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Philosophische Rundschau, Band 55 (2008) S. 95–122 © 2008 Mohr Siebeck – ISSN 0031-8159 Neue Lektüren von Wittgensteins Logisch-Philosophischer Abhandlung Cora Diamond: The Realistic Spirit. Wittgenstein, Philosophy, and the Mind. Cambridge, Mass. & London 1991. MIT Press. xv +396 S. Hans Sluga/ David Stern (Hg.): The Cambridge Companion to Wittgenstein. Cambridge 1996. Cambridge University Press. ix + 509 S. Alice Crary/ Rupert Read (Hg.): The New Wittgenstein. London 2000. Routledge. ix + 403 S. James Conant: The Method of the Tractatus. In: Erich Reck (Hg.): From Frege to Wittgenstein, Perspectives on Early Analytic Philosophy. Oxford 2002. Oxford University Press. S. 374–462. Barry Stocker (Hg.): Post-Analytic Tractatus. Aldershot & Burlington, Vt. 2004. Ashgate. viii + 244 S. Marie McGinn: Elucidating the Tractatus. Wittgenstein’s Early Philosophy of Logic and Language. Oxford 2006. Oxford University Press. xiv + 315 S. Alice Crary (Hg.): Wittgenstein and the Moral Life. Essays in Honor of Cora Diamond. Cambridge, Mass. 2007. MIT Press. viii + 409 S. 1. In der neueren Literatur zu Wittgenstein sind besonders zwei Inter- pretationsvorschläge hervorgetreten und kontrovers diskutiert worden und beide zeichnen sich durch eine zugespitzte, paradoxe These aus. Zunächst hat Saul Kripke die Auffassung vertreten, daß Wittgenstein in den Philoso- phischen Untersuchungen an zentraler Stelle die bisher radikalste Form des Skeptizismus vertreten habe, nach der es keinerlei Faktum gibt, welches das richtige Befolgen irgendeiner Regel, und damit insbesondere den kor- rekten Sprachgebrauch, festlegen kann. 1 Wir können demnach auf keine Tatsache verweisen, die die Richtigkeit irgendeiner Wortverwendung rechtfertigen könnte. Diese paradoxe These ist als Interpretation weitge- hend zurückgewiesen worden, 2 bestehen bleibt jedoch die Einsicht, daß 1 S. Kripke: Wittgenstein on Rules and Private Language, Oxford 1982; Wittgenstein über Regeln und Privatsprache Frankfurt/M. 1987. Dieser Vorschlag wirkte bis weit über die Grenzen der Wittgensteingemeinde hinaus; vgl. etwa die ausführliche und enthusiastische Darstellung von Wolfgang Stegmüller: Kripkes Deutung der Spätphilosophie Wittgensteins, in: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. IV, Stuttgart 1989, S. 1–160. 2 Tatsächlich zeigt eine genauere Lektüre, daß Wittgenstein die Entstehung eines derart radikalen Paradoxes als Folge eines besonderen Mißverständnisses der Art, wie Regeln und Sprachverwendung verwoben sind, aufweist und damit das Paradox nicht selbst vertritt, weshalb er es auch nicht auflösen muß. Wittgenstein nennt das »Paradox [. . .]: eine Regel könnte keine Handlungsweise bestimmen, da jede Handlungsweise mit der Regel in Übereinstimmung zu bringen sei« im unmittelbar folgenden Absatz ein »Mißverständnis« (Philosophische Untersuchungen [PhU] § 201), da es ohne Ende »Deutung hinter Deutung« setze. Etwas einfacher könnte man auch sagen, daß es kategorial verfehlt ist, normative Verhältnisse durch Rekurs auf ein Faktum begründen zu wollen. Dieser Gedanke ist ver- wandt mit der Kontroverse darum, ob es nach Wittgenstein Verletzungen der logischen Syntax geben kann, da man ja jeden von einer bestimmten Verwendungsweise abwei-

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Page 1: Neue Lektüren von Wittgensteins Logisch-Philosophischer ... · 10 E. Stenius : Wittgensteins Traktat [1960], Frankfurt/M. 1969, nennt den Schluß »keine echte Verdammung [. . .]

Philosophische Rundschau Band 55 (2008) S 95ndash122copy 2008 Mohr Siebeck ndash ISSN 0031-8159

Neue Lektuumlren von Wittgensteins Logisch-Philosophischer Abhandlung

Cora Diamond The Realistic Spirit Wittgenstein Philosophy and the Mind Cambridge Mass amp London 1991 MIT Press xv +396 S

Hans Sluga David Stern (Hg) The Cambridge Companion to Wittgenstein Cambridge 1996 Cambridge University Press ix + 509 S

Alice Crary Rupert Read (Hg) The New Wittgenstein London 2000 Routledge ix + 403 S

James Conant The Method of the Tractatus In Erich Reck (Hg) From Frege to Wittgenstein Perspectives on Early Analytic Philosophy Oxford 2002 Oxford University Press S 374ndash462

Barry Stocker (Hg) Post-Analytic Tractatus Aldershot amp Burlington Vt 2004 Ashgate viii + 244 S

Marie McGinn Elucidating the Tractatus Wittgensteinrsquos Early Philosophy of Logic and Language Oxford 2006 Oxford University Press xiv + 315 S

Alice Crary (Hg) Wittgenstein and the Moral Life Essays in Honor of Cora Diamond Cambridge Mass 2007 MIT Press viii + 409 S

1 In der neueren Literatur zu Wittgenstein sind besonders zwei Inter-pretationsvorschlaumlge hervorgetreten und kontrovers diskutiert worden und beide zeichnen sich durch eine zugespitzte paradoxe These aus Zunaumlchst hat Saul Kripke die Auffassung vertreten daszlig Wittgenstein in den Philoso-phischen Untersuchungen an zentraler Stelle die bisher radikalste Form des Skeptizismus vertreten habe nach der es keinerlei Faktum gibt welches das richtige Befolgen irgendeiner Regel und damit insbesondere den kor-rekten Sprachgebrauch festlegen kann1 Wir koumlnnen demnach auf keine Tatsache verweisen die die Richtigkeit irgendeiner Wortverwendung rechtfertigen koumlnnte Diese paradoxe These ist als Interpretation weitge-hend zuruumlckgewiesen worden2 bestehen bleibt jedoch die Einsicht daszlig

1 S Kripke Wittgenstein on Rules and Private Language Oxford 1982 Wittgenstein uumlber Regeln und Privatsprache FrankfurtM 1987 Dieser Vorschlag wirkte bis weit uumlber die Grenzen der Wittgensteingemeinde hinaus vgl etwa die ausfuumlhrliche und enthusiastische Darstellung von Wolfgang Stegmuumlller Kripkes Deutung der Spaumltphilosophie Wittgensteins in Hauptstroumlmungen der Gegenwartsphilosophie Bd IV Stuttgart 1989 S 1ndash160

2 Tatsaumlchlich zeigt eine genauere Lektuumlre daszlig Wittgenstein die Entstehung eines derart radikalen Paradoxes als Folge eines besonderen Miszligverstaumlndnisses der Art wie Regeln und Sprachverwendung verwoben sind aufweist und damit das Paradox nicht selbst vertritt weshalb er es auch nicht aufl oumlsen muszlig Wittgenstein nennt das raquoParadox [ ] eine Regel koumlnnte keine Handlungsweise bestimmen da jede Handlungsweise mit der Regel in Uumlbereinstimmung zu bringen seilaquo im unmittelbar folgenden Absatz ein raquoMiszligverstaumlndnislaquo (Philosophische Untersuchungen [PhU] sect 201) da es ohne Ende raquoDeutung hinter Deutunglaquo setze Etwas einfacher koumlnnte man auch sagen daszlig es kategorial verfehlt ist normative Verhaumlltnisse durch Rekurs auf ein Faktum begruumlnden zu wollen Dieser Gedanke ist ver-wandt mit der Kontroverse darum ob es nach Wittgenstein Verletzungen der logischen Syntax geben kann da man ja jeden von einer bestimmten Verwendungsweise abwei-

96 Wolfgang Kienzler PhR

Wittgensteins Uumlberlegungen zum Regelfolgen das (oder zumindest ein) Kernstuumlck seiner Spaumltphilosophie ausmachen und gegenuumlber der Haupt-stroumlmung der analytischen Philosophie ein enormes kritisches Potential aufweisen3 Die gegenwaumlrtig am heftigsten diskutierte Thematik betrifft ebenfalls ein Paradox jedoch eines das Leser Wittgensteins bereits seit Jahrzehnten immer wieder beschaumlftigt hat Am Schluszlig seines ersten Buches der Logisch-Philosophischen Abhandlung (unter dem Namen Tractatus Logico-Philosophicus beruumlhmt geworden)4 schreibt Wittgenstein

raquoMeine Saumltze erlaumlutern dadurch daszlig sie der welcher mich versteht am Ende als unsinnig erkennt wenn er durch sie ndash auf ihnen ndash uumlber sie hin-ausgestiegen ist (Er muszlig sozusagen die Leiter wegwerfen nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist)laquo (654)

Diese vorletzte Bemerkung5 scheint die Bemuumlhungen des Buches um die Klaumlrung der raquoLogik der Sprachelaquo wieder umzuwerfen bzw sie in ein fragwuumlrdiges Licht zu setzen denn wie kann man ein Buch das aus un-sinnigen Saumltzen besteht ernst nehmen Der Anspruch des Buches die raquoLogik der Sprachelaquo zu klaumlren und raquodem Denken eine Grenze zu ziehenlaquo (Vorwort) scheint sich in ein paradoxes Zerfallen des Sinns aufzuloumlsen ndash jedenfalls dann wenn man die Schluszligbemerkung ernst und woumlrtlich nimmt

2 Die Geschichte der Deutung des ohnehin schon aumluszligerst schwierigen Buches zeigt nun ganz uumlberwiegend die Tendenz den Schluszlig als Aumlrgernis zu empfi nden ihn entweder als Irrtum zu verwerfen oder aber abschwauml-chend zu lesen Klassisch geworden ist Carnaps Vorschlag diesen Schluszlig als unbefriedigend und falsch weil unwissenschaftlich abzulehnen weil eine raquoMythologielaquo des raquoHoumlherenlaquo und des raquoUnsagbarenlaquo uumlberfl uumlssig sei da man ja sehr wohl eine exakte Wissenschaft von der Logik der Sprache ent-wickeln kann naumlmlich eine raquoLogische Syntax der Sprachelaquo die sich we-sentlich auf die Unterscheidung von Objekt- und Metasprache nach Tarski stuumltzt und in einer semantischen Konzeption von Sprachanalyse muumlndet6

chenden Gebrauch statt als Fehler als Vorschlag zur Etablierung einer anderen syntaktischen Festlegung auffassen kann (s u)

3 Nachdem der Schwerpunkt des Interesses zuvor auf Fragen der Privatsprache lag hat er sich durch Kripke nach weiter vorn im Buch verschoben da die private Sprache nur ein Sonderfall problematischen Regelfolgens ist Der naumlchste Schritt bestuumlnde dann darin die Problematik des Regelfolgens als besonderen Fall von Wittgensteins Ansatz bei den Sprachspielen aufzufassen Dies ist bisher noch wenig gesehen worden

4 Wittgenstein selbst verwendete immer den deutschen Originaltitel5 Es folgt nur noch der beruumlhmte Schluszligsatz raquoWovon man nicht sprechen kann daruuml-

ber muszlig man schweigenlaquo6 R Carnap Logische Syntax der Sprache Wien 19341968 zit S 241 Tatsaumlchlich ent-

wickelt Wittgensteins Abhandlung zum ersten Mal konsequent die Unterscheidung von gebrauchter und nur erwaumlhnter bzw behandelter Sprache fuumlr Wittgenstein liegen diese

97Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Die meisten Interpreten folgten Carnaps radikaler wissenschaftlicher Umgestaltung von Wittgensteins Ansatz jedoch nicht Der bis heute aus-fuumlhrlichste Kommentar von Black fi ndet den Schluszlig raquozutiefst unbefriedi-gendlaquo7 weigert sich aber einfach alles wegzuwerfen denn raquoim Buch ist vieles das er gezeigt hat man muszlig die Leiter nicht wegwerfenlaquo8 Auch die einfl uszligreiche Einfuumlhrung von Anscombe9 vermeidet weitgehend eine praumlzise Kommentierung der Schluszligpassagen ebenso wie die bekannte Einfuumlhrung von Stenius10 die sich auf die theoriefaumlhigen Teile des Buches konzentriert11

3 Im Folgenden ist uumlber eine Entwicklung zu berichten die den Schluszlig auszligerordentlich ernst nimmt und von hier aus ein Verstaumlndnis des Buches insgesamt zu gewinnen versucht Die Wurzeln dieser aktuellen Diskussion reichen weit zuruumlck Im Uumlberblick sind folgende Hauptschritte zu beruumlck-sichtigen Seit den spaumlten 1960er Jahren entwickelt Cora Diamond aus-gehend von Arbeiten zum spaumlten Wittgenstein Elemente einer ange-messenen Darlegung von Wittgensteins methodischem Ansatz Dabei stoumlszligt sie auf Arbeiten von Anscombe12 besonders aber auf einen Aufsatz

Sprachen jedoch so weit auseinander daszlig sie nicht als zwei Stufen derselben Hierarchie aufgefaszligt werden koumlnnen Die erstmals in G Freges spaumltem nachgelassenem Fragment uumlber Logische Allgemeinheit (Nachgelassene Schriften Hamburg 1983 S 278ndash281 hier S 280) entwickelte Unterscheidung von raquoDarlegungssprachelaquo und raquoHilfssprachelaquo geht houmlchst-wahrscheinlich auf eine Anregung Wittgensteins zuruumlck

7 M Black A Companion to Wittgensteinrsquos Tractatus Ithaca N Y 1964 Zitat S 3778 Ja warum muszlig man sie eigentlich wegwerfen Offenbar weil sie nicht mehr gebraucht

wird und nur hinderlich sein kann Tatsaumlchlich sind mir keine Leser des Buches bekannt die das Buch nach erfolgter Lektuumlre wegwarfen auszliger einigen die aufgegeben haben

9 E Anscombe An Introduction to Wittgensteinrsquos Tractatus 3 Aufl London 1967 (s aber Anm 12)

10 E Stenius Wittgensteins Traktat [1960] FrankfurtM 1969 nennt den Schluszlig raquokeine echte Verdammung [ ] weil das Wittgensteinsche System tatsaumlchlich unausdruumlckbar istlaquo (S 14 f)

11 Am Rande sei die positive Rezeption gerade des Schlusses jedoch unter weitgehen-der Ausklammerung der logischen Teile des Buches durch im weiteren Sinne existenzia-listische Deutungen besonders im deutschen Sprachraum (Ingeborg Bachmann u a) er-waumlhnt ndash eine Richtung die aber fuumlr die Interpretation des Buches insgesamt praktisch folgenlos geblieben ist obwohl die Betonung der Schluszligpassagen und des ethischen Grundanliegens deutliche Parallelen zu neuesten Tendenzen aufweist

12 Folgende paradoxe Formulierung Anscombes veranlaszligte Diamond zu ausfuumlhrlichen Klaumlrungsbemuumlhungen raquoDie Dinge die zwar nicht raquogesagtlaquo wohl aber raquogezeigtlaquo werden koumlnnen spielen im Tractatus eine wichtige Rolle Dh es waumlre richtig sie raquowahrlaquo zu nen-nen wenn sie was unmoumlglich ist gesagt werden koumlnnten tatsaumlchlich koumlnnen sie nicht wahr genannt werden weil sie nicht gesagt werden koumlnnen aber sie raquokoumlnnen gezeigt wer-denlaquo oder zeigen sich in denjenigen Saumltzen die die verschiedenen Dinge sagen die gesagt werden koumlnnenlaquo (Anscombe wie Anm 9 S 162 vgl dazu C Diamond Saying and Sho-wing An Example from Anscombe in Stocker Post-Analytic Tractatus S 151ndash166)

98 Wolfgang Kienzler PhR

von Geach13 mit der These daszlig Wittgensteins Buch nur dann nicht selbst-widerspruumlchlich wird wenn man davon ausgeht daszlig darin das Wichtig-ste die raquowichtigsten Zuumlge der Realitaumltlaquo zwar nicht raquogesagtlaquo wohl aber raquogezeigtlaquo werden Diamond greift dieses Problem auf und stellt im Gegen-zug heraus daszlig die Rede davon daszlig es ein raquoetwaslaquo gibt das zwar nicht gesagt wohl aber gezeigt werden kann inkonsequent ist Wittgensteins Rede von raquoUnsinnlaquo ist ihr zufolge ganz ernst zu nehmen und nicht zu umgehen er meint wirklich daszlig seine Saumltze raquoeinfach nur Unsinn sindlaquo Seit 1990 tritt James Conant an die Seite von Diamond und entwickelt die-se Lesart weiter u a durch Vergleiche zu Kierkegaards Schreibweise und durch eine Rekonstruktion der gesamten Deutungsdebatte Seit etwa 1997 spricht man von einer raquoresoluten Lesartlaquo14 Am 23 und 24 April 1998 fi ndet ein Treffen der wichtigsten Kontrahenten beim Boston Colloquium on the History and Philosophy of Science statt bei dem auch eine radikale raquoJako-binischelaquo Fraktion ( J Floyd) auftritt15 Daraus geht zT der Sammelband The New Wittgenstein (2000)16 hervor der als Ausdruck einer ganzen Strouml-mung aufgefaszligt und breit diskutiert wird und dem weitere Sammlungen folgen17 Er enthaumllt auch eine kritische Stellungnahme von Peter Hacker

13 P Geach Saying and Showing in Frege and Wittgenstein in J Hintikka (Hg) Essays on Wittgenstein in Honor of G Hv Wright Acta Philosophica Fennica 28 Amsterdam 1976 S 54ndash70

14 Die Herausgeber des Cambridge Companion zu Wittgenstein (1996) vergleichen Witt-genstein mit Sokrates (S 29 f) wissen aber von besonderen aktuellen Debatten nichts zu berichten Diamond ist darin als eine von mehreren Interpreten vertreten sie behandelt die Frage ob man nicht durch den Vergleich mit den Bemerkungen zur Mathematik zei-gen kann daszlig es vor allem fuumlr den spaumlten Wittgenstein weniger auf das Vokabular als auf den konkreten Gebrauch der Saumltze ankommt etwa wenn man fragt ob es sich in einem konkreten Fall um eine Frage der Ethik handelt ndash und daszlig man durch eine solche Auffas-sung weniger in Versuchung kommt zu glauben man koumlnne ethische Werte quasi wahr-nehmen (im Sinne eines ethischen raquoRealismuslaquo) Vgl C Diamond Wittgenstein mathema-tics and ethics Resisting the attractions of realism S 226ndash260 Im Beitrag von Ricketts faumlllt beilaumlufi g das Wort raquoresolutlaquo Auch das Wittgenstein-Lexikon von Hanjo Glock (Oxford 1996 Darmstadt 2000) das in seinem Ansatz Peter Hacker verpfl ichtet ist nennt in der kommentierten Bibliographie ohne weitere Anmerkungen Diamonds Aufsaumltze raquoschwierig aber interessant besonders zum Thema Unsinnlaquo

15 Vgl dazu V Hofmann Ein Bostoner Streitgespraumlch uumlber Wittgensteins Tractatus Frank-furter Allgemeine Zeitung 10 Juni 1998

16 Die verbreitete Rede vom raquoneuen Wittgensteinlaquo bleibt sehr vage und erscheint wenig hilfreich Ein etwas klareres Konzept ist dagegen mit der raquotherapeutischenlaquo Auffassung verbunden nach der es Wittgenstein lediglich darum geht seine Leser von ihren falschen Gedankengaumlngen zu heilen ohne diese durch irgend etwas substantiell Neues zu ersetzen Diese Variante die den Gesichtspunkt der Wirkung besonders hervorhebt ist sehr stark auf den spaumlten Wittgenstein bezogen Diamond hebt demgegenuumlber zu Recht den logischen Charakter von Wittgensteins Analysen hervor

17 Saumlmtliche Baumlnde enthalten auch viel fuumlr die Diskussion kaum einschlaumlgiges Material Zu nennen ist Timothy McCarthySean C Stidd (Hg) Wittgenstein in America Oxford

99Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

dem prominentesten Kritiker des Neuansatzes Das Wittgenstein-Sympo-sium Kirchberg 2001 zum 50 Todestag Wittgensteins wird von der De-batte um die neue Lesart beherrscht 2002 erscheint die bisher ausfuumlhr-lichste Darstellung von Conant Beitraumlge von Warren Goldfarb18 Thomas Ricketts19 Juliet Floyd Michael Kremer und anderen erweitern das Lager der raquoresolutenlaquo Leser20 2006 erscheint eine Monographie von Marie Mc-Ginn die eine Synthese der aumllteren und der neueren Lesart versucht Die Festschrift fuumlr Cora Diamond (2007) enthaumllt bereits Ruumlckblicke auf die bisherigen Entwicklungen sowie die Perspektive das Diskussionsfeld end-guumlltig auf den spaumlten Wittgenstein auszuweiten21

3 Ausgangspunkt der Entwicklung war Cora Diamonds Versuch aus studentischen Aufzeichnungen Wittgensteins Vorlesungen uumlber die Grund-

2001 (tatsaumlchlich sind die meisten Vertreter der resoluten Lesart Amerikaner [raquoMost Brits donrsquot buy itlaquo]) Reck From Frege to Wittgenstein (2002) mit Conants langem Aufsatz sowie Stocker Post-Analytic Tractatus (2004) Dieser letzte Band ist insofern symptomatisch als er sehr heterogenes Material unterschiedlicher Qualitaumlt bietet Neben Aufsaumltzen von Co-nant Diamond und Kremer sowie einigen allgemeineren Beitraumlgen enthaumllt der Band L E Brouwers fruumlhe Schrift Life Art and Mysticism (niederlaumlndisch 1905) mit dem Hinweis daszlig sie raquodasjenige explizit macht was bei Wittgenstein auszligerhalb der Grenzen des Sag-baren verbleibtlaquo (Einleitung des Herausgebers S 3) Ein solches Verstaumlndnis von Explika-tion kann man nur als kurios bezeichnen

18 Warren Goldfarb hat in Metaphysics and Nonsense On Cora Diamondrsquos The Realistic Spirit in Journal of Philosophical Research 22 (1997) S 57ndash73 der Stroumlmung den Namen gegeben sonst aber wenig veroumlffentlicht (vgl die Liste der Texte in Floyd Wittgenstein and the Inexpressible in Wittgenstein and the Moral Life S 229)

19 Als fuumlhrender Fregeinterpret geht Ricketts von der Schwierigkeit aus daszlig es keinen logisch wohlgebildeten Satz geben kann der ausdruumlckt daszlig Begriffe keine Gegenstaumlnde sind da Saumltze der Form A=B voraussetzen daszlig die Ausdruumlcke auf beiden Seiten der Glei-chung (oder Ungleichung) derselben Kategorie angehoumlren und der fragliche Satz daher die schlichte Verneinung eines solchen Satzes sein muumlszligte Varianten desselben Problems fi ndet er in refl ektierterer Form auch bei Wittgenstein wieder vgl dazu Pictures Logic and the Limits of Sense in Wittgensteinrsquos Tractatus in Wittgenstein Companion S 59ndash99 vor allem S 88ndash94 Eine besondere Gemeinsamkeit von Ricketts Goldfarb und anderen liegt darin herauszustellen daszlig Wittgenstein offenbar von seinen Lesern erwartet daszlig sie zugleich auf den Inhalt seiner Saumltze und auf die logische Form dieser Saumltze achten sollen wobei der Effekt eintritt daszlig die logische Form der Saumltze dem in ihnen (scheinbar) Gesagten wider-spricht wodurch sich der Sinn der gesamten Ausfuumlhrungen von innen her zersetzt und in Unsinn aufl oumlst Ricketts zeigt dies fuumlr die Satzreihe zwischen 2 und 21

20 Ein weiterer wichtiger Vertreter und Anreger dieser Wittgensteinlektuumlre ist der 1995 verstorbene Peter Winch dessen Sammelband Trying to Make Sense (Oxford 1987 Versu-chen zu verstehen FrankfurtM 1992) in vieler Hinsicht den Arbeiten von Diamond ver-gleichbar ist Zwei wichtige Arbeiten Conant Method of the Tractatus und Diamond How Long ist the Standard Meter at Paris in Wittgenstein in America (s Anm 17 dieser Band geht auf eine von Winch organisierte Tagung zuruumlck) sind dem Andenken an Winch gewid-met

21 Conant nennt in seinem Beitrag sechzehn Mitstreiter (Mono-Wittgensteinianism S 11 Anm 3)

100 Wolfgang Kienzler PhR

lagen der Mathematik von 193922 einigermaszligen zusammenhaumlngend zu rekonstruieren23 Diamond gewann aus dieser Arbeit den schlagenden Eindruck wie schwierig es ist Wittgensteins Herangehensweise an philo-sophische Fragen richtig aufzufassen und auszudruumlcken24 Diesem Grun-dimpuls Wittgensteins philosophischen Ansatz in seiner Schwierigkeit und Radikalitaumlt zu erlaumlutern verdankt sich ein groszliger Teil von Diamonds weiterer Arbeit25

Zentral ist ein starkes Interesse an der Spaumltphilosophie Wittgensteins demgegenuumlber erscheint die fruumlhe Denkweise als erster und wichtiger Schritt in die richtige Richtung nicht aber als ein gescheiterter Versuch dem Wittgenstein spaumlter etwas grundlegend Anderes entgegensetzte Dia-monds Interesse an der Abhandlung ist zunaumlchst eher indirekt und liegt darin zu zeigen wie der radikale Ansatz schon des fruumlhen Wittgenstein interpretativ weitgehend abgefl acht und miszligverstanden wurde Die Initi-alzuumlndung zu einer intensiven Beschaumlftigung mit dem fruumlhen Wittgen-stein ging dann von Peter Geachs Versuch aus durch Zuhilfenahme der

22 Wittgenstein Lectures on the Foundations of Mathematics 1939 Ithaca N Y 1976 (= Schriften Bd 7 1978 dieser wichtige Text ist in der deutschen Uumlbersetzung wenig beach-tet und nicht nachgedruckt worden)

23 Es gelang Diamond schlieszliglich auf bewundernswerte Weise aus den unterschied-lichen stark voneinander abweichenden Mitschriften einen zusammenhaumlngenden Text zu erstellen Diese philologisch anfechtbare und fuumlr den Leser nicht uumlberpruumlfbare Praxis wur-de in spaumlteren Veroumlffentlichungen von Vorlesungen Wittgensteins zugunsten der paral-lelen Wiedergabe der einzelnen Mitschriften aufgegeben Damit verschwanden aber auch Erfahrungen wie diejenige Diamonds

24 Diamond schreibt raquoIch brauchte vier Jahre um uumlberhaupt zu verstehen was in diesen Vorlesungen eigentlich vor sich ginglaquo (Diamond How Did I Come to be Acquainted with Wittgensteinrsquos Work In Philosophical Investigations 14 2001 S 108ndash115 S 109 diese Ausgabe enthaumllt entsprechende Auskuumlnfte u a auch von Cavell Conant und Hacker) Die Arbeit an dieser Edition hat Diamonds Perspektive entscheidend gepraumlgt Man koumlnnte sa-gen daszlig Diamond sich in ihren eigenen Veroumlffentlichungen an dem Ideal orientiert das Wittgenstein in diesen Vorlesungen paradigmatisch vorfuumlhrt Er nimmt einen Satz etwa aus einer Schrift des bedeutenden Mathematikers Hardy daszlig mathematischen Saumltzen raquoin irgendeiner wenn auch noch so subtilen Form etwas in der Realitaumlt entsprichtlaquo und zeigt durch intensive Deutungsbemuumlhungen und praumlgnante Beispiele auf inwiefern diese For-mulierung zwar nicht falsch ist wohl aber und das ist weit gravierender eine grundsaumltz-lich verfehlte Einstellung zum raquoGegenstand der Mathematiklaquo ausdruumlckt (25 und 26 Vor-lesung S 290 ff)

25 Diamond greift zudem Impulse von Rush Rhees und Elizabeth Anscombe auf beides unmittelbare Schuumller sowie Nachlaszligverwalter und Herausgeber Wittgensteins sowie von Stanley Cavell der zunaumlchst von Austin beeinfl uszligt weitgehend unabhaumlngig eine ganz auf die Philosophischen Untersuchungen konzentrierte Lektuumlre Wittgensteins entwickelt und durch seine Lehrtaumltigkeit auch auf Conant Goldfarb und Ricketts gewirkt hat (wie die vorherige Anm S 109 f) Allerdings uumlberschreitet Cavells bisweilen sehr kreative Um-gangsweise mit den Texten haumlufi g die Grenzen dessen was man Interpretation nennen kann

101Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen Wittgenstein davor zu ret-ten sich selbst philosophisch mattzusetzen (raquoLudwigrsquos self-matelaquo)26 Geach war damit derjenige der dem Schluszlig des Buches nicht nur besondere Aufmerksamkeit schenkte sondern ihn zum Pruumlfstein uumlber Erfolg oder Scheitern von Wittgensteins fruumlher Philosophie bzw der Versuche sie zu verstehen machte

Fast alle Versuche den Schluszlig zu verstehen knuumlpfen an die im Text zentrale Unterscheidung zwischen raquoSagenlaquo und raquoZeigenlaquo an Wittgenstein selbst nannte sie einmal den raquoHauptpunktlaquo seiner Philosophie (Brief an Russell vom 19 8 1919) und er entwickelt sie bei der Behandlung radikal unterschiedlicher Arten von Saumltzen Empirische oder raquosinnvollelaquo Saumltze vergleicht er mit Bildern die Sachverhalte darstellen Wenn der darge-stellte Sachverhalt besteht ist der Satz wahr wenn er nicht besteht falsch Saumltze sagen daszlig die von ihnen dargestellten Sachverhalte bestehen Sie sind artikuliert und tun dies mit Hilfe ihrer spezifi schen logischen Form Die-se Form raquoweisen sie auflaquo aber sie sagen sie nicht aus sondern raquozeigenlaquo sie Diese beiden Aspekte das von einem Satz Ausgesagte und Behauptete sowie die dabei zum Einsatz kommenden sprachlogischen Mittel trennt Wittgenstein scharf Weiter betont er daszlig die Saumltze der Logik keine Sach-verhalte darstellen sondern bereits aufgrund ihrer Form als korrekt und insofern raquowahrlaquo oder als widerspruumlchlich und insofern raquofalschlaquo zu erken-nen sind Wittgenstein spricht von raquoTautologienlaquo27 und raquoKontradiktionenlaquo Diesen rein formalen Charakter der logischen Saumltze druumlckt Wittgenstein auch so aus daszlig er sie raquosinnloslaquo nennt und bemerkt raquoDie Saumltze der Logik sagen also Nichtslaquo (611)28 Er druumlckt dies auch so aus daszlig logische Saumltze raquozeigen daszlig sie nichts sagenlaquo (4461) Sagen und Zeigen sind fuumlr ihn strikt getrennte Ausdrucksformen raquoWas gezeigt werden kann kann nicht gesagt werdenlaquo (41212) Weiterhin untersucht Wittgenstein die Natur der philo-sophischen Saumltze und kommt zu dem Schluszlig daszlig diese weder zur Gruppe der sinnvollen noch zu der der sinnlosen Saumltze gehoumlren Da seiner Mei-nung nach der Philosophie uumlberdies kein eigener Gegenstandsbereich zugewiesen werden kann erklaumlrt er daszlig die Philosophie raquokeine Lehre sondern eine Taumltigkeitlaquo (4112) sei naumlmlich die Taumltigkeit der logischen

