da ist aber dem Leasing-Geber, der einen Rahmenvertrag mit einer unabhängigen Werkstatt hat, wenig geholfen. Der Zwang, herstellerübergreifend zu denken, ist in dieser Hinsicht ein Vorteil des Firmenwagenmarktes: Solange jeder Automobilhersteller nur seine eigene Marke optimiert, blockiert das definitiv ein Stück weit den Markt und hemmt Innovationen.

DMR: Kommen wir noch einmal auf das Thema Start-up. Das vernetzte Fahrzeug bietet ja auch kleineren Unternehmen, vor allem Start-ups, die Möglichkeit, Nischen zu besetzen. Welchen Trend sehen Sie hier? Und wie beurteilen Sie allgemein das Klima für Start-ups sowie die Chancen und Risiken, die sich für junge Unternehmen im Umfeld der Digitalisierung von Geschäftsprozessen ergeben?

Schneider: Im Connected-Car-Kontext ist es aus meiner Sicht tatsächlich so, dass die Start-ups immer einen sehr starken Fokus auf den Anwendungsfall haben. Start-ups tun sich schwer zu sagen – und hier spanne ich noch einmal den Bogen zu unserer vorherigen Diskussion – „wir machen eine Plattform und stellen uns in Konkurrenz zu Apple und Goolge oder zu Bosch“. Das ist für ein Start-up, das schnell sein und vor allem schnell Geld verdienen muss, keine gangbare Strategie. Ich glaube, dass es generell für Start-ups noch nicht so einfach ist, weil noch viel vom Wohlwollen der Automobilindustrie abhängt. Die Zeit drängt aber. Ich kann ja nicht fünf Jahre lang entwickeln und hoffen, dass mich dann ein Automobilhersteller integriert. Man muss den Investoren – und auch sich selbst – viel schneller beweisen, dass man ein nachhaltiges Geschäft aufbauen kann. Das ist die Herausforderung von Start-ups im Kontext von Connected Car.

DMR: Sie haben anfangs erwähnt, dass Sie einen Erfolgsfaktor im Thema Risikobereitschaft sehen. Was würden Sie aus Start-up-Perspektive großen deutschen Automobilhersteller mitgeben, um künftig erfolgreich zu sein? Was können diese Unternehmen von Ihnen lernen und was ist übertragbar, was vielleicht auch nicht?

Schneider: So simpel das vielleicht klingt: machen, ausprobieren! Das ist natürlich auf einen Konzern nur begrenzt übertragbar. Aber ich glaube, es gibt auch Modelle, mit denen man das zumindest versucht. Ich nenne als Beispiel Audi: Dort wurde mit Audi Mobility eine Tochter- gesellschaft gegründet, um verschiedene Mobilitätskonzepte auszuprobieren, teilweise auch regional begrenzt – mal in München, mal in Stockholm. In diesem begrenzten Rahmen guckt man, wie das Feedback ist. Das ist ein flexibler Ansatz, der Innovationsgeschwindigkeit digitaler Unternehmen ähnelt und aus meiner Sicht einen großen Wettbewerbsvorteil bietet.

DMR: Haben es Start-ups in Deutschland schwerer als in anderen Ländern? Welche Rahmen- bedingungen würden Sie sich wünschen?

Schneider: Wir spüren hier im Vergleich zu den USA natürlich sehr deutlich, dass es viel weniger Investoren gibt, die wirklich bereit sind, Risiken einzugehen. Deutsche Investoren, die Start-ups unterstützen, möchten entweder ein Modell sehen, das sich bereits sehr genau rechnen lässt, in dem also das Gros der Fragen schon beantwortet ist (lacht), oder das Gefühl haben, mit dem nächsten Google oder Facebook am Verhandlungstisch zu sitzen. Die vielen tollen Unternehmen, die vielleicht nicht ganz so groß sind wie Facebook und Google, die man vielleicht nicht sofort durchrechnen kann, aber über großes Innovationspotenzial verfügen, gehen hier oft noch leer aus

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und bekommen die nötige Finanzierung nicht, um zu beweisen, dass es ihren spezifischen Markt eben doch gibt. Das ist in den USA ganz anders und hat vermutlich weniger mit politischen oder rechtlichen Rahmenbedingungen zu tun als vielmehr mit der Historie und den über viele Jahre gewachsenen Ökosystemen in den USA. Das Thema Risikokapital ist in Deutschland einfach nicht so ausgeprägt wie in den USA oder in Großbritannien.

DMR: Eine große Anzahl von Start-ups scheitert ja beim ersten Versuch, die Quote liegt sogar bei 80 Prozent. Was sind Ihre Lessons Learned aus Ihrem erfolgreichen Start? Was würden Sie anderen Start-ups empfehlen?

Schneider: Ein ganz generelles Learning auf unserer Seite – ich hatte es anfangs schon erwähnt – ist auf jeden Fall die Fokussierung auf ein spezielles, existierendes Problem, für das es ab der ersten Minute eine Zahlungsbereitschaft gibt. Das vereinfacht vieles, denn man merkt schnell, ob das Produkt angenommen wird. Das ist auch übertragbar auf viele Industrien. Darüber hinaus gibt es im Bereich Connected Car gewisse Gefahren, die vor allem rein presseseitig negativ diskutiert werden, die man aber als Chance sehen kann. So wird in der Presse Connected Car vor allem mit Datenschutz und Privacy in Verbindung gebracht, ganz nach dem Motto: „Werden jetzt die Automobilhersteller auch zur Datenkrake?“ Das haben wir von Anfang an einfach umgedreht und gesagt: „Wir sehen Datenschutz als Chance und nicht als Gefahr.“ Das bedeutet für unser Produkt zum Bespiel, dass wir den Fahrer entlang der Strecke nicht per GPS tracken, sondern nur den Start- und den Endpunkt der Fahrt aufzeichnen und abspeichern. Das hilft natürlich im Flottenbereich ungemein, man zeigt Diskretion und Datenschlankheit. Diese Denke ist vielleicht auch auf andere Industrien übertragbar.

DMR: Erlauben Sie uns anschließend noch eine persönliche Frage: Wie sieht Ihr Wunschauto der Zukunft aus? Was sind Ihre Visionen?

Schneider: Ich möchte in 10-15 Jahren nicht mehr selbst am Steuer sitzen, sondern setze auf autonomes Fahren. Vor allem möchte ich aber das Auto nicht mehr selbst besitzen und mich nicht mehr mit den ganzen Themen, die dazu gehören, herumschlagen müssen. DriveNow und Car2Go bieten hier schon ganz gute Lösungen an, vielleicht geht es zukünftig noch ein Stück flexibler. Trotzdem möchte ich das Gefühl haben, dass mein Auto meine individuelle digitale Welt perfekt integriert. Das ist mein Wunsch an ein Zukunftsauto.

Das Interview führte Jens Rese, Managing Consultant, Detecon International GmbH.

Vimcar macht den Firmenwagen zu einem echten Bestandteil des digitalen Unternehmens. Durch die intelligente Nutzung von Fahrzeugdaten und extrem einfache User-Interfaces gelingt es dem Berliner Startup die betriebliche Fahrzeugnutzung stark zu ver-einfachen. Das erste Produkt, der elektronische Fahrtenbuchservice von Vimcar, wird schon kurz nach Marktstart von mehreren hundert Unternehmen in Deutschland, Österreich und der Schweiz erfolgreich eingesetzt. 2013 von Christian Siewek, Lukas Weber und Andreas Schneider gegründet, wird Vimcar auch von promi-nenten Investoren wie z.B. Christophe Maire oder der fanzösischen Groupe Arnault unterstützt.

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Tante Emma wusste, dass die kleine Laura besonders gern die Karamellbonbons mochte und deshalb sehr nachdrücklich den Einkaufsweg von Mama regelmäßig in ihren Laden lenkte. Für die Mutter der fünfköpfigen Familie hielt Tanta Emma immer die richtige Kombination aus Nahrungsmitteln, Getränken und sonstigem Bedarf des täglichen Lebens bereit – dazu stets einen guten Rat für die Erziehung oder einen Tipp für die Behandlung kleiner Wehwehchen. Rundum gut bedient schau-te Laura’s Mama dann auch nicht auf den letzten Cent, den sie eventuell im Discounter in der Stadt hätte sparen können.

Connected Car? Connected Customer!

Kundenbindung im AftersalesConnected Car rückt Automobilhersteller näher an ihre Kunden. Es ist deshalb elementater Teil eines digitalen Customer Relationship Management mit Fokus auf die Phase Ownership.

Der zunehmende Zwang zur Wirtschaftlichkeit für die Bedienung von Massenmärkten hat die Tante-Emma-Läden verschwinden lassen. „Economies of Scale“ gewannen die Oberhand. Aber das Grundprinzip der optimalen Kunden-betreuung als Basis für die Kundenbindung und damit die Loyalität ist geblieben:

> dem richtigen Kunden> zum richtigen Zeitpunkt> das richtige Angebot> auf die richtige Art und Weise machen.

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Herausforderungen im Aftersales der Automobilindustrie

Übersetzt in moderne CRM-Konzepte bedeutet das:

> Treffsichere Segmentierung von Kunden> Prediktion des voraussichtlichen Zeitpunktes für das Ent- stehen eines Bedarfes> auf den individuellen Bedarf zugeschnittene, als „passend“ empfundene Angebote> über den geeigneten – gegebenenfalls individuell präferierten – Kommunikationskanal.

Wie lässt sich dieses Konzept mit Hilfe von innovativer Informations- und Kommunikationstechnologie (ICT) sinn-voll umsetzen?

