pasión san mateo. analysen no.1-11-12 (s.167-187)
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Abschnitt C - Analysen Seiten 167-199
XIX. Analyse von Eingangschor No.1 Kommt, ihr Tchter
1. Allgemeines. Eingangschor = Choralbearbeitung Choralmelodie = O Lamm Gottes unschuldig (Spangenbergs Kirchengesenge, Deudtsch 1545) Form des Chorals = Barform Barform = Stollen (A) - Gegenstollen (A')- Abgesang (B) (siehe Notenbeispiel 167, Seite 172) Stollen = Gegenstollen, Schlutakte des Abgesangs (T.78-79) = Schlutakte des Stollens (T.35-36) Choral wird gesungen von Chorknaben Bach notierte die Choralmelodie mit roter Tinte. Symbolcharakter: das Blut des Lamms ist rot. Die Choralmelodie trgt einen doppeltchrigen Satz (2 vierstimmige Chre) Doppelchre Venedig San Marco Gabrieli Cori Spezzati Charakteristisches Merkmal: Dialogvorm zwischen Chor I und Chor II Chor I = Zuschauer die Jesus auf seinen Kreuzweg beobachten und davon Bericht ertstatten Chor II = Zusschauer die wenig mitbekommen und deshalb fragen: Wen?, Wie?, Was?, Wohin? Jesus = 1. Seelenbrutigam und 2. Lamm Gottes unschuldig
2. Phase der Inventio. Der Komponist whlt die Parameter Satztechnik, Taktart, Tonart usw. und mit Hilfde der loci topici (Seite 28) stellt er die Schlsselwrter (lat. Verba, Seite 26) im
vorliegenden Text heraus.
2.1 Satztechnik. Man hrt zwei dialogisierende Chre in polyphonem Geflecht, darber den Choral-Cantus Firmus in langen Noten, schildert Bach das Durcheinander einer aufgeregten
Menge (Chre I und II) die den leidenden Jesus (Choral) begleiten auf seinem Weg nach oben
zum Kreuzigungshgel Golgatha.
2.2 Taktart. Der 12/8- Takt mit seinem trochischen Rhyth-
mus schildert den schleppenden
Gang Jesu, der sein schweres
Kreuz stolpernd trgt (Noten-
beispiel 165). Die Tchter Zion
(= die Frauen von Jerusalem)
betrachten den leidenden Jesus
(den Seelenbrutigam) als ein
unschuldiges Osterlamm das zur Schlachtbank gefhrt wird. Mit Pesach (Ostern) gedenken die
Juden ihre Befreiung aus der gyptischen Sklaverei mit dem Schlachten eines Lamms. Der Engel
Gottes der alle erstgebornen Kinder in gypten tten sollte, ging nur an die Tren der Juden
vorbei, weil sie sie mit dem Blut eines frischgeschlachteten Lamms eingestrichen hatten.
2.3. Tonart. Die Tonart wird bestimmt von der Tendenz des gesungenen Texts. Der Eingangschor ist ein Klagelied. Die von Bach gewhlte Tonart e-moll gilt als philosophisch,
wehmtig (Mathheson: "sehr pensif, tieffdenkend, betrbt und traurig zu machen, doch so, da
man sich noch dabey zu trsten hoffet'')
2.4 Loci Topici. Das Schlsselwort "kommt" is eine Anspornung, eine Anregung. Bach whlt dazu das Fanfarenmotif e-g-h-e (Notenbeispiel 166, Sopran, T.17). Eine Fanfare ist ein
gebrochener Dreiklang, als Nachahmung der Naturtonmelodik eines Fanfareninstruments
(Trompete, Posaune, Horn). Fanfareninstrumenten dienen dazu die Aufmerksamkeit zu ziehen:
"hrt alle mal zu!". Viel wichtiger ist das Schlsselwort "klagen". Bach whlt dazu eine
langgezogene, heulende Melodielinie (Girlandenmelodik). Eine Girlande besteht fast
ausschlielich aus Sekundschritten. Nach dem sprunghaften kommt-Motiv geht der Sopran
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direkt ber in die stufenweise Bewegung des klagen-Motiv. Es gibt zwei klagen-Motive die
stets als Bizinium (Stimmpaar) ertnen: im Ba steigend, im Sopran fallend (Notenbeispiel 166).
3. Phase der Dispositio. Bach grndet die Form des Eingangschors auf die Struktur der vorliegenden Choralmelodie. Dazu verwendet er den Stollen als Narratio, den Gegenstollen als
Propositio, und den Beginn des Abgesangs als Confutatio. Als Confirmatio verwendet er die
Schluzeile des Abgesangs "Erbarm dich unser, O Jesu!'' (Notenbeispiel 167).
3.1 Exordium. T. 1-16, instrumentales Vorspiel, Ritornello. Beiden Orchester spielen unsisono (Notenbeispiel 168). Das steigende klagen-Motiv beginnt in Traverso II / Oboe II mit dem Ton
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e1, das fallende klagen-Motiv beginnt auf dem zweiten Schlag in Violini I auf demselben Ton
e1. Die Fanfare des kommt-Motivs, welche beim Eintritt des Chorsoprans in T.17 dem
fallenden klagen-Motiv vorangeht, fehlt hier noch! Charakteristisch dabei ist, da beide
klagen-Motive gleichzeiting erklingen, als Bizinium (lat. Zwiegesang), als Stimmpaar. Die
Stimmpaartechnik wurde von Josquin Desprez (1440-1521) entwickelt. Aus der Stimmpaar-
technik entwickelte sich in der zweiten Hlfte des 16. Jh. die doppelchrige Technik (cori
spezzati). In diesem Einleitungschor verbindet Bach die Technik des Doppelchors mit dem der
Bizinientechnik (Notenbeispiel 166). Auf der zweiten Hlfte von Takt 2 folgt das imitierende
Stimmpaar (2. Bizinium). Das imitierende Stimmpaar beginnt eine Quinte hher in der
Dominanttonart h-moll. Der Ba hat einen Orgelpunkt auf dem Tonikagrundton E. Sein
Rhythmus ist eine Hypotyposis des schleppenden Gangs von Jesus. Genau halbwegs im
Exordium, im 9.Takt, wo der Orgelpunkt auf dem Dominantgrundton h beginnt, folgt ein neues
Expos, jetzt transponiert in die Dominanttonart h-moll. In den Takten 14 und 15 werden die
beiden Orchester zum ersten mal geteilt in zwei dialogisierende Klangkrper, als Vorbereitung
auf de Verteilung in zwei Chren.
3.2 Narratio. T. 17-38. Eintritt von Chor I. Sopran und Ba beginnen als Auenstimmen-Bizinium (Notenbeispiel 166). Der Ba bernimmt das steigende klagen-Motiv, welches im
Exordium stets in der melodiefhrenden Stimme lag! (Notenbeispiel 168). Der Sopran bringt zum
ersten mal, als Prfix des bereits anwesenden klagen-Motivs, die auffllige Anspornungsfanfare
des kommt-Motivs. Nach anderthalb Takten beginnt das Mittelstimmem-Bizinium in Alt und
Tenor, eine Quinte hher, in der Dominanttonart h-moll. Bach hat die Stimmen so konzipiert, das
es dem Geschrei und Durcheinander einer groen und erregten Volksmenge hnelt. In T.26 fngt
das auffllige Frage-Antwort-Spiel mit Chor II an. Chor I singt in T.26-28 den Text Sehet den
Brutigam als wie ein Lamm. Zweimal erklingen die Interjektionen Wen? (T. 26) Wie? (T.27) von
Chor II, und dann setzt in T. 30 der Choral-Cantus-Firmus ein. Schlsselwort des Choraltexts ist
das Wort Lamm!
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3.3 Propositio. T. 42-51. Die Tochter Zion singt Sehet die Geduld. Damit lenkt sie die Aufmerksamkeit auf die unaufhrliche Geduld und Gelassenheit die Jesus aufbringt. Dies stimmt
berein mit dem Choraltext "Allzeit erfunden geduldig". Schlsselwort ist das Wort Geduld.