26 Saying and Showing in Frege and Wittgenstein (wie Anm 13 Zit S 54) Diamond deutet den Schluszlig nicht defensiv wie Geach sondern offensiv als Versuch etwas Wichtiges klar-zustellen

27 Wittgenstein etabliert damit eine ganz neue Verwendungsweise des Wortes raquoTauto-logielaquo die durch die aussagenlogischen Wahrheitsbedingungen erklaumlrt ist

28 Wittgenstein verwendet die Ausdruumlcke raquosinnvolllaquo raquosinnloslaquo und raquounsinniglaquo um wichtige Unterschiede lokal zu markieren aber als Terminologie entstammt diese Trias der Sekundaumlrliteratur und der Neuuumlbersetzung des Buches durch David Pears und Brian McGuinness (1961)

102 Wolfgang Kienzler PhR

Klaumlrung der Gedanken und der Klarstellung der grundlegenden Funk-tionsweise des sprachlichen und symbolischen Ausdrucks29

Nach Geach muszlig man Wittgensteins Buch so verstehen daszlig darin zum einen etwas gesagt wird daszlig aber wichtige Zuumlge der Realitaumlt ( features of reality) entsprechend Wittgensteins Analysen nicht gesagt wohl aber ge-zeigt werden koumlnnen Die Schluszligbemerkung waumlre dann so aufzufassen daszlig man einsehen muszlig daszlig die philosophisch wichtigen Einsichten nur gezeigt werden koumlnnen sie damit aber in Saumltzen enthalten sind die streng genommen unsinnig sind weil sie nicht etwas raquosagenlaquo so naumlmlich wie der Terminus raquosagenlaquo in der Abhandlung verwendet wird Geach sieht in dieser Unterscheidung eine Einsicht die Wittgenstein von Frege uumlbernimmt und erweitert

In ihrem Aufsatz Throwing Away the Ladder (1985)30 setzt sich Diamond intensiv mit Geach auseinander und entwickelt daraus wesentliche Ele-mente die die Diskussion bis heute praumlgen Dazu gehoumlrt der Bezug auf Frege In seinen raquoErlaumluterungenlaquo31 logischer Grundbegriffe also dessen was er das raquoLogischeinfachelaquo nennt und was entsprechend durch keine Defi nition weiter zergliedert werden kann spricht Frege deutlich aus daszlig er sich bildlich und unexakt ja teilweise sogar streng genommen falsch ausdruumlcken muszlig um das Gemeinte zu vermitteln32 Das wichtigste Bei-spiel Freges ist die grundlegende Unterscheidung von Gegenstand und Begriff die er so erlaumlutert daszlig Gegenstaumlnde abgeschlossen Begriffe dage-

29 Die Saumltze der Philosophie waumlren nach Wittgenstein daher in Abgrenzung zu den beiden ersten Gruppen als raquounsinniglaquo einzustufen Diese relativ harmlose Deutung die 654 zu einer letztlich terminologischen Bemerkung macht wird von Diamond und Conant jedoch nicht geteilt Es ist eine Staumlrke des Ansatzes von DiamondConant daszlig sie die Abhandlung nicht nach einem terminologischen Schema zu entschluumlsseln versuchen im besonderen Fall von 654 ist ihr Ergebnis dennoch zweifelhaft denn man kann die Bemer-kung als raquoabschlieszligende selbstrefl exive Schluszligbemerkunglaquo verstehen die einfach ein letz-tes zusaumltzliches Licht auf das Ganze werfen und die Klarheit damit abrunden nicht aber diese erst herstellen soll Der Vergleich des Schlusses mit der Pointe eines Witzes die alles in ein voumlllig neues Licht taucht und die Spannung zusammenbrechen laumlszligt (vgl unten Anm 62) wirkt etwas gezwungen In seinen Anweisungen an Ogden (Letters to Ogden Oxford 1973 S 19) fuumlr die Uumlbersetzung des Buches besteht Wittgenstein darauf daszlig der raquoSinn nicht die Woumlrterlaquo uumlbersetzt werden und nennt dann wieder das Ganze raquoUnsinnlaquo dies weist darauf hin daszlig fuumlr ihn das Ganze nicht einfach durch und durch als Unsinn zu bezeichnen ist

30 Throwing Away the Ladder How to Read the Tractatus auch in The Realistic Spirit S 179ndash204

31 Auch dieser Terminus stammt von Frege obwohl er nicht auf den Bereich analy-tischer Philosophie beschraumlnkt ist (vgl M Heideggers Erlaumluterungen zu Houmllderlins Dichtung und das zugehoumlrige Vorwort)

32 Vgl dazu auch Gottfried Gabriel Der Logiker als Metaphoriker Freges philosophische Rhetorik in Gabriel Zwischen Logik und Literatur Stuttgart 1991 S 65ndash88 Auch Gabriel sieht bei Wittgenstein die konsequente Durchfuumlhrung Fregescher Einsichten

103Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

gen ungesaumlttigt sind und eine Leerstelle aufweisen die nur durch einen Gegenstand gesaumlttigt werden kann Dies gilt fuumlr Frege sowohl fuumlr die Be-griffe und Gegenstaumlnde selbst als auch fuumlr die Ausdruumlcke mit denen wir sprachlich Begriffe bzw Gegenstaumlnde bezeichnen Daher ist jedoch fuumlr ihn jeder Ausdruck ohne Leerstelle zwangslaumlufi g ein Gegenstandsname kein Begriffswort Sprachlich gesehen sind alle Ausdruumlcke mit dem be-stimmten Artikel (raquoder Nlaquo) Eigennamen solche mit dem unbestimmten Artikel (raquo ist ein Pferdlaquo) Begriffswoumlrter Damit aber ist ein Ausdruck wie raquoder Begriff Pferdlaquo schon aus syntaktischen Gruumlnden ein Gegenstandsna-me und kein Begriffswort Entsprechend erklaumlrt Frege den Satz raquoDer Be-griff Pferd ist kein Begrifflaquo allein aufgrund der syntaktischen Form fuumlr wahr weil die Worte raquoder Nlaquo und damit auch raquoDer Begriff Nlaquo nur einen Gegenstand bezeichnen koumlnnen Daruumlber hinaus erklaumlrt er daszlig es voumlllig unmoumlglich ist einen wahren Satz der Form raquoDer Begriff F ist ein Begrifflaquo zu bilden da wir an der Subjektstelle immer im logischen Sinn einen Ei-gennamen und kein Begriffswort vorfi nden Wir koumlnnen also nach Frege in gewoumlhnlichen Saumltzen gar keine korrekten Aussagen uumlber Begriffe ma-chen Gegen Geach deutet Diamond diesen Fall nun so daszlig Frege mit dem paradox klingenden Satz seine Leser zur richtigen Einsicht in das Wesen des Begriffs anleiten moumlchte und zwar indem er absichtsvoll etwas Unsinniges sagt in Gestalt einer vorlaumlufi gen Ausdrucksweise (transitional remark) die spaumlter ganz wegfallen kann wenn die Unterscheidung ver-standen worden ist33 Dieses Verstaumlndnis aber zeigt sich so Diamond nicht darin daszlig man einen raquoZug der Wirklichkeitlaquo erfaszligt hat sondern darin daszlig man Freges Notation zu beherrschen gelernt hat Ihr zufolge druumlckt sich in der Notation also in der Schreibweise nicht in einzelnen Behaup-tungssaumltzen34 Freges Unterscheidung von Gegenstand und Begriff am klarsten und eindeutigsten aus und der Sinn der Uumlbergangsbemerkungen liegt demnach einzig darin in den korrekten Gebrauch der Notation und damit des logischen Systems mit seinen eingearbeiteten Unterscheidungen einzufuumlhren Vor diesem Hintergrund gibt es keinen raquoInhaltlaquo der nach der Einfuumlhrung uumlbrig bliebe und damit auch keinen Inhalt den man raquozeigenlaquo muumlszligte oder koumlnnte und daher kann man die Leiter dann wegwerfen (und einfach den Symbolismus richtig anwenden) Eine Deutung wie diejenige

33 Als Fregedeutung kann diese Interpretation nicht uumlberzeugen weil Frege seinen pa-radox klingenden Satz ohne Zoumlgern fuumlr wahr haumllt Aus der Perspektive Wittgensteins je-doch der den Gedanken einer notwendigen strukturellen Parallelitaumlt zwischen raquoZeichen und Bezeichnetemlaquo uumlberwunden hat waumlre diese Deutung uumlberzeugend Man kann Dia-mond in diesem Punkt eine Uumlberinterpretation des fruumlhen Wittgenstein vorwerfen die sie auch noch auf Frege ausdehnt

34 Das heiszligt daszlig Freges Grundunterscheidung sich praktisch an jedem symbolisch no-tierten Satz zeigen laumlszligt

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Geachs erscheint vor diesem Hintergrund als halbherzig Zum einen meint man daszlig manche wichtigen Saumltze nichts sagen sondern nur etwas zeigen zum anderen aber haumllt man doch daran fest daszlig diese Saumltze einen Inhalt haben und indirekt etwas uumlber die Realitaumlt ausdruumlcken Fuumlr Diamond ist das ein Sich-druumlcken (chickening out)35 Diesem halbherzigen Versuch setzt sie ein konsequentes Ernstnehmen der Unsinnigkeit der Abhandlungssaumltze und des Wegwerfens der Leiter entgegen Der Versuch mit dem raquoUnsinnlaquo Ernst zu machen hat als raquoresolute Lesartlaquo (resolute reading) dem neuen An-satz spaumlter den Namen gegeben36 Diamond stellt die Frage wie ernst man 654 tatsaumlchlich nehmen sollte und weiter ob der Redeweise von raquoZuumlgen der Realitaumlt die nicht in Worten ausgedruumlckt werden koumlnnenlaquo ein Sinn abzugewinnen ist37 Diamonds Antwort ist ebenso einfach wie provokativ Ja die Bemerkung 654 muszlig sehr ernst genommen werden und gerade deshalb kann es keine unausdruumlckbaren Zuumlge der Realitaumlt geben sondern wir muumlssen akzeptieren daszlig die Saumltze der Abhandlung im strengen und gewoumlhnlichen Sinne unsinnig sind sie sind um das Vorwort zu zitieren raquoeinfach Unsinnlaquo Damit aber verliert die Unterscheidung von Sagen und Zeigen ihren quasi-metaphysischen Charakter38

Bemerkung 654 deutet Diamond nun so daszlig Wittgenstein darin einen bewuszligten und wesentlichen Unterschied mache zwischen dem Verstehen seiner Saumltze und dem Verstehen seiner Person (raquower mich verstehtlaquo)39 Man solle naumlmlich verstehen daszlig seine Saumltze nicht zu verstehen sind Wir sol-len genauer gesagt mit unserer Einbildungskraft uns in die Position je-mandes versetzen der glaubt die Saumltze des Buches zu verstehen damit aber sollen wir so Diamond zugleich verstehen daszlig es hier nichts zu verstehen gibt daszlig es sich nur um eine Illusion von Verstehen handelt

35 Systematisch betrachtet kann man darin ein noch zu weitgehendes Festhalten an der grundsaumltzlichen Aumlhnlichkeit der Funktionsweise (oder raquoBezeichnungsweiselaquo) saumlmtlicher Satzarten nach dem Vorbild Freges sehen der die Grundunterscheidung von ZeichenSinn des ZeichensBedeutung des Zeichens uumlberall durchfuumlhren will waumlhrend nach Wittgenstein schon fuumlr logische Saumltze weder von Sinn noch von Bedeutung die Rede sein kann

36 Ricketts spricht in seinem Beitrag zum Cambridge Companion (Anm 19) S 93 von einer raquoresolut und konsistent angewendeten Konzeption der Wahrheitlaquo nach der es raquokeine unausdruumlckbaren Wahrheiten geben kannlaquo In Anschluszlig daran hat sich dann auf eine Anregung Goldfarbs hin die Rede einer raquoresoluten Lesartlaquo eingebuumlrgert

37 Diamond Ethics Imagination and the Method of Wittgensteinrsquos Tractatus (1991) auch in New Wittgenstein S 149ndash173 hier S 181

38 Daszlig die Unterscheidung auf andere Weise logisch zentral ist fuumlhrt Diamond an an-derer Stelle aus (vgl Anm 12)

39 Diamond greift dabei (S 160) indirekt auch den Gedanken Cavells auf daszlig es in Wittgensteins Philosophie immer auch um Selbsterkenntnis geht also um die eigene Per-son Dieses Element spielt vor allem bei anderen Vertretern der resoluten Lesart eine be-traumlchtliche Rolle und traumlgt einiges zu ihrer Attraktivitaumlt bei

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(150) Die Saumltze und damit das Buch sollen als vollstaumlndig unsinnig er-kannt werden ndash davon ausgenommen sind allerdings die Bemerkungen die den Rahmen bilden und in denen Wittgenstein einige Hinweise dar-uumlber gibt wie das Buch aufzufassen ist (S 149)40 Es gibt dabei keine lo-gische wesentliche Unterscheidung zwischen zwei Arten von Unsinn sol-chem der etwas Richtiges zeigt und solchem der schlicht Ausdruck einer Verwirrung ist (wie die Saumltze der traditionellen Metaphysik)41 Daszlig man-che unsinnigen Saumltze als Erlaumluterungen dienen koumlnnen ist diesen Saumltzen ganz aumluszligerlich (S 159) sozusagen eine Zufaumllligkeit hat aber nichts mit einem moumlglichen Gehalt dieser Saumltze zu tun Dies wendet sich gegen eine entsprechende Unterscheidung bei Anscombe zwischen raquoden Dingen die wahr waumlren wenn sie gesagt werden koumlnnten und denen die falsch wauml-ren wenn sie gesagt werden koumlnntenlaquo42 Man kann nach Diamond von solchen Unsinnsarten nicht sprechen Eine Konsequenz dieser Radikalitaumlt liegt nun darin daszlig die gesamte innere Struktur der Abhandlung verloren-zugehen scheint Wenn alles Unsinn ist was kann dann noch Unterschiede der einzelnen Passagen ausmachen Genau dies entspricht gerade einem zentralen Motiv von Diamonds Ansatz So verweist sie etwas darauf daszlig im Buch zwar Bemerkungen mit ethischer Thematik vorkommen daszlig aber in einem tieferen Sinne jeder Satz (oder das gesamte Buch) einen ethischen Charakter hat indem es darin eine bestimmte Haltung aus-druumlckt ganz unabhaumlngig vom gerade verwendeten Vokabular Diese Auf-fassung daszlig zentrale philosophische Einsichten vom jeweils verwendeten Vokabular und den aufgestellten Behauptungen weitgehend unabhaumlngig sind weil es nicht auf das Vokabular sondern auf den Gebrauch ankommt ist ein Kernstuumlck in Diamonds Ansatz43 Ihr geht es vor allem anderen darum Wittgensteins philosophische Haltung aufzuklaumlren indem sie spe-zifi sche Passagen die Miszligverstaumlndnisse verursachen erklaumlrt Die Absicht

40 Diese radikal klingende Behauptung ist insofern miszligverstaumlndlich als Diamond nicht alle Saumltze der Abhandlung sozusagen per defi nitionem fuumlr unsinnig erklaumlren will ihr geht es vielmehr vor allem darum klarzustellen daszlig wenn ein spezifi scher Satz unsinnig ist er es auch wirklich ist und daszlig es inkonsequent ist sozusagen einen raquoSinn zweiter Ordnunglaquo einzufuumlhren

41 Die starke Konzentration der Diskussion auf Fragen von raquoUnsinnlaquo uumlbersieht haumlufi g daszlig Wittgenstein Unsinn ausgesprochen liebte Einer seiner Lieblingsautoren war Lewis Carroll auf den er haumlufi ger in seinen Schriften anspielt oder verweist und er selbst sam-melte uumlber Jahrzehnte Beispiele besonders absurder Zeitungsartikel Vgl dazu jetzt Brian McGuinness (Hg) Wittgenstein in Cambridge Letters and Documents Oxford 2008 S 192 und 468 auszligerdem Brian McGuinness In Praise of Nonsense (unveroumlffentlicht)

42 Anscombe Introduction (Anm 9) S 162 zit von Diamond Ethics S 15843 Sie fuumlhrt dies an Beispielen des spaumlten Wittgenstein aus der Mathematik (u a den

erwaumlhnten Vorlesungen) und der Ethik in ihrem Beitrag zum Cambridge Companion naumlher aus und erkennt ein solches Vorgehen auch in der Abhandlung und bei Frege wieder

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Wittgensteins Schriften als Ganze zu interpretieren tritt demgegenuumlber ganz in den Hintergrund Insofern ist 654 auch wieder nicht uumlberzube-werten sondern dient nur als ein besonders markanter Ausgangspunkt um verfehlte Auffassungen abzuwehren44 So ist die Abhandlung fuumlr Dia-mond kein Buch uumlber Logik denn ein solches kann es streng genommen ebenfalls nicht geben Die Logik ist vielmehr raquodem was Saumltze sind bereits intern eingeschriebenlaquo (S 151) Anders gesagt Wir koumlnnen an jedem be-liebigen Satz wenn wir nur richtig hinsehen alle Elemente der richtigen logischen Auffassung aufweisen und daher ist jeder Versuch diese vor-gaumlngige Struktur explizit zu machen immer etwas Nachtraumlgliches das schon raquozu spaumlt kommtlaquo und dadurch stets etwas Schiefes eben Unsinniges an sich hat Der eigentliche Ausdruck von Wittgensteins philosophischen Auffassungen sind daher nicht irgendwelche Inhalte seines Buches son-dern die Art wie sie ausgedruumlckt sind (S 170)

Eine besondere Eigenheit fast aller Arbeiten Diamonds ist ihre sehr spe-zifi sche Ausrichtung auf eine je besondere Fragestellung In vielen Faumlllen greift sie charakteristische Fehleinschaumltzungen oder auch nur miszliggluumlckte Formulierungen anderer Autoren auf und erlaumlutert geduldig sorgfaumlltig und oft in wiederholten bisweilen kreisenden Gedankengaumlngen welche Art von Fehleinschaumltzung vorliegt aus der die verungluumlckte Formulierung hervorgegangen ist Ihre Klaumlrungsarbeit bezieht sich fast immer auf einen konkreten Fall nicht auf eine allgemeine These Dadurch sperren sich ihre Texte gegen Lesegewohnheiten die auf Thesen und Argumente oder auf systematische Darlegungen und einen hohen Allgemeinheitsgrad hin ori-entiert sind Besonders instruktiv ist ihre Aufklaumlrung eines Beispiels von Anscombe (raquorsaquoJemandlsaquo ist nicht der Name von jemandemlaquo) in dem sie einen Versuch beleuchtet mit dem Anscombe ihrerseits im Sinne des fruumlhen Wittgenstein eine ganz elementare sprachlogische Klarstellung zu treffen versucht die den Unterschied zwischen Sagen und Zeigen nicht in allge-meiner (raquometaphysischerlaquo) sondern in ganz spezifi scher logischer Absicht betrifft45 Ihr Ergebnis lautet daszlig die Logik und damit die Gebrauchswei-sen von Ausdruumlcken wie raquojemandlaquo im einzelnen sorgfaumlltig beschrieben werden muumlssen daszlig man dies nicht mit einem Satz allein klarstellen kann

44 Die Erfolgsgeschichte der resoluten Lesart haumlngt eng damit zusammen daszlig man das ganze Buch als raquobloszligen Unsinnlaquo auffassen will bei Diamond liegt jedoch genau besehen keine Interpretation des gesamten Buches vor Sie will vielmehr nur einige Kernpunkte klarstellen verknuumlpft diese Klarstellungen allerdings mit einigen allgemeiner klingenden Zusatzbemerkungen

45 Diamond Saying and Showing (wie Anm 12) In diesem Beispiel bleibt jedoch An-scombe die die Frage in einem Streich entscheiden und klaumlren will dem Geist des fruumlhen Wittgenstein naumlher als Diamond mit ihrer sorgfaumlltigen Beschreibung der Sprachspiele mit raquojemandlaquo

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Damit will Diamond einen Beitrag dazu leisten die raquophilosophi sche Klauml-rung zu klaumlrenlaquo (to clarify philosophical clarifi cation)46

Das Ziel ihrer Arbeit ist jeweils die Klaumlrung unuumlbersichtlicher begriff-licher Verhaumlltnisse um so zu einer natuumlrlichen raquorealistischenlaquo Sicht zu kommen47 An Paradoxien ist sie grundsaumltzlich nicht interessiert auszliger insofern es darum geht deren Quellen aufzudecken sie als Symptome von begriffl ichen Unklarheiten zu sehen

Charakteristisch fuumlr Diamonds Vorgehensweise ist auch eine Uumlberle-gung die von einer Bemerkung Kripkes ihren Ausgang nimmt Einmal schreibt Wittgenstein raquoMan kann von einem Ding nicht aussagen es sei 1 m lang noch es sei nicht 1 m lang und das ist das Urmeter in Parislaquo (PhU 50) Kripke nennt diese Behauptung die aus dem Zusammenhang gerissen etwas entschieden Paradoxes hat offensichtlich falsch ohne je-doch den genauen Zusammenhang zu beachten48 Genau darauf kommt es Diamond aber an und sie erlaumlutert detailliert hartnaumlckig und zielstrebig

46 Ebd S 15347 Diamonds Grundanliegen kann man auch so formulieren daszlig sie an die Stelle von

philosophischen raquoPhantasienlaquo die aufs Allgemeine eines zurechtgestellten Sprachgebrauchs gehen eine realistische Einstellung die sich vor allem um Einzelheiten kuumlmmert setzt (The Realistic Spirit in der gleichnamigen Sammlung S 39ndash72)

48 Tatsaumlchlich ist die Bemerkung Kripkes weitaus weniger beilaumlufi g als Diamond sugge-riert Er schreibt raquoWittgenstein sagt etwas sehr Verwirrendes hieruumlber Er sagt raquoMan kann von einem Ding nicht sagen es sei 1 m lang noch es sei nicht 1 m lang und das ist das Urmeter in Paris ndash Damit haben wir aber diesem natuumlrlich nicht irgendeine merkwuumlrdige Eigenschaft zugeschrieben sondern nur seine eigenartige Rolle im Spiel des Messens mit dem Metermaszlig gekennzeichnetlaquo (PhU 50) Das scheint aber in der Tat eine sehr raquomerk-wuumlrdige Eigenschaftlaquo fuumlr einen Stab zu sein Ich denke Wittgenstein muszlig sich hier irren Wenn der Stock 3937 Inches lang ist (ich nehme an daszlig wir einen anderen Standard fuumlr Inches haben) warum ist er nicht 1 m lang Wir wollen jedenfalls annehmen daszlig Witt-genstein sich irrt und daszlig der Stab 1 m lang istlaquo (Kripke Naming and Necessity 1980 Name und Notwendigkeit FrankfurtM 1981 S 65 f) Diamond weist zwar zu Recht darauf hin daszlig Kripkes theoretisches Vokabular nur uumlber Eigenschaften (er diskutiert Fragen von Referenz und sprachlicher Bedeutung separat) nicht aber uumlber raquoStellungen im Sprachspiellaquo verfuumlgt und daszlig er deshalb zur tatsaumlchlich merkwuumlrdigen Deutung des Satzes als raquokontin-gente Wahrheit a priorilaquo (S 68) kommt (Dies entspricht wiederum in einigem der ja auch raquoeigenartigenlaquo Rolle im Sprachspiel) Beim Ausfuumlhren des Beispiels gegen Wittgenstein argumentiert Kripke jedoch intern vollkommen konsistent und faktisch auch an einem Sprachspiel orientiert wenn er (in Klammern) annimmt daszlig wir uumlber einen eigenen unabhaumlngigen Maszligstab fuumlr englische Zoll verfuumlgen Dann naumlmlich kann man das Urmeter ohne weiteres wie jeden anderen Gegenstand auch (auszliger in diesem Spiel dem raquoUr-Yardlaquo das Kripke jedoch nicht erwaumlhnt ndash und insofern hat Kripke die Problematik nur geschickt verschoben) abmessen und das Ergebnis anschlieszligend umrechnen Damit nimmt Kripke Wittgensteins Bemerkung das Paradoxe fuumlhrt dabei allerdings (unkommentiert) einen raquoDoppelstandardlaquo der Messung ein der nicht weiter geklaumlrt wird Die Sorgfalt in Kripkes Ausfuumlhrungen legen daher nahe die Rede davon daszlig Wittgenstein raquoirrelaquo nicht als Hin-weis auf einen einzelnen zufaumllligen Fehler sondern auf eine insgesamt verfehlte Auffas-sung zu verstehen

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wie Wittgenstein zu seiner Aumluszligerung kommt und inwiefern die Institution des Messens davon abhaumlngt daszlig man Maszligstaumlbe einfuumlhrt mit denen dann andere Objekte gemessen werden49 Da Laumlngenangaben entsprechend im-mer auf den Vergleich zu einem Maszligstab bezogen sind entsteht die kuriose Situation daszlig die Laumlnge des Urmeters durch Anlegen an sich selbst be-stimmt werden muumlszligte Nach Kripke ist dies ein Fall von Identitaumlt d h im Fall der Identitaumlt kann man auch ohne jede Messung sagen daszlig das betref-fende Objekt 1 m lang ist (oder eben raquoso lang wie es istlaquo ndash denn wie lang sollte es sonst sein) Damit aber gleicht er den Fall der Messung an den Fall der bloszligen Festsetzung in dem gar keine Messung erfolgt und genau genommen auch keine Messung moumlglich ist (denn man kann keinen Maszlig-stab an sich selbst anlegen weil dazu mindestens zwei Objekte benoumltigt werden) an und uumlbersieht die begriffl iche Verschiedenheit beider Faumllle Durch dieses Beispiel beleuchtet Diamond vor allem den Begriff der Gleichheit bzw Identitaumlt der von Kripke und weiten Teilen der philoso-phischen Tradition als unproblematischer absoluter Fixpunkt in Anspruch genommen wird den Wittgenstein aber einer fruumlhen Kritik (553 ff) und einer spaumlteren genauen Beschreibung (PhU 251 ff) unterzogen hat Zur Aufklaumlrung ist es noumltig den Ort den die Rede von raquogleichlaquo und raquoiden-tischlaquo in der Sprache hat genauer zu beleuchten und zu beschreiben an-statt ihn als quasi sprachunabhaumlngig gegeben einfach vorauszusetzen50

Diamonds Arbeit zielt so durchgehend auf die Klaumlrung scheinbar para-doxer oder merkwuumlrdiger Behauptungen ab und sie sieht ihr Ziel erst dann erreicht wenn aufgezeigt ist daszlig im Sprachspiel alles mit ganz ge-woumlhnlichen Dingen zugeht Paradoxe Behauptungen haben darin keinen Ort Auch ihre Anmerkungen zum Schluszlig von Wittgensteins Abhandlung sind daher systematisch als solche Aufklaumlrungen (etwa der paradoxen Re-deweise von Saumltzen die raquowahr waumlren wenn sie gesagt werden koumlnntenlaquo) zu verstehen auch wenn sie stellenweise selbst sehr uumlberraschend klingen Ihr Grundgedanke lautet jedoch Auch raquounsinniglaquo ist ein ganz gewoumlhn-liches Wort welches Wittgenstein verwendet und wenn er es verwendet dann meint er es auch so wie er es sagt51

49 Diamond betont mit (dem spaumlten) Wittgenstein die grundlegende Bedeutung von sprachlichen Institutionen waumlhrend Kripke konsequent davon absieht und alles als Fakten (unterschiedlicher Art) interpretiert

50 Kripkes Auffassung der Identitaumlt ist sprachunabhaumlngig und sozusagen raquorein objektivlaquo angelegt Fuumlr ihn ist jeder Gegenstand notwendigerweise mit sich selbst identisch und weist eine bestimmte raquoobjektivelaquo Laumlnge auf Wittgenstein dagegen weist darauf hin daszlig auch zum Wort raquoidentischlaquo ein Sprachspiel gehoumlrt das diesem Wort erst seine klare Ver-wendung gibt

51 Einiges spricht jedoch auch dafuumlr daszlig diese Auffassung eher dem spaumlten Wittgen-stein entspricht und daszlig in 654 raquounsinniglaquo gerade nicht im alltaumlglichen Sinn verwendet wird

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5 Es ist bei dieser sehr punktuellen Methodik um so bemerkenswerter und selbst geradezu paradox daszlig Diamonds Ansatz der Ausgangspunkt einer ganzen Richtung der Wittgensteininterpretation und noch dazu der Abhandlung geworden ist Diese Entwicklung hat viel mit der Arbeit von James Conant zu tun der dem Ansatz eine allgemeinere und leichter ein-zuordnende Form gegeben und das Zentrum der Aufmerksamkeit noch viel staumlrker als Diamond auf die Abhandlung und ihren Schluszlig gelenkt hat Conant stellt Wittgensteins Text in einen weiteren Rahmen indem er etwa Wittgenstein mit Kierkegaard Carnap und anderen Autoren ver-gleicht und indem er sich um die Historiographie der Tractatusdeutungen und insbesondere der impliziten Voraussetzungen dieser Deutungen in einer Weise bemuumlht daszlig die resolute Lesart als natuumlrlicher Abschluszlig einer Stufenfolge erscheint Dadurch entsteht der Eindruck daszlig die raquoresolutelaquo Deutung auf uumlberlegene Weise alle vorangegangenen Deutungsversuche in sich aufnimmt und ihnen den gehoumlrigen Platz anweist so daszlig kein sys-tematischer Raum mehr fuumlr Gegenvorschlaumlge bleibt52

In seiner bisher umfangreichsten Darstellung53 gibt Conant zunaumlchst eine Rekonstruktion der rationalen Genese der bisherigen Lesarten die er die raquopositivistischelaquo und die raquoUnsagbarkeitslesartlaquo (ineffability reading) nennt Als deren gemeinsame Grundvoraussetzung arbeitet er die Annahme her-aus daszlig es etwas wie raquogehaltvollen Unsinnlaquo (substantial nonsense) in der Abhandlung geben muumlsse Er zeigt dann auf daszlig und wie sich beide Auf-fassungen gegenseitig bedingen und inwiefern keine von beiden zu einer stabilen und konsequenten (eben raquoresolutlaquo durchhaltbaren) Position fuumlhrt Tatsaumlchlich setzt sich Conant fast ausschlieszliglich mit der von ihm als Stan-dardinterpretation (S 394) angesehenen Lesart und ihrem Hauptvertreter Peter Hacker auseinander54 Die Kernthematik des Aufsatzes der die Me-