Automobilhersteller standen bislang vor dem Dilemma, Infor-mationen über ihre Kunden nur in den Anbahnungsphasen und bis zur Fahrzeugübergabe zu erhalten. Die Mehrzahl der Kundeninteraktionen erfolgte beim Händler und anschlie-ßend in der Werkstatt. Da die Händler und Werkstätten in der Regel rechtlich selbständige Unternehmen sind, deren Unter-nehmenswert in maßgeblichem Umfang durch den – loyalen – Kundenstamm bestimmt wird, ist nicht verwunderlich, dass der Austausch des Wissens um den Kunden und seine Bedarfe mit dem Hersteller oftmals recht spärlich erfolgt. Insbesondere bei Fahrern älterer Fahrzeuge verlor sich die Spur des Kunden zu-nehmend, und spätestens beim Kundenwechsel im Zuge eines Gebrauchtwagenverkaufs riss der Faden zum Hersteller voll-ständig ab. Bislang waren Automobilherstellern also weitgehend die Hände gebunden, um Kunden auch in der Phase „Fahrzeug- nutzung/Service“ („Ownership“) aktiv an sich zu binden und durch geeignete Kommunikationsmaßnahmen ihre Loyalität über den kompletten Lifecycle zu sichern. Dabei ist Loyalität für die Hersteller nicht nur getreu dem Motto „nach dem Kauf ist vor dem Kauf“ existenziell, sondern auch für das margenträchtige Ersatzteilgeschäft während der Nutzungsphase selbst. Mit zunehmendem Fahrzeugalter steigt der Teilebedarf, aber leider bislang auch umgekehrt proportional die Loyalität: Die Treue zur Markenwerkstatt sinkt mit dem Fahrzeugalter rapide ab, ohne dass der Hersteller hierauf mit gezielter Kundenansprache reagieren kann.

Welche Lösungen bietet Connected Car?

Connected Car bietet dem Hersteller nun die Möglichkeit, auch nach der Fahrzeugübergabe mit dem Kunden in Kontakt zu bleiben, alles über die Wartungs- und Reparaturbedarfe zu erfahren und im Falle des Halterwechsels sogar den neuen Kunden – des Gebrauchtfahrzeugs – kennen zu lernen.

Susi hat sich bei ihrem neuen Auto für die eingebauten Con-nected-Car-Dienste entschieden. Ihr „digitaler Co-Pilot“ unterstützt sie während der Fahrt, sie bekommt die aktu-ellsten Hinweise online und auch ihr Nachwuchs freut sich dank automobilem Hotspot über die „allways on“ Entertain-ment-Funktionalitäten. Die Warnmeldung in ihrem Display „Fehler E404.03“ bekommt sie dank ihrer App erläutert: „Der Luftmassenmesser hat unplausible Werte geliefert. Es kann zu Leistungsabfall des Motors kommen. Bitte innerhalb der nächsten 100 km Werkstatt aufsuchen.“ Sie ist beruhigt, dass sie zunächst noch mit ihren Kindern zur Oma fahren kann. Der Fehlercode wird vom Fahrzeug auch an das Backend des Herstellers gesendet und dort zu einem Lead für die zustän-dige Werkstatt aufbereitet. Die Werkstatt erhält die Infor-mation über den aufgetretenen Fehlercode, das dazugehörige Fahrzeug und den Kunden. So kann der Händler Susi noch am selben Tag über ihren präferierten Kommunikations- kanal WhatsApp kontaktieren und ihr drei mögliche Termine für einen Werkstattbesuch anbieten. Natürlich nachmittags, weil Susi bekannterweise am Vormittag als Tagesmutter voll und ganz für die Kinder da sein will.

Peter kauft über eine Internet-Plattform einen günstigen Gebrauchtwagen. Der Vorbesitzer erläutert ihm, dass das kleine unscheinbare Kästchen im Fahrerfußraum mit dem Bluetooth-Symbol eine Connected-Car-Nachrüst-Lösung ist, die über die OBD2-Schnittstelle („Diagnose-Stecker“) mit der Fahrzeugelektronik kommuniziert. Neugierig über die digitale Zusatzfunktion seines neuen „Gebrauchten“ meldet er sich im Kundenportal des Herstellers an und kann nun auch die heruntergeladene App als „digitalen Co-Piloten“ nutzen. Peter freut sich über die Fahrtenbuch-Funktion: So kann er mit wenig Aufwand seine Steuerrückerstattung er-höhen. Sein zuständiger Markenhändler wird über die Re-gistrierung informiert und dank des an das Backend über-mittelten Kilometerstandes hat das Rätselraten, wann der nächste Servicetermin fällig ist, ein Ende. Der Händler – Einverständnis vorausgesetzt – kann Peter auf den fälligen Service ansprechen und ihm als preissensitiven Kunden ein entsprechend besonders günstiges Angebot machen. Und der Hersteller kann in Kenntnis des schmalen Geldbeutels von Peter mittels geeigneten Newslettern oder gezielten Push- Notifications in der Connected Car App nach Auftreten von bestimmten Fehlern auf seine preisgünstige Ersatzteil-Zweitli-nie „Günstige Originale“ hinweisen. So kann Peter beim Auf- suchen einer freien Werkstatt zumindest bei wichtigen Ersatzteilen für die Qualität der Originalteile weiterhin bei der Stange gehalten werden.

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Abbildung 1: Customer Lifecycle in der Automobilindustrie

Quelle: Detecon

Customer Lifecycle

Ownership0 - 2 Years

Ownership2- 4 Years

Ownership> 4 Years

SalesPre-Sales

Retention/ Re-Purchase

Awareness

Digitale Potenziale von Connected Car für Customer Relationship Management

Die digitalen Möglichkeiten von Connected Car helfen dem Automobilhersteller in allen vier Dimensionen von CRM:

> Durch das Bekanntsein des Kunden über den kompletten Fahrzeugzyklus – auch bei Halterwechsel – bekommt der Her-steller durch Connected Car erstmals die Möglichkeit, auch in der Nutzungsphase in direkter Kommunikation mit dem Kunden zu bleiben. Das Zusammenspiel von Hersteller und Händlern wird hierdurch noch enger. Die Sammlung von Daten über das Fahrzeug sowie – das entsprechende Einver-ständnis des Fahrers vorausgesetzt – über das Fahrverhalten seines Nutzers liefert wertvolle Erkenntnisse über die indivi-duellen Bedarfe des Fahrzeugs und seines Fahrers. Diese Daten eignen sich dafür, mittels Big Data und Customer-Analytics-Funktionen auch in anonymisierter Form ausgewertet und für eine noch zielgerichtetere Segmentierung verwendet zu werden.

> Dank der online-Übermittlung des aktuellen Kilometer-standes sowie generierter Service-oder Fehlermeldungen ist der Zeitpunkt von fälligen Wartungen oder erforderlichen Repara-turen nicht länger ein Ratespiel. Gerade bei älteren Fahrzeugen oder nach Halterwechsel mit einhergehendem anderen Fahr-verhalten – Viel-/Wenig-Fahrer, Stadtverkehr vs. Autobahn – liegen nun exakte Bedarfe in Echtzeit vor.

> Dies gilt nicht nur für den Zeitpunkt, sondern auch für den Bedarf an sich. Die Service- oder Fehlermeldungen geben dem fachkundigen Serviceberater in der Werkstatt exakte Angaben über durchzuführende Arbeiten und erforderliche Ersatzteile. Hierdurch können unangenehme Wartezeiten oder Verzöge-rungen in der Werkstatt vermieden werden, weil der Händler den genauen Servicebedarf bereits kennt, bevor der Kunde mit seinem Fahrzeug in die Werkstatt kommt. Eventuelle Nach-bestellungen von Ersatzteilen, deren Notwendigkeit sonst erst bei der Wagenannahme erkannt wird, können bereits im Vor-feld getätigt werden. In der Vergangenheit gab es vielfach mas-sive Beschwerden der Händler über die Qualität der von Her-stellern generierten und an sie weitergeleiteten Leads. Durch Connected Car werden die Leads im Moment der Generie-rung auch gleich in hoher Qualität qualifiziert: Der Bedarf ist exakt beschrieben und der Kunde hat – durch die Nutzung der Connected-Car-Funktionalitäten – Interesse an einer kontinu-ierlichen Beziehung zum Hersteller und seinem Partnernetz-werk geäußert.

> Und schließlich eröffnet Connected Car neue Kommu-nikationskanäle: zum einen durch die Head-Unit, die der Kunde als Kommunikationsschnittstelle mit seinem Auto – als Repräsentant der Marke – intensiv nutzt. Hier können in geeigneter und wohl dosierter Form auch Kampagnen-Inhalte angezeigt werden. Zum anderen wird die Connected Car App zum ständigen Wegbegleiter des Fahrers und ist auf dem mobilen Endgerät insbesondere für jüngere Zielgrup-

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Abbildung 2: Architektur einer Connected-Car-Lösung mit Händler-Integration

Quelle: Detecon

VehicleBackend

Connected CarArchitecture

Händler/WerkstattConCar App Head Unit im Auto Customer Portal

CRM Hersteller DMS

gration) oder Spaß-Komponenten (Gamification). Nur wenn die Kunden einen Nutzen erkennen, werden sie bereit sein, mit der dafür üblichen „Währung“ zu bezahlen – der Bereit-stellung ihrer Daten.

Connected-Car-Lösungen haben ihren Ursprung in den Ent-wicklungsabteilungen der Fahrzeughersteller und wurden häufig auf Basis des technisch Machbaren konzipiert. Die zentrale Frage nach dem, was der Kunde tatsächlich will und braucht, blieb häufig im Hintergrund. Detecon bringt seine ausgeprägte Expertise im Bereich CRM, Sales und Service in Connected-Car-Projekte ein, um den Kunden in den Mit-telpunkt zu stellen. So wird Connected Car zu Connected Customer und entfaltet sein volles Potenzial.

Übrigens freut sich Laura noch heute, wenn nach dem Ser-vice Check auf dem Beifahrersitz nicht nur das ausgefüllte Serviceheft liegt, sondern auch eine kleine Tüte mit Karamell-bonbons …

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Dr. Jürgen Padberg ist Partner im Bereich Automotive und Leiter der Global Practice CRM, Sales & Service. Er begleitet Klienten in der digitalen Transfor-mation, um mit Hilfe innovativer Technologien neue Wege der Kundenkom-munikation und „Customer Experience“ zu gestalten. Andreas Seel ist Managing Consultant und Experte für Connected Car. Er ist Mitglied des Connected Car Solution Center und berät Automobilfirmen und deren Zulieferer zu technischen und wirtschaftlichen Fragestellungen.

pen das Medium schlechthin. Ein besonderer Vorteil dieser beiden Connected-Car-Kanäle für die Kundenansprache ist der unmittelbare Zusammenhang mit der Produkt- bezie-hungsweise Dienste-Nutzung: Die Kommunikation kann in dem Moment erfolgen, in dem der Kunde mit dem Pro-dukt Auto oder den Connected-Car-Diensten seine Erfah-rungen macht. Diese „Nähe“ kann genutzt werden, damit die zu vermittelnden Botschaften viel unmittelbarer und intensiver „ankommen“, als wenn irgendwann am Tag eine E-Mail oder eine Broschüre in den Briefkasten flattert.