3.4 Confutatio. T. 57-71. Die Tochter Zion singt Seht auf unsre Schuld. Wie vom Blitz getroffen realisieren die Zuschauer (Zuhrer) sich pltzlich, da das Kreuz Jesu unsere eigene
Sndenlast symbolisiert. Denn unsere Unzulnglichkeit ist die Ursache seines Leidens, und indem
Jesus unsere Sndenlast trgt, behtet er uns fr das ewige Verdammnis. Der Choraltext lautet
"All Snd hast du getragem sonst mten wir verzagen". Bach hat diesen pltzichen Umschwung,
diese berraschende Wandlung durch prgnante Staccato-Artikulation vertont. Der Satz klingt
erschttert, zerbrckelt, betrt, verblendet, ja sogar shockiert. Die confirmatio beginnt auf einem
wichtigen Schnittpunt: die Sectio Aurea (Goldener Schnitt) oder Sectio Divina (= 5 - 0.618). Der Goldener Schnitt lsst sich annhernd berechnen aus der Reihe von Fibonacci
(Leonardo von Pisa, 13. Jh. 1-1-2-3-5-8-13-21-34-55-89-144-233), indem man stets das Quotient
zweier aufeinerfolgenden Zahlen der Reihe nimmt: 1:2 = 0,5 2:3 = 0,667 3:5 = 0,6 5: 8 = 0.625
8:13 = 0,615 13:21 = 0,619 21:34 = 0,618 34: 55 = 0,618 usw. Der Eingangschor besteht aus
90 Takte. Die Sectio Aurea ist 0,618 x 90 = 55,62. Die Confutatio beginnt nach 56 Takte in Takt
57. Die Abweichung von der Sectio Aurea ist damit geringer als 2 Prozent!
3.5 Confirmatio. T. 72-82. Die Confirmatio fungiert als Reprise. Ab T. 72 hrt man wieder den Beginn. Vergleichen Sie dazu Confirmatio (T. 72 ff.) mit der Narratio (T.17 ff.). Das Bizinium
beginnt jetzt in den Mittelstimmen, und zwar in der Subdominanttonart a-moll. Der Affekt-
charakter der Subdominanttonart gilt als trstend, abrundend, sich fgend, sich ergebend. Dem-
nchst folgen die Aussenstimmen als Bizinium in der Haupttonart e-moll (Notenbeispiel 169).
In T.75 schmelzen die dialogisierende Chre I und II zum ersten Mal zusammen zu einem groar-
tigen Chor beim Choraltekst "Erbarm dich unser, o Jesu!", eine kollektieve flehentliche Bitte
aller Zuschauer (T.75). Kommentartekst im Grochor "Sehet ihn aus Lieb und Huld Holz zum
Kreuze selber tragen". Aus Erbarmen (Huld) und Liebe zu uns Menschen trgt Jesus sein Kreuz.
3.6 Conclusio/Peroratio. T. 82-90. Beide Chre sind nun zu einem Grochor verschmolzen. Deshalb hat das kommt-Motiv, mit dem die Tochter Zions die Zuschauer anspornt, keine
Funktion mehr. Siehe T. 82: der Alt beginnt direkt mit dem hohen Oktaventon h1, ohne
vorgehangenes Fanfarenmotiv h0-d
1-fis
1. Das klagen-Motiv bestimmt von hier ab alleine den
Satz. Das Bizinium wird nun von den beiden Oberstimmen gesungen. Es steht in der
Dominanttonart h-moll. In T.83 folgt im Tenor das fallende klagen-Motiv in fis-moll. In T.82-
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87 befindet sich in der instrumentalen Bastimme ein Orgelpunkt auf der Dominante. In T.87
wird der Orgelpunkt weitergefhrt in eine Barocksequenz (Sechterscher Ba, Quintfallsequenz,
Quartschrittsequenz) c0-Fis-H-E-A. An dieser Stelle kehrt -sehr kurz- noch mal der ursprngliche
Dialog der beiden Chre zurck. Ganz zum Schlu, in T. 90, singen beide Chren unsiono das
wichtigste Schlsselwort des ganzen Einleitungschors "Lamm": Jesus ist das unschuldige Oster-
lamm (Seite 37), das sich selbst opfert um uns von unserer Sndenlast zu befreien.
4. Phase der Decoratio. Im Eingangschor gibt es folgende gut erkennbare musikalisch-rhetori-sche Figuren:
T. 1-6 KYKLOSIS im Ba (Notenbeispiel 165). Dieser lange Halteton E symbolisiert hier Schwermut, Unumgnglichkeit, Schicksal, Gesetz. Bach hat diesen Baton als BOMBO gesetzt.
Die stetige Tonwiederhohlung im trochischen Rhythmus ist eine HYPOTYPOSIS des
schleppenden Gangs Jesu der sein schweres Kreuz trgt.
T. 1 PATHOPOIIA. Die klagen-Motive
enthalten leiterfremde
Halbtne. Diese ver-
strken den klagenden
Affekt der beiden Gir-
landen-Melodien (No-
tenbeispiel 170).
T. 6 ANABASIS. Die instrumentale Bastimme steigt stufenweise von E nach c1, als HYPOTYPOSIS des langen Wegs aufwrts zum Kreuzigungshgel Golgatha. Es kann aber auch
sein, das Bach diese lange Anabasis gewhlt hat, weil es sich nicht nur um eine Bewegung nach
oben, sondern auch um eine Bewegung nach aussen handelt, denn Golgatha befindet sich
ausserhalb der Stadtmauer von Jerusalem
T. 7-8 KYKLOSIS
und SYN-
HAERESIS
(Notenbei-
spiel 171) in
den Traversi
(Querflten)
und Oboen. Die Drehbewegung um die Zentraltne e2 bzw. g
2, und die Synkope sind eine HYPO-
TYPOSIS des Klagens, mehr spezifisch: der Trnen. Das wird offensichtlich klar, wenn wir uns
die charakteristischen
Motive der Altarien
No.47 "Erbarme dich,
mein Gott, um meiner
Zhren willen!" und
No.61 "Knnen Trnen
meiner Wangen nichts
erlangen", etwas ge-
nauer angucken. In die-
sen beiden Arien steht das Schlsselwort Zhren = Trnen zentral (Notenbeispiele 172 und 173).
Die gemeinsame Struktur (fallende Tonstufen 3-2-1-L-1 und die prgnante Verlngerung der
1.Stufe) macht es plausibel, da die Hauptmotive der beiden Arien dem Eingangschor entnommen
sind, oder besser umgekehrt: der Eingangschor bernimmt das Trnen-Motiv der beiden Arien,
denn Bach hat ja den Eingangschor erst spter hinzugefgt!
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T. 14-15 SUSPIRATIO (Notenbeispiel 174) in der Bapartie. Auerdem befindet sich in den Oberstimmen von T.14-15 eine FAUXBOURDON in Dialogform, und eine KYKLOSIS um den
Zentralton a. Diese drei Figuren wirken gleichzeitig, und deshalb ergibt sich ein PLEONASMUS,
eine Anhufung
oder ein berflu
von Figuren. Die
Suspiratio symbo-
lisiert das Seufzen
und Sthnen, der
Fauxbourdon hat
einen klagenden
Affekt, und die Kyklosis schildert hier das Unaufhrliche, das Immerweitergehen.
T. 16 (1. Takthlfte, siehe Notenbeispiel 175) viermal PARRHESIA: a) der Neapolitaner a1-c2-f2 auf dem 1. Achtel, b) der faux-
bourdonartiger Durchgang g1-
h1-e
2 auf dem 2. Achtel, c) der
Vollverminderter Septakkord a-
c-dis-fis auf dem 3. Achtel, ge-
folgt von d) wieder einem Voll-
verminderten Septakkord ais-
cis-e-g auf dem 4. Achtel, um
einen Halbton hher. Die Ab-
folge von vier Parrhesien fhrt
eine starke harmonische Span-
nung herbei.
T. 16-17 ANTICIPATIONE DELLA NOTA (Notenbeispiel 176) in allen Holzblsern. Der Ef-fekt der doppelten Vorausnahme is
feierlich, groartig, dramatisch.
