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Erstmals in der Schweiz ist wegen des Klimawandels ein Dorf in Gefahr. Weil das ewige Eis auf den Bergen schmilzt, wird Guttannen BE von Murgängen bedroht. Zwei Häuser sind schon weg. Die nächsten folgen bestimmt. 30 Menschen suchen ein neues Daheim.
ein Dorf verschwindet
KlimaerwärmunG im haslital
Oben: Die Häuser im Guttanner Ortsteil Boden sind von Murgängen bedroht.Links: Peter von Bergen steht auf dem 20 Meter hohen Schuttkegel. Auf dem Foto, das er zeigt, sieht man das Geburts-haus seiner Mutter, das genau hier stand und 2011 abgebrochen wurde.
TexT marcel huwyler FOTOs marcus GyGer
Der Hasli-Adler jedenfalls,
der steht schon mal auf
Halbmast. Im Guttanner
Dorfteil Boden, wo die
Aare noch Bach ist, wo
wettergrau melierte Holzhäuser stehen,
eine Steinbrücke, ein Schuelhüsli und
wo 50 Menschen wohnen, da trieft die
gelbe Fahne mit dem Haslitaler Adler so
schwer vom Regen der letzten Tage,
dass sie an der Stange herunterrutscht.
Und auf Halbmast klebt. Was Trauerbe-
flaggung bedeutet. Zwar ist das nur eine
Folge der widrigen Witterung, Schaber-
nack der Natur und wirkt doch auch
wie ein böser Wink: Die Menschen hier
wissen, dass die Zukunft nichts Gutes
bringt, weil es für sie hier keine Zukunft
gibt. Sie müssen weg. Der Berg kommt.
Das Ritzlihorn ist Guttannens
Hausberg, 3282 Meter hoch, Grimsel-
Granit; seit Jahrhunderten hält er sich
still. 2009 beobachtet man am Ritzli
erste kleinere Murgänge, Ströme aus
Schlamm und Gestein. 2010 und 2011,
nach starken Niederschlägen, stürzen
gewaltige Murgänge zu Tal, Ferien-
chalet-grosse Brocken wälzen sich ins u
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so ein murgang schaut aus wie ein brauner tsunami. Das Geröll kommt immer näher. wir
müssen weg anDrea von BerGen
Aare-Bett, schütten das Ufergebiet 20
Meter hoch zu und kommen dem Dorfteil
Boden bedrohlich nahe. Der Permafrost
am Ritzlihorn taut auf, das ewige Eis,
welches das Gestein am Berg wie Kitt zu-
sammenhält, schmilzt. Auslöser ist – die
Klimaerwärmung. Ein globales Wort, das
in der Schweiz bisher bloss lauwarmes
Zukunftszenario war, und wenn über-
haupt, so dachte man, weit weg, an exo-
tischeren Orten, stattfindet, in Grönland
etwa, wo das Eis dünner wird, oder in
Kiribati, wo die Südsee insulaner vom an-
steigenden Pazifik vertrieben werden.
Aber doch nicht Guttannen.
Erstmals in der Schweiz ist ein Dorf
vom Klimawandel bedroht. Die Häuser
im Ortsteil Boden, drei Kilometer aus-
serhalb von Guttannen, werden vom
Geröll allmählich verschüttet. Von den
zum Ritzlihorn. Beide mussten weg.
Nutzungsverbot, schrieben die Behör-
den, dann Abbruchverfügung. Wenn wir
das Haus schon zerstören müssen, ma-
chen wir das selber, sagten sich die von
Bergens. Trotz und Stolz im Schmerz.
Im Frühling 2011 brechen sie das 262
Jahre alte Hohfluhhaus ab. Der Berg
hält nicht still, will noch mehr, weitere
Häuser sind gefährdet. Und wieder trifft
es Familie von Bergen. «Mitkommen»,
gebietet Peter von Bergen, zu ihm heim,
das bald nicht mehr sein Heim sein soll.
Ein paar Hundert Meter talab-
wärts, ebenfalls im Ortsteil Boden, steht
sein Haus, vor 22 Jahren gebaut, mit
Garten, in dem besagter Hasli-Adler auf
Halbmast schlenkert. Die Fussmatte
vor der Haustür grüsst «Willkommen»,
ein Büsi umschmeichelt alle neuen
Beine, und Peters Frau, Lisa von
Bergen, 59, schenkt erst mal Kaffee
ein, bevor sie von ihrem Kummer be-
richtet. Auch das Ehepaar muss hier
weg, in zwei, drei, «mit etwas Glück erst
in fünf Jahren». Die Ungewissheit sei
zermürbend, sagt die Frau. Ihr Mann
erwähnt das Gartenhäuschen, das
ein neues Dach, und das WC, das eine
Renovation bräuchte. «Ob sich das
noch lohnt?» Wohin sie gehen, wenn es
so weit ist, darüber will das Ehepaar
nicht nachdenken. «Wir sind optimis-
tisch», beteuern sie. Ein Satz, der
mehr nach Verdrängung denn nach
Zuversicht klingt.
Auch zwei ihrer Söhne möchten in
Boden bleiben, wollen hier gar ein Haus
bauen, die Frage ist nur, wo. Denn aus-
gerechnet da, wo es möglich wäre, wo
man vor den Murgängen sicher ist,
droht eine andere Gefahr: Lawinen.
Hans Abplanalp, Gemeindepräsi-
dent von Guttannen, beugt sich über die
Gefahren-Karten des Ortsteils Boden.