Der Kunde steht im Mittelpunkt, nicht die Technologie

Das immense Potenzial von Connected Car für das Kunden-beziehungsmanagement entfaltet sich allerdings nur dann in vollem Umfang, wenn die Nutzer mitmachen. Kunden müs-sen die Connected-Car-Dienste nutzen, um die gewünschten Daten zu generieren und die laufende Interaktion mit dem Hersteller aufrecht zu erhalten. Die Funktionen der Con-nected-Car-Lösungen müssen – ob fest mit der Hardware des Autos verbunden oder in Form einer mobilen App – einen konkreten Nutzen für die Fahrer haben und einen greifbaren Mehrwert bieten. Ideal ist eine Kombination von rationalem Nutzen, beispielsweise Funktionen für die Effizienzsteigerung wie eine spritsparende Fahrweise oder mehr Komfort durch die Fahrunterstützung des „digitalen Co-Piloten“, mit emotio-nalen Komponenten, die Kunden begeistern. Beispiele hierfür sind die Einbindung sozialer Aktivitäten (Social Network Inte-

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Autonomes Fahren steht für Tom Kirschbaum nicht nur für mehr Komfort, sondern vor allem für Sicherheit und die Lösung urbaner Infrastruk-turprobleme. Hierauf zielt auch die Transport-App ally, die in vielen großen Städten die jeweils schnellste und günstigste Route unter Einbezug aller Transportmöglichkeiten – U-Bahn, S-Bahn, Bus, Fußwege, Bike- und Car-Sharing, Taxis und Fahrradwege – findet. Connected Car ist für ihn ein emotionales Thema, da es um Aspekte geht, die unser Leben in der Stadt verbessern können. Und diesem Zweck soll Technologie letztendlich dienen.

Die Technologie dient dem Menschen, nicht umgekehrt.

Interview mit Dr. Tom Kirschbaum, Gründer und Geschäftsführer, Door2Door GmbH

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Connected Car & ally

DMR: Herr Kirschbaum, wie lautet Ihre Zukunftsprognose für den Verkehr der Zukunft?

T. Kirschbaum: Wir stehen am Beginn eines neuen Zeitalters der Mobilität. Die Digitalisierung hat bereits viele Industrien einem epochalen Wandel unterworfen, nun erreicht sie das Automobil und den Verkehr. Vergleicht man einen Pkw aus dem Jahr 1985 mit einem Nachfolgemodell aus 2015, handelt es sich faktisch um ein unverändertes Produkt: Chassis, vier Reifen, ein Verbrennungs-motor, von einem Menschen gesteuert. Digitale Technologien – einfacher: das Internet – spielen beim Betrieb eines Autos noch keine Rolle. Gleiches gilt für den öffentlichen Nahverkehr: Wie hat eine Busfahrt vor 30 Jahren ausgesehen? Man zahlte einen festen Preis für das Ticket, alle 20 Minuten kam der Bus, man stieg ein. Und heute? Unverändert. Selbst die Fahrzeuge sehen mehr oder weniger identisch aus. Und man hat immer noch festgelegte Routen. Auch hier hat sich also faktisch nichts getan. Andere Industrien, darunter Medien, Film und Musik, haben sich durch die Möglichkeiten der Technologie neu aufgestellt. Beispielsweise wird heute Musik mit Spotify, Apple Music, TIDAL und anderen Anbietern gestreamt. Die Digitalisierung hat die Software in den Mittelpunkt gerückt.

DMR: Das klingt dramatisch. An welche Veränderungen denken Sie?

T. Kirschbaum: Dramatisch ja – im positivsten Sinne. Software-lösungen ermöglichen bereits neue Produkte: Car-Sharing ist ohne eine App nicht denkbar, ebenso Taxi-Apps oder Dienste wie Uber. Allen ist gemein: Software ist der Schlüssel des Produkts, nicht die Hardware. Die bedeutendsten Veränderungen werden wir durch das selbstfahrende Auto erleben, autonomes Fahren steht nicht nur für mehr Komfort, sondern auch für mehr Sicherheit und die Lösung großer Infrastrukturprobleme in den Städten. Wenn selbstfahrende Autos durch intelligente Software gesteuert werden, braucht es keine Parkplätze mehr. Eine faszi-nierende Vorstellung. Staus können deutlich reduziert werden, Smog ebenso. Auch der öffentliche Nahverkehr wird sich maß-geblich verändern: Dynamische Angebote, die sich dem anpassen, was Passagiere benötigen. Es wird Plattformen geben, die Vehikel abhängig von den Transportbedürfnissen der Reisenden zur Ver-fügung stellt. Leere Fahrten zu Stationen, zu denen niemand hin-fährt, wird es nicht mehr geben. Zurzeit ist das immer wieder der Fall, was daran liegt, dass die Routen immer noch veralteten Vor-gaben folgen. Diese Strecken sind weder auf dem neuesten Stand noch flexibel noch effektiv. Das Ziel ist es, Routen on-demand und in Echtzeit zu erstellen, um so einen dynamischen Transport zu ermöglichen. Das bringt Menschen dorthin, wo sie wirklich hin müssen – und das wesentlich effizienter.

DMR: Sprechen wir von Science Fiction oder werden wir die Innovationen schon bald erleben können?

T. Kirschbaum: Sehr bald. Softwareunternehmen, allen voran Google, drängen mit erheblichem Erfolg auf die Marktzulassung des selbstfahrenden Autos. Auch wenn einzelne Fragen noch ungeklärt sind – in nur wenigen Jahren wird der Epochenwechsel eingesetzt haben. Gleiches gilt für Technologien, um den Nahverkehr ins digitale Zeitalter zu bringen. Wir selbst stecken mit ally mitten in ersten Prototypen.

DMR: Welche Rolle spielt das Connected Car?

Das Auto wird selbstverständlich Teil der Verkehrskette blei-ben. Es wird sich allerdings anders einfügen in eine Kette unter-schiedlichster Angebote, die alle über Softwareapplikationen zur Verfügung gestellt werden. Die Anfänge sind da: Insbesondere für junge Menschen wird die Nutzung von Car-Sharing immer selbstverständlicher. DriveNow und Car2Go sind erste Beispiele davon, wie Autos über Apps nutzbar sind. Noch weiter gehen Uber und Lyft: Nicht nur die Bestellung des Fahrzeugs, auch die Abrechnung der Fahrt läuft über eine App. Dabei werden Fahrt-muster analysiert und für die Berechnung des Preises und Ver-kehrsprognosen genutzt.

DMR: Als Gottfried Daimler sein Start-up Mercedes gründete, wagte er 1901 folgende Prognose: „Die weltweite Nachfrage nach Kraftfahrzeugen wird eine Million nicht überschreiten, allein schon aus Mangel an verfügbaren Chauffeuren.“ Wir wissen, es kam anders. Bei dieser Prognose denken wir heute aber auch an die Ent-wicklung fahrerloser Autos. Welche Chancen stecken darin?

T. Kirschbaum: Die Geschichte wiederholt sich: Die Skepsis, die um die Jahrhundertwende dem Automobil, der motor- betriebenen Kutsche, gegolten hat, wird erneut laut. Die nächste Etappe ist „data driven mobility“. Damals wie heute gilt: Eine Idee, deren Zeit gekommen ist, lässt sich nicht aufhalten.

DMR: In Deutschland wird aber lieber über Risiken diskutiert. Sehen Sie da Gefahren?

T. Kirschbaum: Auch. Wenn ich mir das traditionelle Regime anschaue, sehe ich ein großes Zögern gegenüber Open Data, dem Kern einer Smart City. Insbesondere auf Verwaltungs- ebene tritt oftmals eine Skepsis gegenüber Innovation zu Tage. Data muss aber Entwicklern, Institutionen, Organisationen, Start-ups öffentlich zur Verfügung gestellt werden. Denn diese werden mit Lösungen, Ideen und neuen Ansätzen genau das erreichen, was die Regierung möchte: eine offene, innovati-onsfreundliche Gemeinschaft. Auch klassische Player wie die Automobilindustrie sind hier gefordert: Das Umdenken von einem sehr Hardware-bezogenen Produkt zu Fahrzeugen, die wie Smartphones nur „Devices“ für Softwareapplikationen sind, ist eine große Herausforderung. Die Industrie ist dabei andere Zyklen gewöhnt, als sie die Digitalisierung mit sich bringt.

Connected Car & ally

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Start-ups in Deutschland

DMR: Wer waren die wichtigsten Partner für Ihr Unternehmen?

T. Kirschbaum: In der frühen Phase haben uns Seed Angel als Investoren unterstützt. Wir haben viel investiert, Fixkosten reduziert und klassisches Bootstrapping betrieben. Seit einigen Jahren haben wir eine Venture-Capital-Finanzierung für unser Start-up, was uns dabei hilft, zu investieren und die richtigen Entscheidungen zu treffen.

DMR: Was waren die Hürden?

T. Kirschbaum: Jede Phase bringt neue Herausforderungen zum Vorschein. Ganz am Anfang ist die Finanzierung die wohl wichtigste Hürde. Ohne Kapital gibt es nur wenig aufzubauen. Später ist es wichtig, das richtige Team aufzubauen und zu führen, was ebenfalls kein leichtes Unterfangen ist. Wir schätzen uns allerdings glück-lich, dass viele unserer Mitarbeiter weitere Kollegen “nachziehen”, sodass es mittlerweile einfacher geworden ist. Am wichtigsten ist jedoch die Mitarbeiterführung im Alltag – sicherzustellen, dass jeder im Team die richtigen Dinge tut, dass alle gut zusammen-arbeiten und vor allem die jungen Mitglieder sich gut entfalten können. Als weitere Herausforderung sehe ich, dass es immer noch viele deutsche Unternehmen gibt, die es noch nicht gewöhnt sind, mit Start-ups zusammenzuarbeiten. Das stellt beide Seiten vor Herausforderungen. Aber es gelingt immer häufiger, bei uns zuletzt mit Unternehmen wie Volkswagen, Lufthansa und anderen.

DMR: Was bedeutet das für den Standort Deutschland? Werden wir ein Connected Car „Made in Germany“ erleben? Was wären dafür die notwendigen Rahmenbedingungen?