T. 20-25 HYPOTYPOSIS des Kla- gens im Sopran und Alt. Das Wort
klagen (= winselnder, heulender
Gerusch) wird direkt klanglich nach-
geahmt durch ein langes Melisma, ei-
ne sogenannte TROPE. Dasselbe ge-
schieht in T.79-82 beim Wort tragen.
T. 22 PASSUS DURIUSCULUS c2-cis2-d2-dis2-e2 im Sopran.
T. 26, 27, 28 und 29 Schein-FAUXBOURDON in der schnellen Schttelbewegung vom 7. zum 8. Achtel in den instrumentalen Oberstimmen des 2. Orchesters. Eigenlich verluft die Sech-
zehntelbewegung nicht in parallelen Sextakkorden, sondern in parallelen Quartsextakkorden.
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Deshalb ist vielleicht besser es als CATACHESIS QUARTAE anzumerken. Einen einwandfreien
FAUXBOURDON findet man in T.36 und T.37. Wesentlich fr die herbe Wirkung des Faux-
bourdon ist die Parallelfhrung in Quarten. Die schnelle Unterwechselnotenbewegung mit ihren
wringende Quartparallelen verleiht den Fragen Wen?, Wie? im 2. Chor einen eindringlichen,
besorgten Effekt.
T. 29 HYPERBOLE auf dem Ton a2 im Sopran des 1. Chors. Dasselbe geschieht in T.36, in den Traversi (Querflten) vom 1.Chor, auf dem 2.Achtel, wo das g
3 erreicht wird.
T. 42-43 HYPOTYPOSIS des Wortes Geduld, durch eine EPIZEUXIS (fallende Sequenz), in diesem Falle eine zweigliedrige in der Sekunde fallende Sequens in allen Partien. Der klangliche
Effekt: Spannungsabbau.
T. 58 APOKOPE-Pausen beim Wort Schuld: Viertelnote-Achtelpause statt punktierte Viertelnote. Dasselbe geschieht in T.61 und T.63.
T. 59 und T.64 APOSIOPESIS, eine Art Generalpause. Alle Chorstimmen schweigen. Sie schweigen vor Scham, sie sind sprachlos, ihnen ist die Sprache verschlagen.
T. 68 PARRHESIA, NOEMA und KYKLOSIS im 1.Chor beim Wort Schuld. Die lange Note (KYKOSIS) macht deutlich wie gro die Schuld ist. Der dissonante Quartsextakkord f-h-d drckt
das tiefe Unlustgefhl aus, welches mit der Erkenntnis dieser Schuld verbunden ist.
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XX. Analyse von Recitativo No. 11 Da ging hin der Zwlfen einer
Dieses Seccorezitativ (Notenbeispiel 177) beginnt in A-Dur, mit dem Sextakkord der Dominante
(Dominante auf der Terz) gis-h-e. A-Dur gilt in der Barockzeit als ergreifend, klagend,
traurig (Mattheson).
T. 1. Die Worte Da ging hin der Zwlfen einer vertont Bach mit KYKLOSIS und KATABASIS.
Eine ANABASIS wre mehr auf der Hand liegend, denn nach auen gehen, weggehen ist aus
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perspektivischer Sicht eine Bewegung aufwrts. Bach macht uns mit Kyklosis und Katabasis klar,
da Judas sich heimlich davon schleicht.
T. 2. Der Dreiklang gis-h-e (Dominante auf der Terz) wird beim Wort Judas mit der Septime d erweitert. Dadurch ergibt sich der Dominantseptakkord auf der Terz gis-h-d-e. Dieser Akkord
mte sich in T.3 eigentlich in die Tonika a-cis-e auflsen. Der Leitton Gis im Ba lst sich aber
nicht nach A, sondern wird chromatisch fallend weitergefhrt zu G. Das ist eine PATHOPOIIA.
Mit dem Baton G ergibt sich der Dominantseptakkord auf der Septime g-a-cis-e in der Tonart D-
Dur. Eine derartige berraschende Akkordabfolge heit ELLIPSIS, und sie ruft eine ziemlich
starke, unangenehme Spannung hervor. Diese Spannung wird noch dadurch verstrkt, da die
Septime G im Ba regelwidrig weitergefhrt wird. Die Septime mte sich auflsen in die Terz
Fis der neuen Tonika d-fis-a. Stattdessen erfolgt in T.4 ein Quintsprung aufwrts zur Prime d0.
Eine derartige falsche Auflsung einer Dissonanz heit CATACHRESE. Mit ELLIPSIS und
CATACHRESE unterstreicht der Komponist, da Judas auf Irrwege geraten ist.
T. 3. Bei den Worten zu den Hohenpriestern verwendet Bach eine ANABASIS, eine steigende Bewegung zum Gipfelton e
1, denn Judas geht zu hochgestellten Personen.
T. 4. Der Doppelpunkt ist ein Interpunktionszeichen wobei die Stimme, beim Aussprechen des Texts, nach oben geht. Darum wird der Doppelpunkt nach dem Wort sprach: melodisch mit dem
steigenden Sprung a0-fis
1 gesetzt. Eigentlich handelt es sich dabei um den steigenden
Sekundschritt e1-fis
1 zwischen den akzentuierten Silben Ho-hen-pries-tern und sprach. Der
steigende Sekundschritt heit INTERROGATIO.
T. 4-5. Beim Fragezeichen am Ende des Satzes Was wollt ihr mir geben? wird das Anheben der Stimme nach oben musikalisch wiedergegeben durch den steigenden Quintsprung d
0-a
0, also
wieder eine INTERROGATIO.
T. 5-6. Die ANTICIPATIONE DELLA NOTA beim Wort verraten verleiht diesem Wort eine dramatische, verhngnisvolle Wirkung.
T. 5-6. Dem Akkord cis-e-a (Tonika auf der Terz in A-Dur) folgt der verkrzte Dominantsept-akkord auf der Quinte h-d-gis. Der erste Akkord von Takt 5 ist der Umdeutungsakkord. Zuerst ist
er Dominante auf der Terz in D-Dur, aber wird dann umgedeutet zur Tonika auf der Terz in A-
Dur. Der Akkord h-d-gis mte sich demnchst auflsen zur Tonika a-cis-e. Aber auch dieser
Akkord wird umgedeutet, und zwar zum Subdominant Sextakkord (s6) in der Paralleltonart fis-
Moll. Danach folgt der Dominantseptakkord auf der Terz eis-gis-h-cis in fis-Moll. Diese
MUTATIO TONI (Modulation) van A-Dur nach fis-Moll ist eine HYPOTYPOSIS des Wortes
verraten. Die herrschende Tonart A-Dur wird verlassen (~ verraten). Eine weitere
HYPOTYPOSIS des Verrats ist der SALTUS DURIUSCULUS H-Eis (= fallender verminderter
Quintsprung) im Continuo.
T. 6-7. Bei den Worten und sie boten ihm dreiig Silberlinge verwendet Bach eine ANABASIS als HYPOTYPOSIS vom Anbieten des Gelds. Auffllig ist die dissonante bermige Quarte h
0-
eis1 aufwrts, eine SALTUS DURIUSCULUS. Dieser Aufwrtssprung bildet ein ANTITHESIS-
Paar mit der verminderten Quinte H-Eis in T. 5-6 im Continuo. Bedeutung: der Verrat von Judas
(die fallende verminderte Quinte) wird belohnt mit dreiig Silberlingen (= steigende bermige
Quarte).
T. 7. Die Vertonung des Worts Silberlinge (eis1-fis1-fis1-cis1) geschieht, wie beim Wort verraten (T.5-6: d
1-cis
1-cis
1-cis
1) mit einer ANTICIPATIONE DELLA NOTA. Die Silberlinge sind ein
Symbol des Verrats und deshalb werden sie mit derselben verhngnisvollen melodischen Figur
vertont.
T. 7. Die vier Kreuze eis1-fis1-fis1-cis1 bei Silberlinge sind eine HYPOTYPOSIS der hellen audiovisuellen Charakteristik der Silberlinge: sie glitzern (= Glanz) und sie klingeln (= hohes,
helles Gerusch).