52 Der Gestus erinnert stellenweise an Hegels Vorgehen Conant ist auch an anderer Stelle mit weitreichenden Sortiervorschlaumlgen hervorgetreten so etwa in bezug auf Spiel-arten des Skeptizismus wo er eine Cartesische und eine Kantische Spielart des Skeptizis-mus und damit der Philosophie uumlberhaupt unterscheidet (Varieties of Skepticism in D McManus (Hg) Wittgenstein and Skepticism London 2004)

53 James Conant The Method of the Tractatus in Reck From Frege to Wittgenstein daran orientiert sich das Folgende Mehrere Aufsaumltze Conants ergaumlnzen diesen Beitrag noch ndash Durch haumlufi ge Verweise auf einander einen gemeinsamen Aufsatz sowie an beide gerich-tete Kritik ist aumlhnlich wie in der Kopenhagener Deutung der Quantenphysik der Ein-druck entstanden als handele es sich um ein und dieselbe Auffassung Dieser Eindruck taumluscht jedoch in einigen wichtigen Punkten ebenso wie im Fall der Kopenhagener Deu-tung wie aus dem Folgenden klar werden wird

54 Tatsaumlchlich liegt der systematische Schwerpunkt der Kontroverse zwischen ConantDiamond und Hacker auf der Interpretation der Philosophie des spaumlten Wittgenstein die von beiden Parteien als der eindeutig uumlberlegene und bis heute unuumlberbotene philoso-phische Ansatz angesehen wird Diese grundsaumltzliche Debatte um die Deutung von Witt-gensteins Spaumltphilosophie hat erst in Ansaumltzen besonders in einigen Aufsaumltzen von Dia-

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thode der Abhandlung zu klaumlren beansprucht kreist um die Leitbegriffe raquoErlaumluterunglaquo und raquoUnsinnlaquo (S 378) Wie Diamond fi ndet Conant dies bei Frege vorgebildet wobei er dessen Verfahren so zusammenfaszligt daszlig nach Frege raquodie Erlaumluterung logisch einfacher Ausdruumlcke wie Begriff und Gegenstand unvermeidlicherweise mit (dem geschickten Einsatz von) Unsinn arbeiten muszliglaquo (S 387) In der Deutung dieses Verfahrens durch Frege sieht Conant jedoch eine Spannung denn Frege glaubt raquodaszlig er in solchen Faumlllen etwas sagen will was im strengen Sinn nicht gesagt werden kann und druumlckt sich dann so aus daszlig seine Woumlrter einen Gedanken auszudruumlk ken versuchen damit aber notwendigerweise scheiternlaquo (S 391) Damit vertritt Frege aumlhnlich wie Geach und Hacker selbst eine substan-tielle Auffassung von Unsinn55 Nach Conant liegt die Hauptabsicht von Wittensteins Abhandlung nun genau darin eine solche substantielle Auffas-sung von Unsinn nicht zu vertreten sondern zu uumlberwinden Die Unter-scheidung zwischen sinnvollen und nicht sinnvollen Saumltzen liegt nach Conants Deutung nun praumlziser gefaszligt darin raquoEinen Satz als sinnvoll wahr-nehmen bedeutet daszlig man im Satzzeichen das Satzsymbol wahrnimmt Einen Satz als Unsinn wahrzunehmen bedeutet daszlig man im Zeichen kein Symbol erkennen kannlaquo (S 404) Ein Satz ist also dann raquobloszliger Unsinnlaquo wenn eine Zeichenreihe raquokeine erkennbare logische Syntax hatlaquo (S 400) Damit gibt es aber streng genommen keine raquounsinnigen Saumltzelaquo sondern nur Zeichenreihen die auf den ersten Blick wie Saumltze aussehen bei denen aber der Versuch in ihnen eine logische Form aufzufi nden scheitert Die Rede von raquoUnsinnlaquo bezieht sich also nicht auf die Saumltze oder Zeichenrei-hen selbst sondern allein auf unser Scheitern Zentral wird dadurch der Begriff des raquoSymbolslaquo Ein Symbol ist ein Zeichen zusammen mit einer logisch durchsichtigen Verwendungsweise (S 414) Die bekannte Sprach-kritik der Abhandlung (40031) erweist sich so nicht als Versuch die sinn-vollen von den unsinnigen Zeichen(reihen) durch ein Sinnkriterium zu trennen sondern raquodie Quelle des scheinbaren Unsinns liegt in unserer Beziehung zum sprachlichen Zeichen nicht im sprachlichen Zeichen selbstlaquo (S 419) Die Philosophie ist entsprechend Wittgensteins Diktum

mond begonnen Als zentralen Gegensatz zwischen der eigenen Position und derjenigen Hackers formuliert Conant daszlig nach Hacker der fruumlhe Wittgenstein an unausdruumlckbare Wahrheiten glaubte waumlhrend der spaumlte dies als Irrtum durchschaute waumlhrend Wittgen-stein tatsaumlchlich schon in der Abhandlung die darin vorausgesetzte substantielle Auffassung von Unsinn ablehnte Weiter glaubt er in Hackers Deutung des spaumlten Wittgenstein raquoeine verkleidete Fassung der Auffassung die er dem fruumlhen Wittgenstein zuschreibtlaquo zu erken-nen was der wahren Radikalitaumlt dieses Denkens nicht gerecht werde (Conant Two Con-ceptions of Die Uumlberwindung der Metaphysik in Wittgenstein in America (Anm 17) S 13ndash62 hier S 38 Anm 42)

55 In diesem Punkt ist Conant exegetisch weitaus vorsichtiger als Diamond die weniger Scheu hat Frege eine systematisch uumlberzeugende Konzeption zuzuschreiben

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raquokeine Lehre sondern eine Taumltigkeitlaquo Diese Taumltigkeit besteht nach Con-ant darin daszlig eine Illusion von Sinn aufgebaut und am Ende zerstoumlrt wird Das Ziel des Buches ist daher raquonicht eine Einsicht in metaphysische Zuumlge der Wirklichkeit sondern in die Quellen der Metaphysiklaquo (S 421) Nach Conant gibt es im Text nur raquo(scheinbar) eine Lehre uumlber raquodie Gren-zen des Denkenslaquolaquo (S 424) tatsaumlchlich aber sind raquodie Erlaumluterungen des Autors nur dann erfolgreich wenn wir den Haupttext als Unsinn erken-nenlaquo (S 424) Conants Darstellung verleiht der resoluten Lesart dadurch daszlig er aufzeigt wie die grundlegenden Spannungen in den fruumlheren Deu-tungsansaumltzen aufgeloumlst werden koumlnnen den Anschein einer teleologischen Zwangslaumlufi gkeit Nicht zufaumlllig spielt daher die fortgesetzte Auseinan-dersetzung mit der raquoUnsagbarkeitslesartlaquo eine zentrale Rolle in seinen Ausfuumlhrungen Ein nicht zu unterschaumltzender Teil der Anziehungskraft der resoluten Lesart liegt genau darin daszlig sie den einzigen konsistenten wenn auch zunaumlchst uumlberspitzt aber damit zugleich auch brillant wirken-den Ausweg aus den Bemuumlhungen um ein Verstaumlndnis der Logisch-Philoso-phischen Abhandlung zu bieten scheint56

Conants umfangreicher Beitrag zur Festschrift fuumlr Cora Diamond57 verstaumlrkt die genannten Tendenzen noch Dies zeigt sich bereits an der Form Unter dem Titel raquoA Recently Discovered Manuscriptlaquo wird ein gewisser raquoJohannes Climacuslaquo58 als Herausgeber eines Aufsatzes von Con-ant eingefuumlhrt der in Gestalt einer fi ktiven theologischen Auseinanderset-zung um die richtige Wittgensteinorthodoxie eigene (ziemlich dogma-tisch-uneinsichtsvolle) Kommentare zu den einzelnen Teilen von Conants Text abgibt Dieser Text selbst greift schon im Titel und uumlber weite Stre-cken ironisch den Ton theologischer Kontroversen auf Thema der Arbeit ist die umstrittene raquometa-wittgensteinschelaquo Frage ob Anhaumlnger der reso-luten Lesart (die noch einmal zusammenfassend vorgestellt wird) uumlber-haupt uumlber den Spielraum verfuumlgen um einen wesentlichen Unterschied zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein herauszuarbeiten (S 32) Diese Frage geht Conant dialektisch an indem er drei verschie-dene Listen praumlsentiert eine erste (S 49) die scheinbare Lehren der Ab-handlung enthaumllt die aber tatsaumlchlich so Conant Auffassungen sind vor

56 Diese Zwangslaumlufi gkeit tritt in Diamonds Arbeiten weitaus weniger hervor Fuumlr sie ist die Abhandlung ein reiches Buch das zahlreiche ausgesprochen weiterfuumlhrende und faszinierende Passagen enthaumllt die philosophisch weiterhelfen nicht ein Werk das sozu-sagen unter einer Drohung lebt und dessen Leser nach einem Ausweg suchen

57 James Conant Mild-Mono-Wittgensteinianism in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 29ndash142

58 Dieses von Kierkegaard entlehnte Pseudonym verwendet Conant seinerseits in einem Zitat aus der Abschlieszligenden unwissenschaftlichen Nachschrift (31) mit der Bemerkung daszlig Ironie und Ernsthaftigkeit einander nicht ausschlieszligen In fruumlheren Texten hatte Conant raquoClimacuslaquo mit raquoLeiterlaquo uumlbersetzt (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 291)

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denen Wittgenstein seine Leser warnen will eine zweite mit Auffas-sungen die Wittgenstein in der Abhandlung natuumlrlich klar und unkontro-vers erschienen die aber dennoch Ausdruck philosophischer Ansichten sind die er selbst spaumlter als problematisch ansah (S 83)

Damit ist fuumlr eine Differenz zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein ein Spielraum gewonnen der dann durch eine dritte Liste wieder in einen ironischen Schwebezustand gebracht wird indem Conant Saumltze praumlsentiert die man gleichermaszligen dem fruumlhen wie dem spaumlten Wittgenstein zuordnen kann bisweilen indem leichte Variationen des Wortlauts mitgefuumlhrt werden wie raquoDie Logik (Grammatik) muszlig fuumlr sich selber sorgenlaquo (S 106) Conant spricht von raquoAugenblicken atemberau-bender Kontinuitaumltlaquo (S 108) gerade dort wo Wittgenstein die Konzeption der Abhandlung kritisiert (PhU 97ndash133) Als Ergebnis der Untersuchung bleibt so der Eindruck von gleichzeitig auszligerordentlicher Kontinuitaumlt und deutlicher Diskontinuitaumlt in Wittgensteins philosophischer Entwicklung Auch daszlig eine resolute Lesart eher raquoein Programm um das Buch zu lesenlaquo (111 Anm 4) ist als tatsaumlchlich eine durchgehende Lektuumlre ist deutlich ausgesprochen59

Der philosophische Ansatz und Stil Conants ist dem von Diamond in vie-ler Hinsicht entgegengesetzt Waumlhrend Diamond von konkreten Einzelfaumll-len ausgeht und diese im Hin- und Hergehen aufzuklaumlren versucht geht Conant ganz von auszligen mit einem umfassenden Blick in Beziehung zur gesamten Philosophiegeschichte an die Fragen heran Ein bevorzugter Vergleich ist derjenige Wittgensteins mit Kierkegaard insbesondere in der Frage des Verhaumlltnisses des Autors zu seinen Buumlchern60 Man koumlnnte gera-

59 In der gemeinsam verfaszligten Arbeit On Reading The Tractatus Resolutely Reply to Me-redith Williams and Peter Sullivan in M KoumllbelB Weiss Wittgensteinrsquos Lasting Signifi cance London 2004 S 46ndash99 erlaumlutern Diamond und Conant einige Punkte ihres Ansatzes ge-genuumlber Versuchen das Buch als System von Behauptungen zu lesen (Williams) und gegen die Kritik ihre Lesart sei unvollstaumlndig letzteres mit dem Hinweis es handle sich bislang lediglich um ein Forschungsprogramm aber gerade nicht um ein Rezept das eine leichte und zusammenhaumlngende Lektuumlre ermoumlgliche (S 68) Peter Sullivan wird als der produk-tivste Kritiker bezeichnet weil er auf spezifi sche Inkonsistenzen hinweise (vgl die in Anm 64 genannte Arbeit) Sullivans eigene Deutungsvorschlaumlge bleiben jedoch eher tra-ditionellen ontologisch orientierten Ansaumltzen verhaftet (vgl What is the Tractatus About ebenfalls in KoumllbelWeiszlig S 32ndash45) Diese gemeinsame Arbeit verbleibt jedoch insge-samt auf einer sehr allgemeinen und wenig spezifi schen Ebene

60 So etwa Conant Putting Two and Two together Kierkegaard Wittgenstein and the Point of View for Their Work as Authors in T TessinM von der Ruhr (Hg) Philosophy and the Grammar of Religious Belief London 1995 S 248ndash331 Als Zusammenfassung schreibt Co-nant dort daszlig der fruumlhe Wittgenstein aumlhnlich wie Kierkegaard raquoden Leser in die Wahr-heit hineintaumluschen willlaquo zu welchem Zweck er raquoeine ausgefeilte Struktur scheinbarer Behauptungenlaquo verwendet (S 302) Fuumlr ein solches Verstaumlndnis gibt es bei Kierkegaard zahlreiche Hinweise bei Wittgenstein streng genommen keine er will alles raquoklar sagenlaquo

113Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

dezu sagen daszlig sich Conant mehr fuumlr die Frage der Autorschaft als fuumlr das Werk selbst interessiert61 Es geht ihm darum den richtigen Blickwinkel auf das Werk zu gewinnen und den entwickelt er durch weitgespannte Ver-gleiche durch die Analyse der Selbstkommentare und zusaumltzlichen Erlaumlute-rungen Dabei scheint das Ziel vorrangig die Einordnung vorhandener Zu-gangsmoumlglichkeiten zu sein die er dann in eine systematische Ordnung bringt62 Diese Systematik verweist dann gewissermaszligen teleologisch auf eine einzige offene Moumlglichkeit als den richtigen Zugang zu einem Problem oder einem Text Waumlhrend Diamond also einzelne Miszligverstaumlndnisse auf-klaumlrt zieht Conant die groszligen orientierenden Linien63 Damit aber ergaumln-zen beide Ansaumltze einander wiederum in einem Maszlige daszlig sie von auszligen in aller Regel als eine Einheit angesehen werden Erst durch Conants Ord-nungsvorschlaumlge hat Diamonds Ansatz diejenige Uumlbersichtlichkeit und Handhabbarkeit gewonnen die eine breitere Wirksamkeit ermoumlglichen

Einmal schreibt er kritisch raquoDer Verkehr mit Autoren wie Hamann Kierkegaard macht ihre Herausgeber anmaszligend Diese Versuchung wuumlrde der Herausgeber des Cherubi-nischen Wandersmannes nie fuumlhlen noch auch der Confessionen des Augustin oder einer Schrift Luthers Es ist wohl das daszlig die Ironie eines Autors den Leser anmaszligend zu ma-chen geneigt istlaquo (Denkbewegungen [1931] FrankfurtM S 41)

61 In einem fruumlheren Aufsatz The Search for Logically Alien Thought Descartes Kant Frege and the Tractatus in Philosophical Topics 20 (1991) S 115ndash180 vergleicht Conant Witt-gensteins Vorgehen mit einem langen Witz bzw einer Parabel die ein absurdes Gespraumlch wiedergibt in dem ein Pole von einem Juden wissen will worin raquodas Geheimnis der Ju-denlaquo besteht und das nach allerhand Umwegen mit der Einsicht endet daszlig da raquokein Ge-heimnis istlaquo ndash aber so erfahren wir eben das raquoist das Geheimnislaquo (S 160)

62 Conants umfassende Perspektive geht mit einigen Zurechtstellungen bei der Inter-pretation einher die das Material entsprechend dem umfassenden Entwurf leicht umfor-men In seinem langen Aufsatz spricht er Wittgenstein eine besondere Konzeption von Klarheit zu die darin liegen soll daszlig man am Ende das Buch als unsinnig erkennt (374) er uumlbergeht dabei aber daszlig Wittgenstein gegenuumlber Russell unmittelbar auf den voumlllig neu-artigen Inhalt der logischen Konzeption verweist und dabei sogar das Wort raquoTheorielaquo ver-wendet als Ziel formuliert Wittgenstein auch nicht daszlig man bestimmte Konzeptionen als nur scheinbar konsistent erkennen soll (377) sondern daszlig man die Logik der Sprache ein-sehen lernt ohne ein Verstaumlndnis von 654 ist nach Conant kein Verstaumlndnis des Buches moumlglich (378) dies gilt aber angesichts der konzentrierten Form fuumlr jeden Satz des Buches wobei die Schluszligbemerkung eher selbstrefl exiv auf das Buch und die Darstellungsform Bezug nimmt als auf die bis dahin entwickelte Einsicht der gegenuumlber der bloszligen Selbstre-fl exion die Prioritaumlt einzuraumlumen waumlre die Woumlrter raquoUnsinnlaquo und raquoErlaumluternlaquo (378) sind entschieden nicht die Kernbegriffe des Buches zum einen kommen eher die Formen raquoun-sinniglaquo oder raquoes ist ein Unsinnlaquo vor nicht das Substantiv zum anderen sind viel eher raquoKlar-heitlaquo und raquoklarlaquo die zentralen Ausdruumlcke Carnap wird als derjenige hingestellt der nichts verstanden habe aber Wittgenstein hat gerade Carnap 1932 des Plagiats bezichtigt und Conant verkehrt Wittgensteins Aumluszligerung er koumlnne sich raquonicht denkenlaquo daszlig Carnap den Sinn des Buches raquoso ganz und gar miszligverstandenlaquo haben koumlnnte ins gerade Gegenteil und zitiert sie mehrfach (378 Anm 9 Anm 99 als Motto in Two Conceptions wie Anm 54)

63 Relativ haumlufi g verwendet Conant auch ganz traditionelle Ordnungsinstrumente wie raquoArtlaquo und raquoGattunglaquo (vgl Conant Method (Anm 53) S 435 Anm 43 436 Anm 48)

114 Wolfgang Kienzler PhR

Ein Punkt hat Kritiker besonders irritiert naumlmlich Diamonds und Co-nants Bestehen darauf daszlig der Text streng und konsequent stuumlckweise (piecemeal) gelesen werden soll Dies scheint mit der radikalen Grundten-denz nicht recht vereinbar oder die Radikalitaumlt doch stark abzuschwaumlchen ndash es koumlnnte aber dazu fuumlhren daszlig man das Gewicht der bisweilen daran angeknuumlpften allgemeineren Betrachtungen als wesentlich geringer anse-hen koumlnnte als es derzeit in aller Regel geschieht Tatsaumlchlich ist der stuumlckweise Zugang sehr charakteristisch fuumlr Diamonds Methode und die allgemein gehaltenen radikalen Thesen wirken in ihren Texten eher wie Fremdkoumlrper Die raquoTheselaquo von der notwendig stuumlckweisen Interpretation reduziert sich daher im Kern auf die wichtige aber unspektakulaumlre me-thodische Beobachtung daszlig es ohne Zweifel richtig ist daszlig man die Ab-handlung sorgfaumlltig langsam und schrittweise entschluumlsseln muszlig gerade damit man die einheitliche und uumlbergreifende Konzeption (und daran ist nichts stuumlckweise und zusammengebastelt) genau richtig auffassen kann

6 Tatsaumlchlich sind die Vertreter der resoluten Lesart insgesamt weit erfolgreicher in der Kritik konkurrierender Ansaumltze als in der Interpreta-tion des Textes selbst Ein groszliger Teil der Debatte wird in der Gestalt von Auseinandersetzungen um das richtige Verstaumlndnis bzw den Maszligstab fuumlr eine angemessene Interpretation gefuumlhrt Dies ist in gewissem Sinne fol-gerichtig denn ein Textverstaumlndnis im gewoumlhnlichen Sinn des Wortes kann es von einem im strengen Sinn unsinnigen Text ja kaum geben Die Debatte behandelt deshalb vorrangig Fragen wie die welches denn der raquoZweck des Unsinnslaquo sei64 Dazu hat Michael Kremer Vorschlaumlge entwi-ckelt die die ethische Dimension des Buches herausarbeiten65 Er zieht Vergleiche zu Wittgensteins Beschaumlftigung mit ethischen und religioumlsen Fragen etwa dem Neuen Testament und dem Gedanken daszlig wir einse-hen muumlssen daszlig wir die raquoSuche nach einer Rechtfertigung unseres Lebens aufgeben muumlssenlaquo (S 56) weil der Versuch einer solchen Selbstrechtferti-gung ein Akt des Hochmutes waumlre Als Ergebnis glaubt er festhalten zu muumlssen daszlig das Buch ein raquoknow-howlaquo kein raquoWissen-daszliglaquo vermittelt raquoDieses Buch und seinen Autor zu verstehen bedeutet zu lernen wie man lebtlaquo66 (S 62) In aumlhnlicher Weise deutet Kremer die Frage nach der

64 Michael Kremer The Purpose of Tractarian Nonsense in Nous 35 2001 S 39ndash73 Darauf reagiert Sullivan mit detaillierter Einzelkritik On Trying to be Resolute A Response to Kremer on the Tractatus in European Journal of Philosophy 10 (2002) S 43ndash78 (vor allem S 66ndash68 mit Hinweisen auf die spaumlrlichen Textbelege)

65 Fragen der Ethik spielen uumlberhaupt in den Arbeiten von Diamond Conant und an-deren resoluten Lesern eine groszlige Rolle was aber hier nicht im einzelnen verfolgt werden kann

66 Schon Diamond Ethics (Anm 37) S 169 spricht als Ziel an daszlig wir raquokeine falschen Anforderungen an die Welt stellenlaquo sollen

115Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

raquoWahrheit des Solipsismuslaquo dahingehend daszlig es darum geht den eigenen Stolz zu uumlberwinden67 Selbst die Frage nach dem raquoHauptproblem der Phi-losophielaquo naumlmlich der Unterscheidung von Sagen und Zeigen versucht Kremer so zu beantworten daszlig Wittgenstein vor allem vor der unberech-tigten und zu vorschnellen Anwendung dieser Unterscheidung warnt (und er will zeigen daszlig insofern diese Unterscheidung als Hauptproblem ange-sprochen wird Wittgenstein dieses Problem raquoloumlsenlaquo will)68 All diese Vor-schlaumlge lenken jedoch systematisch von einer tatsaumlchlichen Lektuumlre von Wittgensteins Buch eher ab

Innerhalb der resoluten Stroumlmung ist Juliet Floyd als radikale raquoJakobine-rinlaquo bezeichnet worden weil sie schon fuumlr den fruumlhen Wittgenstein gene-rell die Existenz einer einheitlichen Auffassung von Logik Bedeutung Sagen und Zeigen aber auch eines eindeutigen Ideals der Klarheit leug-net69 Sie nennt Wittgensteins Vorgehen dialektisch bzw refl ektierend (S 188) so daszlig Wittgenstein nicht auf eine einzelne Stoszligrichtung hin festzulegen ist Dadurch wird zum einen erneut die Moumlglichkeit in Frage gestellt den Text uumlberhaupt einigermaszligen einheitlich zu interpretieren zum anderen eroumlffnen sich Moumlglichkeiten relativ frei auch wieder kon-struktivere (S 187) Zuumlge festzustellen Wenn Floyd als Grundgegensatz der Deutungen die Frage betont ob man Wittgenstein so versteht als wolle er raquodie Endlichkeit oder expressive Begrenztheit der Sprache beto-nenlaquo oder ob er die raquooffene Entwicklung und Vielfalt menschlicher Aus-drucksmoumlglichkeitenlaquo (S 177) herausarbeiten will dann steht auch dies nur in einem eher lockeren Bezug zum Text Genau an dieser Stelle setzen die wichtigsten Kritiker an

7 Als prominentester und heftigster Kritiker ist Peter Hacker hervor-getreten70 Hacker kritisiert und polemisiert aus einer Position der exten-

67 Michael Kremer To What Extent is Solipsism a Truth in Stocker Post-Analytic Tractatus S 59ndash84 Das ist eine sehr ungewoumlhnliche Lesart dieser sonst erkenntnistheore-tisch aufgefaszligten Passage

68 Michael Kremer The Cardinal Problem of Philosophy in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 143ndash176 Kremers Deutung beruht vor allem darauf daszlig Wittgenstein in seinem Brief an Russell (15 8 1919) diese Unterscheidung einmal als raquoHauptpunktlaquo und dann auch als raquoHauptproblemlaquo anspricht Kremer deutet dies so daszlig die Unterscheidung als zu loumlsendes raquoProblemlaquo aufgefaszligt wird

69 Juliet Floyd Wittgenstein and the Inexpressible in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 177ndash234 hier S 185 und 196

70 Hackers Schriften dienen zugleich umgekehrt Diamond und Conant als Illustrati-onen fuumlr die raquoStandardlesartlaquo und dafuumlr wie man Wittgenstein nicht interpretieren sollte so schon 1985 in Diamond Throwing Away the Ladder (Anm 30) S 194 als Beispiel fuumlr raquochickening outlaquo Hacker ist auch als einziger Kritiker im Sammelband New Wittgenstein vertreten Was he Trying to Whistle It in New Wittgenstein S 353ndash388 Sein Sammelband Connections and Controversies Oxford 2001 enthaumllt neben dem Nachdruck auf S 98ndash140 noch eine Fortsetzung When the Whistling Had to Stop S 141ndash169

116 Wolfgang Kienzler PhR

siven Kommentieung des spaumlten Wittgenstein und zugleich des philo-sophischen Common Sense heraus Er sieht in der Abhandlung raquoeine ver-bluumlffende Lehre auf verbluumlffende Weise dargebotenlaquo (S 353) ndash diese Charakterisierung entnimmt er jedoch nicht erst seinen neuen Gegnern sondern einer eher traditionellen realistisch-metaphysischen Deutung von David Pears Hacker versteht das Buch als einen gescheiterten Versuch wesentliche Wahrheiten die nicht gesagt werden koumlnnen dennoch zu zeigen Dies sieht er als gesichertes Faktum an dessen Vorhandensein er mit Energie gegen Versuche es zu leugnen untermauert Dazu zaumlhlt er zehn Beispiele solcher Versuche auf von logischen Beziehungen zwischen Saumltzen bis zur Harmonie zwischen Gedanke Sprache und Wirklichkeit (S 353ndash355) und stellt sich ganz auf die Seite schon der fruumlhen Kritiker besonders des Wiener Kreises die den Schluszlig des Buches raquoganz unglaub-wuumlrdig fandenlaquo (S 355)71 Er nennt den Ansatz von Diamond und Conant raquopostmodernlaquo offenbar darauf berechnet zu provozieren jedoch frei von ernsthaften Absichten nicht aber das Buch richtig einschaumltzen zu wollen (S 356)72

Hacker sieht das Buch als offensichtlich inkonsistent an und beruft sich dabei auf Wittgensteins spaumltere Meinung zur Bestaumltigung dieses Faktums (S 370) Von daher fallen alle Versuche das Buch insgesamt nachzuvoll-ziehen zwangslaumlufi g ebenfalls der Inkonsistenz anheim Als Maszligstab der Inkonsistenz dient ihm dabei die Unvereinbarkeit und Widerspruumlchlich-keit der im Buch vorgetragenen (raquogesagtenlaquo oder raquogezeigtenlaquo) Lehren Da-mit aber stellt sich Hacker explizit auf einen Standpunkt den Wittgenstein fuumlr sein eigenes Werk ablehnt das ja explizit raquokein Lehrbuchlaquo (Vorwort) sein will Hacker reduziert das Buch auf einen Lehrinhalt den er unzurei-chend fi ndet ndash der Gegensatz zu Diamond und Conant liegt bereits hier denn beide Seiten differieren vor allem darin was das Buch eigentlich

71 In dieser Hinsicht stimmt seine Einschaumltzung mit derjenigen Conants uumlberein der seinerseits Hacker in die Naumlhe Carnaps plaziert (Two Conceptions of Die Uumlberwindung S 14 ff) Ohne Hacker sofort zu nennen schreibt Conant Carnap (wie spaumlter Hacker) eine substantielle Auffassung von Unsinn zu

72 Hacker lehnt sowohl die Abhandlung als auch Freges philosophische Grundkonzepti-on ab und setzt sie als verfehlten Versuch in scharfen Kontrast zum Denken des spaumlten Wittgenstein Diese Haltung wird in seinem Kommentar zu den Philosophischen Untersu-chungen deutlich besonders eklatant jedoch in dem (gemeinsam mit Gordon Baker ver-faszligten) gegen Dummetts Fregedeutung geschriebenen Frege Logical Excavations (Oxford 1984) Das Auftreten der resoluten Lesart gibt Hacker daher nicht den Grund zu seiner Ablehnung des fruumlhen Wittgenstein sondern vor allem den Anlaszlig seine Gruumlnde zu buumln-deln und erneut vorzubringen (Der verstorbene Gordon Baker der zunaumlchst gemeinsam mit Hacker mehrere Baumlnde zum spaumlten Wittgenstein verfaszligte dann aber seinen Ansatz weiterentwickelte und dabei in einigen Punkten der resoluten Lesart nahekam sei hier noch erwaumlhnt vgl Baker Wittgensteinrsquos Method Neglected Aspects Oxford 2004)

117Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

leisten will Hacker sieht einen eklatanten Gegensatz zwischen Wittgen-steins Erklaumlrung nichts lehren zu wollen und seinem tatsaumlchlichen Vor-gehen seine Gegner versuchen gerade diese Aumluszligerungen Wittgensteins zu verstehen und ihnen entsprechend den Text so zu lesen daszlig er keine raquoLehrenlaquo enthaumllt sondern auf andere Art und Weise arbeitet

Hacker versucht entsprechend auch nicht Diamond und Conant ge-recht zu werden sondern listet vor allem eine Reihe von Kritikpunkten auf Zum einen weist er auf eine gewisse hermeneutische Willkuumlr hin mit der nur relativ wenige insgesamt unzusammenhaumlngende Partien herange-zogen werden wobei einige Passagen doch wieder als ganz gewoumlhnlich und sinnvoll gelesen werden ohne daszlig eine klare Abgrenzung nach Kri-terien gegeben wuumlrde Die haumlufi g verwendete Rede vom raquoRahmenlaquo des Buches im Unterschied zum raquoHauptteillaquo bleibt ihm zufolge unklar abge-grenzt da zum Rahmen auch Bemerkungen wie 4112 aus der Mitte des Textes gezaumlhlt werden73 Im Zusammenhang damit weist er darauf hin daszlig zwischen den Arten von Unsinn doch ein Unterschied gemacht wer-de wenigstens nach der Wirkung auf den Leser74 Und schlieszliglich ver-sucht er nachzuweisen daszlig Wittgenstein selbst weder in seiner fruumlheren noch in seiner spaumlteren Zeit eine solche radikale Lesart seiner eigenen Ar-beit vorgetragen oder unterstuumltzt habe