T. Kirschbaum: Insgesamt rate ich uns zu mehr Mut und Fort-schrittsfreundlichkeit, zu weniger Skepsis, Angst und Bedenken-trägerei. Die Chancen sind faszinierend und zum Greifen nah. Wir sprechen von einem sehr emotionalen Thema, denn hier geht es um Aspekte, die unser Leben in der Stadt maßgeblich beeinflussen können. Städte sind Orte, in denen Menschen die meiste Zeit verbringen. Ihre Familie und Freunde leben dort. Die Stadt ist ihr Zuhause. Es ist nur selbstverständlich, dass die Menschen ihr Zuhause stets verbessern wollen, kontinuierlich schöner, besser, lebenswerter gestalten möchten. Diesem Zweck muss Technologie dienen, und in diesem Zusammenhang tut sie es – Technologie, welche die Zukunft nachhaltig zum Besseren entwickelt, und welche den Menschen eine Möglichkeit gibt, ih-ren eigenen Beitrag zu leisten. Es geht darum, das zu erfüllen, was sich die Stadtbewohner innig wünschen – und das beginnt damit, ihnen die alltäglichen Transportwege zu erleichtern, um zur Arbeit zu kommen, sich mit Freunden zu treffen oder recht-zeitig nach Feierabend bei der Familie zu sein und die Kinder zu sehen. Dort können wir einen Unterschied machen. Das ist mein Verständnis einer Smart City.

Die Geschichte hin zu ally

DMR: Wie hat sich die Idee hinter dem Startup entwickelt?

T. Kirschbaum: Mein Mitgründer Maxim Nohroudi und ich sind bereits seit vielen Jahren mit Start-ups in der Industrie – Mobilität, Reise, Internet – unterwegs. Die Idee zu dem, was wir heute tun, der Entwicklung eines “Internet of Urban Trans-portation”, entstand aus unseren vorangegangenen Firmen und Projekten. Viele Gründer sind darauf aus, einen Unterschied beim Vertrieb zu machen, durch eCommerce-Plattformen oder mCommerce-Apps. Wir wollen einen Schritt weiter gehen und den eigentlichen Betrieb von Mobilität verbessern. Ursprüng-lich waren wir zunächst klassisch unterwegs: Maxim war früher Vize-Präsident an einer Universität, ich war Assistent des CEO einer großen Bank. Die Grundentscheidung, unternehmerisch zu arbeiten, ist eine wichtige Weichenstellung. Wenn sie einmal getroffen ist, fühlt es sich sehr natürlich an, immer wieder neue Ideen nicht nur zu denken, sondern auch umzusetzen.

DMR: Was waren die Meilensteine der bisherigen Unternehmens-entwicklung?

T. Kirschbaum: Die erste Herausforderung war, den analogen Verkehr der Stadt zu digitalisieren, also jeden Bus, jedes Leihfahr-rad in unserer Plattform zu erfassen und über unsere eigene App den Nutzern zugänglich zu machen. Was in einer Stadt wie Ber-lin einigermaßen gut machbar ist, ist in Megacities wie Mexico City oder Jakarta nicht mehr ganz so trivial. Nachdem wir diese Aufgabe als gelöst betrachten können, geht es nun um den umge-kehrten Weg: aus der digitalen Plattform heraus ein analoges An-gebot zu erzeugen. Wo braucht es wann ein Taxi? Welche Route soll der Bus fahren, um entlang der Strecke am einfachsten die Passagiere einzusammeln? Am Ende steht ein geschlossenes Öko-system, in dem digitale Technologien und Fahrzeuge reibungslos miteinander kommunizieren.

DMR: Welche Rolle spielt der Standort Berlin – und welche Rolle wird der neue Standort in Brasilien spielen?

T. Kirschbaum: Als unser Hauptquartier ist Berlin für uns die richtige Stadt: weltoffen, kreativ, mit den richtigen Talenten aus aller Welt. Gleichzeitig schauen wir aber über den Teller-rand. Wir befinden uns in einer sehr regulierten Umgebung, das verengt den Blick. Wir sind daher bereits seit einiger Zeit auch außerhalb Europas unterwegs, zumeist in Lateinamerika. Dort, im brasilianischen Porto Alegre, haben wir vor kurzem eine Nie-derlassung eröffnet. Diese verantwortet die Integration von Da-ten des ÖPNV in Ländern von Mexiko bis... In Kürze werden wir auch ein Büro in San Francisco eröffnen, um den Austausch mit dem Silicon Valley zu suchen. Im Bereich Mobilität tut sich sehr viel in Kalifornien – Uber, Tesla und viele andere interessante Gleichgesinnte sind dort präsent.

Start-ups in Deutschland Die Geschichte hin zu ally

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Die Vision

DMR: Was ist die ally-Vision einer Smart City?

T. Kirschbaum: Keine Staus, keine Unfälle, keine Parkplätze. Fahrzeuge sind permanent in Bewegung, stellen sicher, dass es nicht zu Kollisionen kommt und müssen nicht leer und nutzlos abgestellt werden.

DMR: Was verstehen Sie unter einem „Betriebssystem für die Groß-stadt“?

T. Kirschbaum: Jede Stadt hat ihren Herzschlag. Ihr Verkehr ist ein Indikator dafür, ob der Kreislauf gut funktioniert. Wir wollen genau das sicherstellen – dass der Herzschlag stark und rhythmisch schlagen kann.

DMR: Spielen die Menschen dann überhaupt noch eine Rolle?

T. Kirschbaum: Oh ja. Zwar werden intelligente Software- lösungen über Betrieb, Vertrieb und auch Allokation von Verkehr entscheiden. Dabei wird der Verkehr wesentlich dynamischer, wodurch sich situationsunabhängige Routen und Preise generie-ren lassen. Das System lebt aber vom Beitrag der Menschen: Das System wird über die vorhandenen Daten hinaus mit dem Input unserer Community optimiert und gleichzeitig der Community zurückgegeben. Die Technologie also dient dem Menschen, nicht umgekehrt. Ein Beispiel: Da es in vielen Städten an Daten mangelt, zum Beispiel an Fahrplänen zum öffentlichen Nahver-kehr, erzeugen wir Daten durch Crowdsourcing. In Istanbul sind viele Strecken und Informationen häufig in keiner Weise digital abgebildet. Deshalb haben wir in der türkischen Metropole in einem Crowdsourcing-Projekt die Routen der Minibusse heraus-gefunden und digitalisiert.

Dr. Tom KirschbaumMitgründer und Geschäftsführer der Door2Door GmbH, Berlin

Dr. Tom Kirschbaum ist Gründer und Geschäftsführer der Door2Door GmbH, welche von ihm zusammen mit Maxim Nohroudi in Berlin gegründet wurde. Unter der Marke allryder (kurz: ally) entwickelt das Technologie-Start-up das “Internet of Urban Transport”, ein intelligentes Betriebssystem für den Verkehr innerhalb der Stadt. Nach erfolgreichem Markteintritt in Europa ist das Startup mittler-weile weltweit vertreten, so in vielen Städten in Lateinamerika und in Asien. Die Technologie steht für die eigene Applikation des Start-ups zur Verfügung und findet auch Anwendung in Unternehmen aus der Navigations-, Reise- und Automobilindustrie. Zurzeit beschäftigt die Firma gut 30 Mitarbeiter aus 20 Ländern. Im Gründerteam verantwortet Kirschbaum Sales, Business Development und Operations.

Die Vision

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Connected Car generiert ein Datenvolumen, aus dem Hersteller mit Hilfe von Big Data wertvolle Beiträge für maßgeschnei-derte Kundenlösungen ableiten können. Zwei Use Cases zeigen Anwendungsmöglichkeiten im chinesischen Automobilmarkt.

Moderne Fahrzeuge kommunizieren bereits heute miteinander und mit ihrer Umwelt. Nach einer Schätzung der Deutschen Telekom steigt die Anzahl der übermittelten Daten pro Monat in kurzer Zeit von vier MB auf fünf GB1. Seit Jahren werden Autos kontinu-ierlich mit IT ausgestattet und verfügen nun über eine Rechenleistung, die dem Vielfa-chen von derzeitig handelsüblichen PCs entspricht. Bis 2016 wird die Anzahl der ver-netzten Fahrzeuge 210 Millionen erreichen.2 Fahrzeughersteller planen, die Bedienung und Wartung des Fahrzeugs durch modernste Sensorik und Internetanbindung zu verbessern und eine neue Form der Fahrerfahrung zu kreieren.

China ist Vorreiter in Sachen Mobilisierung – ein idealer Markt

Das Datenvolumen wird in Zukunft also weiter steigen. Durch das Einbringen neuer Services innerhalb der Fahrzeuge, beispielsweise Internetanbindung, Telematiks oder die Nutzung von Applikationen wie Parkplatzsuche, kommen völlig neue Datenformen und -quellen hinzu. Um das Potenzial dieser neuen Services bestmöglich auszuschöpfen und stetig weiter zu verbessern, ist es notwendig, Analysemethoden zu entwickeln und zu im-plementieren. Diese Form der Analyse – Big Data genannt – kann helfen, große Daten-mengen strukturiert zu verarbeiten und daraus einen Beitrag abzuleiten, der das Service-angebot maßgeblich erweitert.

In kaum einer Region der Welt ist dieser Trend der stetigen Mobilisierung so allgegenwärtig wie in Asien. Speziell in China sind die Anzahl genutzter Fahrzeuge, Smartphones und die allgemeine Verfügbarkeit von Daten immens. Darüber hinaus sorgt die rasante Urbani-sierung und Modernisierung des Landes dafür, dass in den chinesischen Megacities wie Peking und Shanghai hochmoderne Verkehrsleitsysteme zum Einsatz kommen. Diese bieten in der Kommunikation mit Connected Cars ganz neue Möglichkeiten. Daher ist China der ideale Markt, um aufzuzeigen, wie Big Data dabei helfen kann, die fortlaufende Vernetzung von Fahrzeugen mit ihrer Umwelt voranzutreiben und welche Mehrwerte für die Automobilindustrie geschaffen werden können. Unsere gesammelten Erfahrungen präsentieren wir in zwei Use Cases.