T. 7. Die dreiig Silberlinge, das Blutgeld, symbolisieren der Verrat von Judas. Deshalb ist die Harmonie bei Silberlinge sehr dissonant. Es erklingt ein Vollverminderter Septakkord d-eis-
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gis-h (= verkrzter kleiner Dominantseptnonenakkord auf der None in fis-Moll). Die scharfe
Dissonanz (bermige Sekunde d-eis und bermige Quarte d-gis auf dem Baton), ruft ein
heftiges Unlustgefhl hervor. Diese herbe und dissonante Harmonie heit PARRHESIA. Nach der
Parrhesia folgt in T.7 ein vollkommener Ganzschlu in fis-Moll. Diese Tonart gilt in der
Barockzeit als betrbt, einsam, verlassen (Mattheson).
T. 7-8. Die letzte Textzeile diese Rezitativs Und von dem an suchte er Gelegenheit, da er ihn verriete, enthlt einen aufflligen Oktavenbruch, ein HYPERBATON, im Wort Gelegenheit.
Judas sucht eifrig nach einem tauglichen Moment, in dem er Jesus verraten kann, nach einem
Moment, in dem er zuschlagen kann. Diesen geeigneten Moment hat Bach musikalisch
wiedergegeben, indem er den Ton g0 hinterhltig aus der fallenden Melodielinie hinausnimmt,
und in die hhere Oktave, (g1) versetzt. So bietet dieser Hochton g
1 eine ffnung, eine
Mglichkeit.
T. 8. Gleichzeitig mit dem Hyperbaton g1, findet eine MUTATIO TONI statt, denn die Harmonie moduliert bei diesem Ton g
1 von fis-Moll nach D-Dur (= neue, fr Judas gnstige
Umgebung). Der Dominantseptakkord auf der Terz cis-e-g-a zeigt den Weg in die neue Tonart D-
Dur. D-Dur gilt als frhlich, kriegerisch, scharff (Mattheson): Judas ruft Viktoria!
T. 8. Sehr auffllig ist die kurze Abfolge von schnellen Sechzehntelnoten beim Text suchte er Gelegenheit. Eine solche schnelle, flchtige Bewegung heit FUGA ALIO NEMPE SENSU
(Janowka 1701) Sie wird verwendet bei Wrtern die ein Fliehen aussagen. Die schnellen
Sechzehntel schildern an dieser Stelle das schnelle Zuschlagen wenn sich eine Gelegenheit
darbietet.
T. 7 und T.9. Die am Ende der jeweiligen Stze stehenden Wrter Silberlinge. (T.7) und ... ihn verriete. (T.9) haben denselben Klanglaut, d.h. die Abfolge der Vokale ist in beiden Fllen i-e-i-e.
Diese schnen klangliche Symmetrie der Schluwrter hat Bach aufgegriffen, um auch die
Melodie zu diesen Wrtern hnlich zu gestalten. In beiden Fllen benutzt er die Diskantklausel (=
steigender Leittonschritt) mit ANTICIPATIONE DELA NOTA, und anschlieendem fallenden
Quartsprung. In fis-Moll: eis1-fis
1-fis
1-cis
1 (T.7), in D-Dur: cis
1-d
1-d
1-a
0 (T.9). Diese gleiche
Schluwendung aufeinanderfolgende Melodieteile heit EPISTROPHE. Mit der Klanghnlichkeit
bei den Worten Silberlinge und ihn verriete betont Bach, da die Silberlinge ein quivalent sind
fr den Verrat. brigens kommt diese typische Melodieformel in der Matthus-Passion sehr oft
vor, zumeist am Schlu eines Satzes. Im ersten Teil der Matthus-Passion gibt es nicht weniger
als 24 Beispiele einer solchen Diskantklausel mit Anticipatione della nota und abschlieendem
fallenden Quartsprung. Die Wirkung dieser stereotypen Schluwendung lt sich umschreiben als
emphatisch (= betont, nachdrcklich), schwerwiegend, feierlich, dramatisch,
ergreifend. Das ganz Besondere des Beispiels in No.11 Silberinge - ihn verriete ist wohl, da
Bach diese Formel zweimal direkt nacheinander anwendet, bei klangsymmetrischen Textteilen.
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XIX. Analyse von Aria No. 12 Blute nur, du liebes Herz
1. Allgemeines Im vorangehenden Rezitativ (No.11 ''Da ging hin der Zwlfen einer'') erzhlt der Evangelist, wie
Judas zu den Hohenpriestern geht um sie zu fragen welche Summe sie ihm zahlen wollen wenn er
ihnen Jesus ausliefert. Der Sanhedrin, der Jdische Hohe Rat zhlt 70 Mitglieder: Hohepriester,
Schriftgelehrte und lteste des Volks. Jesus ist in ihren Augen ein gefhrlicher Aufrhrer, und
der Vorschlag von Judas ist fr sie so interessant, da sie ihm dreiig Silberlinge bieten um Jesus
festnehmen zu knnen. Ab sofort sucht Judas einen geeigneten Moment um ihnen Jesus
auszuliefern. Im Rezitativ Da ging hin hren wir den Text vom Evangelium nach Matthus. Die
nachfolgende Da Capo Arie (ABA) Blute nur ist eine Vertonung eines freien eingeschobenen
Texts von Bachs Zeitgenosse Henrici (Picander). Die Arie ist ein Moment der persnlichen
Betrachtung: sie verleiht den Gefhlen der Zuhrer zu dem heimtckischen Verhalten von Judas
Ausdruck. Der Text hat folgenden Wortlaut:
A. Blute nur, du liebes Herz! (= Jesus)
B. Ach, ein Kind (= Judas), das du erzogen, das an deiner Brust gesogen,
droht den Pfleger zu ermorden, denn es ist zur Schlange worden.
A. Blute nur, du liebes Herz!
Es ist beraus lehrreich, in dieser Bluttropfenarie die unterschiedlichen Produktionsstadien im
Kompositionsproze zu verfolgen:
2. Phase der Inventio. Der Komponist whlt die Parameter Satz, Taktart, Tonart, und im vorliegenden Text sucht er - mit Hilfe der loci topici - die Schlsselwrter fr den Entwurf der
musikalischen Motive.
Whrend der ganzen Arie wird die Solostimme all'unisono von der 1. Querflte (Traverso) verdoppelt. In den beiden Eckteilen A (T.1-29) wird die Solostimme von einem greren
Instrumentalensemble (Traverso I & II, Violine I & II, Bratsche, Continuo / Orgel) begeleitet. Im
zentralen B-Teil (T.29-45) ertnt das grere Ensemble nur drei mal kurz bei den instrumentalen
fallende Bluttropfen-Interjektionen in T.36, T.38 und T.40. Ansonsten wird die Solostimme im
B-Teil nur vom Continuo begleitet. Trotzdem wird sie auch hier dauernd vom 1. Traverso
verdoppelt!
Die gewhlte Tonart h-moll gilt im Barock als melancholisch, unlustig (Mattheson), und sie pat gut zum Affektgehalt des Texts. In der Matthus-Passion benutzt Bach die Tonart h-moll
dreimal fr eine Arie, in der ein hnlicher Affekt (Schmerz, die Leere des im Stich gelassen
werden) dargestellt wird: Sopran-Arie No. 12 Blute nur, du liebes Herz Judas lt Jesus im Stich Alt-Arie mit Chor No. 36 Ach, nun ist mein Jesus hin die Tochter Zion fhlt sich von Jesus verlassen Alt-Arie No. 42 Erbarme dich, mein Gott Petrus lt Jesus im Stich
Im Exordium (instrumentales Ritornell zu Beginn) T.1-8 sind bereits alle musikalischen Motive, welche in dieser Arie eine wichtige Rolle spielen, voll und ganz da. Wichtigster Gedanke in der
Bluttropfenarie ist folgende Analogie: Jesus (= unschuldiges Blut) wird fr Silberlinge (=
Blutgeld) verraten. Blutgeld verwandelt sich in Bluttropfen. In den ersten vier Takten ertnen: a)
das Blutgeld-Motiv und b) das Bluttropfen-Motiv. Beide Motive werden homorhythmisch von den
Traversi I & II, Violinen I & II und der Bratsche gespielt. Die Zahl der Noten betrgt genau 30.