Eine spezielle Streitfrage liegt darin ob es nach Wittgenstein raquoUumlbertre-tungen der logischen Syntaxlaquo geben koumlnne Diamond und Conant be-haupten nein Hacker versucht an Beispielen aufzuzeigen daszlig Wittgen-stein dies wiederholt anspricht (S 365ndash367)75 Der grundlegende Dissens betrifft hier die Frage ob Wittgenstein sich vorrangig um den Begriff und die Festlegung einer logischen Syntax als Einfuumlhrung sinnvoller Rede be-muumlht denn wenn es um die Festlegung und ggf die Erweiterung und Ver-aumlnderung von Sinn geht dann gibt es nichts was uumlbertreten oder verfehlt werden koumlnnte ndash oder aber ob Wittgenstein wie Hacker ihn liest jemand ist der vor allem schon bestehende syntaktische Systeme betrachtet und dabei die Moumlglichkeiten behandelt sich gegenuumlber den Vorschriften be-

73 Conants Auskunft daszlig nicht der Ort im Text sondern die Funktion der Bemerkung daruumlber entscheide ob es zu Rahmen oder Hauptteil gehoumlre vermag als Gegenargument nicht wirklich zu uumlberzeugen

74 Dies leugnen Conant und Diamond keineswegs nur kommt es ihnen gerade auf den Unterschied zwischen logischen und anderen Einteilungsgruumlnden an

75 Dieser Punkt ist auch deswegen zentral weil fuumlr Hacker Unsinn genau dadurch ent-steht daszlig man die logische Syntax verletzt (Was he Trying S 367) waumlhrend fuumlr Conant und Diamond Unsinn dann vorliegt wenn wir mit einer Zeichenreihe schlicht nichts anfangen koumlnnen also kein Symbol darin erkennen Dieser Frage widmet Hacker den Aufsatz Wittgenstein Carnap and the New American Wittgensteinians in Philosophical Quar-terly 53 (2003) S 1ndash23 und Diamond die Entgegnung Logical Syntax in Wittgensteinrsquos Tractatus in Philosophical Quartely 55 (2005) S 78ndash88

118 Wolfgang Kienzler PhR

stimmter Systeme abweichend zu verhalten und ihre Regeln zu verletzen Die Frage ist ob Wittgenstein die Syntax mit einem bestehenden Spiel analog setzt oder nicht76 Fuumlr beide Aspekte gibt es Belege im Text77

Eine gewisse Uumlbereinstimmung zwischen Hacker und seinen Gegnern liegt ironischerweise darin daszlig keine der beiden Seiten eine durchge-hende Interpretation der Abhandlung anstrebt Hacker haumllt dies aufgrund der Inkonsistenz fuumlr uninteressant (wenn auch theoretisch moumlglich) Dia-mond ist vorrangig an Einzelfragen und am methodischen Standard des spaumlten Wittgenstein interessiert (wozu sie in der Abhandlung letztlich doch nur eine Vorstufe fi ndet) und Conant ist hauptsaumlchlich damit beschaumlftigt vorgaumlngige Kriterien fuumlr eine uumlberzeugende Lektuumlre zu entwickeln78

Als zentrale unbeantwortete Frage bleibt daruumlber hinaus das Problem bestehen wie man Wittgensteins Sprache und die Art seiner Behaup-tungen im Text konsequent aufzufassen hat denn hier weist Hacker auf deutliche Inkonsistenzen der resoluten Leser hin Zum einen wird von raquobloszligem Unsinnlaquo gesprochen dann wieder werden Passagen so gelesen wie gewoumlhnliche behauptende Prosa zum einen ist von Ironie die Rede dann wieder scheint alles ganz woumlrtlich aufzufassen zu sein79

8 Marie McGinn hat den bisher ehrgeizigsten Versuch unternommen die Staumlrken beider konkurrierender Ansaumltze zu verbinden und die jewei-

76 Vgl Diamond (wie die vorige Anm) S 86 Hacker vertritt hier einen eher kantischen Ansatz der die Grenzen der Vernunft bereits abgesteckt vorfi ndet (ein fuumlr Hacker wichtiges Buch ist P Strawsons Kantdeutung in The Bounds of Sense) Diamond und Conant sehen Wittgenstein als radikaleren Denker nach dem diese Grenzen immer wieder neu bestimmt werden muumlssen bzw nach dem es genau genommen keine Grenzen gibt da das Entschei-dende die Moumlglichkeit neuer Begriffsbildungen ist ohne daszlig man sich an irgendeiner Vorgabe (oder Grenze) orientieren kann die man entweder trifft oder verfehlt

77 Zum einen schreibt Wittgenstein raquoWir koumlnnen einem Zeichen nicht den unrechten Sinn gebenlaquo (54733) also bei der Bedeutungsfestsetzung nichts verfehlen zum anderen erklaumlrt er schlicht Saumltze wie raquo1 ist eine Zahllaquo (41272) die sich auf unsere bestehende Spra-che beziehen fuumlr unsinnig weil darin das Wort raquoZahllaquo als gewoumlhnliches Begriffswort statt als raquoformaler Begrifflaquo und also falsch verwendet wird Daszlig 1 eine Zahl ist ist schon da-durch klar daszlig wir das Zahlzeichen 1 verwenden und gerade deshalb koumlnnen wir dies nicht noch zusaumltzlich behaupten Es ist allerdings richtig daszlig Wittgenstein im letzteren Fall strenggenommen nicht von der raquoVerletzung der logischen Syntaxlaquo spricht sondern das Gebilde einfach raquounsinniglaquo nennt da fuumlr solche Faumllle gar keine logische Syntax im exakten Sinn verfuumlgbar ist Die gesamte Abhandlung ist in dieser Hinsicht nirgends der Versuch eine vorliegende Syntax zu treffen aber auch nicht eine neue Syntax festzulegen sondern sie befaszligt sich vielmehr mit den Bedingungen der Moumlglichkeit von Syntax uumlberhaupt Insofern verfehlen sowohl Hacker auch Diamond und Conant diesen Kernpunkt des Buches

78 So etwa im Abschnitt What makes a Reading resolute in Mono-Wittgensteinianism S 42ndash47

79 Vgl dazu W Kienzler Die Sprache des Tractatus Klar oder deutlich Karl Kraus Witt-genstein und die Frage der Terminologie in F GoumlppelsriederJ Volbers (Ed) Philosophie als Lebensform Muumlnchen 2008 (im Erscheinen)

119Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

ligen Schwaumlchen zu vermeiden80 Sie will Wittgenstein keine metaphy-sischen Lehren zuschreiben81 aber doch sicherstellen daszlig wir aus dem Buch etwas Konstruktives lernen koumlnnen Dazu nimmt sie den Begriff der Klaumlrung als Orientierungspunkt Die Aufgabe des Buches ist es demnach die Logik der Sprache aufzuklaumlren Wenn dies aber ohne die Verwendung positiver Lehren geschehen soll muszlig es indirekt geschehen naumlmlich da-durch daszlig die Sprache sich indirekt selbst klaumlrt das heiszligt daszlig eine solche Klaumlrung nicht auf etwas auszligerhalb der Sprache Bezug nimmt denn das waumlre Kennzeichen einer metaphysischen Auffassung McGinn schreibt et-was kryptisch raquoEs ist ein Werk in dem die Natur des Satzes die schon klar ist obwohl wir sie noch nicht klar sehen sich selbst fuumlr uns klaumlrtlaquo82

Sie betont jedoch sehr zu Recht daszlig Wittgenstein in seiner Abhandlung die eine groszlige Frage loumlsen wollte raquoDas Wesen des Satzes angeben heiszligt das Wesen aller Beschreibung angeben also das Wesen der Weltlaquo (54711)83

Damit aber waumlren alle (oder raquodielaquo) philosophischen Probleme geloumlst Ohne eine solche Voraussetzung die Wittgenstein offenbar als grundle-gende Einsicht erschien ist seine Handlungsweise gar nicht nachvollzieh-bar naumlmlich ein uumlberaus kurzes Buch zu verfassen in dem alle philoso-phischen Fragen im Prinzip jedenfalls beantwortet sind Dies ist nur moumlglich wenn diese Fragen so eng zusammenhaumlngen daszlig die Loumlsung der einen zugleich die Loumlsung der anderen bedeutet Dieser Grundgedanke strukturiert McGinns Buch und gibt ihm eine klare Linie84 Sie untersucht die besonders von Conant behandelten Fragen nach den Bedingungen einer angemessenen Lektuumlre fast gar nicht und antwortet insofern nicht durch Gegenargumente sondern durch die Tat durch einen Gang durch das Buch Es uumlberrascht dabei daszlig sie den Anfang zunaumlchst weglaumlszligt und nach Einleitungskapiteln zur Abgrenzung gegen Frege und Russell gleich mit dem Begriff des Bildes und dann des Satzes beginnt Tatsaumlchlich zeigt McGinn uumlberzeugend auf daszlig die Eingangspassagen am besten als Hin-fuumlhrungen zur raquoTheorie des Satzeslaquo aufgefaszligt werden und nicht als eigen-staumlndiges Theoriestuumlck einer vorangestellten Ontologie (sei diese nur scheinbar als Illusion aufgebaut oder ernst gemeint vgl etwa Diamond

80 Marie McGinn Elucidating the Tractatus81 Marie McGinn Between Metaphysics and Nonsense Elucidation in Wittgensteinrsquos Tracta-

tus In Philosophical Quarterly 49 (1999) S 491ndash513 hier S 107)82 Damit bleibt McGinn nahe an Aumluszligerungen von Diamond und Conant (etwa Method

S 424)83 Zit in McGinn Elucidating S 24084 Das erste Kapitel The Single Great Problem behandelt diese Frage zeigt aber bereits

daszlig sich McGinn nicht vollstaumlndig auf den Text einlaumlszligt sondern ihn von Anfang an stark aus der Perspektive der Philosophischen Untersuchungen her deutet (die im letzen Kapitel er-neut den Maszligstab der Betrachtung bilden)

120 Wolfgang Kienzler PhR

Ethics S 160) Vor dem Hintergrund der Auffassung des sinnvollen Satzes wird der Anfang dann relativ leicht verstaumlndlich In der Darstellung von McGinn wird die Abhandlung wieder zu einer Abhandlung einer nuumlch-ternen Darlegung uumlber die Voraussetzungen sinnvollen Sprechens und Ausdruumlckens uumlber die Unterschiede der Satzarten und die allgemeine Form des Satzes Allerdings ruumlcken so die Einzelheiten der Sprachlogik ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit und die Fragen nach der Natur der Philosophie aber auch die nach der Einheit des Buches treten ganz in den Hintergrund Das Buch enthaumllt kein Kapitel zum Philosophiebegriff des fruumlhen Wittgenstein und kaum Erlaumluterungen zur spezifi schen Form der Darstellung oder zur Strategie der Praumlsentation Einige Themen wie die Ethik Arithmetik oder die Naturgesetze werden ganz uumlbergangen dabei waumlre an diesen Beispielen die angestrebte Einheitlichkeit erst richtig aufzuzeigen gewesen In dieser Hinsicht erklaumlrt McGinn die Abhandlung in der Form die sie 1916 noch hatte bevor Wittgenstein die Schluszligpassa-gen einarbeitete und als sie noch staumlrker eine Abhandlung in raquophiloso-phischer Logiklaquo war85 Gegen Diamond und Conant stellt sie klar heraus daszlig das Ziel der Klaumlrung raquodurch Einsicht in das Funktionieren der Spra-chelaquo erreicht werden soll und nicht indirekt dadurch daszlig raquodie Versuche philosophische Saumltze zu bilden als Unsinn erkannt werdenlaquo (S 254 Anm 6) Die sehr nuumlchterne Art McGinns zeigt einen Wittgenstein der ganz unironisch seine logisch-philosophische Konzeption Schritt fuumlr Schritt entwickelt86

85 Vgl Brian McGuinness Wittgensteinrsquos 1916 Abhandlung in R HallerK Puhl (Hg) Wittgenstein and the Future of Philosophy Wien 2002 S 272ndash282 Die grundlegenden philologischen Arbeiten von McGuinness werden in der gegenwaumlrtigen Debatte leider wenig fruchtbar gemacht

86 Das stark gestiegene Interesse am fruumlhen Wittgenstein hat eine ganze Reihe von Monographien hervorgebracht die jedoch nur selten das gelassene exegetische Niveau McGinns erreichen sondern in der Regel mehr oder weniger exzentrische Deutungen in den Mittelpunkt stellen

M Ostrow Wittgenstein and the Liberating Word CambridgeMass 2002 (eine Zusam-menfassung in Reck From Frege to Wittgenstein) versucht eine an Floyd orientierte raquodialek-tische Interpretationlaquo die sich am Leitmotiv des raquoerloumlsenden Worteslaquo orientiert aber ins-gesamt zu vage bleibt zumal sich die Differenz zum spaumlteren Wittgenstein ganz aufzuloumlsen scheint und wichtige Passagen unberuumlcksichtigt bleiben

E Friedlander Signs of Sense Reading Wittgensteinrsquos Tractatus Cambridge Mass 2001 scheint das Raumltselhafte geradezu zu genieszligen und nennt als sein Ziel raquonicht das Raumltsel des Buches zu loumlsen sondern seinen raumltselhaften Charakter auf eine wahrhaft zum Denken herausfordernde Art aufzuzeigenlaquo (S XV) und will geradezu raquoseinen raumltselhaften Charak-ter rechtfertigenlaquo (16)

U Nordmann Wittgensteinrsquos Tractatus An Introduction Cambridge 2005 faszligt das Buch als ein Gedankenexperiment und eine groszlige Reductio ad Absurdum auf zu der er einige Praumlmissen ergaumlnzt Er deutet das Buch als im Konjunktiv geaumluszligert wodurch der Behaup-

121Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Ausblick

Die Arbeiten von Diamond und Conant haben zu einer neuen Welle des Interesses an Wittgensteins Fruumlhwerk gefuumlhrt und die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten vor allem aber auch das Potential seiner Abhandlung gelenkt Im Zentrum steht dabei die Natur der Philosophie als Erlaumlute-rung die selbst nicht in die Gestalt einer Lehre gebracht werden kann oder anders ausgedruumlckt der entscheidende Unterschied zwischen einer philosophischen und einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Untersu-chung

Gerade dadurch daszlig sie die Abhandlung stellenweise sehr nah an den spaumlten Wittgenstein heranruumlcken eroumlffnen Conant und Diamond Moumlg-lichkeiten die Souveraumlnitaumlt und Subtilitaumlt des Buches erst richtig zu wuumlr-digen Dies geschieht jedoch um den Preis daszlig einige Teile des Buches herausgegriffen andere dagegen kaum beruumlcksichtigt werden

Nicht hinreichend geklaumlrt scheint auch die Frage nach dem sprachlichen Grundton des Buches Diamond geht immer wieder von einem nahe an der Alltagssprache stehenden Redegestus aus (aumlhnlich wie der spaumlte Wittgen-stein) waumlhrend Conant aus der weiteren Perspektive ironische Zuumlge be-schreibt87 Gemeinsam ist den resoluten Lesern daszlig sie Wittgensteins Saumltze in der Abhandlung auf doppelte Weise auffassen Sie unterscheiden an vielen Stellen einen buchstaumlblichen naheliegenden Sinn der sich bei naumlherer Be-trachtung als inkohaumlrent erweist und der so zerfaumlllt88 Daher wird in ihrer

tungscharakter eingeklammert die Klaumlrungsfunktion jedoch trotzdem ermoumlglicht wird Er gewinnt so eine Kategorie von Saumltzen die raquounsinnig aber bedeutungsvolllaquo (176) sind

L Gunnarsson Wittgensteins Leiter Bodenheim 2002 greift einen Gedanken Conants auf daszlig wir naumlmlich den Hauptteil des Buches wegwerfen und den Rahmen behalten sollen (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 286) und entwickelt daraus die Fik-tion es waumlre tatsaumlchlich nur das Vorwort und der Schluszlig der Abhandlung erhalten ndash und will daraus den Gehalt des Buches ohne Verlust rekonstruieren Diese Veranschaulichung zeigt besonders klar auf wie verfehlt dieser Ansatz ist wenn man ihn auf die konkrete Interpretationspraxis bezieht

87 Die Parallele zwischen Wittgenstein und Kierkegaard scheint in zentralen Punkten gerade nicht zu bestehen denn Wittgenstein distanziert sich gerade nicht von seinem Buch sondern erklaumlrt seine Auffassungen fuumlr defi nitiv richtig und alternativlos ganz ent-gegen dem verwirrenden Spiel Kierkegaards mit unterschiedlichen Pseudonymen und Perspektiven Ein passenderer Vergleich waumlre etwa mit Hume moumlglich der am Ende seiner Untersuchung uumlber die Prinzipien der Moral (Abschnitt 9 Teil 1) seine Ergebnisse fuumlr derart einfach klar kohaumlrent und uumlberzeugend haumllt daszlig dem nichts hinzuzufuumlgen ist so daszlig er selbst geradezu in Versuchung kommen koumlnnte dogmatisch davon uumlberzeugt zu sein

88 So fuumlhrt Diamond (in Ethics wie Anm 37) folgende Beispiele dafuumlr an 1 das woruuml-ber man schweigen muszlig (aber das kann es doch nicht geben weil es kein raquodaruumlberlaquo ist S 149) 2 die Saumltze der Abhandlung die zu verstehen seien (oder doch raquoer selbstlaquo wie Witt-genstein dann uumlberraschenderweise sagt S 149) 3 die Anfangssaumltze uumlber die Welt (aber daruumlber kann es doch keine Saumltze geben S 160) 4 der Schein daszlig ab 64 Saumltze uumlber Ethik

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Perspektive das Buch durchgehend doppelboumldig und loumlst sich schlieszliglich in Nichts auf wobei in der Aufl oumlsung gerade die Absicht des Buches bestehen soll89 Demgegenuumlber kann festgehalten werden daszlig Wittgenstein nir-gends von Ironie spricht wohl aber davon daszlig er das Wesentliche in Kuumlr-ze klar ausdruumlcken will Eine wichtige Differenz innerhalb der resoluten Lesart liegt weiter darin welche Wichtigkeit man den eher technischen Aspekten der Abhandlung zuschreibt Ricketts und Goldfarb sehen viele Zuumlge des Buches von technischen Erwaumlgungen motiviert und gepraumlgt waumlhrend Diamond und Conant den Sinn der symbolischen Notation vor allem darin sehen wesentliche Unterschiede klarzustellen90

Das Motto erklaumlrt daszlig man raquoalles was man weiszliglaquo schlieszliglich raquoin drei Worten sagenlaquo kann Viele der scheinbaren Widerspruumlche und Doppelt-heiten die resolute Leser beobachten koumlnnten sich von daher moumlglicher-weise der Absicht verdanken im Buch logisch praumlzise Saumltze zu erwarten eine Absicht die bestaumlndig getaumluscht wird91 Wuumlrde man die Saumltze eher als Instrumente verstehen die allmaumlhlich entsprechend den Stufen der Lei-ter zur Klarheit anleiten ohne daszlig der Leser in die selbstrefl exive Geste verwickelt werden soll dann koumlnnte eine einfachere und klarere Lesart entstehen die auch mehr Sinn fuumlr den Zusammenhang und die spezi-fi schen Darstellungsmittel des Buches entwickeln wuumlrde ndash wenn denn eine solche zusammenhaumlngende Erlaumluterung als gemeinsames Ziel fest-staumlnde92 Auch Fragen der Textkritik die derzeit nur sehr sporadisch ge-streift werden koumlnnten dann eine groumlszligere Rolle spielen

Wolfgang Kienzler (ChemnitzJena)

vorkommen (die es doch gar nicht geben kann S 164) 5 der Schein daszlig im Buch Saumltze raquouumlber Logiklaquo vorkommen (die es ebenfalls nicht geben kann S 164) In allen Beispielen kann man die Situation natuumlrlicher so darstellen daszlig man die Saumltze der Abhandlung von vornherein zwar woumlrtlich aber nicht buchstaumlblich nimmt sondern sich von ihren zur Klarheit die sich erst allmaumlhlich einstellen kann fuumlhren laumlszligt

89 Diese Doppeltheit der Lesart ist den resoluten Lesern und ihren Kritikern gemein-sam sie ist aber keineswegs selbstverstaumlndlich und widerspricht dem Grundgedanken der Klarheit

90 Dies ist das Thema von Diamond What Does a Concept-Script Do in The Realistic Spirit S 115ndash144 Sie sieht darin ein raquoWerkzeug geistiger Befreiunglaquo (143) deutet damit aber tendenziell wieder einen Gedanken der Abhandlung in Frege hinein der zunaumlchst die Umgangssprache ganz zugunsten der exakteren Begriffsschrift verbannen wollte

91 In weiten Teilen der resoluten Beitraumlge kann man auch eine gewisse Vergegenstaumlnd-lichung mancher von Wittgenstein verwendeter Woumlrter wahrnehmen die dazu fuumlhren daszlig die Rede von raquoUnsinnlaquo raquoErlaumluterunglaquo u a zunaumlchst gegenstaumlndlich miszligverstanden und anschlieszligend als Gegenstaumlndlichkeit leugnend gedeutet wird Eine Beachtung von Wittgensteins ungezwungenem und unterminologischem Sprachgebrauch koumlnnte viele dieser Schleifen uumlberfl uumlssig machen

92 Das Buch von McGinn kann dazu als erster wichtiger konstruktiver Schritt angese-hen werden auch wenn es insgesamt etwas zu additiv verfaumlhrt

Page 2: Neue Lektüren von Wittgensteins Logisch-Philosophischer ... · 10 E. Stenius : Wittgensteins Traktat [1960], Frankfurt/M. 1969, nennt den Schluß »keine echte Verdammung [. . .]

96 Wolfgang Kienzler PhR

Wittgensteins Uumlberlegungen zum Regelfolgen das (oder zumindest ein) Kernstuumlck seiner Spaumltphilosophie ausmachen und gegenuumlber der Haupt-stroumlmung der analytischen Philosophie ein enormes kritisches Potential aufweisen3 Die gegenwaumlrtig am heftigsten diskutierte Thematik betrifft ebenfalls ein Paradox jedoch eines das Leser Wittgensteins bereits seit Jahrzehnten immer wieder beschaumlftigt hat Am Schluszlig seines ersten Buches der Logisch-Philosophischen Abhandlung (unter dem Namen Tractatus Logico-Philosophicus beruumlhmt geworden)4 schreibt Wittgenstein

raquoMeine Saumltze erlaumlutern dadurch daszlig sie der welcher mich versteht am Ende als unsinnig erkennt wenn er durch sie ndash auf ihnen ndash uumlber sie hin-ausgestiegen ist (Er muszlig sozusagen die Leiter wegwerfen nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist)laquo (654)

Diese vorletzte Bemerkung5 scheint die Bemuumlhungen des Buches um die Klaumlrung der raquoLogik der Sprachelaquo wieder umzuwerfen bzw sie in ein fragwuumlrdiges Licht zu setzen denn wie kann man ein Buch das aus un-sinnigen Saumltzen besteht ernst nehmen Der Anspruch des Buches die raquoLogik der Sprachelaquo zu klaumlren und raquodem Denken eine Grenze zu ziehenlaquo (Vorwort) scheint sich in ein paradoxes Zerfallen des Sinns aufzuloumlsen ndash jedenfalls dann wenn man die Schluszligbemerkung ernst und woumlrtlich nimmt

2 Die Geschichte der Deutung des ohnehin schon aumluszligerst schwierigen Buches zeigt nun ganz uumlberwiegend die Tendenz den Schluszlig als Aumlrgernis zu empfi nden ihn entweder als Irrtum zu verwerfen oder aber abschwauml-chend zu lesen Klassisch geworden ist Carnaps Vorschlag diesen Schluszlig als unbefriedigend und falsch weil unwissenschaftlich abzulehnen weil eine raquoMythologielaquo des raquoHoumlherenlaquo und des raquoUnsagbarenlaquo uumlberfl uumlssig sei da man ja sehr wohl eine exakte Wissenschaft von der Logik der Sprache ent-wickeln kann naumlmlich eine raquoLogische Syntax der Sprachelaquo die sich we-sentlich auf die Unterscheidung von Objekt- und Metasprache nach Tarski stuumltzt und in einer semantischen Konzeption von Sprachanalyse muumlndet6

chenden Gebrauch statt als Fehler als Vorschlag zur Etablierung einer anderen syntaktischen Festlegung auffassen kann (s u)

3 Nachdem der Schwerpunkt des Interesses zuvor auf Fragen der Privatsprache lag hat er sich durch Kripke nach weiter vorn im Buch verschoben da die private Sprache nur ein Sonderfall problematischen Regelfolgens ist Der naumlchste Schritt bestuumlnde dann darin die Problematik des Regelfolgens als besonderen Fall von Wittgensteins Ansatz bei den Sprachspielen aufzufassen Dies ist bisher noch wenig gesehen worden

4 Wittgenstein selbst verwendete immer den deutschen Originaltitel5 Es folgt nur noch der beruumlhmte Schluszligsatz raquoWovon man nicht sprechen kann daruuml-

ber muszlig man schweigenlaquo6 R Carnap Logische Syntax der Sprache Wien 19341968 zit S 241 Tatsaumlchlich ent-

wickelt Wittgensteins Abhandlung zum ersten Mal konsequent die Unterscheidung von gebrauchter und nur erwaumlhnter bzw behandelter Sprache fuumlr Wittgenstein liegen diese

97Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Die meisten Interpreten folgten Carnaps radikaler wissenschaftlicher Umgestaltung von Wittgensteins Ansatz jedoch nicht Der bis heute aus-fuumlhrlichste Kommentar von Black fi ndet den Schluszlig raquozutiefst unbefriedi-gendlaquo7 weigert sich aber einfach alles wegzuwerfen denn raquoim Buch ist vieles das er gezeigt hat man muszlig die Leiter nicht wegwerfenlaquo8 Auch die einfl uszligreiche Einfuumlhrung von Anscombe9 vermeidet weitgehend eine praumlzise Kommentierung der Schluszligpassagen ebenso wie die bekannte Einfuumlhrung von Stenius10 die sich auf die theoriefaumlhigen Teile des Buches konzentriert11

3 Im Folgenden ist uumlber eine Entwicklung zu berichten die den Schluszlig auszligerordentlich ernst nimmt und von hier aus ein Verstaumlndnis des Buches insgesamt zu gewinnen versucht Die Wurzeln dieser aktuellen Diskussion reichen weit zuruumlck Im Uumlberblick sind folgende Hauptschritte zu beruumlck-sichtigen Seit den spaumlten 1960er Jahren entwickelt Cora Diamond aus-gehend von Arbeiten zum spaumlten Wittgenstein Elemente einer ange-messenen Darlegung von Wittgensteins methodischem Ansatz Dabei stoumlszligt sie auf Arbeiten von Anscombe12 besonders aber auf einen Aufsatz

Sprachen jedoch so weit auseinander daszlig sie nicht als zwei Stufen derselben Hierarchie aufgefaszligt werden koumlnnen Die erstmals in G Freges spaumltem nachgelassenem Fragment uumlber Logische Allgemeinheit (Nachgelassene Schriften Hamburg 1983 S 278ndash281 hier S 280) entwickelte Unterscheidung von raquoDarlegungssprachelaquo und raquoHilfssprachelaquo geht houmlchst-wahrscheinlich auf eine Anregung Wittgensteins zuruumlck

7 M Black A Companion to Wittgensteinrsquos Tractatus Ithaca N Y 1964 Zitat S 3778 Ja warum muszlig man sie eigentlich wegwerfen Offenbar weil sie nicht mehr gebraucht

wird und nur hinderlich sein kann Tatsaumlchlich sind mir keine Leser des Buches bekannt die das Buch nach erfolgter Lektuumlre wegwarfen auszliger einigen die aufgegeben haben

9 E Anscombe An Introduction to Wittgensteinrsquos Tractatus 3 Aufl London 1967 (s aber Anm 12)

10 E Stenius Wittgensteins Traktat [1960] FrankfurtM 1969 nennt den Schluszlig raquokeine echte Verdammung [ ] weil das Wittgensteinsche System tatsaumlchlich unausdruumlckbar istlaquo (S 14 f)

11 Am Rande sei die positive Rezeption gerade des Schlusses jedoch unter weitgehen-der Ausklammerung der logischen Teile des Buches durch im weiteren Sinne existenzia-listische Deutungen besonders im deutschen Sprachraum (Ingeborg Bachmann u a) er-waumlhnt ndash eine Richtung die aber fuumlr die Interpretation des Buches insgesamt praktisch folgenlos geblieben ist obwohl die Betonung der Schluszligpassagen und des ethischen Grundanliegens deutliche Parallelen zu neuesten Tendenzen aufweist

12 Folgende paradoxe Formulierung Anscombes veranlaszligte Diamond zu ausfuumlhrlichen Klaumlrungsbemuumlhungen raquoDie Dinge die zwar nicht raquogesagtlaquo wohl aber raquogezeigtlaquo werden koumlnnen spielen im Tractatus eine wichtige Rolle Dh es waumlre richtig sie raquowahrlaquo zu nen-nen wenn sie was unmoumlglich ist gesagt werden koumlnnten tatsaumlchlich koumlnnen sie nicht wahr genannt werden weil sie nicht gesagt werden koumlnnen aber sie raquokoumlnnen gezeigt wer-denlaquo oder zeigen sich in denjenigen Saumltzen die die verschiedenen Dinge sagen die gesagt werden koumlnnenlaquo (Anscombe wie Anm 9 S 162 vgl dazu C Diamond Saying and Sho-wing An Example from Anscombe in Stocker Post-Analytic Tractatus S 151ndash166)

98 Wolfgang Kienzler PhR

von Geach13 mit der These daszlig Wittgensteins Buch nur dann nicht selbst-widerspruumlchlich wird wenn man davon ausgeht daszlig darin das Wichtig-ste die raquowichtigsten Zuumlge der Realitaumltlaquo zwar nicht raquogesagtlaquo wohl aber raquogezeigtlaquo werden Diamond greift dieses Problem auf und stellt im Gegen-zug heraus daszlig die Rede davon daszlig es ein raquoetwaslaquo gibt das zwar nicht gesagt wohl aber gezeigt werden kann inkonsequent ist Wittgensteins Rede von raquoUnsinnlaquo ist ihr zufolge ganz ernst zu nehmen und nicht zu umgehen er meint wirklich daszlig seine Saumltze raquoeinfach nur Unsinn sindlaquo Seit 1990 tritt James Conant an die Seite von Diamond und entwickelt die-se Lesart weiter u a durch Vergleiche zu Kierkegaards Schreibweise und durch eine Rekonstruktion der gesamten Deutungsdebatte Seit etwa 1997 spricht man von einer raquoresoluten Lesartlaquo14 Am 23 und 24 April 1998 fi ndet ein Treffen der wichtigsten Kontrahenten beim Boston Colloquium on the History and Philosophy of Science statt bei dem auch eine radikale raquoJako-binischelaquo Fraktion ( J Floyd) auftritt15 Daraus geht zT der Sammelband The New Wittgenstein (2000)16 hervor der als Ausdruck einer ganzen Strouml-mung aufgefaszligt und breit diskutiert wird und dem weitere Sammlungen folgen17 Er enthaumllt auch eine kritische Stellungnahme von Peter Hacker