Big Data treibt Connected Car

Use Cases aus dem chinesichen Automobilmarkt

1 http://www.telekom.com/media/media-kits/179806.2 Im Jahr 2011 lag die Anzahl von vernetzten Fahrzeugen bei 45 Millionen. Dies entspricht einer jähr- lichen Wachstumsrate von 36%. Quelle: Statista.

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3 http://www.zeit.de/wirtschaft/2011-03/china-urbanisierung/seite-2.

Direct Parking

Chinas Städte sind durch zwei Faktoren geprägt: Größe und Wachstum. Bis 2030 werden über eine Milliarde Menschen in Städten leben. Es wird über 220 Millionenstädte geben.3 Die Kombination des Städtewachstums mit einem großen Bedarf an Fahrzeugen führt in China zu einer Vielzahl von Herausforderungen. Luftverschmutzung, Staus und feh-lende Parkmöglichkeiten bringen die städtische Verkehrsinfrastruktur an den Rand eines Kollaps. Da in China das Auto weiterhin als Statussymbol gesehen wird, steigt die Zahl der Fahrzeuge in den Städten weiter an. Die Ausbaumöglichkeiten des Straßennetzes sind in den dicht besiedelten Städten jedoch stark begrenzt. Somit bleibt nur die Möglichkeit der Effizienzsteigerung durch moderne Technologien, um die Probleme des städtischen Ver-kehrs zu verringern.

Die Applikation Direct Parking nimmt sich diesen skizzierten Problemen an. Es geht um die Erleichterung des Parkens im städtischen Gebiet. Ein zentrales Navigations- system von Direct Parking, das auf die fahrzeuginterne Navigation zugreift, navigiert die einzelnen Fahrzeuge dynamisch zu den verfügbaren Parkplätzen in der Stadt. Darüber hinaus vollzieht die App eine kurzzeitige Reservierung des jeweiligen Parkplatzes im Park-haus oder an digitalen Parkuhren, die mit dem Verkehrsleitsystem der Stadt verbunden sind, und regelt durch ein integriertes Bezahlsystem anfallende Parkgebühren. Der Fah-rer muss lediglich seine finale Destination in sein Navigationssystem eintragen und die Direct Parking Applikation im Fahrzeug aktivieren. Neben den applikationseigenen Datenströmen bedient sich das System der großen Echtzeit-Verkehrsdaten der Städte. Das Verkehrsleitsystem der Stadt wird somit dezentraler organisiert, reagiert dynamisch und ist effizienter in der Zuteilung von Parkplätzen.

Das hochmoderne System koordiniert nicht nur die Parkplatzzuweisung, sondern ist auch in der Lage, frühzeitig Gebiete in der Stadt zu erkennen, in denen es eine hohe Nachfrage nach Parkplätzen gibt. Das dynamische Routing setzt dort an, um die Nutzer effizient umzuleiten. Weiterhin wird durch Predictive Analytics festgestellt, in welchen Gebieten die nächsten Parkplätze frei werden. Wichtig ist die Verknüpfung von großen Mengen an Echtzeitdaten aus dem gesamten Stadtgebiet – Direct Parking Application und Verkehrs- leitsystem – mit den gesammelten historischen Verkehrsdaten der jeweiligen Stadt sowie Daten aus Social-Media-Kanälen und Informationen zu bevorstehenden Großevents. Durch diese Kombination lassen sich sehr genaue Annahmen treffen, wie sich der Verkehr in jedem Stadtgebiet zu jeder Uhrzeit verhalten wird.

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360° Customer Relationship Management

Die Größe Chinas als zusammenhängender Binnenmarkt ist weltweit einzigartig. Über 1,3 Milliarden Konsumenten beherbergen ein ungeheueres wirtschaftliches Potenzial – ein Eldorado für die Nutzung von Big Data zur Analyse großer Kundendaten. Insbesondere die Fähigkeit von Big Data, nicht nur große Datenmengen in Echtzeit zu verarbeiten, sondern Muster und Strukturen in diesen Datenmengen zu erkennen, ist für die Analyse von Kun-den überaus interessant. Die zunehmende Anzahl von Fahrzeugen, die mit telematischen Systemen ausgestattet sind, bedeutet eine noch ungenutzte Menge an kundenspezifischen Daten, die durch diese Fahrzeuge gesammelt werden.

360° Customer Relationship Management (360° CRM) ist ein Konzept zur Nutzung dieser Kundendaten in der Automobilindustrie. Im Kern geht es darum, den Fahrer besser kennen und verstehen zu lernen und ein individualisiertes Serviceangebot abzuleiten. Die Welt durch die Augen des Kunden zu sehen, schafft einen klaren Wettbewerbsvorteil. In den vergangenen Jahren, in denen im Automobilmarkt exorbitante Wachstumsraten erzielt werden konnten, bestand offensichtlich keine Notwendigkeit für ein umfassendes, strukturiertes und innovatives CRM, wie Gespräche mit unseren Kunden vor Ort belegen. Die aktuellen Zahlen belegen jedoch, dass hohe zweistellige Wachstumsraten in den kom-menden Jahren nicht mehr realisiert werden können, da der chinesische Automobilmarkt sättigende Tendenzen zeigt. Insbesondere in China stehen strukturiert gemanagte Kunden-beziehungen deshalb immer stärker im Fokus.

Der chinesische Kunde ist im Allgemeinen sehr wechselfreudig und zeigt keine große Markenloyalität in seinen Kaufentscheidungen. In diesem Marktumfeld gilt es nun, Systeme und Maßnahmen zu implementieren, die Kundenloyalität erzeugen und bewah-ren. Eine große Rolle bei der Schaffung von Kundenloyalität werden innovative Service-angebote, China-spezifische Produktanpassungen und personalisiertes Marketing in Kom-bination mit dem Fahrzeug spielen.

360° CRM hat das Ziel, ein vollumfängliches Bild über die Kundenerwartungen zu gene-rieren. Automobilhersteller können reagieren, noch bevor der Kunde diese Erwartungen selbst äußert. Die Kundenbetreuung verändert sich von einer reaktiven zu einer proaktiven Aufgabe. Um diese proaktive Kommunikation effizient leisten zu können, bedarf es des Einsatzes modernster Technologie. Die Qualität der digitalen Kundenbeziehung wird zum zentralen Wettbewerbsfaktor. Die zentrale Frage in der Zukunft wird daher nicht sein, wie man an die Kundendaten gelangt, sondern wie sie genutzt werden.

360° CRM baut auf bestehenden CRM-Systemen auf und nutzt die bereits hier gene-rierten Daten. Die Besonderheit liegt in der intelligenten Nutzung dieser durch Connected Cars generierten Daten. Die Daten beziehen sich nicht nur auf den aktuellen und bishe-rigen Zustand des Fahrzeugs, sondern auch auf die Wahrscheinlichkeit in Zukunft eintre-tender Ereignisse. Insbesondere Predictive Analytics erlaubt es, bei entsprechend verbauter

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Sensorik im Fahrzeug frühzeitige Schäden oder außerplanmäßige Reparaturen mit Wahr-scheinlichkeiten zu belegen und ab einem entsprechenden Schwellwert als Automobilher-steller darauf zu reagieren und den Kunden zu informieren. Einen Schritt weiter geht die Verknüpfung zwischen den Sensorikdaten und den unterschiedlichen Fahrerprofilen, die über die Fahrer des jeweiligen Fahrzeugs angelegt werden. Anhand dieser Fahrerprofile und des Umgangs des Fahrers mit dem Fahrzeug kann noch genauer ermittelt werden, welche außerplanmäßigen Defekte auftreten werden. Die Fähigkeit der Fahrzeughersteller, solche Annahmen zu treffen, ermöglicht es, eine neue Form der Servicequalität hinzuzufügen, indem der Fahrer vor einem eintretenden Defekt über ein außerplanmäßiges Wartungs-fenster informiert wird. In den Augen des Kunden wird aus einer Reparatur eine proaktive Wartung!

Aus den Fahrerprofilen ergeben sich weitere innovative Anwendungsfälle. Die große Anzahl der gesammelten und an die Automobilhersteller übertragenen Profile kann mithil-fe von Big Data analysiert und kategorisiert werden, damit Fahrer nicht nur anhand ihrer demographischen Zuordnung und finanziellen Möglichkeiten eingeordnet werden, son-dern direkt über den selbst praktizierten Fahrstil. Hersteller können auf die individuellen Fahrstile reagieren und dem Kunden über das Connected Car maßgeschneiderte Fahr-zeugeinstellungen zur Verfügung stellen, die das Fahrzeug selbstständig herunterlädt und implementiert. Dem Kunden wird ein tatsächlich individualisiertes Fahrgefühl präsentiert – ohne zusätzliche Werkstattbesuche und mechanische Einstellungen am Fahrzeug. Die neu gewonnenen Kundendaten finden auch Eingang in die Spezifikation zukünftiger Modellpaletten und ihre Anpassung an analysierte Kundengruppen. Koppelt man die erhobenen Kundendaten aus 360° CRM mit Feedbacks aus weiteren Kanälen wie Such-maschinen, direkten Kundenfeedbacks und Social-Media-Kanälen, wird ein schärferes Profil der Kundenstruktur sowie der Kundenwünsche in China gezeichnet. Dies sind für Automobilhersteller essenzielle Daten, um chinaspezifische Produktanpassungen zu ermit-teln und in neue Modelle einfließen zu lassen. Auch hierbei spielt die Kombination von digitalen Eingangskanälen und Big Data eine entscheidende Rolle.

Diese technischen Möglichkeiten schaffen neue Wege für das Fahrzeugmarketing sowie für die allgemeine Kundeninteraktion. Damit einher gehen aber auch neue Herausfor-derungen für die Hersteller. Die Integration der Big-Data- und CRM-Systeme, die den hier skizzierten Anforderungen entsprechen, sind sehr komplexe Unterfangen. Darüber hi-naus gilt es, diese Systeme hoch performant zu designen, um eine reibungslose Interaktion mit dem Kunden sicherzustellen. Der Erfolg eines 360° CRM beruht auf der scheinbaren Einfachheit und Unsichtbarkeit, mit dem der Kunde angesprochen wird. Darüber hinaus müssen Unternehmen ihre Marketingmaßnahmen an die neuen Möglichkeiten anpassen. Fahrzeugmarketing muss in gewissen Dimensionen neu gedacht werden.