Die 30 Noten symbolisieren die 30 Silberlinge aus T. 6-7 des vorangehenden Rezitativ No. 11.
Eine derartige Anwendung von Zahlen heit KABBALISTIK. Die Silberlinge sind eine Metapher
fr den Verrat von Judas, und sie sind Ursache des blutenden Herzes von Jesus wie es in dieser
Arie geschildert wird. In T.5-8 werden die brigen beiden Motiven aufgefhrt: c) der fallende
ionische Tetrachord fa-()-mi-(1)-re-(1)-do (vom Bluttropfen-Motiv abgeleitet), und d) der
synkopierte Leittonschritt (vom Blutgeld-Motiv abgeleitet). Um feststellen zu knnen welche
Schlsselwrter mit den Motiven des Exordiums verbunden sind, sollten wir kurz vorausblicken
Musikalische Rhetorik in Bachs Matthuspassion - Jan Wilbers, 2006
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- 178 -
zu der Stelle wo die Solostimme zum ersten mal Wrter unter den jeweiligen Motiven placiert,
also zu den Takten 9-14 (Narratio und Propositio).
T.9. Die Solostimme singt die Worte Blute nur auf die Noten h1-cis2-ais1-h1. Diese KYKLOSIS-Figur bildet das Blutgeld-Motiv. Die Herleitung ist aber nicht ohne weiteres verstndlich. Dazu
sollten wir zuerst die Nummern 49-50-51 unter die Lupe nehmen. Es existiert eine klare Analogie
zwischen den Nummern 11-12 (Matthus-Passion 1.Teil) einerseits und den Nummern 50-51
(Matthus-Passion 2.Teil) andererseits. In den Rezitativen 49 und 50 berichtet der Evangelientext
wie Jesus in Fesseln vor Pontius Pilatus erscheint. Als Judas bemerkt, da Jesus "verdammt war
zum Tode", bekommt er hef-
tige Gewissensbisse, er wirft
die Silberlinge in den Tempel
und er erhngt sich selbst.
Darauf nehmen die Hohen-
priester die Silberlinge, und
sie sagen zueinander (im Ka-
non, das heit: die Vorschrif-
ten befolgend) "wir drfen es
nicht im Opferkasten legen,
denn es ist Blutgeld". Bach
komponiert die Worte "denn
es ist Blutgeld" als ANAPHO-
RA, das heit: sie werden
nachdrcklich wiederholt, und
zwar auf den Tnen (ais)-h-
cis-ais-h, also mit demselben
Motiv wie in Arie No.12 bei
den Wrtern "Blute nur"
(Notenbeispiele 178 a und b).
Die Analogie wird noch
dadurch verstrkt, da die di-
rekt danach folgende Silber-
lingen-Arie von Judas, (die Baarie No.51 Gebt mit meinen Jesum wieder, Notenbeispiel 178c)
mit genau demselben Rhythmus und synkopiertem Melisma (SYNHAERESIS) wie die Arie
No.12 Blute nur beginnt. Zu gleicher Zeit ist das Bluttropfenmotiv ein Kreuzmotiv, ein Fall von
Augenmusik, denn wenn man die beiden ueren Noten (h1 - h
1) miteinander verbindet, und
darauf auch die inneren beiden (cis2 - ais
1) ergibt sich eine kleine Kreuzfigur (Notenbeispiel 178a).
T.9. Im Continuo hrt man das schlagende Herz h0-H-H-H-H (BOMBO), beginnend mit dem Oktavensturz (HYPERBATON) des fallenden Bluttropfens Notenbeispiel 182). In T. 21 ertnt
dieses schlagendes Herz-Motiv in der Solostimme gleichzeitig mit dem Wort Herz!. Damit ist
die Identitt dieses Motivs offensichtlich klar.
T.9-10. In der Bratsche klingt das Silberlingen-Mo-
tiv ais0-h
0-fis
0 (= Leitton-
schritt mit anschlieendem
Quartfall, siehe Rezitativ No.
11, T.7) und ihre Fortsetzung
ais0-fis
0-h
0 in ruhiger Viertel-
bewegung (Notenbeispiele
179a und b).
T.9-10. Die Solostimme schweigt, die Instrumente
Musikalische Rhetorik in Bachs Matthuspassion - Jan Wilbers, 2006
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- 179 -
schildern das Bluten. Das
Bluttropfen-Motiv ist uerst
realistisch und detailliert in al-
len Einzelheiten: in den Ober-
stimmen hrt man a) das Auf-
quellen (ANTICIPATIONE
DELLA NOTA), b) das Kullern
(ACCENTUS) und c) das Fal-
len (HYPERBATON) der Blut-
tropfen: g2-g
2-fis
2-(fis
1) / fis
2-
fis2-e
2-(e
1) / e
2-e
2-d
2-(d
1), alles
in glanzvollen, warmen Terz-
parallelen (GYMEL und
HYPOTYPOSIS; die Analogie:
Blut = warm). Notenbeispiel
180b.
T.11-12. Genau dieselbe Musik wie in den Takten 9-10,
jetzt um eine Terz hher in der
Paralleltonart D-Dur. Eine der-
artige nachdrckliche Wieder-
holung auf hherer Stufe heit
GRADATIO (CLIMAX).
T.13-14. Die Solostimme bringt in T.13 zum ersten mal den vollstndigen Text Blute nur, du liebes Herz auf den fallenden Tetrachorden f
2-e
2-d
2-c
2 (Blute nur) und c
2-h
1-a
1-g
1 (du liebes Herz),
sodann in T.14 eine emphatische Wiederholung derselben Wrter einen Ton hher auf den
Tetrachorden g2-fis
2-e
2-d
2 (Blute nur) und d
2-cis
2-h
1-ais
1 (du liebes Herz). Die fallenden ionischen
Tetrachorde sind Beschleunigungen (dreimal schneller) des Bluttropfen-Motivs. Siehe
Notenbeispiele 180a, b und c.
T.13-14. In der ersten Violi-ne hrt man die synkopierten
Leittonschritte gis2-a
2, dis
2-e
2,
ais2-h
2, eis
2-fis
2 (Notenbeispiel
181b). Dieser Leittonschritt ist
dem Silberlingen-Motiv
entnommen (Notenbeispiel
181a). Die Synkope (SYN-
HAERESIS) entsteht durch
Zusammenziehen des Achtel-
portaments zu synkopiertem
Viertel. Diese Synkopierung
ist auch ein wesentliches
Merkmal des Bluttropfen-
Motivs. Das ist am einfachsten zu erkennen beim fallenden ionischen Tetrachord (Notenbeispiel
180b). Die aufeinander folgenden Leittne gis-dis-ais-eis (und selbstverstndlich auch ihre
Auflsungstne a-e-h-fis) bilden steigende Quinten, also handelt es sich um eine umgekehrte
Barocksequenz (keine Quintfall- sondern eine Quintschrittsequenz). Die steigenden Quinten sind
auch in der Grundtonabfolge in den Banoten leicht zu erkennen: [d0 (Vla)] - a
0 (Vla) - e
0 (Cont) -
h0 (Vla) - fis
0 (Cont).
Nach dieser ausfhrlichen Beschreibung der Herleitung der vier Kernmotive, ist es jetzt relativ
einfach die genannten Motive im Exordium (instrumentales Ritornell, T.1-8) zu erkennen. Die
Musikalische Rhetorik in Bachs Matthuspassion - Jan Wilbers, 2006
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- 180 -
bereits besprochenen Takte 9-14 sind ja eine genaue Kopie der Takte 1-6 des Exordiums. So
erkennt man im Exordium (Notenbeispiel 182): a) Blutgeld-Motiv, b) Bluttropfen-Motiv, c)
Fallendes Tetrachord (~ Bluttropfen), d) Synkopierter Leittonschritt (~ Silberling).