13 P Geach Saying and Showing in Frege and Wittgenstein in J Hintikka (Hg) Essays on Wittgenstein in Honor of G Hv Wright Acta Philosophica Fennica 28 Amsterdam 1976 S 54ndash70

14 Die Herausgeber des Cambridge Companion zu Wittgenstein (1996) vergleichen Witt-genstein mit Sokrates (S 29 f) wissen aber von besonderen aktuellen Debatten nichts zu berichten Diamond ist darin als eine von mehreren Interpreten vertreten sie behandelt die Frage ob man nicht durch den Vergleich mit den Bemerkungen zur Mathematik zei-gen kann daszlig es vor allem fuumlr den spaumlten Wittgenstein weniger auf das Vokabular als auf den konkreten Gebrauch der Saumltze ankommt etwa wenn man fragt ob es sich in einem konkreten Fall um eine Frage der Ethik handelt ndash und daszlig man durch eine solche Auffas-sung weniger in Versuchung kommt zu glauben man koumlnne ethische Werte quasi wahr-nehmen (im Sinne eines ethischen raquoRealismuslaquo) Vgl C Diamond Wittgenstein mathema-tics and ethics Resisting the attractions of realism S 226ndash260 Im Beitrag von Ricketts faumlllt beilaumlufi g das Wort raquoresolutlaquo Auch das Wittgenstein-Lexikon von Hanjo Glock (Oxford 1996 Darmstadt 2000) das in seinem Ansatz Peter Hacker verpfl ichtet ist nennt in der kommentierten Bibliographie ohne weitere Anmerkungen Diamonds Aufsaumltze raquoschwierig aber interessant besonders zum Thema Unsinnlaquo

15 Vgl dazu V Hofmann Ein Bostoner Streitgespraumlch uumlber Wittgensteins Tractatus Frank-furter Allgemeine Zeitung 10 Juni 1998

16 Die verbreitete Rede vom raquoneuen Wittgensteinlaquo bleibt sehr vage und erscheint wenig hilfreich Ein etwas klareres Konzept ist dagegen mit der raquotherapeutischenlaquo Auffassung verbunden nach der es Wittgenstein lediglich darum geht seine Leser von ihren falschen Gedankengaumlngen zu heilen ohne diese durch irgend etwas substantiell Neues zu ersetzen Diese Variante die den Gesichtspunkt der Wirkung besonders hervorhebt ist sehr stark auf den spaumlten Wittgenstein bezogen Diamond hebt demgegenuumlber zu Recht den logischen Charakter von Wittgensteins Analysen hervor

17 Saumlmtliche Baumlnde enthalten auch viel fuumlr die Diskussion kaum einschlaumlgiges Material Zu nennen ist Timothy McCarthySean C Stidd (Hg) Wittgenstein in America Oxford

99Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

dem prominentesten Kritiker des Neuansatzes Das Wittgenstein-Sympo-sium Kirchberg 2001 zum 50 Todestag Wittgensteins wird von der De-batte um die neue Lesart beherrscht 2002 erscheint die bisher ausfuumlhr-lichste Darstellung von Conant Beitraumlge von Warren Goldfarb18 Thomas Ricketts19 Juliet Floyd Michael Kremer und anderen erweitern das Lager der raquoresolutenlaquo Leser20 2006 erscheint eine Monographie von Marie Mc-Ginn die eine Synthese der aumllteren und der neueren Lesart versucht Die Festschrift fuumlr Cora Diamond (2007) enthaumllt bereits Ruumlckblicke auf die bisherigen Entwicklungen sowie die Perspektive das Diskussionsfeld end-guumlltig auf den spaumlten Wittgenstein auszuweiten21

3 Ausgangspunkt der Entwicklung war Cora Diamonds Versuch aus studentischen Aufzeichnungen Wittgensteins Vorlesungen uumlber die Grund-

2001 (tatsaumlchlich sind die meisten Vertreter der resoluten Lesart Amerikaner [raquoMost Brits donrsquot buy itlaquo]) Reck From Frege to Wittgenstein (2002) mit Conants langem Aufsatz sowie Stocker Post-Analytic Tractatus (2004) Dieser letzte Band ist insofern symptomatisch als er sehr heterogenes Material unterschiedlicher Qualitaumlt bietet Neben Aufsaumltzen von Co-nant Diamond und Kremer sowie einigen allgemeineren Beitraumlgen enthaumllt der Band L E Brouwers fruumlhe Schrift Life Art and Mysticism (niederlaumlndisch 1905) mit dem Hinweis daszlig sie raquodasjenige explizit macht was bei Wittgenstein auszligerhalb der Grenzen des Sag-baren verbleibtlaquo (Einleitung des Herausgebers S 3) Ein solches Verstaumlndnis von Explika-tion kann man nur als kurios bezeichnen

18 Warren Goldfarb hat in Metaphysics and Nonsense On Cora Diamondrsquos The Realistic Spirit in Journal of Philosophical Research 22 (1997) S 57ndash73 der Stroumlmung den Namen gegeben sonst aber wenig veroumlffentlicht (vgl die Liste der Texte in Floyd Wittgenstein and the Inexpressible in Wittgenstein and the Moral Life S 229)

19 Als fuumlhrender Fregeinterpret geht Ricketts von der Schwierigkeit aus daszlig es keinen logisch wohlgebildeten Satz geben kann der ausdruumlckt daszlig Begriffe keine Gegenstaumlnde sind da Saumltze der Form A=B voraussetzen daszlig die Ausdruumlcke auf beiden Seiten der Glei-chung (oder Ungleichung) derselben Kategorie angehoumlren und der fragliche Satz daher die schlichte Verneinung eines solchen Satzes sein muumlszligte Varianten desselben Problems fi ndet er in refl ektierterer Form auch bei Wittgenstein wieder vgl dazu Pictures Logic and the Limits of Sense in Wittgensteinrsquos Tractatus in Wittgenstein Companion S 59ndash99 vor allem S 88ndash94 Eine besondere Gemeinsamkeit von Ricketts Goldfarb und anderen liegt darin herauszustellen daszlig Wittgenstein offenbar von seinen Lesern erwartet daszlig sie zugleich auf den Inhalt seiner Saumltze und auf die logische Form dieser Saumltze achten sollen wobei der Effekt eintritt daszlig die logische Form der Saumltze dem in ihnen (scheinbar) Gesagten wider-spricht wodurch sich der Sinn der gesamten Ausfuumlhrungen von innen her zersetzt und in Unsinn aufl oumlst Ricketts zeigt dies fuumlr die Satzreihe zwischen 2 und 21

20 Ein weiterer wichtiger Vertreter und Anreger dieser Wittgensteinlektuumlre ist der 1995 verstorbene Peter Winch dessen Sammelband Trying to Make Sense (Oxford 1987 Versu-chen zu verstehen FrankfurtM 1992) in vieler Hinsicht den Arbeiten von Diamond ver-gleichbar ist Zwei wichtige Arbeiten Conant Method of the Tractatus und Diamond How Long ist the Standard Meter at Paris in Wittgenstein in America (s Anm 17 dieser Band geht auf eine von Winch organisierte Tagung zuruumlck) sind dem Andenken an Winch gewid-met

21 Conant nennt in seinem Beitrag sechzehn Mitstreiter (Mono-Wittgensteinianism S 11 Anm 3)

100 Wolfgang Kienzler PhR

lagen der Mathematik von 193922 einigermaszligen zusammenhaumlngend zu rekonstruieren23 Diamond gewann aus dieser Arbeit den schlagenden Eindruck wie schwierig es ist Wittgensteins Herangehensweise an philo-sophische Fragen richtig aufzufassen und auszudruumlcken24 Diesem Grun-dimpuls Wittgensteins philosophischen Ansatz in seiner Schwierigkeit und Radikalitaumlt zu erlaumlutern verdankt sich ein groszliger Teil von Diamonds weiterer Arbeit25

Zentral ist ein starkes Interesse an der Spaumltphilosophie Wittgensteins demgegenuumlber erscheint die fruumlhe Denkweise als erster und wichtiger Schritt in die richtige Richtung nicht aber als ein gescheiterter Versuch dem Wittgenstein spaumlter etwas grundlegend Anderes entgegensetzte Dia-monds Interesse an der Abhandlung ist zunaumlchst eher indirekt und liegt darin zu zeigen wie der radikale Ansatz schon des fruumlhen Wittgenstein interpretativ weitgehend abgefl acht und miszligverstanden wurde Die Initi-alzuumlndung zu einer intensiven Beschaumlftigung mit dem fruumlhen Wittgen-stein ging dann von Peter Geachs Versuch aus durch Zuhilfenahme der

22 Wittgenstein Lectures on the Foundations of Mathematics 1939 Ithaca N Y 1976 (= Schriften Bd 7 1978 dieser wichtige Text ist in der deutschen Uumlbersetzung wenig beach-tet und nicht nachgedruckt worden)

23 Es gelang Diamond schlieszliglich auf bewundernswerte Weise aus den unterschied-lichen stark voneinander abweichenden Mitschriften einen zusammenhaumlngenden Text zu erstellen Diese philologisch anfechtbare und fuumlr den Leser nicht uumlberpruumlfbare Praxis wur-de in spaumlteren Veroumlffentlichungen von Vorlesungen Wittgensteins zugunsten der paral-lelen Wiedergabe der einzelnen Mitschriften aufgegeben Damit verschwanden aber auch Erfahrungen wie diejenige Diamonds

24 Diamond schreibt raquoIch brauchte vier Jahre um uumlberhaupt zu verstehen was in diesen Vorlesungen eigentlich vor sich ginglaquo (Diamond How Did I Come to be Acquainted with Wittgensteinrsquos Work In Philosophical Investigations 14 2001 S 108ndash115 S 109 diese Ausgabe enthaumllt entsprechende Auskuumlnfte u a auch von Cavell Conant und Hacker) Die Arbeit an dieser Edition hat Diamonds Perspektive entscheidend gepraumlgt Man koumlnnte sa-gen daszlig Diamond sich in ihren eigenen Veroumlffentlichungen an dem Ideal orientiert das Wittgenstein in diesen Vorlesungen paradigmatisch vorfuumlhrt Er nimmt einen Satz etwa aus einer Schrift des bedeutenden Mathematikers Hardy daszlig mathematischen Saumltzen raquoin irgendeiner wenn auch noch so subtilen Form etwas in der Realitaumlt entsprichtlaquo und zeigt durch intensive Deutungsbemuumlhungen und praumlgnante Beispiele auf inwiefern diese For-mulierung zwar nicht falsch ist wohl aber und das ist weit gravierender eine grundsaumltz-lich verfehlte Einstellung zum raquoGegenstand der Mathematiklaquo ausdruumlckt (25 und 26 Vor-lesung S 290 ff)

25 Diamond greift zudem Impulse von Rush Rhees und Elizabeth Anscombe auf beides unmittelbare Schuumller sowie Nachlaszligverwalter und Herausgeber Wittgensteins sowie von Stanley Cavell der zunaumlchst von Austin beeinfl uszligt weitgehend unabhaumlngig eine ganz auf die Philosophischen Untersuchungen konzentrierte Lektuumlre Wittgensteins entwickelt und durch seine Lehrtaumltigkeit auch auf Conant Goldfarb und Ricketts gewirkt hat (wie die vorherige Anm S 109 f) Allerdings uumlberschreitet Cavells bisweilen sehr kreative Um-gangsweise mit den Texten haumlufi g die Grenzen dessen was man Interpretation nennen kann

101Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen Wittgenstein davor zu ret-ten sich selbst philosophisch mattzusetzen (raquoLudwigrsquos self-matelaquo)26 Geach war damit derjenige der dem Schluszlig des Buches nicht nur besondere Aufmerksamkeit schenkte sondern ihn zum Pruumlfstein uumlber Erfolg oder Scheitern von Wittgensteins fruumlher Philosophie bzw der Versuche sie zu verstehen machte

Fast alle Versuche den Schluszlig zu verstehen knuumlpfen an die im Text zentrale Unterscheidung zwischen raquoSagenlaquo und raquoZeigenlaquo an Wittgenstein selbst nannte sie einmal den raquoHauptpunktlaquo seiner Philosophie (Brief an Russell vom 19 8 1919) und er entwickelt sie bei der Behandlung radikal unterschiedlicher Arten von Saumltzen Empirische oder raquosinnvollelaquo Saumltze vergleicht er mit Bildern die Sachverhalte darstellen Wenn der darge-stellte Sachverhalt besteht ist der Satz wahr wenn er nicht besteht falsch Saumltze sagen daszlig die von ihnen dargestellten Sachverhalte bestehen Sie sind artikuliert und tun dies mit Hilfe ihrer spezifi schen logischen Form Die-se Form raquoweisen sie auflaquo aber sie sagen sie nicht aus sondern raquozeigenlaquo sie Diese beiden Aspekte das von einem Satz Ausgesagte und Behauptete sowie die dabei zum Einsatz kommenden sprachlogischen Mittel trennt Wittgenstein scharf Weiter betont er daszlig die Saumltze der Logik keine Sach-verhalte darstellen sondern bereits aufgrund ihrer Form als korrekt und insofern raquowahrlaquo oder als widerspruumlchlich und insofern raquofalschlaquo zu erken-nen sind Wittgenstein spricht von raquoTautologienlaquo27 und raquoKontradiktionenlaquo Diesen rein formalen Charakter der logischen Saumltze druumlckt Wittgenstein auch so aus daszlig er sie raquosinnloslaquo nennt und bemerkt raquoDie Saumltze der Logik sagen also Nichtslaquo (611)28 Er druumlckt dies auch so aus daszlig logische Saumltze raquozeigen daszlig sie nichts sagenlaquo (4461) Sagen und Zeigen sind fuumlr ihn strikt getrennte Ausdrucksformen raquoWas gezeigt werden kann kann nicht gesagt werdenlaquo (41212) Weiterhin untersucht Wittgenstein die Natur der philo-sophischen Saumltze und kommt zu dem Schluszlig daszlig diese weder zur Gruppe der sinnvollen noch zu der der sinnlosen Saumltze gehoumlren Da seiner Mei-nung nach der Philosophie uumlberdies kein eigener Gegenstandsbereich zugewiesen werden kann erklaumlrt er daszlig die Philosophie raquokeine Lehre sondern eine Taumltigkeitlaquo (4112) sei naumlmlich die Taumltigkeit der logischen

26 Saying and Showing in Frege and Wittgenstein (wie Anm 13 Zit S 54) Diamond deutet den Schluszlig nicht defensiv wie Geach sondern offensiv als Versuch etwas Wichtiges klar-zustellen

27 Wittgenstein etabliert damit eine ganz neue Verwendungsweise des Wortes raquoTauto-logielaquo die durch die aussagenlogischen Wahrheitsbedingungen erklaumlrt ist

28 Wittgenstein verwendet die Ausdruumlcke raquosinnvolllaquo raquosinnloslaquo und raquounsinniglaquo um wichtige Unterschiede lokal zu markieren aber als Terminologie entstammt diese Trias der Sekundaumlrliteratur und der Neuuumlbersetzung des Buches durch David Pears und Brian McGuinness (1961)

102 Wolfgang Kienzler PhR

Klaumlrung der Gedanken und der Klarstellung der grundlegenden Funk-tionsweise des sprachlichen und symbolischen Ausdrucks29

Nach Geach muszlig man Wittgensteins Buch so verstehen daszlig darin zum einen etwas gesagt wird daszlig aber wichtige Zuumlge der Realitaumlt ( features of reality) entsprechend Wittgensteins Analysen nicht gesagt wohl aber ge-zeigt werden koumlnnen Die Schluszligbemerkung waumlre dann so aufzufassen daszlig man einsehen muszlig daszlig die philosophisch wichtigen Einsichten nur gezeigt werden koumlnnen sie damit aber in Saumltzen enthalten sind die streng genommen unsinnig sind weil sie nicht etwas raquosagenlaquo so naumlmlich wie der Terminus raquosagenlaquo in der Abhandlung verwendet wird Geach sieht in dieser Unterscheidung eine Einsicht die Wittgenstein von Frege uumlbernimmt und erweitert

In ihrem Aufsatz Throwing Away the Ladder (1985)30 setzt sich Diamond intensiv mit Geach auseinander und entwickelt daraus wesentliche Ele-mente die die Diskussion bis heute praumlgen Dazu gehoumlrt der Bezug auf Frege In seinen raquoErlaumluterungenlaquo31 logischer Grundbegriffe also dessen was er das raquoLogischeinfachelaquo nennt und was entsprechend durch keine Defi nition weiter zergliedert werden kann spricht Frege deutlich aus daszlig er sich bildlich und unexakt ja teilweise sogar streng genommen falsch ausdruumlcken muszlig um das Gemeinte zu vermitteln32 Das wichtigste Bei-spiel Freges ist die grundlegende Unterscheidung von Gegenstand und Begriff die er so erlaumlutert daszlig Gegenstaumlnde abgeschlossen Begriffe dage-

29 Die Saumltze der Philosophie waumlren nach Wittgenstein daher in Abgrenzung zu den beiden ersten Gruppen als raquounsinniglaquo einzustufen Diese relativ harmlose Deutung die 654 zu einer letztlich terminologischen Bemerkung macht wird von Diamond und Conant jedoch nicht geteilt Es ist eine Staumlrke des Ansatzes von DiamondConant daszlig sie die Abhandlung nicht nach einem terminologischen Schema zu entschluumlsseln versuchen im besonderen Fall von 654 ist ihr Ergebnis dennoch zweifelhaft denn man kann die Bemer-kung als raquoabschlieszligende selbstrefl exive Schluszligbemerkunglaquo verstehen die einfach ein letz-tes zusaumltzliches Licht auf das Ganze werfen und die Klarheit damit abrunden nicht aber diese erst herstellen soll Der Vergleich des Schlusses mit der Pointe eines Witzes die alles in ein voumlllig neues Licht taucht und die Spannung zusammenbrechen laumlszligt (vgl unten Anm 62) wirkt etwas gezwungen In seinen Anweisungen an Ogden (Letters to Ogden Oxford 1973 S 19) fuumlr die Uumlbersetzung des Buches besteht Wittgenstein darauf daszlig der raquoSinn nicht die Woumlrterlaquo uumlbersetzt werden und nennt dann wieder das Ganze raquoUnsinnlaquo dies weist darauf hin daszlig fuumlr ihn das Ganze nicht einfach durch und durch als Unsinn zu bezeichnen ist

30 Throwing Away the Ladder How to Read the Tractatus auch in The Realistic Spirit S 179ndash204

31 Auch dieser Terminus stammt von Frege obwohl er nicht auf den Bereich analy-tischer Philosophie beschraumlnkt ist (vgl M Heideggers Erlaumluterungen zu Houmllderlins Dichtung und das zugehoumlrige Vorwort)

32 Vgl dazu auch Gottfried Gabriel Der Logiker als Metaphoriker Freges philosophische Rhetorik in Gabriel Zwischen Logik und Literatur Stuttgart 1991 S 65ndash88 Auch Gabriel sieht bei Wittgenstein die konsequente Durchfuumlhrung Fregescher Einsichten

103Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

gen ungesaumlttigt sind und eine Leerstelle aufweisen die nur durch einen Gegenstand gesaumlttigt werden kann Dies gilt fuumlr Frege sowohl fuumlr die Be-griffe und Gegenstaumlnde selbst als auch fuumlr die Ausdruumlcke mit denen wir sprachlich Begriffe bzw Gegenstaumlnde bezeichnen Daher ist jedoch fuumlr ihn jeder Ausdruck ohne Leerstelle zwangslaumlufi g ein Gegenstandsname kein Begriffswort Sprachlich gesehen sind alle Ausdruumlcke mit dem be-stimmten Artikel (raquoder Nlaquo) Eigennamen solche mit dem unbestimmten Artikel (raquo ist ein Pferdlaquo) Begriffswoumlrter Damit aber ist ein Ausdruck wie raquoder Begriff Pferdlaquo schon aus syntaktischen Gruumlnden ein Gegenstandsna-me und kein Begriffswort Entsprechend erklaumlrt Frege den Satz raquoDer Be-griff Pferd ist kein Begrifflaquo allein aufgrund der syntaktischen Form fuumlr wahr weil die Worte raquoder Nlaquo und damit auch raquoDer Begriff Nlaquo nur einen Gegenstand bezeichnen koumlnnen Daruumlber hinaus erklaumlrt er daszlig es voumlllig unmoumlglich ist einen wahren Satz der Form raquoDer Begriff F ist ein Begrifflaquo zu bilden da wir an der Subjektstelle immer im logischen Sinn einen Ei-gennamen und kein Begriffswort vorfi nden Wir koumlnnen also nach Frege in gewoumlhnlichen Saumltzen gar keine korrekten Aussagen uumlber Begriffe ma-chen Gegen Geach deutet Diamond diesen Fall nun so daszlig Frege mit dem paradox klingenden Satz seine Leser zur richtigen Einsicht in das Wesen des Begriffs anleiten moumlchte und zwar indem er absichtsvoll etwas Unsinniges sagt in Gestalt einer vorlaumlufi gen Ausdrucksweise (transitional remark) die spaumlter ganz wegfallen kann wenn die Unterscheidung ver-standen worden ist33 Dieses Verstaumlndnis aber zeigt sich so Diamond nicht darin daszlig man einen raquoZug der Wirklichkeitlaquo erfaszligt hat sondern darin daszlig man Freges Notation zu beherrschen gelernt hat Ihr zufolge druumlckt sich in der Notation also in der Schreibweise nicht in einzelnen Behaup-tungssaumltzen34 Freges Unterscheidung von Gegenstand und Begriff am klarsten und eindeutigsten aus und der Sinn der Uumlbergangsbemerkungen liegt demnach einzig darin in den korrekten Gebrauch der Notation und damit des logischen Systems mit seinen eingearbeiteten Unterscheidungen einzufuumlhren Vor diesem Hintergrund gibt es keinen raquoInhaltlaquo der nach der Einfuumlhrung uumlbrig bliebe und damit auch keinen Inhalt den man raquozeigenlaquo muumlszligte oder koumlnnte und daher kann man die Leiter dann wegwerfen (und einfach den Symbolismus richtig anwenden) Eine Deutung wie diejenige

33 Als Fregedeutung kann diese Interpretation nicht uumlberzeugen weil Frege seinen pa-radox klingenden Satz ohne Zoumlgern fuumlr wahr haumllt Aus der Perspektive Wittgensteins je-doch der den Gedanken einer notwendigen strukturellen Parallelitaumlt zwischen raquoZeichen und Bezeichnetemlaquo uumlberwunden hat waumlre diese Deutung uumlberzeugend Man kann Dia-mond in diesem Punkt eine Uumlberinterpretation des fruumlhen Wittgenstein vorwerfen die sie auch noch auf Frege ausdehnt

34 Das heiszligt daszlig Freges Grundunterscheidung sich praktisch an jedem symbolisch no-tierten Satz zeigen laumlszligt

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Geachs erscheint vor diesem Hintergrund als halbherzig Zum einen meint man daszlig manche wichtigen Saumltze nichts sagen sondern nur etwas zeigen zum anderen aber haumllt man doch daran fest daszlig diese Saumltze einen Inhalt haben und indirekt etwas uumlber die Realitaumlt ausdruumlcken Fuumlr Diamond ist das ein Sich-druumlcken (chickening out)35 Diesem halbherzigen Versuch setzt sie ein konsequentes Ernstnehmen der Unsinnigkeit der Abhandlungssaumltze und des Wegwerfens der Leiter entgegen Der Versuch mit dem raquoUnsinnlaquo Ernst zu machen hat als raquoresolute Lesartlaquo (resolute reading) dem neuen An-satz spaumlter den Namen gegeben36 Diamond stellt die Frage wie ernst man 654 tatsaumlchlich nehmen sollte und weiter ob der Redeweise von raquoZuumlgen der Realitaumlt die nicht in Worten ausgedruumlckt werden koumlnnenlaquo ein Sinn abzugewinnen ist37 Diamonds Antwort ist ebenso einfach wie provokativ Ja die Bemerkung 654 muszlig sehr ernst genommen werden und gerade deshalb kann es keine unausdruumlckbaren Zuumlge der Realitaumlt geben sondern wir muumlssen akzeptieren daszlig die Saumltze der Abhandlung im strengen und gewoumlhnlichen Sinne unsinnig sind sie sind um das Vorwort zu zitieren raquoeinfach Unsinnlaquo Damit aber verliert die Unterscheidung von Sagen und Zeigen ihren quasi-metaphysischen Charakter38

Bemerkung 654 deutet Diamond nun so daszlig Wittgenstein darin einen bewuszligten und wesentlichen Unterschied mache zwischen dem Verstehen seiner Saumltze und dem Verstehen seiner Person (raquower mich verstehtlaquo)39 Man solle naumlmlich verstehen daszlig seine Saumltze nicht zu verstehen sind Wir sol-len genauer gesagt mit unserer Einbildungskraft uns in die Position je-mandes versetzen der glaubt die Saumltze des Buches zu verstehen damit aber sollen wir so Diamond zugleich verstehen daszlig es hier nichts zu verstehen gibt daszlig es sich nur um eine Illusion von Verstehen handelt

35 Systematisch betrachtet kann man darin ein noch zu weitgehendes Festhalten an der grundsaumltzlichen Aumlhnlichkeit der Funktionsweise (oder raquoBezeichnungsweiselaquo) saumlmtlicher Satzarten nach dem Vorbild Freges sehen der die Grundunterscheidung von ZeichenSinn des ZeichensBedeutung des Zeichens uumlberall durchfuumlhren will waumlhrend nach Wittgenstein schon fuumlr logische Saumltze weder von Sinn noch von Bedeutung die Rede sein kann

36 Ricketts spricht in seinem Beitrag zum Cambridge Companion (Anm 19) S 93 von einer raquoresolut und konsistent angewendeten Konzeption der Wahrheitlaquo nach der es raquokeine unausdruumlckbaren Wahrheiten geben kannlaquo In Anschluszlig daran hat sich dann auf eine Anregung Goldfarbs hin die Rede einer raquoresoluten Lesartlaquo eingebuumlrgert

37 Diamond Ethics Imagination and the Method of Wittgensteinrsquos Tractatus (1991) auch in New Wittgenstein S 149ndash173 hier S 181

38 Daszlig die Unterscheidung auf andere Weise logisch zentral ist fuumlhrt Diamond an an-derer Stelle aus (vgl Anm 12)

39 Diamond greift dabei (S 160) indirekt auch den Gedanken Cavells auf daszlig es in Wittgensteins Philosophie immer auch um Selbsterkenntnis geht also um die eigene Per-son Dieses Element spielt vor allem bei anderen Vertretern der resoluten Lesart eine be-traumlchtliche Rolle und traumlgt einiges zu ihrer Attraktivitaumlt bei

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(150) Die Saumltze und damit das Buch sollen als vollstaumlndig unsinnig er-kannt werden ndash davon ausgenommen sind allerdings die Bemerkungen die den Rahmen bilden und in denen Wittgenstein einige Hinweise dar-uumlber gibt wie das Buch aufzufassen ist (S 149)40 Es gibt dabei keine lo-gische wesentliche Unterscheidung zwischen zwei Arten von Unsinn sol-chem der etwas Richtiges zeigt und solchem der schlicht Ausdruck einer Verwirrung ist (wie die Saumltze der traditionellen Metaphysik)41 Daszlig man-che unsinnigen Saumltze als Erlaumluterungen dienen koumlnnen ist diesen Saumltzen ganz aumluszligerlich (S 159) sozusagen eine Zufaumllligkeit hat aber nichts mit einem moumlglichen Gehalt dieser Saumltze zu tun Dies wendet sich gegen eine entsprechende Unterscheidung bei Anscombe zwischen raquoden Dingen die wahr waumlren wenn sie gesagt werden koumlnnten und denen die falsch wauml-ren wenn sie gesagt werden koumlnntenlaquo42 Man kann nach Diamond von solchen Unsinnsarten nicht sprechen Eine Konsequenz dieser Radikalitaumlt liegt nun darin daszlig die gesamte innere Struktur der Abhandlung verloren-zugehen scheint Wenn alles Unsinn ist was kann dann noch Unterschiede der einzelnen Passagen ausmachen Genau dies entspricht gerade einem zentralen Motiv von Diamonds Ansatz So verweist sie etwas darauf daszlig im Buch zwar Bemerkungen mit ethischer Thematik vorkommen daszlig aber in einem tieferen Sinne jeder Satz (oder das gesamte Buch) einen ethischen Charakter hat indem es darin eine bestimmte Haltung aus-druumlckt ganz unabhaumlngig vom gerade verwendeten Vokabular Diese Auf-fassung daszlig zentrale philosophische Einsichten vom jeweils verwendeten Vokabular und den aufgestellten Behauptungen weitgehend unabhaumlngig sind weil es nicht auf das Vokabular sondern auf den Gebrauch ankommt ist ein Kernstuumlck in Diamonds Ansatz43 Ihr geht es vor allem anderen darum Wittgensteins philosophische Haltung aufzuklaumlren indem sie spe-zifi sche Passagen die Miszligverstaumlndnisse verursachen erklaumlrt Die Absicht

40 Diese radikal klingende Behauptung ist insofern miszligverstaumlndlich als Diamond nicht alle Saumltze der Abhandlung sozusagen per defi nitionem fuumlr unsinnig erklaumlren will ihr geht es vielmehr vor allem darum klarzustellen daszlig wenn ein spezifi scher Satz unsinnig ist er es auch wirklich ist und daszlig es inkonsequent ist sozusagen einen raquoSinn zweiter Ordnunglaquo einzufuumlhren

41 Die starke Konzentration der Diskussion auf Fragen von raquoUnsinnlaquo uumlbersieht haumlufi g daszlig Wittgenstein Unsinn ausgesprochen liebte Einer seiner Lieblingsautoren war Lewis Carroll auf den er haumlufi ger in seinen Schriften anspielt oder verweist und er selbst sam-melte uumlber Jahrzehnte Beispiele besonders absurder Zeitungsartikel Vgl dazu jetzt Brian McGuinness (Hg) Wittgenstein in Cambridge Letters and Documents Oxford 2008 S 192 und 468 auszligerdem Brian McGuinness In Praise of Nonsense (unveroumlffentlicht)

42 Anscombe Introduction (Anm 9) S 162 zit von Diamond Ethics S 15843 Sie fuumlhrt dies an Beispielen des spaumlten Wittgenstein aus der Mathematik (u a den

erwaumlhnten Vorlesungen) und der Ethik in ihrem Beitrag zum Cambridge Companion naumlher aus und erkennt ein solches Vorgehen auch in der Abhandlung und bei Frege wieder