Aggressive Farben verdeutlichen, wo
Lawinen- und wo Murgang-Zonen sind.
Die Menschen hier, sagt der 61-Jährige,
lebten seit Jahrhunderten mit den
Schneelawinen und seien sich gewohnt,
im Winter tagelang von der Aussenwelt
abgeschnitten zu sein. «Aber diese gi-
gantischen Murgänge jetzt, die sind neu
und unberechenbar», Abplanalp zupft
sich am Schnauz, spricht von einer
«gschponnegi Situa tion». Immer wieder
schielt er auf sein Handy. Seit zwei Ta-
gen regnet es ohne Unterlass. Im Gefah-
rengebiet sind Si gnaldrähte gespannt,
bewegt sich der Berg, wird automatisch
die Hauptstrasse, die zum Grimselpass
führt, gesperrt, und Abplanalp bekommt
ein Warn-SMS aufs Handy.
320 Einwohner hat Guttannen, 30
Menschen in Boden sollen wegen der
Murgänge ihre Häuser aufgeben. «Wir
müssen also zehn Prozent unserer
Bevölkerung umsiedeln», rechnet Ab-
planalp vor. Ein Grossteil der Kosten
ihre häuser sinD BeDroht
Bild oben und links: Peter von Bergen geht auf der vom Murgang zerstörten Strasse nach Hause, wo er mit seiner Frau Lisa wohnt. Auch das Ehepaar muss sein Heim wohl bald verlassen und abbrechen.Bild rechts: Andrea von Bergen lebt mit ihrer Familie (hier mit Sämi) im hintersten Haus. Sie hat bereits Ersatzwohnungen im Unterland besichtigt, «falls wir hier schnell wegmüssen». Im vorderen Haus wohnen die Nachbarn Peter und Lisa.
50 Bewohnern müssen 30 in den nächs-
ten zwei bis zehn Jahren ihr Heim
ver lassen. Der erste Hof wurde bereits
abgerissen.
Peter von Bergen, 57, mit blauer
Regenjacke und weissem Haarkranz,
stakst auf der Geröllhalde herum. Hier
stand letztes Jahr noch das Geburts-
haus seiner Mutter. Er zeigt ein Foto,
zeigt was einst war, «s Hohfluhhaus»,
Baujahr 1749, dazu ein Stall, am Rande
des Ortsteils Boden gelegen. «Jahrhun-
derte ist hier nie etwas passiert», sagt
von Bergen, doch in den letzten zwei
Jahren seis immer ärger geworden, die
Murgänge kamen näher, 650 000 Kubik-
meter Geröll liegen hier, 20 Meter hoch,
das Volumen von 8000 Postautos. Von
allen Häusern in Boden lagen das Hoh-
fluhhaus und sein Stall am nächsten u
u
Guttannen unD seine Gefahren
Oben: Mit ihrem Handy fotografierte Lisa von Bergen den gewaltigen Murgang vor ihrem Haus im Oktober 2011.Links: Guttannens Gemeindepräsident Hans Abplanalp zeigt Lawinen- und Mur-gang-Zonen (violett) im Ortsteil Boden.
30 menschen in Boden müssen
fort, das sind zehn Prozent unserer Bevölkerung
GemeinDePräsiDent hans aBPlanalP
übernimmt die Gebäudeversicherung,
man versuche den Vertriebenen eine
Alternative im Dorf anzubieten, sagt der
Gemeindepräsident, «wir wollen doch
niemanden verlieren».
Andrea und Andreas von Bergen
(es gibt verwirrend viele von Bergens
im Ortsteil Boden) haben sich bereits
Häuser im Unterland angeschaut. «Man
weiss nie, wie schnell wir hier fortmüs-
sen», sagt Andrea von Bergen, 38, Mut-
ter zweier Buben. Diesen Frühling über-
legte sie, ob sich ein Frühlingsputz
überhaupt noch lohne. Im erst zwölfjäh-
rigen Haus duftet es würzig nach Arve,
Ehemann Andreas hat das Holz eigen-
händig geschlagen. In der Stube spielt
der fünfjährige Sämi mit seiner Post-
auto-Flotte, Bus-Chauffeur will er mal
werden. So ein «Gutsch», ein Murgang,
schaue aus wie ein Tsunami, erzählt An-
drea von Bergen, «dazu ein höllisches
Poltern und Donnern, es macht schon
Angst.» Die Mineralien-Sammlung ihres
Mannes hat sie vorsorglich in Kisten
verpackt. «Manchmal habe ich Hoff-
nung, dass wir bleiben können, dann
wieder bin ich verzweifelt und denke,
es geht alles unter.» Im Flur hängt ein
altes Poster – es zeigt die «Titanic».
Guttannen und sein schmelzen-
der Permafrost gilt bei Geologen mitt-
lerweile als Modellfall in den Alpen. In
diesem Jahr, resümiert Gemeindepräsi-
dent Abplanalp, habe man hier keine
Murgänge registriert. Er kontrolliert er-
neut sein Handy, blickt aus dem Fens-
ter, hinaus in die Regensuppe, hinauf
zum Ritzlihorn. Ja, doch, ein ruhiges
und darum gutes 2012 sei das gewesen.
Bisher. Fahrig nestelt er am Schnauz,
äugt wieder hinaus, hinauf, bergauf.
Das Jahr ist noch nicht zu Ende.
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