Bemerkenswert ist in T.7-8 die Stimmkreuzung (METABASIS) zwischen Bratsche und
Violinen/Traversi. Die Violapartie spielt an dieser Stelle den Leittonschritt ais1-h
1 (Symbol der
Silberlinge, siehe T.1-2) hoch ber dem Bluttropfen-Motiv. Ein anderes schnes Beispiel einer
METABASIS findet sich in T.5 zwischen Viola und Continuo, wo im Continuo eine lange
KATABASIS (f1 zu Ais) beginnt.
3. Phase der Dispositio. Der Komponist teilt die Komposition ein. Die Arie No.12 ist eine Da Capo Arie A-B-A. Der A-Teil mit dem Text Blute nur, du liebes Herz umfat die Takte 1 bis 29,
bis zur Fermate (= Fine!), der B-Teil (CONFUTATIO) mit dem Text Ach, ein Kind ..... usw.
umfat die Takte 29-45. Der Hinweis Da Capo in T.45 lt den A-Teil nochmal ertnen. Die
Auffhrungspraxis bietet brigens die Mglichkeit das Da Capo mit Diminutionen (VARIATIO,
PASSAGGIO, COLORATURA) zu verzieren! Der A-Teil steht in der Haupttonart h-moll. Der A-
Teil hat auch selber einen kleinen dreiteiligen Bau a-b-a. Zuerst hrt man das instrumentale
Ritornell a (T.1-8), sodann den Mittelteil b (T.9-21, Solostimme: Blute nur, du liebes Herz), und
zuletzt wieder das instrumentale Ritornell a (T.21-29). Die Tonartenabfolge (das
Modulationsmuster des Ritornells a lautet: h-D-a-e-h. Im vokalen Mittelteil (T.9-21) werden die
Worte Blute nur zuerst wiederholt, danach wird die vollstndige Textzeile Blute nur, du liebes
Herz nicht weniger als sechs(!) mal in direkter Aufeinanderfolge vertont. Die Tonartenabfolge des
Mittelteils b lautet: h-D-a-e-h-fis-h-A-h-e-h. Im Zentralteil B (T.29-45) wird die Solostimme, wie
zuvor im A-Teil vom 1. Traverso verdoppelt. Die Instrumentalbegeleitung aber wird auf Continuo
reduziert. Das vollstndige Instrumentalensemble ertnt nur bei den drei instrumentalen
Musikalische Rhetorik in Bachs Matthuspassion - Jan Wilbers, 2006
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- 181 -
A. Exordium T. 01-08 instrumentales Ritornell als Einleitung
Narratio T. 09-12 erster Eintritt der Solostimme
Propositio T. 13-21-29 vollstndiger Text 13-21, mit abschlieendem Ritornell 21-29
B. Confutatio T. 29-45 zentraler Teil: neuer Text, neue Tonart, neue Motive
A. Confirmatio & Conclusio T. 01-08-21 Rckkehr des ursprnglichen Themas, des Beginns
Peroratio T. 21-29 instrumentales Ritornell als Abschlu
Bluttropfen-Interjektionen in den Takten 36, 38 und 40. Diese Interjektionen sind dem 2. Takt
des Ritornells entnommen. Der Zentralteil B zeigt einen zweiteiligen Bau c-d.
Die Textbehandlung ist fr eine Arie durchaus merkwrdig, denn Bach hat die vier Textzeilen
zweimal 'aus einem Gu' (das heit ohne Unterbrechungen durch Wiederholung von einzelnen
Wrtern) auskomponiert. Der erste Teil c umfat die Takte 29-36, der zweite Teil d umfat die
Takte 37-45. Der erste Teil c (T.29-36) schliet mit einem vollkommenen Ganzschlu in cis-moll,
und die Tonartenabfolge lautet A-h-fis-cis. Der zweite Teil d (T.37-45) endet mit einem
vollkommenen Ganzschlu in e-moll, und die Tonartenabfolge lautet A-fis-h-e. Cis-moll ist
wegen den vielen Kreuzen eine scharf klingende Tonart (Seite 73, Schubart: Buklage,
trauliche Unterredung mit Gott). Ihre Paralleltonart E-Dur klingt tdlich traurig und
verzweifelt (Mattheson), und sie wirkt oft scharf durchdringend. Die Tonart e-moll gilt als philosophisch, wehmtig. Aus dem Formschema A (a-b-a) - B (c-d) - A (a-b-a) geht hervor,
da das Ritornell a insgesamt vier mal klingt. Auerdem wird der d-Teil (T.37-45) eingeleitet und
zwei mal unterbrochen von dem 2.Takt des Ritornells (die Bluttropfen-Interjektionen, siehe T. 36,
38 und 40). Es ist einfach, die festen Bauteile der Dispositio mit den Formteilen der Da Capo Arie
zu verbinden:
Die Art und Weise wie das Ritornell in der Dispositio positioniert wird erweckt bei dieser
Einteilung leider einen etwas knstlichen Eindruck: zuerst erscheint das Ritornell selbstndig als
Exordium, demnchst ist es Anhang der Propositio, dann wieder Vorhang der
Confirmatio/Conclusio, und zuletzt wieder ganz selbstndig als Peroratio.
4. Phase der Decoratio. Einige interessante Figuren sind bei der Besprechung der Inventio noch nicht zur Diskussion gestellt worden:
T.1. Das Blutgeld-Motiv wird in parallelen Sextakkorden gespielt. Notenbeispiel 182. Es handelt
sich um eine FAUXBOURDON; die Fauxbourdon hat einen klagenden Affekt (wegen der herben
Wirkung der parallelen Quarten).
T. 9 und 11. Der Text Blute nur
enthlt eine markante Synkope auf
der ersten Silbe. Notenbeispiel
183. Diese Synkope bleibt als
Attribut charakteristisch fr alle
Motive mit den Worten Blute nur!
In den Takten 13 und 14, 15 und
16, so wie 18 und 19 wird die erste
Silbe des Wortes Blu-te stets als
SYNHAERESIS vertont: zwei
Achtel, deren erstes unbetont ist,
werden zusammengezogen um die
erste Silbe zu tragen. Wegen der
Synhaeresis ist es, als wre die
erste Silbe nach vorne gezogen.
Die stndige Synhaeresis verleiht
die Musik eine eindringliche,
schmerzliche Wirkung.
Musikalische Rhetorik in Bachs Matthuspassion - Jan Wilbers, 2006
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- 182 -
T. 13-14. Die Melodie der Solostimme hat in den fallenden Tetrachorden bei dem Wort liebes
eine Sechzehntel als Nachschlag; dieses kleine Melisma hat einen innigen, warmen Affekt. Der
Schtz-Schler Christoph Bernhard (1628-1692) bezeichnet einen solchen Nachschlag als
SUPERIECTIO (Tractatus compositionis augmentatus, ca. 1648). Siehe Notenbeispiel 180c.
T. 15-16. PASSUS DURIUSCULUS: die Balinie bewegt sich von der Dominante fis0 zur
Tonika h0 chromatisch aufwrts. Auerdem wird sie von SUSPIRATIONES , hier Achtelpausen,
unterbrochen. Notenbei-
spiel 184.
T. 15-16. Die Solo-
stimme singt viermal
dasselbe Kreuzmotiv
(vom Blutgeld-Motiv
abgeleitet), jeweils auf
einer hheren Stufe: cis2
- dis2- eis
2 - fis
2. Eine derartige mehrfache Wiederholung auf hherer Stufe heit CLIMAX
(AUXESIS) oder GRADATIO. Die Gradatio enthlt eine chromatisch steigende Linie cis2 - d
2 -
dis2 - e
2 - eis
2 - fis
2, einen PASSUS DURIUSCULUS. Dieser Passus bildet ein rhythmisch
komplementres Gegenstck zum Passus im Ba, der eine Zhlzeit spter um eine Quinte tiefer
einsetzt: MIMESIS oder IMITATIO. Notenbeispiel 184.