Florian Müller ist seit 2011 in Peking und München als Managing Consultant tätig. Seine Beratungstätigkeit für internationale Kunden der Automobilindustrie beinhaltet sowohl die Konzeption als auch in der Implemen-tierung und Steuerung von innovativen, IT-nahen Projekten.

Marcel Plaschke ist seit 2011 in München und Peking als Senior Consultant tätig. Er berät Kunden in der Automobilindustrie zu Strategien und Marketingansätzen im Bereich neuer und innovativer Mobilitätsdienst-leistungen vom Konzept bis hin zur Markteinführung.

Philipp Pytel ist seit 2013 in Peking und Köln als Consultant tätig. Seine Kunden berät er schwerpunktmäßig in den Themengebieten ICT Innovationen und neuen Geschäftsmodellen.

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Sternstunde in Chinas Automobilindustrie?

Connected Car und Customer Experience Management

Wachstumseinbruch, eine rasante Technologieentwicklung und anspruchsvolle Kunden machen Chinas Automobilherstellern das Leben schwer. Das Connected Car eröffnet jedoch neue Chancen und bietet großes Potenzial für die Umsetzung von CEM-Strategien.

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Disruptive Technologien und Innovationen aus zahl-reichen Hightech-Branchen heizen die Entwicklung der Automobilbranche in China an. Zugpferd ist das Connected Car: Unternehmen unterschiedlichster Branchen drängen auf diesen relativ neuen Markt in der Hoffnung, sich ihren Anteil zu sichern. Für Automobilhersteller ist der Markt allerdings nicht nur wettbewerbsstärker und dynamischer geworden – er bietet auch gleichzeitig große Chancen. Diese wahrzunehmen erfordert allerdings ein Umdenken in den Unternehmen. Auch in China steigt die Bedeutung von Customer Experience Management (CEM). Unternehmen arbeiten bereits verstärkt an der Integration von auf Kundenzentrierung ausgerichteten Technologien und konzipieren dazu verschiedene Kontakt-punkte mit den Kunden (Touchpoints), die für eine überzeu-gende Customer Experience unabdingbar sind.

Änderung der Kundenanforderungen zeigt Konsequenzen

Nach einer Phase beispiellosen Wachstums hat Chinas Wirt-schaft jetzt an Schub verloren. Das verlangsamte Wachstum wirkt sich erheblich auf den Markt aus. Einige Branchen sind völlig eingebrochen.

Die größten Auswirkungen zeigen sich in der Änderung der Kundenanforderungen: Kunden treffen heute vorsichtigere Kaufentscheidungen, überlegen diese gründlicher und vergleichen stärker. Teure Anschaffungen werden nicht mehr spontan getätigt. Einen beispielhaften Beweis hierfür liefert der chinesische Luxusmarkt. Aus Studien geht hervor, dass Chinas Luxusmarktsegment in 2014 ein negatives Wachstum von einem Prozent verzeichnete. Die Konzepte für Luxusmarken mussten aufpoliert werden, um den anspruchsvoller werdenden Markt befriedigen zu können1. Der Marktindikator für die Gesamt-gewinne der chinesischen Industrieunternehmen weist mittler-weile einen Gewinneinbruch für unterschiedlichste Branchen aus.2 Während der ersten vier Monate in 2015 verzeichneten chinesische Industrieunternehmen einen Rückgang der Gesamterlöse im Jahresvergleich um 1,3 Prozent. Dies ist ein Signal für die Schwächung der Kaufkraft innerhalb des chine-sischen Verbrauchermarktes.

Auch die Automobilbranche zählt zu den Branchen, deren Gewinn im Jahresvergleich sinkt. Die exorbitante Wachstumsra-te der Automobilbranche in China ist auf ein niedrigeres Niveau zurückgefallen. Dieser Rückgang ist insbesondere seit Beginn

2015 zu verzeichnen. Das Premiumsegment ebenso wie Marken im Volumensegment erlitten erhebliche Umsatzeinbußen, zwischen den vielen Marken entfachte sich ein Preiskrieg. Die Abschwächung des ultraschnellen Wachstums bedeutet jedoch nicht, dass Chinas Automobilmarkt gesättigt ist. Noch ist die Ära, in der die aufstrebende Mittelschicht das Wachstum der Auto- mobilbranche weiter ankurbelt, nicht zu Ende. Mit zuneh-mender Marktsättigung werden die Automobilhersteller allerdings mit einer anspruchsvolleren und wählerischen Kun-dengruppe konfrontiert. Unternehmen, die besser als ihre Wett-bewerber sein wollen und stetiges Wachstum anstreben, müssen Maßnahmen entwickeln, die auf umfassenden Kundenkennt-nissen basieren.

Connected Car eröffnet neue Marktchancen in China

Neue Regierungsstrategien wie das „Internet Plus“ liefern eine gute Basis für das CEM. Sie zielen darauf ab, mobiles Inter-net, Cloud Computing, Big Data und das Internet der Dinge in moderne Herstellungsmethoden zu integrieren und die chinesische Technologieindustrie zu stärken. Diese technischen Treiber können viele Touchpoints für CEM generieren. Auto-mobilherstellern helfen die Touchpoints, fundierte Kenntnisse über ihre Kunden zu erhalten und als Hebel für potenzielle Gewinnchancen zu nutzen. Auch die chinesische Regierung hat die Bedeutung des Konsums erkannt und unternimmt sämt-liche Anstrengungen, um die Wirtschaft neu auszurichten, indem sie die gegenwärtig investitionsgesteuerte Wirtschaft in eine konsumgesteuerte transformiert. Gelingt diese Transforma-tion, dann wird Chinas Wirtschaft erneut durchstarten. Und davon profitiert auch der Automobilmarkt!

Mit fortschreitender Entwicklung der Telematik bewegen sich führende Automobilhersteller, Technologieunternehmen und Telekommunikationsanbieter weltweit gemeinsam in Richtung „Connected Car“. Vernetzte Fahrzeuge sind mit drahtloser Konnektivität ausgestattete Fahrzeuge, die mit den internen und externen Umgebungen kommunizieren können. Sie unterstüt-zen folgende Interaktionen: V2S (Vehicle-to-Sensor on-Board), V2V (Vehicle-to-Vehicle), V2R (Vehicle-to-Road Infrastructure) und V2I (Vehicle-to-Internet)3. Als Baustein des Internet der Fahrzeuge (IoV) markieren sie bei vielen Automobilunterneh-men einen Wendepunkt im Markt. Unter dem Aspekt von tech-nologisch hybriden Genen und in Verbindung mit Technologie, Medien und Telekommunikation ist das vernetzte Fahrzeug

1 Bain-Studie zum Luxusgütermarkt in China 2014.2 Diese Daten wurden von dem Staatlichen Amt für Statistik der Volks- republik China veröffentlicht.

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Abbildung 1: Das Ende-zu-Ende der Prozesse

Kundenbefragung

Anrufbewertung

Kundenkontaktanalyse

Feedback Management

Beschwerde-Analyse

Nutzungsdatenanalyse

Mitarbeiterbefragung

• Die Vielschichtigkeit externer Maßnahmen, die von der Auto mobilbranche genutzt wird, ist nach wie vor gering.• Die Befragung ist das beliebteste Tool.

• Die Vielfalt interner Maßnahmen ist ausgeprägter als die der externen Maßnahmen.

Mystery Shopping

Social-Media-Analyse

Net Promotor Score

Fokusgruppen

Datenanalyse

Zufriedenheitsbefragung

Quelle: Experten-Interviews 2014 / 2015, Detecon Analyse

* % der Befragten; Mehrfachantworten

für große Internet-Unternehmen in China von besonderem Interesse. Viele haben den potenziellen Wert dieser neuen disruptiven Technologien bereits erkannt. Alibaba beispiels-weise, der größte elektronische Handelskonzern (eCom-merce) Chinas, ist eine Partnerschaft mit der staatlich kontrollierten SAIC Motor Corporation eingegangen und be-absichtigt, mit einem Betrag von 1 Milliarde CNY gemeinsam in die Entwicklung vernetzter Fahrzeuge zu investieren. In-dem sie früh auf den Markt drängen, versuchen auch viele andere Internet-Giganten wie Baidu, Tencent und Leshi4,

sich einen möglichst großen Anteil zu sichern. Es ist damit zu rechnen, dass diese Unternehmen sogar in Kürze mit der Ent-wicklung und Herstellung autonomer Fahrzeuge beginnen.

CEM steht in Chinas Automobilindustrie noch am Anfang

In Anbetracht des skizzierten Wandels kann das Auto selbst als Produkt nicht länger als einziger Differentiator fungieren. Jedes Unternehmen, das eine herausragende Position in diesem Markt einnehmen will, muss dem Kunden zusätz-

lich überzeugende und exklusive Erlebnisse anbieten. Für Automobilhersteller in China ist es deshalb absolut notwendig, auf Customer Experience Management (CEM) zu setzen.

Viele chinesische Automobilhersteller haben bereits Maßnah-men ergriffen und CEM in ihr Unternehmen integriert.5 Eine Studie, an der 26 Manager von 22 Unternehmen des Automo-bilsektors teilnahmen, verdeutlicht die Relevanz: 92 Prozent der Manager gaben an, CEM zu kennen, 46 Prozent betrachte-ten CEM als „konsistent über alle Customer Touchpoints und Geschäftsvorfälle hinweg“. Dadurch ergeben sich wichtige Implikationen für das Channel Management. Bei der Ent-wicklung eines konsistenten Erlebnisses über sämtliche Touch-points hinweg sollten Unternehmen jeden möglichen Vertriebs- und Kommunikationskanal einbeziehen und ganzheitlich betrachten, inklusive des Kommunikationskanals im Auto: Telematik Terminal.

Hinsichtlich der aktuell genutzten Maßnahmen zur Erfassung von Kundenerfahrungen zeigt der Bericht, dass die meisten

3 See Lu, Ning, u.a. „Connected vehicles: Solutions and challenges.“ Internet of Things Journal, IEEE 1.4 (2014): 289-299. 4 Ein Unternehmen, dass Internet-TV und andere Internet- und Medien dienste in China anbietet.