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Wittgensteins Schriften als Ganze zu interpretieren tritt demgegenuumlber ganz in den Hintergrund Insofern ist 654 auch wieder nicht uumlberzube-werten sondern dient nur als ein besonders markanter Ausgangspunkt um verfehlte Auffassungen abzuwehren44 So ist die Abhandlung fuumlr Dia-mond kein Buch uumlber Logik denn ein solches kann es streng genommen ebenfalls nicht geben Die Logik ist vielmehr raquodem was Saumltze sind bereits intern eingeschriebenlaquo (S 151) Anders gesagt Wir koumlnnen an jedem be-liebigen Satz wenn wir nur richtig hinsehen alle Elemente der richtigen logischen Auffassung aufweisen und daher ist jeder Versuch diese vor-gaumlngige Struktur explizit zu machen immer etwas Nachtraumlgliches das schon raquozu spaumlt kommtlaquo und dadurch stets etwas Schiefes eben Unsinniges an sich hat Der eigentliche Ausdruck von Wittgensteins philosophischen Auffassungen sind daher nicht irgendwelche Inhalte seines Buches son-dern die Art wie sie ausgedruumlckt sind (S 170)

Eine besondere Eigenheit fast aller Arbeiten Diamonds ist ihre sehr spe-zifi sche Ausrichtung auf eine je besondere Fragestellung In vielen Faumlllen greift sie charakteristische Fehleinschaumltzungen oder auch nur miszliggluumlckte Formulierungen anderer Autoren auf und erlaumlutert geduldig sorgfaumlltig und oft in wiederholten bisweilen kreisenden Gedankengaumlngen welche Art von Fehleinschaumltzung vorliegt aus der die verungluumlckte Formulierung hervorgegangen ist Ihre Klaumlrungsarbeit bezieht sich fast immer auf einen konkreten Fall nicht auf eine allgemeine These Dadurch sperren sich ihre Texte gegen Lesegewohnheiten die auf Thesen und Argumente oder auf systematische Darlegungen und einen hohen Allgemeinheitsgrad hin ori-entiert sind Besonders instruktiv ist ihre Aufklaumlrung eines Beispiels von Anscombe (raquorsaquoJemandlsaquo ist nicht der Name von jemandemlaquo) in dem sie einen Versuch beleuchtet mit dem Anscombe ihrerseits im Sinne des fruumlhen Wittgenstein eine ganz elementare sprachlogische Klarstellung zu treffen versucht die den Unterschied zwischen Sagen und Zeigen nicht in allge-meiner (raquometaphysischerlaquo) sondern in ganz spezifi scher logischer Absicht betrifft45 Ihr Ergebnis lautet daszlig die Logik und damit die Gebrauchswei-sen von Ausdruumlcken wie raquojemandlaquo im einzelnen sorgfaumlltig beschrieben werden muumlssen daszlig man dies nicht mit einem Satz allein klarstellen kann

44 Die Erfolgsgeschichte der resoluten Lesart haumlngt eng damit zusammen daszlig man das ganze Buch als raquobloszligen Unsinnlaquo auffassen will bei Diamond liegt jedoch genau besehen keine Interpretation des gesamten Buches vor Sie will vielmehr nur einige Kernpunkte klarstellen verknuumlpft diese Klarstellungen allerdings mit einigen allgemeiner klingenden Zusatzbemerkungen

45 Diamond Saying and Showing (wie Anm 12) In diesem Beispiel bleibt jedoch An-scombe die die Frage in einem Streich entscheiden und klaumlren will dem Geist des fruumlhen Wittgenstein naumlher als Diamond mit ihrer sorgfaumlltigen Beschreibung der Sprachspiele mit raquojemandlaquo

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Damit will Diamond einen Beitrag dazu leisten die raquophilosophi sche Klauml-rung zu klaumlrenlaquo (to clarify philosophical clarifi cation)46

Das Ziel ihrer Arbeit ist jeweils die Klaumlrung unuumlbersichtlicher begriff-licher Verhaumlltnisse um so zu einer natuumlrlichen raquorealistischenlaquo Sicht zu kommen47 An Paradoxien ist sie grundsaumltzlich nicht interessiert auszliger insofern es darum geht deren Quellen aufzudecken sie als Symptome von begriffl ichen Unklarheiten zu sehen

Charakteristisch fuumlr Diamonds Vorgehensweise ist auch eine Uumlberle-gung die von einer Bemerkung Kripkes ihren Ausgang nimmt Einmal schreibt Wittgenstein raquoMan kann von einem Ding nicht aussagen es sei 1 m lang noch es sei nicht 1 m lang und das ist das Urmeter in Parislaquo (PhU 50) Kripke nennt diese Behauptung die aus dem Zusammenhang gerissen etwas entschieden Paradoxes hat offensichtlich falsch ohne je-doch den genauen Zusammenhang zu beachten48 Genau darauf kommt es Diamond aber an und sie erlaumlutert detailliert hartnaumlckig und zielstrebig

46 Ebd S 15347 Diamonds Grundanliegen kann man auch so formulieren daszlig sie an die Stelle von

philosophischen raquoPhantasienlaquo die aufs Allgemeine eines zurechtgestellten Sprachgebrauchs gehen eine realistische Einstellung die sich vor allem um Einzelheiten kuumlmmert setzt (The Realistic Spirit in der gleichnamigen Sammlung S 39ndash72)

48 Tatsaumlchlich ist die Bemerkung Kripkes weitaus weniger beilaumlufi g als Diamond sugge-riert Er schreibt raquoWittgenstein sagt etwas sehr Verwirrendes hieruumlber Er sagt raquoMan kann von einem Ding nicht sagen es sei 1 m lang noch es sei nicht 1 m lang und das ist das Urmeter in Paris ndash Damit haben wir aber diesem natuumlrlich nicht irgendeine merkwuumlrdige Eigenschaft zugeschrieben sondern nur seine eigenartige Rolle im Spiel des Messens mit dem Metermaszlig gekennzeichnetlaquo (PhU 50) Das scheint aber in der Tat eine sehr raquomerk-wuumlrdige Eigenschaftlaquo fuumlr einen Stab zu sein Ich denke Wittgenstein muszlig sich hier irren Wenn der Stock 3937 Inches lang ist (ich nehme an daszlig wir einen anderen Standard fuumlr Inches haben) warum ist er nicht 1 m lang Wir wollen jedenfalls annehmen daszlig Witt-genstein sich irrt und daszlig der Stab 1 m lang istlaquo (Kripke Naming and Necessity 1980 Name und Notwendigkeit FrankfurtM 1981 S 65 f) Diamond weist zwar zu Recht darauf hin daszlig Kripkes theoretisches Vokabular nur uumlber Eigenschaften (er diskutiert Fragen von Referenz und sprachlicher Bedeutung separat) nicht aber uumlber raquoStellungen im Sprachspiellaquo verfuumlgt und daszlig er deshalb zur tatsaumlchlich merkwuumlrdigen Deutung des Satzes als raquokontin-gente Wahrheit a priorilaquo (S 68) kommt (Dies entspricht wiederum in einigem der ja auch raquoeigenartigenlaquo Rolle im Sprachspiel) Beim Ausfuumlhren des Beispiels gegen Wittgenstein argumentiert Kripke jedoch intern vollkommen konsistent und faktisch auch an einem Sprachspiel orientiert wenn er (in Klammern) annimmt daszlig wir uumlber einen eigenen unabhaumlngigen Maszligstab fuumlr englische Zoll verfuumlgen Dann naumlmlich kann man das Urmeter ohne weiteres wie jeden anderen Gegenstand auch (auszliger in diesem Spiel dem raquoUr-Yardlaquo das Kripke jedoch nicht erwaumlhnt ndash und insofern hat Kripke die Problematik nur geschickt verschoben) abmessen und das Ergebnis anschlieszligend umrechnen Damit nimmt Kripke Wittgensteins Bemerkung das Paradoxe fuumlhrt dabei allerdings (unkommentiert) einen raquoDoppelstandardlaquo der Messung ein der nicht weiter geklaumlrt wird Die Sorgfalt in Kripkes Ausfuumlhrungen legen daher nahe die Rede davon daszlig Wittgenstein raquoirrelaquo nicht als Hin-weis auf einen einzelnen zufaumllligen Fehler sondern auf eine insgesamt verfehlte Auffas-sung zu verstehen

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wie Wittgenstein zu seiner Aumluszligerung kommt und inwiefern die Institution des Messens davon abhaumlngt daszlig man Maszligstaumlbe einfuumlhrt mit denen dann andere Objekte gemessen werden49 Da Laumlngenangaben entsprechend im-mer auf den Vergleich zu einem Maszligstab bezogen sind entsteht die kuriose Situation daszlig die Laumlnge des Urmeters durch Anlegen an sich selbst be-stimmt werden muumlszligte Nach Kripke ist dies ein Fall von Identitaumlt d h im Fall der Identitaumlt kann man auch ohne jede Messung sagen daszlig das betref-fende Objekt 1 m lang ist (oder eben raquoso lang wie es istlaquo ndash denn wie lang sollte es sonst sein) Damit aber gleicht er den Fall der Messung an den Fall der bloszligen Festsetzung in dem gar keine Messung erfolgt und genau genommen auch keine Messung moumlglich ist (denn man kann keinen Maszlig-stab an sich selbst anlegen weil dazu mindestens zwei Objekte benoumltigt werden) an und uumlbersieht die begriffl iche Verschiedenheit beider Faumllle Durch dieses Beispiel beleuchtet Diamond vor allem den Begriff der Gleichheit bzw Identitaumlt der von Kripke und weiten Teilen der philoso-phischen Tradition als unproblematischer absoluter Fixpunkt in Anspruch genommen wird den Wittgenstein aber einer fruumlhen Kritik (553 ff) und einer spaumlteren genauen Beschreibung (PhU 251 ff) unterzogen hat Zur Aufklaumlrung ist es noumltig den Ort den die Rede von raquogleichlaquo und raquoiden-tischlaquo in der Sprache hat genauer zu beleuchten und zu beschreiben an-statt ihn als quasi sprachunabhaumlngig gegeben einfach vorauszusetzen50

Diamonds Arbeit zielt so durchgehend auf die Klaumlrung scheinbar para-doxer oder merkwuumlrdiger Behauptungen ab und sie sieht ihr Ziel erst dann erreicht wenn aufgezeigt ist daszlig im Sprachspiel alles mit ganz ge-woumlhnlichen Dingen zugeht Paradoxe Behauptungen haben darin keinen Ort Auch ihre Anmerkungen zum Schluszlig von Wittgensteins Abhandlung sind daher systematisch als solche Aufklaumlrungen (etwa der paradoxen Re-deweise von Saumltzen die raquowahr waumlren wenn sie gesagt werden koumlnntenlaquo) zu verstehen auch wenn sie stellenweise selbst sehr uumlberraschend klingen Ihr Grundgedanke lautet jedoch Auch raquounsinniglaquo ist ein ganz gewoumlhn-liches Wort welches Wittgenstein verwendet und wenn er es verwendet dann meint er es auch so wie er es sagt51

49 Diamond betont mit (dem spaumlten) Wittgenstein die grundlegende Bedeutung von sprachlichen Institutionen waumlhrend Kripke konsequent davon absieht und alles als Fakten (unterschiedlicher Art) interpretiert

50 Kripkes Auffassung der Identitaumlt ist sprachunabhaumlngig und sozusagen raquorein objektivlaquo angelegt Fuumlr ihn ist jeder Gegenstand notwendigerweise mit sich selbst identisch und weist eine bestimmte raquoobjektivelaquo Laumlnge auf Wittgenstein dagegen weist darauf hin daszlig auch zum Wort raquoidentischlaquo ein Sprachspiel gehoumlrt das diesem Wort erst seine klare Ver-wendung gibt

51 Einiges spricht jedoch auch dafuumlr daszlig diese Auffassung eher dem spaumlten Wittgen-stein entspricht und daszlig in 654 raquounsinniglaquo gerade nicht im alltaumlglichen Sinn verwendet wird

109Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

5 Es ist bei dieser sehr punktuellen Methodik um so bemerkenswerter und selbst geradezu paradox daszlig Diamonds Ansatz der Ausgangspunkt einer ganzen Richtung der Wittgensteininterpretation und noch dazu der Abhandlung geworden ist Diese Entwicklung hat viel mit der Arbeit von James Conant zu tun der dem Ansatz eine allgemeinere und leichter ein-zuordnende Form gegeben und das Zentrum der Aufmerksamkeit noch viel staumlrker als Diamond auf die Abhandlung und ihren Schluszlig gelenkt hat Conant stellt Wittgensteins Text in einen weiteren Rahmen indem er etwa Wittgenstein mit Kierkegaard Carnap und anderen Autoren ver-gleicht und indem er sich um die Historiographie der Tractatusdeutungen und insbesondere der impliziten Voraussetzungen dieser Deutungen in einer Weise bemuumlht daszlig die resolute Lesart als natuumlrlicher Abschluszlig einer Stufenfolge erscheint Dadurch entsteht der Eindruck daszlig die raquoresolutelaquo Deutung auf uumlberlegene Weise alle vorangegangenen Deutungsversuche in sich aufnimmt und ihnen den gehoumlrigen Platz anweist so daszlig kein sys-tematischer Raum mehr fuumlr Gegenvorschlaumlge bleibt52

In seiner bisher umfangreichsten Darstellung53 gibt Conant zunaumlchst eine Rekonstruktion der rationalen Genese der bisherigen Lesarten die er die raquopositivistischelaquo und die raquoUnsagbarkeitslesartlaquo (ineffability reading) nennt Als deren gemeinsame Grundvoraussetzung arbeitet er die Annahme her-aus daszlig es etwas wie raquogehaltvollen Unsinnlaquo (substantial nonsense) in der Abhandlung geben muumlsse Er zeigt dann auf daszlig und wie sich beide Auf-fassungen gegenseitig bedingen und inwiefern keine von beiden zu einer stabilen und konsequenten (eben raquoresolutlaquo durchhaltbaren) Position fuumlhrt Tatsaumlchlich setzt sich Conant fast ausschlieszliglich mit der von ihm als Stan-dardinterpretation (S 394) angesehenen Lesart und ihrem Hauptvertreter Peter Hacker auseinander54 Die Kernthematik des Aufsatzes der die Me-

52 Der Gestus erinnert stellenweise an Hegels Vorgehen Conant ist auch an anderer Stelle mit weitreichenden Sortiervorschlaumlgen hervorgetreten so etwa in bezug auf Spiel-arten des Skeptizismus wo er eine Cartesische und eine Kantische Spielart des Skeptizis-mus und damit der Philosophie uumlberhaupt unterscheidet (Varieties of Skepticism in D McManus (Hg) Wittgenstein and Skepticism London 2004)

53 James Conant The Method of the Tractatus in Reck From Frege to Wittgenstein daran orientiert sich das Folgende Mehrere Aufsaumltze Conants ergaumlnzen diesen Beitrag noch ndash Durch haumlufi ge Verweise auf einander einen gemeinsamen Aufsatz sowie an beide gerich-tete Kritik ist aumlhnlich wie in der Kopenhagener Deutung der Quantenphysik der Ein-druck entstanden als handele es sich um ein und dieselbe Auffassung Dieser Eindruck taumluscht jedoch in einigen wichtigen Punkten ebenso wie im Fall der Kopenhagener Deu-tung wie aus dem Folgenden klar werden wird

54 Tatsaumlchlich liegt der systematische Schwerpunkt der Kontroverse zwischen ConantDiamond und Hacker auf der Interpretation der Philosophie des spaumlten Wittgenstein die von beiden Parteien als der eindeutig uumlberlegene und bis heute unuumlberbotene philoso-phische Ansatz angesehen wird Diese grundsaumltzliche Debatte um die Deutung von Witt-gensteins Spaumltphilosophie hat erst in Ansaumltzen besonders in einigen Aufsaumltzen von Dia-

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thode der Abhandlung zu klaumlren beansprucht kreist um die Leitbegriffe raquoErlaumluterunglaquo und raquoUnsinnlaquo (S 378) Wie Diamond fi ndet Conant dies bei Frege vorgebildet wobei er dessen Verfahren so zusammenfaszligt daszlig nach Frege raquodie Erlaumluterung logisch einfacher Ausdruumlcke wie Begriff und Gegenstand unvermeidlicherweise mit (dem geschickten Einsatz von) Unsinn arbeiten muszliglaquo (S 387) In der Deutung dieses Verfahrens durch Frege sieht Conant jedoch eine Spannung denn Frege glaubt raquodaszlig er in solchen Faumlllen etwas sagen will was im strengen Sinn nicht gesagt werden kann und druumlckt sich dann so aus daszlig seine Woumlrter einen Gedanken auszudruumlk ken versuchen damit aber notwendigerweise scheiternlaquo (S 391) Damit vertritt Frege aumlhnlich wie Geach und Hacker selbst eine substan-tielle Auffassung von Unsinn55 Nach Conant liegt die Hauptabsicht von Wittensteins Abhandlung nun genau darin eine solche substantielle Auffas-sung von Unsinn nicht zu vertreten sondern zu uumlberwinden Die Unter-scheidung zwischen sinnvollen und nicht sinnvollen Saumltzen liegt nach Conants Deutung nun praumlziser gefaszligt darin raquoEinen Satz als sinnvoll wahr-nehmen bedeutet daszlig man im Satzzeichen das Satzsymbol wahrnimmt Einen Satz als Unsinn wahrzunehmen bedeutet daszlig man im Zeichen kein Symbol erkennen kannlaquo (S 404) Ein Satz ist also dann raquobloszliger Unsinnlaquo wenn eine Zeichenreihe raquokeine erkennbare logische Syntax hatlaquo (S 400) Damit gibt es aber streng genommen keine raquounsinnigen Saumltzelaquo sondern nur Zeichenreihen die auf den ersten Blick wie Saumltze aussehen bei denen aber der Versuch in ihnen eine logische Form aufzufi nden scheitert Die Rede von raquoUnsinnlaquo bezieht sich also nicht auf die Saumltze oder Zeichenrei-hen selbst sondern allein auf unser Scheitern Zentral wird dadurch der Begriff des raquoSymbolslaquo Ein Symbol ist ein Zeichen zusammen mit einer logisch durchsichtigen Verwendungsweise (S 414) Die bekannte Sprach-kritik der Abhandlung (40031) erweist sich so nicht als Versuch die sinn-vollen von den unsinnigen Zeichen(reihen) durch ein Sinnkriterium zu trennen sondern raquodie Quelle des scheinbaren Unsinns liegt in unserer Beziehung zum sprachlichen Zeichen nicht im sprachlichen Zeichen selbstlaquo (S 419) Die Philosophie ist entsprechend Wittgensteins Diktum

mond begonnen Als zentralen Gegensatz zwischen der eigenen Position und derjenigen Hackers formuliert Conant daszlig nach Hacker der fruumlhe Wittgenstein an unausdruumlckbare Wahrheiten glaubte waumlhrend der spaumlte dies als Irrtum durchschaute waumlhrend Wittgen-stein tatsaumlchlich schon in der Abhandlung die darin vorausgesetzte substantielle Auffassung von Unsinn ablehnte Weiter glaubt er in Hackers Deutung des spaumlten Wittgenstein raquoeine verkleidete Fassung der Auffassung die er dem fruumlhen Wittgenstein zuschreibtlaquo zu erken-nen was der wahren Radikalitaumlt dieses Denkens nicht gerecht werde (Conant Two Con-ceptions of Die Uumlberwindung der Metaphysik in Wittgenstein in America (Anm 17) S 13ndash62 hier S 38 Anm 42)

55 In diesem Punkt ist Conant exegetisch weitaus vorsichtiger als Diamond die weniger Scheu hat Frege eine systematisch uumlberzeugende Konzeption zuzuschreiben

111Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

raquokeine Lehre sondern eine Taumltigkeitlaquo Diese Taumltigkeit besteht nach Con-ant darin daszlig eine Illusion von Sinn aufgebaut und am Ende zerstoumlrt wird Das Ziel des Buches ist daher raquonicht eine Einsicht in metaphysische Zuumlge der Wirklichkeit sondern in die Quellen der Metaphysiklaquo (S 421) Nach Conant gibt es im Text nur raquo(scheinbar) eine Lehre uumlber raquodie Gren-zen des Denkenslaquolaquo (S 424) tatsaumlchlich aber sind raquodie Erlaumluterungen des Autors nur dann erfolgreich wenn wir den Haupttext als Unsinn erken-nenlaquo (S 424) Conants Darstellung verleiht der resoluten Lesart dadurch daszlig er aufzeigt wie die grundlegenden Spannungen in den fruumlheren Deu-tungsansaumltzen aufgeloumlst werden koumlnnen den Anschein einer teleologischen Zwangslaumlufi gkeit Nicht zufaumlllig spielt daher die fortgesetzte Auseinan-dersetzung mit der raquoUnsagbarkeitslesartlaquo eine zentrale Rolle in seinen Ausfuumlhrungen Ein nicht zu unterschaumltzender Teil der Anziehungskraft der resoluten Lesart liegt genau darin daszlig sie den einzigen konsistenten wenn auch zunaumlchst uumlberspitzt aber damit zugleich auch brillant wirken-den Ausweg aus den Bemuumlhungen um ein Verstaumlndnis der Logisch-Philoso-phischen Abhandlung zu bieten scheint56

Conants umfangreicher Beitrag zur Festschrift fuumlr Cora Diamond57 verstaumlrkt die genannten Tendenzen noch Dies zeigt sich bereits an der Form Unter dem Titel raquoA Recently Discovered Manuscriptlaquo wird ein gewisser raquoJohannes Climacuslaquo58 als Herausgeber eines Aufsatzes von Con-ant eingefuumlhrt der in Gestalt einer fi ktiven theologischen Auseinanderset-zung um die richtige Wittgensteinorthodoxie eigene (ziemlich dogma-tisch-uneinsichtsvolle) Kommentare zu den einzelnen Teilen von Conants Text abgibt Dieser Text selbst greift schon im Titel und uumlber weite Stre-cken ironisch den Ton theologischer Kontroversen auf Thema der Arbeit ist die umstrittene raquometa-wittgensteinschelaquo Frage ob Anhaumlnger der reso-luten Lesart (die noch einmal zusammenfassend vorgestellt wird) uumlber-haupt uumlber den Spielraum verfuumlgen um einen wesentlichen Unterschied zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein herauszuarbeiten (S 32) Diese Frage geht Conant dialektisch an indem er drei verschie-dene Listen praumlsentiert eine erste (S 49) die scheinbare Lehren der Ab-handlung enthaumllt die aber tatsaumlchlich so Conant Auffassungen sind vor

56 Diese Zwangslaumlufi gkeit tritt in Diamonds Arbeiten weitaus weniger hervor Fuumlr sie ist die Abhandlung ein reiches Buch das zahlreiche ausgesprochen weiterfuumlhrende und faszinierende Passagen enthaumllt die philosophisch weiterhelfen nicht ein Werk das sozu-sagen unter einer Drohung lebt und dessen Leser nach einem Ausweg suchen

57 James Conant Mild-Mono-Wittgensteinianism in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 29ndash142

58 Dieses von Kierkegaard entlehnte Pseudonym verwendet Conant seinerseits in einem Zitat aus der Abschlieszligenden unwissenschaftlichen Nachschrift (31) mit der Bemerkung daszlig Ironie und Ernsthaftigkeit einander nicht ausschlieszligen In fruumlheren Texten hatte Conant raquoClimacuslaquo mit raquoLeiterlaquo uumlbersetzt (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 291)

112 Wolfgang Kienzler PhR

denen Wittgenstein seine Leser warnen will eine zweite mit Auffas-sungen die Wittgenstein in der Abhandlung natuumlrlich klar und unkontro-vers erschienen die aber dennoch Ausdruck philosophischer Ansichten sind die er selbst spaumlter als problematisch ansah (S 83)

Damit ist fuumlr eine Differenz zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein ein Spielraum gewonnen der dann durch eine dritte Liste wieder in einen ironischen Schwebezustand gebracht wird indem Conant Saumltze praumlsentiert die man gleichermaszligen dem fruumlhen wie dem spaumlten Wittgenstein zuordnen kann bisweilen indem leichte Variationen des Wortlauts mitgefuumlhrt werden wie raquoDie Logik (Grammatik) muszlig fuumlr sich selber sorgenlaquo (S 106) Conant spricht von raquoAugenblicken atemberau-bender Kontinuitaumltlaquo (S 108) gerade dort wo Wittgenstein die Konzeption der Abhandlung kritisiert (PhU 97ndash133) Als Ergebnis der Untersuchung bleibt so der Eindruck von gleichzeitig auszligerordentlicher Kontinuitaumlt und deutlicher Diskontinuitaumlt in Wittgensteins philosophischer Entwicklung Auch daszlig eine resolute Lesart eher raquoein Programm um das Buch zu lesenlaquo (111 Anm 4) ist als tatsaumlchlich eine durchgehende Lektuumlre ist deutlich ausgesprochen59

Der philosophische Ansatz und Stil Conants ist dem von Diamond in vie-ler Hinsicht entgegengesetzt Waumlhrend Diamond von konkreten Einzelfaumll-len ausgeht und diese im Hin- und Hergehen aufzuklaumlren versucht geht Conant ganz von auszligen mit einem umfassenden Blick in Beziehung zur gesamten Philosophiegeschichte an die Fragen heran Ein bevorzugter Vergleich ist derjenige Wittgensteins mit Kierkegaard insbesondere in der Frage des Verhaumlltnisses des Autors zu seinen Buumlchern60 Man koumlnnte gera-

59 In der gemeinsam verfaszligten Arbeit On Reading The Tractatus Resolutely Reply to Me-redith Williams and Peter Sullivan in M KoumllbelB Weiss Wittgensteinrsquos Lasting Signifi cance London 2004 S 46ndash99 erlaumlutern Diamond und Conant einige Punkte ihres Ansatzes ge-genuumlber Versuchen das Buch als System von Behauptungen zu lesen (Williams) und gegen die Kritik ihre Lesart sei unvollstaumlndig letzteres mit dem Hinweis es handle sich bislang lediglich um ein Forschungsprogramm aber gerade nicht um ein Rezept das eine leichte und zusammenhaumlngende Lektuumlre ermoumlgliche (S 68) Peter Sullivan wird als der produk-tivste Kritiker bezeichnet weil er auf spezifi sche Inkonsistenzen hinweise (vgl die in Anm 64 genannte Arbeit) Sullivans eigene Deutungsvorschlaumlge bleiben jedoch eher tra-ditionellen ontologisch orientierten Ansaumltzen verhaftet (vgl What is the Tractatus About ebenfalls in KoumllbelWeiszlig S 32ndash45) Diese gemeinsame Arbeit verbleibt jedoch insge-samt auf einer sehr allgemeinen und wenig spezifi schen Ebene

60 So etwa Conant Putting Two and Two together Kierkegaard Wittgenstein and the Point of View for Their Work as Authors in T TessinM von der Ruhr (Hg) Philosophy and the Grammar of Religious Belief London 1995 S 248ndash331 Als Zusammenfassung schreibt Co-nant dort daszlig der fruumlhe Wittgenstein aumlhnlich wie Kierkegaard raquoden Leser in die Wahr-heit hineintaumluschen willlaquo zu welchem Zweck er raquoeine ausgefeilte Struktur scheinbarer Behauptungenlaquo verwendet (S 302) Fuumlr ein solches Verstaumlndnis gibt es bei Kierkegaard zahlreiche Hinweise bei Wittgenstein streng genommen keine er will alles raquoklar sagenlaquo

113Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

dezu sagen daszlig sich Conant mehr fuumlr die Frage der Autorschaft als fuumlr das Werk selbst interessiert61 Es geht ihm darum den richtigen Blickwinkel auf das Werk zu gewinnen und den entwickelt er durch weitgespannte Ver-gleiche durch die Analyse der Selbstkommentare und zusaumltzlichen Erlaumlute-rungen Dabei scheint das Ziel vorrangig die Einordnung vorhandener Zu-gangsmoumlglichkeiten zu sein die er dann in eine systematische Ordnung bringt62 Diese Systematik verweist dann gewissermaszligen teleologisch auf eine einzige offene Moumlglichkeit als den richtigen Zugang zu einem Problem oder einem Text Waumlhrend Diamond also einzelne Miszligverstaumlndnisse auf-klaumlrt zieht Conant die groszligen orientierenden Linien63 Damit aber ergaumln-zen beide Ansaumltze einander wiederum in einem Maszlige daszlig sie von auszligen in aller Regel als eine Einheit angesehen werden Erst durch Conants Ord-nungsvorschlaumlge hat Diamonds Ansatz diejenige Uumlbersichtlichkeit und Handhabbarkeit gewonnen die eine breitere Wirksamkeit ermoumlglichen

Einmal schreibt er kritisch raquoDer Verkehr mit Autoren wie Hamann Kierkegaard macht ihre Herausgeber anmaszligend Diese Versuchung wuumlrde der Herausgeber des Cherubi-nischen Wandersmannes nie fuumlhlen noch auch der Confessionen des Augustin oder einer Schrift Luthers Es ist wohl das daszlig die Ironie eines Autors den Leser anmaszligend zu ma-chen geneigt istlaquo (Denkbewegungen [1931] FrankfurtM S 41)

61 In einem fruumlheren Aufsatz The Search for Logically Alien Thought Descartes Kant Frege and the Tractatus in Philosophical Topics 20 (1991) S 115ndash180 vergleicht Conant Witt-gensteins Vorgehen mit einem langen Witz bzw einer Parabel die ein absurdes Gespraumlch wiedergibt in dem ein Pole von einem Juden wissen will worin raquodas Geheimnis der Ju-denlaquo besteht und das nach allerhand Umwegen mit der Einsicht endet daszlig da raquokein Ge-heimnis istlaquo ndash aber so erfahren wir eben das raquoist das Geheimnislaquo (S 160)

62 Conants umfassende Perspektive geht mit einigen Zurechtstellungen bei der Inter-pretation einher die das Material entsprechend dem umfassenden Entwurf leicht umfor-men In seinem langen Aufsatz spricht er Wittgenstein eine besondere Konzeption von Klarheit zu die darin liegen soll daszlig man am Ende das Buch als unsinnig erkennt (374) er uumlbergeht dabei aber daszlig Wittgenstein gegenuumlber Russell unmittelbar auf den voumlllig neu-artigen Inhalt der logischen Konzeption verweist und dabei sogar das Wort raquoTheorielaquo ver-wendet als Ziel formuliert Wittgenstein auch nicht daszlig man bestimmte Konzeptionen als nur scheinbar konsistent erkennen soll (377) sondern daszlig man die Logik der Sprache ein-sehen lernt ohne ein Verstaumlndnis von 654 ist nach Conant kein Verstaumlndnis des Buches moumlglich (378) dies gilt aber angesichts der konzentrierten Form fuumlr jeden Satz des Buches wobei die Schluszligbemerkung eher selbstrefl exiv auf das Buch und die Darstellungsform Bezug nimmt als auf die bis dahin entwickelte Einsicht der gegenuumlber der bloszligen Selbstre-fl exion die Prioritaumlt einzuraumlumen waumlre die Woumlrter raquoUnsinnlaquo und raquoErlaumluternlaquo (378) sind entschieden nicht die Kernbegriffe des Buches zum einen kommen eher die Formen raquoun-sinniglaquo oder raquoes ist ein Unsinnlaquo vor nicht das Substantiv zum anderen sind viel eher raquoKlar-heitlaquo und raquoklarlaquo die zentralen Ausdruumlcke Carnap wird als derjenige hingestellt der nichts verstanden habe aber Wittgenstein hat gerade Carnap 1932 des Plagiats bezichtigt und Conant verkehrt Wittgensteins Aumluszligerung er koumlnne sich raquonicht denkenlaquo daszlig Carnap den Sinn des Buches raquoso ganz und gar miszligverstandenlaquo haben koumlnnte ins gerade Gegenteil und zitiert sie mehrfach (378 Anm 9 Anm 99 als Motto in Two Conceptions wie Anm 54)