T. 17. Die Solostimme hat einen langen Halteton e2 (KYKLOSIS) beim Wort Herz. Dasselbe in
T.19, jetzt um eine Oktave tiefer auf e1. Whrend dessen klingt im Orchester das Bluttropfen-
Motiv. Die Solostimme singt die Aufforderung Blute nur, du liebes Herz, und beim Wort Herz,
auf den beiden Haltetnen, ermglicht sie es dem Orchester, das Bluten mit fallenden Bluttropfen
zu illustrieren.
T. 18-19. HY-
PERBATON
(Oktavenbruch)
von d2 zu e
1.
Zwischen den
beiden KY-
KLOSIS-Tnen
e2 und e
1 blutet
das Herz leer.
Bemerkenswert
ist, da die Ach-
telbewegung
zwischen den
beiden Kyklosistnen (T.18) und im abschlieenden Takt 20 immer chaotischer wirkt. Die
unkontrollierte Bewegung ist eine HYPOTYPOSIS der Schwchung durch Blutverlust: Kraft und
Kontrolle verringern sich. Notenbeispiel 185.
T. 19-20. SALTUS DURIUS-
CULUS, HYPERBATON und
MIMESIS. Der fallende Septi-
mensprung von d2 zu e
1 in der
Solostimme (T.18-19) wird in
T.19-20 zweimal vom Continuo
imitiert (g0-Ais und cis
0-D):
MIMESIS oder IMITATIO. Da Bach
diese MIMESIS absichtlich einkomponiert
Musikalische Rhetorik in Bachs Matthuspassion - Jan Wilbers, 2006
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- 183 -
hat, wird klar wenn wir diese Takte mit der analogen Stelle in den Takten 7-8 vergleichen, wo
diese Septimensprnge fehlen. Notenbeispiel 186.
T. 21. ACCENTUS. Ein langer Vorschlag (Seufzer) von cis2 zu h
1 beim Schluwort Herz. Der
lange Vorschlag hat einen innigen, klagenden Affekt. Zu gleicher Zeit hrt man im Continuo eine
BOMBO (pulsierende Tonwiederholung in Achteln) als HYPOTYPOSIS eines schlagenden
Herzes. Dieser Bombo ist charakteristisch fr den 1.Takt des Ritornells, und sie klingt nur in den
Takten 1, 9 und 21.
T. 29. Der Ausruf Ach wird, ge-
nau so wie die Silbe Blu-te in T.
13-16, 18-19, als SYNHAERE-
SIS vertont. Zwei Achtel deren
erstes unbetont ist werden zusam-
mengezogen um die erste Silbe zu
tragen. Der Synhaeresis erweckt den Eindruck, als wre die erste Silbe nach vorne gezogen, und
die Musik wirkt demzufolge eindringlich. Dieselbe Synhaeresis erscheint auch beim Worte droht
in T.41. Notenbeispiel 187.
T. 29. MIMESIS (IMITATIO)
zwischen Solostimme und Conti-
nuo. De Imitation ist sehr auffl-
lig, weil der Satz von hier an
(Confutatio) monodisch (zweistim-
mig: Solostimme + Continuo) ist.
Notenbeispiel 188. Die Mimesis
ist eine HYPOTYPOSIS (= wort-
wrtliche Darstellung) des Nach-
folgens (erziehen ~ nachfolgen).
T. 29. ACCENTUS (Seufzer). Die Melodie verneigt sich (KATABASIS) zu einem langen
Vorschlag von a1 zu gis
1 beim Wort Kind. Die Kombination von KATABASIS und ACCENTUS
wirkt innig, liebevoll und sorgsam, denn ein Kind ist zart, s und pflegebedrftig. Nbs 187.
T. 29-30. ANABASIS, eine steigende Melodie in ruhigen Achteln zu den Worten das du
erzogen. Die Anabasis ist eine HYPOTYPOSIS vom Groziehen (von klein zu gro), vom
Erziehen des Kindes. In T.30 eine SYNHAERESIS (= eine lngere Note, welche entsteht durch
berbindung einer relativ unbetonten Note zu einer relativ betonten) auf d2 zu der akzentuierten
Silbe -zo- ; demnchst eine ANTICIPATIONE DELLA NOTA d2-cis
2-cis
2. Synhaeresis und
Anticipatione della Nota verleihen dem Wort erzogen etwas Eindringliches und Sorgenvolles.
Notenbeispiel 188.
T. 31-32. CLIMAX (AUXESIS) oder GRADATIO: eine emphatische Wiederholung der Takte
29-30, einen Ton hher. Notenbeispiel 189. Da sich die Worte erzogen und gesogen reimen (End-
reim) ist dies zu gleicher Zeit ein Fall der EPISTROPHE. Achten Sie auf die organische Anpas-
Musikalische Rhetorik in Bachs Matthuspassion - Jan Wilbers, 2006
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- 184 -
sung der musikalischen Zsur: das Komma zwischen den Worten Kind und das wird musikalisch
als eine Achtelpause dargestellt, aber bei der analogen Stelle in der Gradatio fehlt diese Achtel-
pause, weil sie hier nur stren wrde: das Wort dei-ner darf nicht aufgeteilt werden!
T. 33-35. Im Continuo zweimal dieselbe Figur cis1
- d1
- fis0
- eis0
- fis0
- gis0
- d0
- cis0.
Notenbeispiel 190. Eine solche ostinate Bafigur heit ANAPHORA. Wegen der vielen Leit-
tonschritte und der schwierigen fallenden Sprnge (SALTUS DURIUSCULUS: kleine Sexte und
Tritonus) ist die Wirkung der Anaphora an dieser Stelle ziemlich drohend. Das Kopfmotiv cis1 -
d1 - fis
0 - eis
0 ist vom Imitationsmotiv e
1- fis
1 - d
1 - gis
0 im Continuo (T. 29-30) hergeleitet. Jede
steigende Sekunde wird legato, jede fallende staccato gespielt. Beim dritten Mal hrt man die
ostinate Figur eine Quarte tiefer einsetzen, aber sie bricht nach der zweiten Note pltzlich ab.
T. 33-34. Beim Wort ermorden hat die Solostimme eine kurze TROPE (melismatischer
Abschnitt), als HYPOTYPOSIS des Ermordens (im Falle einer Schlange: des Erwrgens).
Die Kernnoten bewegen sich in ruhigen Achteln h1 - ais
1 - h
1 - cis
2 - d
2, aber die mittleren Achtel
ais1 - h
1 - cis
2 werden zu Sechzehnteln beschleunigt, indem der Komponist sie mit ihren
Oberterzen abwechselt: ais1 - (cis2) - h
1 - (d2) - cis
1 - (e
2). Diese Diminutionsart heit VARIATIO,
PASSAGGIO oder COLORATURA. Notenbeispiel 190.
T. 34-35. HYPOTYPOSIS. Bei den Worten denn es ist zur Schlange worden hat die Melodie
der Solostimme in hmmernden Achteln und Vierteln die Form einer sich windenden Schlange.
Diese HYPOTYPOSIS mit KYKLOSIS-Figuren ist ein Fall der AUGENMUSIK. Gegen die
letzten fnf Noten eis0 - fis
0 - gis
0 - d
0 - cis
0 der ersten Anaphora im Continuo ertnt zur gleichen
Zeit in der Solomelodie eine genaue Spiegelung der Intervalle d2 - cis
2 - h
1 - eis
2 - fis
2.
Notenbeispiel 190. Die exakte Umkehrung der Intervalle ist eine HYPOTYPOSIS der
grauenvollen Metamorphose: das Kind wird zu Schlange! Der Schweif der Schlange, die letzten
fnf Noten der Solomelodie his1 - cis
2 - e
2 - dis
2 - cis
2 (Tonstufen L-1-3-2-1) werden in den
Takten 41 und 43 als Kopfmotiv verwendet. Notenbeispiel 192. Bach hat das Doppelsinnige und
Heimtckische der Schlange musikalisch sowohl als Horizontalspiegelung (Kopf Schweif) als durch Vertikalspiegelung (Kind Schlange) vertont.