5 Oppel, T., Wen, J. „Customer Experience Management in the Automotive Industry in China (2015)“ Detecon Studie.

Externe Maßnahmen zur Erfassung von CE*

50% 25%

21%

17%

17%

13%

8%

42%

21%

8%

8%

4%

4%

Interne Maßnahmen zur Erfassung von CE*

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Abbildung 2: Sechs zentrale Nutzungsmöglichkeiten des neuen Kommunikationskanals

Quelle: Detecon Analysis

Automobilhersteller in China herkömmliche Tools verwen-den, wobei Umfragen das nach wie vor am häufigsten genutzte Instrument sind, um den Erfolg von CEM zu messen. Wenn allerdings nach künftigen Änderungen der Maßnahmen zur Erfassung von Kundenerlebnissen gefragt wird, gaben 18 Prozent der Befragten an, dass sie Telematik für die Durch- führung von Nutzungsdatenanalysen einzusetzen beabsichtigen, damit sie das Feedback ihrer Kunden sofort analysieren können.

CEM in Kombination mit Connected Car neuer Erfolgsfaktor

Angesichts der wachsenden Mittelschicht und einem Automo-bilmarkt in der Sättigungsphase entwickeln sich Kundenerleb-nisse für Chinas Automobilhersteller zu einem Erfolgsfaktor. Da kommt das revolutionäre Potenzial des Connected Car – heute noch in den Kinderschuhen – gerade recht! In diesem Kontext initiativ eine Neubewertung der Kundenanforderungen durch-zuführen sowie die Gestaltung einer durchgängigen CEM-Stra-tegie ermöglichen es den Automobilunternehmen, die Chancen vernetzter Fahrzeuge rechtzeitig zu nutzen.

Kommunikationskanal, Cloud-Dienste, Infotainment, inte-grierte Smart Services, Navigation und Sicherheit sind Beispiele für mögliche neue Servicebereiche, die das Connected Car bietet. Zusammen bilden sie vernetzte Dienste, die während der Fahrzeugnutzung das Kundenerlebnis verbessern und den Komfort für Fahrer und Mitfahrer steigern. Mit Unterstützung der Navigation ist es für den Fahrer zum Beispiel wesentlich einfacher, einen freien Parkplatz in der Nähe zu finden. Sicher-heitsservices machen das Fahren sicherer durch Nutzung von Technologien wie die On-Board-Diagnose (OBD), die konti-nuierlich den Zugriff auf Fahrzeuggeschwindigkeit, Motorlauf, Motortemperatur, Flüssigkeitsstand und Kupplung ermöglicht und dem Fahrer zu jedem Zeitpunkt ein besseres Bild über die Fahrzeugleistung vermittelt. Mit Integrierten Smart Services und Cloud-Diensten sind Fahrer jederzeit und überall vernetzt. Besonders wertvoll für Automobilunternehmen ist der Service-bereich „Kommunikationskanal“. Dieser Bereich ermöglicht innovative digitale Touchpoints und schafft eine noch größere Nähe zu Bestandskunden ebenso wie zu potenziellen Kunden. Abbildung 2 zeigt sechs zentrale Nutzungsmöglichkeiten.

Sechs zentrale Nutzungsmöglichkeiten des neuen Kommunikationskanals

Sechs zentrale Nutzungs-

möglichkeitendes neuen

Kommunikations-kanals

Feedback sammeln (Customer-Experience-Maßnahme)

Push-Benachrichtigungen (OEM-/Händleranzeigen)

Infomercials

Locations Based Services

Aktivitäten-Management (OEM/Händler managt/liefert Aktivitäten)

Automobil-Clubs/Loyalty Clubs – Kommunikation und Feedback

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Telematik wird nach einer von Detecon durchgeführten Studie als ein möglicher zukünftiger Kanal zur Messung von CEM gesehen. Dieser neue digitale Touchpoint ermöglicht auf her-vorragende Weise, Feedback in Echtzeit einzuholen und den Service künftig zu verbessern. Wartungs-Feedback kann bei-spielsweise über Telematik-Terminals eingeholt werden. Man könnte ein Feedback-Formular an den Terminal senden, das kurze Zeit später nach dem Besuch beim Händler (4S shop) – beim Eintreffen zu Hause oder auf dem Büroparkplatz – im Display angezeigt wird. Dieses unmittelbare Feedback kann mit einem Treueprogramm verknüpft werden, in dem nach der Beantwortung einiger Fragen über den Besuch Punkte gut-schrieben werden. Diese Informationen können zur weiteren Verbesserung des Services unverzüglich verarbeitet werden. Mit dieser Art der Kommunikation erlangt man wesentlich präzisere und vollständigere Daten als in der Vergangenheit.

Diese neuen Dienste erzeugen große Datenmengen, die wert-volle Kundeninformationen enthalten. Unternehmen können diese Informationen analysieren und gezieltere OEM- oder Händler-Anzeigen gestalten und in Form von Push-Benachrich-tigungen und Infomercials an die unterschiedlichen digitalen Kunden-Terminals senden. Diese Anzeigen können ebenfalls als Ja- oder Nein-Befragung konzipiert werden, um Kunden besser mit einzubeziehen und Feedback zur Optimierung der Anzei-gengestaltung zu sammeln. Mit fortgeschrittener Technologie könnten Unternehmen sogar in der Lage sein, mithilfe der in dem Fahrzeug eingebetteten Sensoren physische und emotio-nale Veränderungen bei den Kunden zu beobachten.

Ein weiterer Vorteil zur Nutzung dieses neuen Kommunika-tionskanals sind Location Based Services (LBS). Dieser Dienst ist in der Handy-Branche bereits weit verbreitet. Mit der Weiterentwicklung der GPS- und GIS-Technologie wird LBS auch für die Automobilbranche attraktiv. Es ist ebenfalls davon auszugehen, dass unterschiedliche Branchen künftig stärker ko-operieren werden. Das Navigationssystem kann den Fahrer zum Beispiel automatisch auf dem kürzesten Weg zu nächsten Tank-stelle navigieren, bei der der Kraftstoff gerade besonders günstig ist oder die für den Fahrer spezielle Services bereithält. Denkbar wäre ebenfalls die Empfehlung für ein in der Nähe gelegenes Restaurant mit einem Sonderangebot, das dem Fahrer aufgrund der Analyse seiner historischen Daten – Gewohnheiten, Stand-ort, Fahrmuster – im Falle eines Essenswunsches angezeigt wird.

Darüber hinaus bietet dieser neue Kommunikationskanal gute Möglichkeiten, um Aktivitäten besser zu managen und Platt-formen zu entwickeln. Zu denken ist an „Company Clubs“ und „Loyalty Clubs“ (Kundenbindungsprogramme), damit Kunden sich untereinander austauschen können. Dies funktioniert über speziell hierfür entwickelte Apps oder auch über soziale Medien. In Zukunft können Fahrer derselben Gruppe auch ihre Fahr-zeuge miteinander vernetzen – genauso, wie wir WeChat oder Facebook zur Gewinnung neuer Freunde nutzen. Vernetzte Fahrzeuge ermöglichen nicht nur eine effiziente Werbungs- und Interaktionsgestaltung mit Kunden, sondern gleichzeitig die Gewinnung wertvoller Informationen aus Situationen, in denen Kunden untereinander interagieren.

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Empfehlungen für die Integration von CEM

Das Connected Car gestaltet unser Leben neu und ebnet den Weg für das „Internet of Everything“. In Anbetracht des dy-namischen Marktes in China und des technologischen Fort-schritts besteht darüber hinaus wenig Zweifel an künftig noch anspruchsvolleren und vielfältigeren Kundenanforderungen. Wir empfehlen Automobilunternehmen in China daher die Integration von CEM unter Beachtung dieser Grundsätze:

1. CEM fördern! Obwohl die zentrale Bedeutung von CEM bei den Automobilunternehmen in China breite Zustimmung findet, ist dessen Nutzung bislang relativ begrenzt und konven-tionell. Für Automobilunternehmen ist es daher unabdingbar, über die konventionelle Nutzung hinauszugehen und CEM innerhalb des gesamten Unternehmens einschließlich aller Kanäle zu integrieren, und zwar insbesondere unter Berücksich-tigung des neuen Kommunikationskanals, der durch das ver-netzte Fahrzeug ermöglicht wird.

2. Augenmerk auf zukunftsweisende Technologien und Geschäftsmodelle! Der Fortschritt der Technologie ist unauf-haltsam und jeder Fortschritt wirkt sich in einem gewissen Um-fang immer auf das Geschäft aus. Es ist unabdingbar, den Fort-schritt des vernetzten Fahrzeugs zu verfolgen. Genauso wichtig ist es aber auch, scheinbar nicht damit verbundene Technolo-gien im Blickfeld zu haben, da diese trotzdem enorme Auswir-kungen auf CEM in der Automobilbranche haben können.

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Torsten Oppel (MBA) ist Partner und Leiter der Detecon Automotive Prac-tice in China. Seine Beratungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Strategie, CRM, Organisations- & Prozessmanagement sowie Innovationen. Zu seinen Kunden zählen internationale Automobilhersteller. Er leitet Projekte in den Be-reichen Marketing, Vertrieb, After Sales und IT in Asien, Europa und Amerika.

Tang Yanhuan ist Business Analyst bei Detecon Automotive Practice in China. Sie hat ihr Studium an der Tsinghua Universitaet in China abgeschlossen und beschäftigt sich mit Customer Experience Management und Innovations- management im Sektor Automotive.

3. Regelmäßige Überprüfung der CEM-Strategie! Da sich Märkte und Technologien durchgehend im Wandel befinden, müssen Automobilunternehmen ihre CEM-Strategien ständig überdenken und sicherstellen, dass ihre Customer-Experience-Maßnahmen und definierten Touchpoints nicht obsolet sind.

Customer Experience Management muss permanent neu gedacht werden, um mit den neuesten technologischen Ent-wicklungen und der Entstehung neuer Geschäftsmodelle Schritt halten zu können. Das gilt insbesondere für den dynamischen Automobilmarkt in China, dessen Verbraucher gegenüber neu-en Technologien und Entwicklungen sehr aufgeschlossen sind. Das Connected Car wird für Automobilunternehmen bei der Umsetzung neuer CEM-Strategien eine zentrale Rolle spielen. Es liegt in den Händen der Unternehmen, das Connected Car zur Sternstunde für CEM zu machen!

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Die Telematik hat ein enormes Potenzial in China. Über Anwendungsmöglichkeiten dieser Tech-nologie sowie weitere Markttrends in China erzählt Yao Tang, CTO des Virtue Intelligent Network, einem Joint Venture von China Mobile und Deutsche Telekom.

Connected Car kann zur Cash Cow werden

Interview mit Yao Tang, CTO, Virtue Intelligent Network

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DMR: Herr Tang, Sie sind CTO der neuen Gesellschaft von China Mobile und Deutsche Telekom im Bereich Telematik beziehungsweise Connected Car in China. Wie kam es zu diesem Joint Venture?

Tang: Das riesige Potenzial der Telematik und einer offenen Plattformlösung in China wurde erkannt. Mit Deutsche Telekom/T-Systems und China Mobile haben zwei starke Partner zueinander gefunden, die ihre Stärken nun gemeinsam nutzen können.

DMR: Sie haben mittlerweile viel Erfahrung im chinesischen Markt gesammelt. Worin liegt der Unterschied zwischen den chinesischen Autoherstellergruppen mit ihren Eigenmarken und den internationalen Joint Ventures in Bezug auf das Connected Car?

Tang: Den Unterschied kann man im Entwicklungsstadium sehen. Während internationale Joint Ventures Technologie und Wissen aus dem Ausland direkt im Land anwenden, sind bei den chinesischen Herstellern nur wenige Ingenieure damit beschäftigt, Telematiklösungen für das Fahrzeug zu ent-wickeln. Obwohl das Thema schon seit Jahren diskutiert wird, stehen viele Hersteller noch am Anfang.

DMR: Dies führt zu Lösungsversuchen, wie sie jetzt SAIC mit Alibaba angekündigt hat?

Tang: Richtig, SAIC hat ein Joint Venture mit Alibaba gegründet und überlässt hier die gesamte Wertschöpfungskette, die mit dem Connected Car anfällt, dem mit Alibaba gegründeten Joint Venture beziehungsweise Alibaba selbst. Es wird sozusagen ein System im Auto installiert, welches vom Autohersteller nicht mehr unmittelbar beeinflussbar ist.

DMR: Welche Systeme wird ein Autohersteller in Zukunft auf seinen Terminals nutzen?

Tang: Hier sehe ich einen Trend zu Open-Source-Systemen wie Linux, aber auch zu QNX, in der Zukunft auch „Light APP“ über HTML5. IOS und Android werden über den Aftersales-Markt und durch Smartphone-Hersteller mit deren erweiterten Produktlinien ins Auto drängen. Zum Beispiel hat ein bekannter chinesicher Smartphone-Hersteller bereits begonnen, Android Headunits zu produzieren und zu liefern.

DMR: Grundsätzlich sind mehrere Lösungsansätze im Markt vorhanden: Plattformen mit offenen Schnittstellen, geschlossene herstellergebundene Plattformen, OBD Dongle mit Applikation auf dem Mobiltelefon sowie die Lösungen von Alibaba oder Baidu. Wohin wird sich der Markt entwickeln?

Tang: Ein großer Mehrwert bei OBD Donglen von nicht freige-gebenen Herstellern – Drittherstellern – ist nicht zu erkennen, da die meisten Funktionen für den Kunden bereits mit Appli-kationen auf einem iPhone oder einem anderen Smartphone dargestellt werden können. Autohersteller setzen eher auf die im Fahrzeug verbauten Terminals und eine Plattformlösung, bei der sie die Kontrolle über das nutzbare Angebot und ihre Schnitt- stellen zum Auto behalten. Es werden also entweder kostengünstige Plattformen genutzt, die offene Schnittstellen bieten, um herstel-lerindividuelle Services hierüber anzuhängen, oder proprietäre Systeme.

DMR: Wie hoch schätzen Sie die Chancen für Systeme wie die von Alibaba, sich am Markt durchzusetzen?

Tang: In den nächsten vier bis fünf Jahren werden Hersteller nicht auf die immensen Möglichkeiten, die Telematics bietet, verzichten wollen. Sie werden versuchen, die Kontrolle hierüber zu halten und die gewonnenen Daten sowie die Möglichkeit, eigene Services anbieten zu können, nutzen wollen. Ich gehe davon aus, dass Hersteller künftig Technologien wie HTML5 nutzen, um externe Services anzubieten – Beispiel WeChat und andere Social-Media-Inhalte – , aber trotzdem nur eigene Systeme im Auto zulassen. Es ist nicht auszuschließen, dass ein paar Hersteller wegen erhöhten Drucks vom Wettbewerb auch mit Over-the-top (OTT-)Playern wie Alibaba zusammen- arbeiten, um First Tier Autohersteller abzuwehren.

DMR: Sie meinen, Hersteller werden weiterhin auf eigene Lösungen setzen?

Tang: Ein Hersteller kann mit einer Plattform eigene Services entwickeln und vom zusätzlichen Nutzen für den Kunden profitieren. Die Kundendaten, die der Hersteller mittels Big-Data-Analysen auswerten kann, sind in diesem Zusammen-hang auch von hohem Wert. Auch chinesische Autohersteller verstehen langsam, dass neue Geschäftsmodelle entstehen, welche Connected-Car-Dienste nicht nur als „Geld-Ver-brenner“ ansehen, sondern zeigen, dass Connected Car zur Cash Cow werden kann.

DMR: Wie sehen Sie die Entwicklung von On-Board- Diagnoseport (OBD) Dongles, die zum Beispiel von Drittan-bietern frei verkauft werden?

Tang: OBD Dongles, welche nicht in Kooperation mit dem Autohersteller oder mit dessen Zustimmung entwickelt werden, haben den Nachteil, dass Fahrzeughersteller diese Systeme nicht unterstützen und die Nutzung zu Garantieverlust führen kann. Funktionen wie Wartungsintervalle, Füllstatus von Öl und Ben-zin, Kilometerstand, Auslesen des ABS- und ESP-Status können

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nicht offiziell genutzt werden. Der Zusatznutzen eines Dongles von einem Drittanbieter ist begrenzt und wird sich daher nicht durchsetzen. Für Logistik und Fleet Management gibt es noch ein paar interessante Anwendungen über eigene Sensoren wie zum Beispiel GPS.

DMR: Das heißt, die wirklich interessanten Funktionen lassen sich damit nicht so leicht verwirklichen?

Tang: Die Integration von Fahrzeuginformationen mit Inhalten von aussen findet zu wenig statt, weil viele wertvolle Daten nicht „legal“ ausgelesen werden können. Die Funktionen über GPS und G-Sensoren können in den meisten Fällen auch über Smartphone Apps realisiert werden. Bei den Autohersteller-eigenen Systemen ist es andererseits möglich, den Füllstand des Tanks mit Pushinformationen zum richtigen Zeitpunkt zu verbinden. Der Fahrer kann die Aufforderung zum Tanken erhalten mit der gleichzeitigen Nachricht von einer Tankstelle in der Nähe mit einem Gutschein für einen Kaffee. Nicht auszu-schliessen ist, dass man in der Zukunft auch andere interessante Anwendungsmöglichkeiten entdeckt. T-Systems hat schon ein paar Ideen entwickelt, beispielsweise eine Verbrauchseinschät-zung von Brennstoff auf physikalischem Modell, das auf dem GPS-Signal basierend durchgeführt werden kann.

DMR: Welche Services sehen Sie zukünftig als die wichtigsten für den Kunden in China an?

Tang: Dies ist zum einen die Navigation und zum anderen die Sicherheit. Die Navigation wird sich weiter verbessern mit Echtzeitdaten über den Verkehr integriert und intelligenten Kalkulationen von Fahrwegen, um Staus sowie sonstige Verkehrshindernisse flüssig zu umgehen. Die sicherheitsrele-vanten Funktionen werden weiterhin einen großen Stellen-wert bei den Kunden haben. Hilfe in der Not kann wesentlich schneller geleistet werden.

DMR: Zurzeit ist das autonome Fahren ein heißes Thema in der Autowelt. Mehrere Hersteller testen bereits Fahrzeuge, auch Internetkonzerne wollen in den Markt einsteigen. Wie sind die Voraussetzungen, damit sich autonomes Fahren durchsetzt, und wie unterstützt hier die Telematik?

Tang: Für autonomes Fahren haben zwei Entwicklungen zu wirklichen Fortschritten geführt. Die Near Field Intelligence für einen Umkreis von 50 Metern und die Long Range Intelligence. Man kann eine Verbesserung der Erfassung und Auswertung der Daten im Umkreis des Autos sehen. Dies ist essentiell, um Hindernisse zu erkennen und darauf zu reagieren. Bei der Long Range Intelligence sehe ich die Kombination von Informatio-

nen aus dem Auto und der Umwelt, um die beste Wahl in Bezug auf Fahrtroute, Verkehr und Umweltgesichtspunkte zu treffen. Das Vorhandensein von 4G- und 5G-Netzen führt in ver- stärktem Maße zu einer immer verbundenen „always connected“ Gesellschaft. Detailliertes Kartenmaterial kann während der Fahrt für einen Umkreis von beispielsweise 100 Kilometern auf das Fahrzeug geladen werden und enthält alle neuesten Entwicklungen und die aktuellsten Daten. Ein hoher Daten-durchsatz ermöglicht das Herunterladen von Aktualisierungen, die auch während einer Funkunterbrechung zur Verfügung ste-hen. Die Anbindung weiterer Systeme im Backend erlaubt es, Zusatzinfos in Echtzeit auf das Auto zu spielen. Ein Fahrzeug kann intelligent durch den Stadtverkehr gelenkt werden.

DMR: Wird das autonome Fahren auch in China populär sein?

Tang: Gerade in China! Mit einem wachsenden Autobestand und vielen Verkehrsknotenpunkten kann das autonome Fahren hier zu mehr Sicherheit und stressfreierem Fahren führen.

DMR: Herr Tang, vielen Dank für das Gespräch.

Über Virtue Intelligent NetworkVirtue Intelligent Network Co. Ltd. (中移德电网络科技有限公司) ist ein 50:50 Joint Venture von Deutsche Telekom und China Mobile für Connected Car. Das Investment beläuft sich auf 270 Millionen Renminbi. Das Join Venture vereint die Connected Car Plattformtech-nologie der Deutschen Telekom und die Netzwerkressoucen von China Mobile. Ziel des Joint Ventures ist es, Ende-zu-Ende Lösungen inclusive Hardware, Connected Car Cloud Plattform, Systemintegration und Contentservice anzubieten.

Das Gespräch führte Torsten Oppel, Partner, Detecon International GmbH.

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Detecon Management Report

09 /

2015

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