T. 37. Die Worte Ach, ein Kind, das du erzogen (Notenbeispiel 192) werden zum hier zum
zweiten Mal vertont (das erste Mal war in den Takten 29-30). Das HYPERBATON
(Oktavenbruch) bei den Worten Kind, das... ermglicht es, die seufzende EXCLAMATIO (=
Ausruf) bei den Worten Ach, ein relativ hoch zu setzen, und trotzdem eine ANABASIS bei den
Worten Kind, das du erzogen durchzufhren.
T. 37-38. Die Melodie bei den Worten Kind, das du er-(zogen) ist genau dieselbe wie in den
Takten 29-30, aber die Geschwindigkeit hat sich - durch Halbierung der rhythmischen Werte -
verdoppelt. Notenbeispiel 191. Die abschlieende ANTICIPATIONE DELLA NOTA ist aber
rhythmisch unverndert. Eine mgliche Interpretation der doppelten Geschwindigkeit: das Kind,
Musikalische Rhetorik in Bachs Matthuspassion - Jan Wilbers, 2006
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das du grogezogen hast (Judas) ist nun flgge geworden, es macht sich davon, es hrt nicht
mehr auf seinen Meister, es geht seinen eigenen Weg und es entgleist.
T. 39-40. EPIZEUXIS (Wiederholung auf niedriger Stufe), eine emphatische Wiederholung der
Takte 37-38, um eine Terz tiefer. Wirkung: mutlos, vergebens. Wie die GRADATIO der Takte
29-32 enthlt auch diese fallende Sequenz eine EPISTROPHE. In T.29-32 wirkte die Gradatio
(steigende Sequenz) hoffnungsvoll, optimistisch, auf die Zukunft orientiert, aber an dieser
Stelle (T. 37-40) ist der bse Ausgang (T.33-36, Notenbeispiel 190) schon bekannt, und deshalb
whlt Bach hier eine EPIZEUXIS (fallende Sequenz). Wegen der tieferen Wiederholung ergibt
sich auerdem ein heftiger Kontrast zu der nchsten Textzeile droht den Pfleger... (T.40-41).
Wegen des groen Registerabstands wirkt diese Stelle viel bedrohlicher als die analoge Stelle in
T.32-33. Notenbeispiel 192.
T. 41-43. ANAPHORA. Die ostinate Bafigur von T.33-35 kehrt hier - eine Quinte tiefer -
wieder. Die transponierte Fortsetzung des Ostinatos in T. 43-44 (Quinte tiefer) ist nun weiter
fortgezogen als in T.33-35: H - c0 - E - Dis - h
0 - c
1 - (a
0). Notenbeispiel 193.
Musikalische Rhetorik in Bachs Matthuspassion - Jan Wilbers, 2006
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T. 41-43. EMPHASIS. Das Motiv L-1-3-2-1, dis1 - e
2 - g
2 - fis
2 - e
2 (Text: droht den Pfleger,
bzw. es ist zur Schlange) ist vom Motiv his1 - cis
2 - e
2 - dis
2 (Text: Schlange worden) in den
Takten 35-36 hergeleitet. Notenbeispiele 193 und 190. In T.41 und 43 steht das Motiv eine Terz
hher. Wegen der Aufwrtsversetzung klingt es jetzt strker, intensiver und deshalb ist seine
Wirkung viel bedrohlicher als zuvor in T.35-36.
T. 42-43. TMESIS. Die Achtelpause mit der dieser Takt zu Ende geht, und die Achtelpause mit
der der nchste Takt beginnt bilden eine doppelte Tmesis-Pause. Auf der Hand liegend wre es,
das Pausenzeichen mit dem Interpunktionszeichen (dem Komma nach ermorden) zusammenfallen
zu lassen. Statt dessen hat Bach die musikalische Zsur in die nchste Zeile denn es ist zur
Schlange worden eingerckt. Indem er eine Pause einrckt zwischen dem Anfangswort denn und
dem Rest der Zeile es ist zur Schlange worden, werden zwei Wrter, die syntaktisch zusammen
gehren, getrennt. Die Tmesis-Pause wirkt erschreckend: es stockt einem der Atem in der Kehle
bevor man die scheuliche Realitt aussprechen kann: denn ....(TMESIS).... das Kind hat sich in
eine Schlange verwandelt!
T. 43-45. In der Balinie klingt dreimal das Kreuzmotiv. Das erste mal h0 - c
1 - a
1 - h
0, dann
fis0 - g
0 - dis
0- e
0, und
zuletzt H - c0 - Ais - H.
Die erste Form h0 - c
1 -
a1 - h
0 ist die Krebs-
Inversion (= rckwrts
und umgekehrt) des
Blutgeldmotivs h0 - cis
1
- ais1 - h
0. Notenbeispiel
194.
T. 42-45. Die TROPE zu dem Wort ermorden ist hier viel lnger und heftiger als in T.34. In
T.34 beschrnkte sich die Trope auf die VARIATIO, aber in T.42 komponiert Bach dieses Wort
viel heftiger, als
PLEONASMUS
(= eine Anhu-
fung von musi-
kalisch-rhetori-
schen Figuren).
Man erkennt: a)
SYNHAERESIS
(Synkope) auf
dem Ton ais1, b) ein grimmiger, zuckender 32stel-Rhythmus d
2 - cis
2 - h
1, c) SALTUS DURI-
USCULUS h1
- eis2
(= 4), und d) abschlieendes HYPERBATON fis2 - fis
1. Notenbeispiel 195.
T. 43. PARONOMASIA. Anfangs werden die Worte es ist zur Schlange auf derselben Melodie
gesungen wie die Worte droht den Pfleger, aber demnchst wird die Melodie erweitert und anders
fortgesetzt. Eine solche Wiederholung mit neuen krftigen Zustzen heit Paronomasia. Es ist
merkwrdig, da das Continuo gegen diesen Melodiekopf denselben Bakontrapunkt wie in T.41
bringt, aber jetzt um eine Quinte tiefer: ein Fall von doppeltem Kontrapunkt in der Duodezime!
Diese doppelte Mglichkeit fr die Placierung des Ostinatomotivs knnte man so interpretieren:
eine Schlange hat eine doppelte Zunge, doppelsinniger Charakter, das Kind entpuppt sich
als Schlange, innere Zerrissenheit. Die Melodie beim Wort Schlange endet in T.44 mit
demselben Motiv wie in T.42 beim Wort ermorden, aber um einen Ton tiefer. Man erkennt: a)
den grimmigen Zweiunddreiigstel-Rhythmus c2 - h
1 - a
1, b) SALTUS DURIUSCULUS a
1 -
dis2, c) SYNHAERESIS dis
2 (nach rechts versetzt) und d) abschlieendes HYPERBATON e
2 -
e1. Notenbeispiel 196.
Musikalische Rhetorik in Bachs Matthuspassion - Jan Wilbers, 2006
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T. 43-45 COMPLEXIO/EPANALEPSIS. Die ersten fnf Noten dis2 - e
2 - g
2 - fis
2 - e
2 sind
genau dieselben wie die letzten fnf Noten dis2 - e
2 e
1 - g
1 - fis
1 - e
1, mit dem HYPERBATON
von e2
zu e1: Kopf und Schweif sind identisch. Wenn eine Tongruppe zu Beginn einer
Periode an deren Ende zurckkehrt heit das EPANALEPSIS, COMPLEXIO oder SYMPLOKE.
Notenbeispiel 196.
T. 43-44 HYPOTYPOSIS, AUGENMUSIK. Es ist interessant sich einmal die Folge einer auf
der Hand liegenden gleichfrmigen musikalischen Behandlung der beiden Reimwrter ermorden
(T.42) und worden (T. 44-45) vorzustellen. Das Schlsselwort Schlange wrde in diesem Fall
unbeachtet bleiben. Die Folge ist in Notenbeispiel 196 auf der unteren Notenlinie ersichtlich
gemacht worden. Und weil eine solche Textplacierung unerwnscht ist, entscheidet Bach sich hier
zugunsten einer asymmetrischen Textbehandlung. In der sich schlngelnden Melodie beim Wort
Schlange erkennt man ohne Mhe eine sich windende Schlange: Notenbeispiel 196, obere
Notenlinie.
Musikalische Rhetorik in Bachs Matthuspassion - Jan Wilbers, 2006