63 Relativ haumlufi g verwendet Conant auch ganz traditionelle Ordnungsinstrumente wie raquoArtlaquo und raquoGattunglaquo (vgl Conant Method (Anm 53) S 435 Anm 43 436 Anm 48)

114 Wolfgang Kienzler PhR

Ein Punkt hat Kritiker besonders irritiert naumlmlich Diamonds und Co-nants Bestehen darauf daszlig der Text streng und konsequent stuumlckweise (piecemeal) gelesen werden soll Dies scheint mit der radikalen Grundten-denz nicht recht vereinbar oder die Radikalitaumlt doch stark abzuschwaumlchen ndash es koumlnnte aber dazu fuumlhren daszlig man das Gewicht der bisweilen daran angeknuumlpften allgemeineren Betrachtungen als wesentlich geringer anse-hen koumlnnte als es derzeit in aller Regel geschieht Tatsaumlchlich ist der stuumlckweise Zugang sehr charakteristisch fuumlr Diamonds Methode und die allgemein gehaltenen radikalen Thesen wirken in ihren Texten eher wie Fremdkoumlrper Die raquoTheselaquo von der notwendig stuumlckweisen Interpretation reduziert sich daher im Kern auf die wichtige aber unspektakulaumlre me-thodische Beobachtung daszlig es ohne Zweifel richtig ist daszlig man die Ab-handlung sorgfaumlltig langsam und schrittweise entschluumlsseln muszlig gerade damit man die einheitliche und uumlbergreifende Konzeption (und daran ist nichts stuumlckweise und zusammengebastelt) genau richtig auffassen kann

6 Tatsaumlchlich sind die Vertreter der resoluten Lesart insgesamt weit erfolgreicher in der Kritik konkurrierender Ansaumltze als in der Interpreta-tion des Textes selbst Ein groszliger Teil der Debatte wird in der Gestalt von Auseinandersetzungen um das richtige Verstaumlndnis bzw den Maszligstab fuumlr eine angemessene Interpretation gefuumlhrt Dies ist in gewissem Sinne fol-gerichtig denn ein Textverstaumlndnis im gewoumlhnlichen Sinn des Wortes kann es von einem im strengen Sinn unsinnigen Text ja kaum geben Die Debatte behandelt deshalb vorrangig Fragen wie die welches denn der raquoZweck des Unsinnslaquo sei64 Dazu hat Michael Kremer Vorschlaumlge entwi-ckelt die die ethische Dimension des Buches herausarbeiten65 Er zieht Vergleiche zu Wittgensteins Beschaumlftigung mit ethischen und religioumlsen Fragen etwa dem Neuen Testament und dem Gedanken daszlig wir einse-hen muumlssen daszlig wir die raquoSuche nach einer Rechtfertigung unseres Lebens aufgeben muumlssenlaquo (S 56) weil der Versuch einer solchen Selbstrechtferti-gung ein Akt des Hochmutes waumlre Als Ergebnis glaubt er festhalten zu muumlssen daszlig das Buch ein raquoknow-howlaquo kein raquoWissen-daszliglaquo vermittelt raquoDieses Buch und seinen Autor zu verstehen bedeutet zu lernen wie man lebtlaquo66 (S 62) In aumlhnlicher Weise deutet Kremer die Frage nach der

64 Michael Kremer The Purpose of Tractarian Nonsense in Nous 35 2001 S 39ndash73 Darauf reagiert Sullivan mit detaillierter Einzelkritik On Trying to be Resolute A Response to Kremer on the Tractatus in European Journal of Philosophy 10 (2002) S 43ndash78 (vor allem S 66ndash68 mit Hinweisen auf die spaumlrlichen Textbelege)

65 Fragen der Ethik spielen uumlberhaupt in den Arbeiten von Diamond Conant und an-deren resoluten Lesern eine groszlige Rolle was aber hier nicht im einzelnen verfolgt werden kann

66 Schon Diamond Ethics (Anm 37) S 169 spricht als Ziel an daszlig wir raquokeine falschen Anforderungen an die Welt stellenlaquo sollen

115Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

raquoWahrheit des Solipsismuslaquo dahingehend daszlig es darum geht den eigenen Stolz zu uumlberwinden67 Selbst die Frage nach dem raquoHauptproblem der Phi-losophielaquo naumlmlich der Unterscheidung von Sagen und Zeigen versucht Kremer so zu beantworten daszlig Wittgenstein vor allem vor der unberech-tigten und zu vorschnellen Anwendung dieser Unterscheidung warnt (und er will zeigen daszlig insofern diese Unterscheidung als Hauptproblem ange-sprochen wird Wittgenstein dieses Problem raquoloumlsenlaquo will)68 All diese Vor-schlaumlge lenken jedoch systematisch von einer tatsaumlchlichen Lektuumlre von Wittgensteins Buch eher ab

Innerhalb der resoluten Stroumlmung ist Juliet Floyd als radikale raquoJakobine-rinlaquo bezeichnet worden weil sie schon fuumlr den fruumlhen Wittgenstein gene-rell die Existenz einer einheitlichen Auffassung von Logik Bedeutung Sagen und Zeigen aber auch eines eindeutigen Ideals der Klarheit leug-net69 Sie nennt Wittgensteins Vorgehen dialektisch bzw refl ektierend (S 188) so daszlig Wittgenstein nicht auf eine einzelne Stoszligrichtung hin festzulegen ist Dadurch wird zum einen erneut die Moumlglichkeit in Frage gestellt den Text uumlberhaupt einigermaszligen einheitlich zu interpretieren zum anderen eroumlffnen sich Moumlglichkeiten relativ frei auch wieder kon-struktivere (S 187) Zuumlge festzustellen Wenn Floyd als Grundgegensatz der Deutungen die Frage betont ob man Wittgenstein so versteht als wolle er raquodie Endlichkeit oder expressive Begrenztheit der Sprache beto-nenlaquo oder ob er die raquooffene Entwicklung und Vielfalt menschlicher Aus-drucksmoumlglichkeitenlaquo (S 177) herausarbeiten will dann steht auch dies nur in einem eher lockeren Bezug zum Text Genau an dieser Stelle setzen die wichtigsten Kritiker an

7 Als prominentester und heftigster Kritiker ist Peter Hacker hervor-getreten70 Hacker kritisiert und polemisiert aus einer Position der exten-

67 Michael Kremer To What Extent is Solipsism a Truth in Stocker Post-Analytic Tractatus S 59ndash84 Das ist eine sehr ungewoumlhnliche Lesart dieser sonst erkenntnistheore-tisch aufgefaszligten Passage

68 Michael Kremer The Cardinal Problem of Philosophy in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 143ndash176 Kremers Deutung beruht vor allem darauf daszlig Wittgenstein in seinem Brief an Russell (15 8 1919) diese Unterscheidung einmal als raquoHauptpunktlaquo und dann auch als raquoHauptproblemlaquo anspricht Kremer deutet dies so daszlig die Unterscheidung als zu loumlsendes raquoProblemlaquo aufgefaszligt wird

69 Juliet Floyd Wittgenstein and the Inexpressible in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 177ndash234 hier S 185 und 196

70 Hackers Schriften dienen zugleich umgekehrt Diamond und Conant als Illustrati-onen fuumlr die raquoStandardlesartlaquo und dafuumlr wie man Wittgenstein nicht interpretieren sollte so schon 1985 in Diamond Throwing Away the Ladder (Anm 30) S 194 als Beispiel fuumlr raquochickening outlaquo Hacker ist auch als einziger Kritiker im Sammelband New Wittgenstein vertreten Was he Trying to Whistle It in New Wittgenstein S 353ndash388 Sein Sammelband Connections and Controversies Oxford 2001 enthaumllt neben dem Nachdruck auf S 98ndash140 noch eine Fortsetzung When the Whistling Had to Stop S 141ndash169

116 Wolfgang Kienzler PhR

siven Kommentieung des spaumlten Wittgenstein und zugleich des philo-sophischen Common Sense heraus Er sieht in der Abhandlung raquoeine ver-bluumlffende Lehre auf verbluumlffende Weise dargebotenlaquo (S 353) ndash diese Charakterisierung entnimmt er jedoch nicht erst seinen neuen Gegnern sondern einer eher traditionellen realistisch-metaphysischen Deutung von David Pears Hacker versteht das Buch als einen gescheiterten Versuch wesentliche Wahrheiten die nicht gesagt werden koumlnnen dennoch zu zeigen Dies sieht er als gesichertes Faktum an dessen Vorhandensein er mit Energie gegen Versuche es zu leugnen untermauert Dazu zaumlhlt er zehn Beispiele solcher Versuche auf von logischen Beziehungen zwischen Saumltzen bis zur Harmonie zwischen Gedanke Sprache und Wirklichkeit (S 353ndash355) und stellt sich ganz auf die Seite schon der fruumlhen Kritiker besonders des Wiener Kreises die den Schluszlig des Buches raquoganz unglaub-wuumlrdig fandenlaquo (S 355)71 Er nennt den Ansatz von Diamond und Conant raquopostmodernlaquo offenbar darauf berechnet zu provozieren jedoch frei von ernsthaften Absichten nicht aber das Buch richtig einschaumltzen zu wollen (S 356)72

Hacker sieht das Buch als offensichtlich inkonsistent an und beruft sich dabei auf Wittgensteins spaumltere Meinung zur Bestaumltigung dieses Faktums (S 370) Von daher fallen alle Versuche das Buch insgesamt nachzuvoll-ziehen zwangslaumlufi g ebenfalls der Inkonsistenz anheim Als Maszligstab der Inkonsistenz dient ihm dabei die Unvereinbarkeit und Widerspruumlchlich-keit der im Buch vorgetragenen (raquogesagtenlaquo oder raquogezeigtenlaquo) Lehren Da-mit aber stellt sich Hacker explizit auf einen Standpunkt den Wittgenstein fuumlr sein eigenes Werk ablehnt das ja explizit raquokein Lehrbuchlaquo (Vorwort) sein will Hacker reduziert das Buch auf einen Lehrinhalt den er unzurei-chend fi ndet ndash der Gegensatz zu Diamond und Conant liegt bereits hier denn beide Seiten differieren vor allem darin was das Buch eigentlich

71 In dieser Hinsicht stimmt seine Einschaumltzung mit derjenigen Conants uumlberein der seinerseits Hacker in die Naumlhe Carnaps plaziert (Two Conceptions of Die Uumlberwindung S 14 ff) Ohne Hacker sofort zu nennen schreibt Conant Carnap (wie spaumlter Hacker) eine substantielle Auffassung von Unsinn zu

72 Hacker lehnt sowohl die Abhandlung als auch Freges philosophische Grundkonzepti-on ab und setzt sie als verfehlten Versuch in scharfen Kontrast zum Denken des spaumlten Wittgenstein Diese Haltung wird in seinem Kommentar zu den Philosophischen Untersu-chungen deutlich besonders eklatant jedoch in dem (gemeinsam mit Gordon Baker ver-faszligten) gegen Dummetts Fregedeutung geschriebenen Frege Logical Excavations (Oxford 1984) Das Auftreten der resoluten Lesart gibt Hacker daher nicht den Grund zu seiner Ablehnung des fruumlhen Wittgenstein sondern vor allem den Anlaszlig seine Gruumlnde zu buumln-deln und erneut vorzubringen (Der verstorbene Gordon Baker der zunaumlchst gemeinsam mit Hacker mehrere Baumlnde zum spaumlten Wittgenstein verfaszligte dann aber seinen Ansatz weiterentwickelte und dabei in einigen Punkten der resoluten Lesart nahekam sei hier noch erwaumlhnt vgl Baker Wittgensteinrsquos Method Neglected Aspects Oxford 2004)

117Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

leisten will Hacker sieht einen eklatanten Gegensatz zwischen Wittgen-steins Erklaumlrung nichts lehren zu wollen und seinem tatsaumlchlichen Vor-gehen seine Gegner versuchen gerade diese Aumluszligerungen Wittgensteins zu verstehen und ihnen entsprechend den Text so zu lesen daszlig er keine raquoLehrenlaquo enthaumllt sondern auf andere Art und Weise arbeitet

Hacker versucht entsprechend auch nicht Diamond und Conant ge-recht zu werden sondern listet vor allem eine Reihe von Kritikpunkten auf Zum einen weist er auf eine gewisse hermeneutische Willkuumlr hin mit der nur relativ wenige insgesamt unzusammenhaumlngende Partien herange-zogen werden wobei einige Passagen doch wieder als ganz gewoumlhnlich und sinnvoll gelesen werden ohne daszlig eine klare Abgrenzung nach Kri-terien gegeben wuumlrde Die haumlufi g verwendete Rede vom raquoRahmenlaquo des Buches im Unterschied zum raquoHauptteillaquo bleibt ihm zufolge unklar abge-grenzt da zum Rahmen auch Bemerkungen wie 4112 aus der Mitte des Textes gezaumlhlt werden73 Im Zusammenhang damit weist er darauf hin daszlig zwischen den Arten von Unsinn doch ein Unterschied gemacht wer-de wenigstens nach der Wirkung auf den Leser74 Und schlieszliglich ver-sucht er nachzuweisen daszlig Wittgenstein selbst weder in seiner fruumlheren noch in seiner spaumlteren Zeit eine solche radikale Lesart seiner eigenen Ar-beit vorgetragen oder unterstuumltzt habe

Eine spezielle Streitfrage liegt darin ob es nach Wittgenstein raquoUumlbertre-tungen der logischen Syntaxlaquo geben koumlnne Diamond und Conant be-haupten nein Hacker versucht an Beispielen aufzuzeigen daszlig Wittgen-stein dies wiederholt anspricht (S 365ndash367)75 Der grundlegende Dissens betrifft hier die Frage ob Wittgenstein sich vorrangig um den Begriff und die Festlegung einer logischen Syntax als Einfuumlhrung sinnvoller Rede be-muumlht denn wenn es um die Festlegung und ggf die Erweiterung und Ver-aumlnderung von Sinn geht dann gibt es nichts was uumlbertreten oder verfehlt werden koumlnnte ndash oder aber ob Wittgenstein wie Hacker ihn liest jemand ist der vor allem schon bestehende syntaktische Systeme betrachtet und dabei die Moumlglichkeiten behandelt sich gegenuumlber den Vorschriften be-

73 Conants Auskunft daszlig nicht der Ort im Text sondern die Funktion der Bemerkung daruumlber entscheide ob es zu Rahmen oder Hauptteil gehoumlre vermag als Gegenargument nicht wirklich zu uumlberzeugen

74 Dies leugnen Conant und Diamond keineswegs nur kommt es ihnen gerade auf den Unterschied zwischen logischen und anderen Einteilungsgruumlnden an

75 Dieser Punkt ist auch deswegen zentral weil fuumlr Hacker Unsinn genau dadurch ent-steht daszlig man die logische Syntax verletzt (Was he Trying S 367) waumlhrend fuumlr Conant und Diamond Unsinn dann vorliegt wenn wir mit einer Zeichenreihe schlicht nichts anfangen koumlnnen also kein Symbol darin erkennen Dieser Frage widmet Hacker den Aufsatz Wittgenstein Carnap and the New American Wittgensteinians in Philosophical Quar-terly 53 (2003) S 1ndash23 und Diamond die Entgegnung Logical Syntax in Wittgensteinrsquos Tractatus in Philosophical Quartely 55 (2005) S 78ndash88

118 Wolfgang Kienzler PhR

stimmter Systeme abweichend zu verhalten und ihre Regeln zu verletzen Die Frage ist ob Wittgenstein die Syntax mit einem bestehenden Spiel analog setzt oder nicht76 Fuumlr beide Aspekte gibt es Belege im Text77

Eine gewisse Uumlbereinstimmung zwischen Hacker und seinen Gegnern liegt ironischerweise darin daszlig keine der beiden Seiten eine durchge-hende Interpretation der Abhandlung anstrebt Hacker haumllt dies aufgrund der Inkonsistenz fuumlr uninteressant (wenn auch theoretisch moumlglich) Dia-mond ist vorrangig an Einzelfragen und am methodischen Standard des spaumlten Wittgenstein interessiert (wozu sie in der Abhandlung letztlich doch nur eine Vorstufe fi ndet) und Conant ist hauptsaumlchlich damit beschaumlftigt vorgaumlngige Kriterien fuumlr eine uumlberzeugende Lektuumlre zu entwickeln78

Als zentrale unbeantwortete Frage bleibt daruumlber hinaus das Problem bestehen wie man Wittgensteins Sprache und die Art seiner Behaup-tungen im Text konsequent aufzufassen hat denn hier weist Hacker auf deutliche Inkonsistenzen der resoluten Leser hin Zum einen wird von raquobloszligem Unsinnlaquo gesprochen dann wieder werden Passagen so gelesen wie gewoumlhnliche behauptende Prosa zum einen ist von Ironie die Rede dann wieder scheint alles ganz woumlrtlich aufzufassen zu sein79

8 Marie McGinn hat den bisher ehrgeizigsten Versuch unternommen die Staumlrken beider konkurrierender Ansaumltze zu verbinden und die jewei-

76 Vgl Diamond (wie die vorige Anm) S 86 Hacker vertritt hier einen eher kantischen Ansatz der die Grenzen der Vernunft bereits abgesteckt vorfi ndet (ein fuumlr Hacker wichtiges Buch ist P Strawsons Kantdeutung in The Bounds of Sense) Diamond und Conant sehen Wittgenstein als radikaleren Denker nach dem diese Grenzen immer wieder neu bestimmt werden muumlssen bzw nach dem es genau genommen keine Grenzen gibt da das Entschei-dende die Moumlglichkeit neuer Begriffsbildungen ist ohne daszlig man sich an irgendeiner Vorgabe (oder Grenze) orientieren kann die man entweder trifft oder verfehlt

77 Zum einen schreibt Wittgenstein raquoWir koumlnnen einem Zeichen nicht den unrechten Sinn gebenlaquo (54733) also bei der Bedeutungsfestsetzung nichts verfehlen zum anderen erklaumlrt er schlicht Saumltze wie raquo1 ist eine Zahllaquo (41272) die sich auf unsere bestehende Spra-che beziehen fuumlr unsinnig weil darin das Wort raquoZahllaquo als gewoumlhnliches Begriffswort statt als raquoformaler Begrifflaquo und also falsch verwendet wird Daszlig 1 eine Zahl ist ist schon da-durch klar daszlig wir das Zahlzeichen 1 verwenden und gerade deshalb koumlnnen wir dies nicht noch zusaumltzlich behaupten Es ist allerdings richtig daszlig Wittgenstein im letzteren Fall strenggenommen nicht von der raquoVerletzung der logischen Syntaxlaquo spricht sondern das Gebilde einfach raquounsinniglaquo nennt da fuumlr solche Faumllle gar keine logische Syntax im exakten Sinn verfuumlgbar ist Die gesamte Abhandlung ist in dieser Hinsicht nirgends der Versuch eine vorliegende Syntax zu treffen aber auch nicht eine neue Syntax festzulegen sondern sie befaszligt sich vielmehr mit den Bedingungen der Moumlglichkeit von Syntax uumlberhaupt Insofern verfehlen sowohl Hacker auch Diamond und Conant diesen Kernpunkt des Buches

78 So etwa im Abschnitt What makes a Reading resolute in Mono-Wittgensteinianism S 42ndash47

79 Vgl dazu W Kienzler Die Sprache des Tractatus Klar oder deutlich Karl Kraus Witt-genstein und die Frage der Terminologie in F GoumlppelsriederJ Volbers (Ed) Philosophie als Lebensform Muumlnchen 2008 (im Erscheinen)

119Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

ligen Schwaumlchen zu vermeiden80 Sie will Wittgenstein keine metaphy-sischen Lehren zuschreiben81 aber doch sicherstellen daszlig wir aus dem Buch etwas Konstruktives lernen koumlnnen Dazu nimmt sie den Begriff der Klaumlrung als Orientierungspunkt Die Aufgabe des Buches ist es demnach die Logik der Sprache aufzuklaumlren Wenn dies aber ohne die Verwendung positiver Lehren geschehen soll muszlig es indirekt geschehen naumlmlich da-durch daszlig die Sprache sich indirekt selbst klaumlrt das heiszligt daszlig eine solche Klaumlrung nicht auf etwas auszligerhalb der Sprache Bezug nimmt denn das waumlre Kennzeichen einer metaphysischen Auffassung McGinn schreibt et-was kryptisch raquoEs ist ein Werk in dem die Natur des Satzes die schon klar ist obwohl wir sie noch nicht klar sehen sich selbst fuumlr uns klaumlrtlaquo82

Sie betont jedoch sehr zu Recht daszlig Wittgenstein in seiner Abhandlung die eine groszlige Frage loumlsen wollte raquoDas Wesen des Satzes angeben heiszligt das Wesen aller Beschreibung angeben also das Wesen der Weltlaquo (54711)83

Damit aber waumlren alle (oder raquodielaquo) philosophischen Probleme geloumlst Ohne eine solche Voraussetzung die Wittgenstein offenbar als grundle-gende Einsicht erschien ist seine Handlungsweise gar nicht nachvollzieh-bar naumlmlich ein uumlberaus kurzes Buch zu verfassen in dem alle philoso-phischen Fragen im Prinzip jedenfalls beantwortet sind Dies ist nur moumlglich wenn diese Fragen so eng zusammenhaumlngen daszlig die Loumlsung der einen zugleich die Loumlsung der anderen bedeutet Dieser Grundgedanke strukturiert McGinns Buch und gibt ihm eine klare Linie84 Sie untersucht die besonders von Conant behandelten Fragen nach den Bedingungen einer angemessenen Lektuumlre fast gar nicht und antwortet insofern nicht durch Gegenargumente sondern durch die Tat durch einen Gang durch das Buch Es uumlberrascht dabei daszlig sie den Anfang zunaumlchst weglaumlszligt und nach Einleitungskapiteln zur Abgrenzung gegen Frege und Russell gleich mit dem Begriff des Bildes und dann des Satzes beginnt Tatsaumlchlich zeigt McGinn uumlberzeugend auf daszlig die Eingangspassagen am besten als Hin-fuumlhrungen zur raquoTheorie des Satzeslaquo aufgefaszligt werden und nicht als eigen-staumlndiges Theoriestuumlck einer vorangestellten Ontologie (sei diese nur scheinbar als Illusion aufgebaut oder ernst gemeint vgl etwa Diamond

80 Marie McGinn Elucidating the Tractatus81 Marie McGinn Between Metaphysics and Nonsense Elucidation in Wittgensteinrsquos Tracta-

tus In Philosophical Quarterly 49 (1999) S 491ndash513 hier S 107)82 Damit bleibt McGinn nahe an Aumluszligerungen von Diamond und Conant (etwa Method

S 424)83 Zit in McGinn Elucidating S 24084 Das erste Kapitel The Single Great Problem behandelt diese Frage zeigt aber bereits

daszlig sich McGinn nicht vollstaumlndig auf den Text einlaumlszligt sondern ihn von Anfang an stark aus der Perspektive der Philosophischen Untersuchungen her deutet (die im letzen Kapitel er-neut den Maszligstab der Betrachtung bilden)

120 Wolfgang Kienzler PhR

Ethics S 160) Vor dem Hintergrund der Auffassung des sinnvollen Satzes wird der Anfang dann relativ leicht verstaumlndlich In der Darstellung von McGinn wird die Abhandlung wieder zu einer Abhandlung einer nuumlch-ternen Darlegung uumlber die Voraussetzungen sinnvollen Sprechens und Ausdruumlckens uumlber die Unterschiede der Satzarten und die allgemeine Form des Satzes Allerdings ruumlcken so die Einzelheiten der Sprachlogik ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit und die Fragen nach der Natur der Philosophie aber auch die nach der Einheit des Buches treten ganz in den Hintergrund Das Buch enthaumllt kein Kapitel zum Philosophiebegriff des fruumlhen Wittgenstein und kaum Erlaumluterungen zur spezifi schen Form der Darstellung oder zur Strategie der Praumlsentation Einige Themen wie die Ethik Arithmetik oder die Naturgesetze werden ganz uumlbergangen dabei waumlre an diesen Beispielen die angestrebte Einheitlichkeit erst richtig aufzuzeigen gewesen In dieser Hinsicht erklaumlrt McGinn die Abhandlung in der Form die sie 1916 noch hatte bevor Wittgenstein die Schluszligpassa-gen einarbeitete und als sie noch staumlrker eine Abhandlung in raquophiloso-phischer Logiklaquo war85 Gegen Diamond und Conant stellt sie klar heraus daszlig das Ziel der Klaumlrung raquodurch Einsicht in das Funktionieren der Spra-chelaquo erreicht werden soll und nicht indirekt dadurch daszlig raquodie Versuche philosophische Saumltze zu bilden als Unsinn erkannt werdenlaquo (S 254 Anm 6) Die sehr nuumlchterne Art McGinns zeigt einen Wittgenstein der ganz unironisch seine logisch-philosophische Konzeption Schritt fuumlr Schritt entwickelt86

85 Vgl Brian McGuinness Wittgensteinrsquos 1916 Abhandlung in R HallerK Puhl (Hg) Wittgenstein and the Future of Philosophy Wien 2002 S 272ndash282 Die grundlegenden philologischen Arbeiten von McGuinness werden in der gegenwaumlrtigen Debatte leider wenig fruchtbar gemacht

86 Das stark gestiegene Interesse am fruumlhen Wittgenstein hat eine ganze Reihe von Monographien hervorgebracht die jedoch nur selten das gelassene exegetische Niveau McGinns erreichen sondern in der Regel mehr oder weniger exzentrische Deutungen in den Mittelpunkt stellen

M Ostrow Wittgenstein and the Liberating Word CambridgeMass 2002 (eine Zusam-menfassung in Reck From Frege to Wittgenstein) versucht eine an Floyd orientierte raquodialek-tische Interpretationlaquo die sich am Leitmotiv des raquoerloumlsenden Worteslaquo orientiert aber ins-gesamt zu vage bleibt zumal sich die Differenz zum spaumlteren Wittgenstein ganz aufzuloumlsen scheint und wichtige Passagen unberuumlcksichtigt bleiben

E Friedlander Signs of Sense Reading Wittgensteinrsquos Tractatus Cambridge Mass 2001 scheint das Raumltselhafte geradezu zu genieszligen und nennt als sein Ziel raquonicht das Raumltsel des Buches zu loumlsen sondern seinen raumltselhaften Charakter auf eine wahrhaft zum Denken herausfordernde Art aufzuzeigenlaquo (S XV) und will geradezu raquoseinen raumltselhaften Charak-ter rechtfertigenlaquo (16)

U Nordmann Wittgensteinrsquos Tractatus An Introduction Cambridge 2005 faszligt das Buch als ein Gedankenexperiment und eine groszlige Reductio ad Absurdum auf zu der er einige Praumlmissen ergaumlnzt Er deutet das Buch als im Konjunktiv geaumluszligert wodurch der Behaup-

121Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Ausblick

Die Arbeiten von Diamond und Conant haben zu einer neuen Welle des Interesses an Wittgensteins Fruumlhwerk gefuumlhrt und die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten vor allem aber auch das Potential seiner Abhandlung gelenkt Im Zentrum steht dabei die Natur der Philosophie als Erlaumlute-rung die selbst nicht in die Gestalt einer Lehre gebracht werden kann oder anders ausgedruumlckt der entscheidende Unterschied zwischen einer philosophischen und einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Untersu-chung

Gerade dadurch daszlig sie die Abhandlung stellenweise sehr nah an den spaumlten Wittgenstein heranruumlcken eroumlffnen Conant und Diamond Moumlg-lichkeiten die Souveraumlnitaumlt und Subtilitaumlt des Buches erst richtig zu wuumlr-digen Dies geschieht jedoch um den Preis daszlig einige Teile des Buches herausgegriffen andere dagegen kaum beruumlcksichtigt werden

Nicht hinreichend geklaumlrt scheint auch die Frage nach dem sprachlichen Grundton des Buches Diamond geht immer wieder von einem nahe an der Alltagssprache stehenden Redegestus aus (aumlhnlich wie der spaumlte Wittgen-stein) waumlhrend Conant aus der weiteren Perspektive ironische Zuumlge be-schreibt87 Gemeinsam ist den resoluten Lesern daszlig sie Wittgensteins Saumltze in der Abhandlung auf doppelte Weise auffassen Sie unterscheiden an vielen Stellen einen buchstaumlblichen naheliegenden Sinn der sich bei naumlherer Be-trachtung als inkohaumlrent erweist und der so zerfaumlllt88 Daher wird in ihrer

tungscharakter eingeklammert die Klaumlrungsfunktion jedoch trotzdem ermoumlglicht wird Er gewinnt so eine Kategorie von Saumltzen die raquounsinnig aber bedeutungsvolllaquo (176) sind

L Gunnarsson Wittgensteins Leiter Bodenheim 2002 greift einen Gedanken Conants auf daszlig wir naumlmlich den Hauptteil des Buches wegwerfen und den Rahmen behalten sollen (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 286) und entwickelt daraus die Fik-tion es waumlre tatsaumlchlich nur das Vorwort und der Schluszlig der Abhandlung erhalten ndash und will daraus den Gehalt des Buches ohne Verlust rekonstruieren Diese Veranschaulichung zeigt besonders klar auf wie verfehlt dieser Ansatz ist wenn man ihn auf die konkrete Interpretationspraxis bezieht

87 Die Parallele zwischen Wittgenstein und Kierkegaard scheint in zentralen Punkten gerade nicht zu bestehen denn Wittgenstein distanziert sich gerade nicht von seinem Buch sondern erklaumlrt seine Auffassungen fuumlr defi nitiv richtig und alternativlos ganz ent-gegen dem verwirrenden Spiel Kierkegaards mit unterschiedlichen Pseudonymen und Perspektiven Ein passenderer Vergleich waumlre etwa mit Hume moumlglich der am Ende seiner Untersuchung uumlber die Prinzipien der Moral (Abschnitt 9 Teil 1) seine Ergebnisse fuumlr derart einfach klar kohaumlrent und uumlberzeugend haumllt daszlig dem nichts hinzuzufuumlgen ist so daszlig er selbst geradezu in Versuchung kommen koumlnnte dogmatisch davon uumlberzeugt zu sein

88 So fuumlhrt Diamond (in Ethics wie Anm 37) folgende Beispiele dafuumlr an 1 das woruuml-ber man schweigen muszlig (aber das kann es doch nicht geben weil es kein raquodaruumlberlaquo ist S 149) 2 die Saumltze der Abhandlung die zu verstehen seien (oder doch raquoer selbstlaquo wie Witt-genstein dann uumlberraschenderweise sagt S 149) 3 die Anfangssaumltze uumlber die Welt (aber daruumlber kann es doch keine Saumltze geben S 160) 4 der Schein daszlig ab 64 Saumltze uumlber Ethik

122 Wolfgang Kienzler PhR

Perspektive das Buch durchgehend doppelboumldig und loumlst sich schlieszliglich in Nichts auf wobei in der Aufl oumlsung gerade die Absicht des Buches bestehen soll89 Demgegenuumlber kann festgehalten werden daszlig Wittgenstein nir-gends von Ironie spricht wohl aber davon daszlig er das Wesentliche in Kuumlr-ze klar ausdruumlcken will Eine wichtige Differenz innerhalb der resoluten Lesart liegt weiter darin welche Wichtigkeit man den eher technischen Aspekten der Abhandlung zuschreibt Ricketts und Goldfarb sehen viele Zuumlge des Buches von technischen Erwaumlgungen motiviert und gepraumlgt waumlhrend Diamond und Conant den Sinn der symbolischen Notation vor allem darin sehen wesentliche Unterschiede klarzustellen90

Das Motto erklaumlrt daszlig man raquoalles was man weiszliglaquo schlieszliglich raquoin drei Worten sagenlaquo kann Viele der scheinbaren Widerspruumlche und Doppelt-heiten die resolute Leser beobachten koumlnnten sich von daher moumlglicher-weise der Absicht verdanken im Buch logisch praumlzise Saumltze zu erwarten eine Absicht die bestaumlndig getaumluscht wird91 Wuumlrde man die Saumltze eher als Instrumente verstehen die allmaumlhlich entsprechend den Stufen der Lei-ter zur Klarheit anleiten ohne daszlig der Leser in die selbstrefl exive Geste verwickelt werden soll dann koumlnnte eine einfachere und klarere Lesart entstehen die auch mehr Sinn fuumlr den Zusammenhang und die spezi-fi schen Darstellungsmittel des Buches entwickeln wuumlrde ndash wenn denn eine solche zusammenhaumlngende Erlaumluterung als gemeinsames Ziel fest-staumlnde92 Auch Fragen der Textkritik die derzeit nur sehr sporadisch ge-streift werden koumlnnten dann eine groumlszligere Rolle spielen

Wolfgang Kienzler (ChemnitzJena)

vorkommen (die es doch gar nicht geben kann S 164) 5 der Schein daszlig im Buch Saumltze raquouumlber Logiklaquo vorkommen (die es ebenfalls nicht geben kann S 164) In allen Beispielen kann man die Situation natuumlrlicher so darstellen daszlig man die Saumltze der Abhandlung von vornherein zwar woumlrtlich aber nicht buchstaumlblich nimmt sondern sich von ihren zur Klarheit die sich erst allmaumlhlich einstellen kann fuumlhren laumlszligt

89 Diese Doppeltheit der Lesart ist den resoluten Lesern und ihren Kritikern gemein-sam sie ist aber keineswegs selbstverstaumlndlich und widerspricht dem Grundgedanken der Klarheit

90 Dies ist das Thema von Diamond What Does a Concept-Script Do in The Realistic Spirit S 115ndash144 Sie sieht darin ein raquoWerkzeug geistiger Befreiunglaquo (143) deutet damit aber tendenziell wieder einen Gedanken der Abhandlung in Frege hinein der zunaumlchst die Umgangssprache ganz zugunsten der exakteren Begriffsschrift verbannen wollte

91 In weiten Teilen der resoluten Beitraumlge kann man auch eine gewisse Vergegenstaumlnd-lichung mancher von Wittgenstein verwendeter Woumlrter wahrnehmen die dazu fuumlhren daszlig die Rede von raquoUnsinnlaquo raquoErlaumluterunglaquo u a zunaumlchst gegenstaumlndlich miszligverstanden und anschlieszligend als Gegenstaumlndlichkeit leugnend gedeutet wird Eine Beachtung von Wittgensteins ungezwungenem und unterminologischem Sprachgebrauch koumlnnte viele dieser Schleifen uumlberfl uumlssig machen

92 Das Buch von McGinn kann dazu als erster wichtiger konstruktiver Schritt angese-hen werden auch wenn es insgesamt etwas zu additiv verfaumlhrt

Page 3: Neue Lektüren von Wittgensteins Logisch-Philosophischer ... · 10 E. Stenius : Wittgensteins Traktat [1960], Frankfurt/M. 1969, nennt den Schluß »keine echte Verdammung [. . .]

97Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Die meisten Interpreten folgten Carnaps radikaler wissenschaftlicher Umgestaltung von Wittgensteins Ansatz jedoch nicht Der bis heute aus-fuumlhrlichste Kommentar von Black fi ndet den Schluszlig raquozutiefst unbefriedi-gendlaquo7 weigert sich aber einfach alles wegzuwerfen denn raquoim Buch ist vieles das er gezeigt hat man muszlig die Leiter nicht wegwerfenlaquo8 Auch die einfl uszligreiche Einfuumlhrung von Anscombe9 vermeidet weitgehend eine praumlzise Kommentierung der Schluszligpassagen ebenso wie die bekannte Einfuumlhrung von Stenius10 die sich auf die theoriefaumlhigen Teile des Buches konzentriert11

3 Im Folgenden ist uumlber eine Entwicklung zu berichten die den Schluszlig auszligerordentlich ernst nimmt und von hier aus ein Verstaumlndnis des Buches insgesamt zu gewinnen versucht Die Wurzeln dieser aktuellen Diskussion reichen weit zuruumlck Im Uumlberblick sind folgende Hauptschritte zu beruumlck-sichtigen Seit den spaumlten 1960er Jahren entwickelt Cora Diamond aus-gehend von Arbeiten zum spaumlten Wittgenstein Elemente einer ange-messenen Darlegung von Wittgensteins methodischem Ansatz Dabei stoumlszligt sie auf Arbeiten von Anscombe12 besonders aber auf einen Aufsatz

Sprachen jedoch so weit auseinander daszlig sie nicht als zwei Stufen derselben Hierarchie aufgefaszligt werden koumlnnen Die erstmals in G Freges spaumltem nachgelassenem Fragment uumlber Logische Allgemeinheit (Nachgelassene Schriften Hamburg 1983 S 278ndash281 hier S 280) entwickelte Unterscheidung von raquoDarlegungssprachelaquo und raquoHilfssprachelaquo geht houmlchst-wahrscheinlich auf eine Anregung Wittgensteins zuruumlck

7 M Black A Companion to Wittgensteinrsquos Tractatus Ithaca N Y 1964 Zitat S 3778 Ja warum muszlig man sie eigentlich wegwerfen Offenbar weil sie nicht mehr gebraucht

wird und nur hinderlich sein kann Tatsaumlchlich sind mir keine Leser des Buches bekannt die das Buch nach erfolgter Lektuumlre wegwarfen auszliger einigen die aufgegeben haben

9 E Anscombe An Introduction to Wittgensteinrsquos Tractatus 3 Aufl London 1967 (s aber Anm 12)

10 E Stenius Wittgensteins Traktat [1960] FrankfurtM 1969 nennt den Schluszlig raquokeine echte Verdammung [ ] weil das Wittgensteinsche System tatsaumlchlich unausdruumlckbar istlaquo (S 14 f)

11 Am Rande sei die positive Rezeption gerade des Schlusses jedoch unter weitgehen-der Ausklammerung der logischen Teile des Buches durch im weiteren Sinne existenzia-listische Deutungen besonders im deutschen Sprachraum (Ingeborg Bachmann u a) er-waumlhnt ndash eine Richtung die aber fuumlr die Interpretation des Buches insgesamt praktisch folgenlos geblieben ist obwohl die Betonung der Schluszligpassagen und des ethischen Grundanliegens deutliche Parallelen zu neuesten Tendenzen aufweist

12 Folgende paradoxe Formulierung Anscombes veranlaszligte Diamond zu ausfuumlhrlichen Klaumlrungsbemuumlhungen raquoDie Dinge die zwar nicht raquogesagtlaquo wohl aber raquogezeigtlaquo werden koumlnnen spielen im Tractatus eine wichtige Rolle Dh es waumlre richtig sie raquowahrlaquo zu nen-nen wenn sie was unmoumlglich ist gesagt werden koumlnnten tatsaumlchlich koumlnnen sie nicht wahr genannt werden weil sie nicht gesagt werden koumlnnen aber sie raquokoumlnnen gezeigt wer-denlaquo oder zeigen sich in denjenigen Saumltzen die die verschiedenen Dinge sagen die gesagt werden koumlnnenlaquo (Anscombe wie Anm 9 S 162 vgl dazu C Diamond Saying and Sho-wing An Example from Anscombe in Stocker Post-Analytic Tractatus S 151ndash166)

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von Geach13 mit der These daszlig Wittgensteins Buch nur dann nicht selbst-widerspruumlchlich wird wenn man davon ausgeht daszlig darin das Wichtig-ste die raquowichtigsten Zuumlge der Realitaumltlaquo zwar nicht raquogesagtlaquo wohl aber raquogezeigtlaquo werden Diamond greift dieses Problem auf und stellt im Gegen-zug heraus daszlig die Rede davon daszlig es ein raquoetwaslaquo gibt das zwar nicht gesagt wohl aber gezeigt werden kann inkonsequent ist Wittgensteins Rede von raquoUnsinnlaquo ist ihr zufolge ganz ernst zu nehmen und nicht zu umgehen er meint wirklich daszlig seine Saumltze raquoeinfach nur Unsinn sindlaquo Seit 1990 tritt James Conant an die Seite von Diamond und entwickelt die-se Lesart weiter u a durch Vergleiche zu Kierkegaards Schreibweise und durch eine Rekonstruktion der gesamten Deutungsdebatte Seit etwa 1997 spricht man von einer raquoresoluten Lesartlaquo14 Am 23 und 24 April 1998 fi ndet ein Treffen der wichtigsten Kontrahenten beim Boston Colloquium on the History and Philosophy of Science statt bei dem auch eine radikale raquoJako-binischelaquo Fraktion ( J Floyd) auftritt15 Daraus geht zT der Sammelband The New Wittgenstein (2000)16 hervor der als Ausdruck einer ganzen Strouml-mung aufgefaszligt und breit diskutiert wird und dem weitere Sammlungen folgen17 Er enthaumllt auch eine kritische Stellungnahme von Peter Hacker

13 P Geach Saying and Showing in Frege and Wittgenstein in J Hintikka (Hg) Essays on Wittgenstein in Honor of G Hv Wright Acta Philosophica Fennica 28 Amsterdam 1976 S 54ndash70

14 Die Herausgeber des Cambridge Companion zu Wittgenstein (1996) vergleichen Witt-genstein mit Sokrates (S 29 f) wissen aber von besonderen aktuellen Debatten nichts zu berichten Diamond ist darin als eine von mehreren Interpreten vertreten sie behandelt die Frage ob man nicht durch den Vergleich mit den Bemerkungen zur Mathematik zei-gen kann daszlig es vor allem fuumlr den spaumlten Wittgenstein weniger auf das Vokabular als auf den konkreten Gebrauch der Saumltze ankommt etwa wenn man fragt ob es sich in einem konkreten Fall um eine Frage der Ethik handelt ndash und daszlig man durch eine solche Auffas-sung weniger in Versuchung kommt zu glauben man koumlnne ethische Werte quasi wahr-nehmen (im Sinne eines ethischen raquoRealismuslaquo) Vgl C Diamond Wittgenstein mathema-tics and ethics Resisting the attractions of realism S 226ndash260 Im Beitrag von Ricketts faumlllt beilaumlufi g das Wort raquoresolutlaquo Auch das Wittgenstein-Lexikon von Hanjo Glock (Oxford 1996 Darmstadt 2000) das in seinem Ansatz Peter Hacker verpfl ichtet ist nennt in der kommentierten Bibliographie ohne weitere Anmerkungen Diamonds Aufsaumltze raquoschwierig aber interessant besonders zum Thema Unsinnlaquo

15 Vgl dazu V Hofmann Ein Bostoner Streitgespraumlch uumlber Wittgensteins Tractatus Frank-furter Allgemeine Zeitung 10 Juni 1998

16 Die verbreitete Rede vom raquoneuen Wittgensteinlaquo bleibt sehr vage und erscheint wenig hilfreich Ein etwas klareres Konzept ist dagegen mit der raquotherapeutischenlaquo Auffassung verbunden nach der es Wittgenstein lediglich darum geht seine Leser von ihren falschen Gedankengaumlngen zu heilen ohne diese durch irgend etwas substantiell Neues zu ersetzen Diese Variante die den Gesichtspunkt der Wirkung besonders hervorhebt ist sehr stark auf den spaumlten Wittgenstein bezogen Diamond hebt demgegenuumlber zu Recht den logischen Charakter von Wittgensteins Analysen hervor

17 Saumlmtliche Baumlnde enthalten auch viel fuumlr die Diskussion kaum einschlaumlgiges Material Zu nennen ist Timothy McCarthySean C Stidd (Hg) Wittgenstein in America Oxford

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dem prominentesten Kritiker des Neuansatzes Das Wittgenstein-Sympo-sium Kirchberg 2001 zum 50 Todestag Wittgensteins wird von der De-batte um die neue Lesart beherrscht 2002 erscheint die bisher ausfuumlhr-lichste Darstellung von Conant Beitraumlge von Warren Goldfarb18 Thomas Ricketts19 Juliet Floyd Michael Kremer und anderen erweitern das Lager der raquoresolutenlaquo Leser20 2006 erscheint eine Monographie von Marie Mc-Ginn die eine Synthese der aumllteren und der neueren Lesart versucht Die Festschrift fuumlr Cora Diamond (2007) enthaumllt bereits Ruumlckblicke auf die bisherigen Entwicklungen sowie die Perspektive das Diskussionsfeld end-guumlltig auf den spaumlten Wittgenstein auszuweiten21

3 Ausgangspunkt der Entwicklung war Cora Diamonds Versuch aus studentischen Aufzeichnungen Wittgensteins Vorlesungen uumlber die Grund-

2001 (tatsaumlchlich sind die meisten Vertreter der resoluten Lesart Amerikaner [raquoMost Brits donrsquot buy itlaquo]) Reck From Frege to Wittgenstein (2002) mit Conants langem Aufsatz sowie Stocker Post-Analytic Tractatus (2004) Dieser letzte Band ist insofern symptomatisch als er sehr heterogenes Material unterschiedlicher Qualitaumlt bietet Neben Aufsaumltzen von Co-nant Diamond und Kremer sowie einigen allgemeineren Beitraumlgen enthaumllt der Band L E Brouwers fruumlhe Schrift Life Art and Mysticism (niederlaumlndisch 1905) mit dem Hinweis daszlig sie raquodasjenige explizit macht was bei Wittgenstein auszligerhalb der Grenzen des Sag-baren verbleibtlaquo (Einleitung des Herausgebers S 3) Ein solches Verstaumlndnis von Explika-tion kann man nur als kurios bezeichnen

18 Warren Goldfarb hat in Metaphysics and Nonsense On Cora Diamondrsquos The Realistic Spirit in Journal of Philosophical Research 22 (1997) S 57ndash73 der Stroumlmung den Namen gegeben sonst aber wenig veroumlffentlicht (vgl die Liste der Texte in Floyd Wittgenstein and the Inexpressible in Wittgenstein and the Moral Life S 229)

19 Als fuumlhrender Fregeinterpret geht Ricketts von der Schwierigkeit aus daszlig es keinen logisch wohlgebildeten Satz geben kann der ausdruumlckt daszlig Begriffe keine Gegenstaumlnde sind da Saumltze der Form A=B voraussetzen daszlig die Ausdruumlcke auf beiden Seiten der Glei-chung (oder Ungleichung) derselben Kategorie angehoumlren und der fragliche Satz daher die schlichte Verneinung eines solchen Satzes sein muumlszligte Varianten desselben Problems fi ndet er in refl ektierterer Form auch bei Wittgenstein wieder vgl dazu Pictures Logic and the Limits of Sense in Wittgensteinrsquos Tractatus in Wittgenstein Companion S 59ndash99 vor allem S 88ndash94 Eine besondere Gemeinsamkeit von Ricketts Goldfarb und anderen liegt darin herauszustellen daszlig Wittgenstein offenbar von seinen Lesern erwartet daszlig sie zugleich auf den Inhalt seiner Saumltze und auf die logische Form dieser Saumltze achten sollen wobei der Effekt eintritt daszlig die logische Form der Saumltze dem in ihnen (scheinbar) Gesagten wider-spricht wodurch sich der Sinn der gesamten Ausfuumlhrungen von innen her zersetzt und in Unsinn aufl oumlst Ricketts zeigt dies fuumlr die Satzreihe zwischen 2 und 21

20 Ein weiterer wichtiger Vertreter und Anreger dieser Wittgensteinlektuumlre ist der 1995 verstorbene Peter Winch dessen Sammelband Trying to Make Sense (Oxford 1987 Versu-chen zu verstehen FrankfurtM 1992) in vieler Hinsicht den Arbeiten von Diamond ver-gleichbar ist Zwei wichtige Arbeiten Conant Method of the Tractatus und Diamond How Long ist the Standard Meter at Paris in Wittgenstein in America (s Anm 17 dieser Band geht auf eine von Winch organisierte Tagung zuruumlck) sind dem Andenken an Winch gewid-met

21 Conant nennt in seinem Beitrag sechzehn Mitstreiter (Mono-Wittgensteinianism S 11 Anm 3)

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lagen der Mathematik von 193922 einigermaszligen zusammenhaumlngend zu rekonstruieren23 Diamond gewann aus dieser Arbeit den schlagenden Eindruck wie schwierig es ist Wittgensteins Herangehensweise an philo-sophische Fragen richtig aufzufassen und auszudruumlcken24 Diesem Grun-dimpuls Wittgensteins philosophischen Ansatz in seiner Schwierigkeit und Radikalitaumlt zu erlaumlutern verdankt sich ein groszliger Teil von Diamonds weiterer Arbeit25

Zentral ist ein starkes Interesse an der Spaumltphilosophie Wittgensteins demgegenuumlber erscheint die fruumlhe Denkweise als erster und wichtiger Schritt in die richtige Richtung nicht aber als ein gescheiterter Versuch dem Wittgenstein spaumlter etwas grundlegend Anderes entgegensetzte Dia-monds Interesse an der Abhandlung ist zunaumlchst eher indirekt und liegt darin zu zeigen wie der radikale Ansatz schon des fruumlhen Wittgenstein interpretativ weitgehend abgefl acht und miszligverstanden wurde Die Initi-alzuumlndung zu einer intensiven Beschaumlftigung mit dem fruumlhen Wittgen-stein ging dann von Peter Geachs Versuch aus durch Zuhilfenahme der

22 Wittgenstein Lectures on the Foundations of Mathematics 1939 Ithaca N Y 1976 (= Schriften Bd 7 1978 dieser wichtige Text ist in der deutschen Uumlbersetzung wenig beach-tet und nicht nachgedruckt worden)

23 Es gelang Diamond schlieszliglich auf bewundernswerte Weise aus den unterschied-lichen stark voneinander abweichenden Mitschriften einen zusammenhaumlngenden Text zu erstellen Diese philologisch anfechtbare und fuumlr den Leser nicht uumlberpruumlfbare Praxis wur-de in spaumlteren Veroumlffentlichungen von Vorlesungen Wittgensteins zugunsten der paral-lelen Wiedergabe der einzelnen Mitschriften aufgegeben Damit verschwanden aber auch Erfahrungen wie diejenige Diamonds

24 Diamond schreibt raquoIch brauchte vier Jahre um uumlberhaupt zu verstehen was in diesen Vorlesungen eigentlich vor sich ginglaquo (Diamond How Did I Come to be Acquainted with Wittgensteinrsquos Work In Philosophical Investigations 14 2001 S 108ndash115 S 109 diese Ausgabe enthaumllt entsprechende Auskuumlnfte u a auch von Cavell Conant und Hacker) Die Arbeit an dieser Edition hat Diamonds Perspektive entscheidend gepraumlgt Man koumlnnte sa-gen daszlig Diamond sich in ihren eigenen Veroumlffentlichungen an dem Ideal orientiert das Wittgenstein in diesen Vorlesungen paradigmatisch vorfuumlhrt Er nimmt einen Satz etwa aus einer Schrift des bedeutenden Mathematikers Hardy daszlig mathematischen Saumltzen raquoin irgendeiner wenn auch noch so subtilen Form etwas in der Realitaumlt entsprichtlaquo und zeigt durch intensive Deutungsbemuumlhungen und praumlgnante Beispiele auf inwiefern diese For-mulierung zwar nicht falsch ist wohl aber und das ist weit gravierender eine grundsaumltz-lich verfehlte Einstellung zum raquoGegenstand der Mathematiklaquo ausdruumlckt (25 und 26 Vor-lesung S 290 ff)

25 Diamond greift zudem Impulse von Rush Rhees und Elizabeth Anscombe auf beides unmittelbare Schuumller sowie Nachlaszligverwalter und Herausgeber Wittgensteins sowie von Stanley Cavell der zunaumlchst von Austin beeinfl uszligt weitgehend unabhaumlngig eine ganz auf die Philosophischen Untersuchungen konzentrierte Lektuumlre Wittgensteins entwickelt und durch seine Lehrtaumltigkeit auch auf Conant Goldfarb und Ricketts gewirkt hat (wie die vorherige Anm S 109 f) Allerdings uumlberschreitet Cavells bisweilen sehr kreative Um-gangsweise mit den Texten haumlufi g die Grenzen dessen was man Interpretation nennen kann

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Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen Wittgenstein davor zu ret-ten sich selbst philosophisch mattzusetzen (raquoLudwigrsquos self-matelaquo)26 Geach war damit derjenige der dem Schluszlig des Buches nicht nur besondere Aufmerksamkeit schenkte sondern ihn zum Pruumlfstein uumlber Erfolg oder Scheitern von Wittgensteins fruumlher Philosophie bzw der Versuche sie zu verstehen machte

Fast alle Versuche den Schluszlig zu verstehen knuumlpfen an die im Text zentrale Unterscheidung zwischen raquoSagenlaquo und raquoZeigenlaquo an Wittgenstein selbst nannte sie einmal den raquoHauptpunktlaquo seiner Philosophie (Brief an Russell vom 19 8 1919) und er entwickelt sie bei der Behandlung radikal unterschiedlicher Arten von Saumltzen Empirische oder raquosinnvollelaquo Saumltze vergleicht er mit Bildern die Sachverhalte darstellen Wenn der darge-stellte Sachverhalt besteht ist der Satz wahr wenn er nicht besteht falsch Saumltze sagen daszlig die von ihnen dargestellten Sachverhalte bestehen Sie sind artikuliert und tun dies mit Hilfe ihrer spezifi schen logischen Form Die-se Form raquoweisen sie auflaquo aber sie sagen sie nicht aus sondern raquozeigenlaquo sie Diese beiden Aspekte das von einem Satz Ausgesagte und Behauptete sowie die dabei zum Einsatz kommenden sprachlogischen Mittel trennt Wittgenstein scharf Weiter betont er daszlig die Saumltze der Logik keine Sach-verhalte darstellen sondern bereits aufgrund ihrer Form als korrekt und insofern raquowahrlaquo oder als widerspruumlchlich und insofern raquofalschlaquo zu erken-nen sind Wittgenstein spricht von raquoTautologienlaquo27 und raquoKontradiktionenlaquo Diesen rein formalen Charakter der logischen Saumltze druumlckt Wittgenstein auch so aus daszlig er sie raquosinnloslaquo nennt und bemerkt raquoDie Saumltze der Logik sagen also Nichtslaquo (611)28 Er druumlckt dies auch so aus daszlig logische Saumltze raquozeigen daszlig sie nichts sagenlaquo (4461) Sagen und Zeigen sind fuumlr ihn strikt getrennte Ausdrucksformen raquoWas gezeigt werden kann kann nicht gesagt werdenlaquo (41212) Weiterhin untersucht Wittgenstein die Natur der philo-sophischen Saumltze und kommt zu dem Schluszlig daszlig diese weder zur Gruppe der sinnvollen noch zu der der sinnlosen Saumltze gehoumlren Da seiner Mei-nung nach der Philosophie uumlberdies kein eigener Gegenstandsbereich zugewiesen werden kann erklaumlrt er daszlig die Philosophie raquokeine Lehre sondern eine Taumltigkeitlaquo (4112) sei naumlmlich die Taumltigkeit der logischen

26 Saying and Showing in Frege and Wittgenstein (wie Anm 13 Zit S 54) Diamond deutet den Schluszlig nicht defensiv wie Geach sondern offensiv als Versuch etwas Wichtiges klar-zustellen

27 Wittgenstein etabliert damit eine ganz neue Verwendungsweise des Wortes raquoTauto-logielaquo die durch die aussagenlogischen Wahrheitsbedingungen erklaumlrt ist

28 Wittgenstein verwendet die Ausdruumlcke raquosinnvolllaquo raquosinnloslaquo und raquounsinniglaquo um wichtige Unterschiede lokal zu markieren aber als Terminologie entstammt diese Trias der Sekundaumlrliteratur und der Neuuumlbersetzung des Buches durch David Pears und Brian McGuinness (1961)

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Klaumlrung der Gedanken und der Klarstellung der grundlegenden Funk-tionsweise des sprachlichen und symbolischen Ausdrucks29

Nach Geach muszlig man Wittgensteins Buch so verstehen daszlig darin zum einen etwas gesagt wird daszlig aber wichtige Zuumlge der Realitaumlt ( features of reality) entsprechend Wittgensteins Analysen nicht gesagt wohl aber ge-zeigt werden koumlnnen Die Schluszligbemerkung waumlre dann so aufzufassen daszlig man einsehen muszlig daszlig die philosophisch wichtigen Einsichten nur gezeigt werden koumlnnen sie damit aber in Saumltzen enthalten sind die streng genommen unsinnig sind weil sie nicht etwas raquosagenlaquo so naumlmlich wie der Terminus raquosagenlaquo in der Abhandlung verwendet wird Geach sieht in dieser Unterscheidung eine Einsicht die Wittgenstein von Frege uumlbernimmt und erweitert

In ihrem Aufsatz Throwing Away the Ladder (1985)30 setzt sich Diamond intensiv mit Geach auseinander und entwickelt daraus wesentliche Ele-mente die die Diskussion bis heute praumlgen Dazu gehoumlrt der Bezug auf Frege In seinen raquoErlaumluterungenlaquo31 logischer Grundbegriffe also dessen was er das raquoLogischeinfachelaquo nennt und was entsprechend durch keine Defi nition weiter zergliedert werden kann spricht Frege deutlich aus daszlig er sich bildlich und unexakt ja teilweise sogar streng genommen falsch ausdruumlcken muszlig um das Gemeinte zu vermitteln32 Das wichtigste Bei-spiel Freges ist die grundlegende Unterscheidung von Gegenstand und Begriff die er so erlaumlutert daszlig Gegenstaumlnde abgeschlossen Begriffe dage-

29 Die Saumltze der Philosophie waumlren nach Wittgenstein daher in Abgrenzung zu den beiden ersten Gruppen als raquounsinniglaquo einzustufen Diese relativ harmlose Deutung die 654 zu einer letztlich terminologischen Bemerkung macht wird von Diamond und Conant jedoch nicht geteilt Es ist eine Staumlrke des Ansatzes von DiamondConant daszlig sie die Abhandlung nicht nach einem terminologischen Schema zu entschluumlsseln versuchen im besonderen Fall von 654 ist ihr Ergebnis dennoch zweifelhaft denn man kann die Bemer-kung als raquoabschlieszligende selbstrefl exive Schluszligbemerkunglaquo verstehen die einfach ein letz-tes zusaumltzliches Licht auf das Ganze werfen und die Klarheit damit abrunden nicht aber diese erst herstellen soll Der Vergleich des Schlusses mit der Pointe eines Witzes die alles in ein voumlllig neues Licht taucht und die Spannung zusammenbrechen laumlszligt (vgl unten Anm 62) wirkt etwas gezwungen In seinen Anweisungen an Ogden (Letters to Ogden Oxford 1973 S 19) fuumlr die Uumlbersetzung des Buches besteht Wittgenstein darauf daszlig der raquoSinn nicht die Woumlrterlaquo uumlbersetzt werden und nennt dann wieder das Ganze raquoUnsinnlaquo dies weist darauf hin daszlig fuumlr ihn das Ganze nicht einfach durch und durch als Unsinn zu bezeichnen ist

30 Throwing Away the Ladder How to Read the Tractatus auch in The Realistic Spirit S 179ndash204

31 Auch dieser Terminus stammt von Frege obwohl er nicht auf den Bereich analy-tischer Philosophie beschraumlnkt ist (vgl M Heideggers Erlaumluterungen zu Houmllderlins Dichtung und das zugehoumlrige Vorwort)

32 Vgl dazu auch Gottfried Gabriel Der Logiker als Metaphoriker Freges philosophische Rhetorik in Gabriel Zwischen Logik und Literatur Stuttgart 1991 S 65ndash88 Auch Gabriel sieht bei Wittgenstein die konsequente Durchfuumlhrung Fregescher Einsichten

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gen ungesaumlttigt sind und eine Leerstelle aufweisen die nur durch einen Gegenstand gesaumlttigt werden kann Dies gilt fuumlr Frege sowohl fuumlr die Be-griffe und Gegenstaumlnde selbst als auch fuumlr die Ausdruumlcke mit denen wir sprachlich Begriffe bzw Gegenstaumlnde bezeichnen Daher ist jedoch fuumlr ihn jeder Ausdruck ohne Leerstelle zwangslaumlufi g ein Gegenstandsname kein Begriffswort Sprachlich gesehen sind alle Ausdruumlcke mit dem be-stimmten Artikel (raquoder Nlaquo) Eigennamen solche mit dem unbestimmten Artikel (raquo ist ein Pferdlaquo) Begriffswoumlrter Damit aber ist ein Ausdruck wie raquoder Begriff Pferdlaquo schon aus syntaktischen Gruumlnden ein Gegenstandsna-me und kein Begriffswort Entsprechend erklaumlrt Frege den Satz raquoDer Be-griff Pferd ist kein Begrifflaquo allein aufgrund der syntaktischen Form fuumlr wahr weil die Worte raquoder Nlaquo und damit auch raquoDer Begriff Nlaquo nur einen Gegenstand bezeichnen koumlnnen Daruumlber hinaus erklaumlrt er daszlig es voumlllig unmoumlglich ist einen wahren Satz der Form raquoDer Begriff F ist ein Begrifflaquo zu bilden da wir an der Subjektstelle immer im logischen Sinn einen Ei-gennamen und kein Begriffswort vorfi nden Wir koumlnnen also nach Frege in gewoumlhnlichen Saumltzen gar keine korrekten Aussagen uumlber Begriffe ma-chen Gegen Geach deutet Diamond diesen Fall nun so daszlig Frege mit dem paradox klingenden Satz seine Leser zur richtigen Einsicht in das Wesen des Begriffs anleiten moumlchte und zwar indem er absichtsvoll etwas Unsinniges sagt in Gestalt einer vorlaumlufi gen Ausdrucksweise (transitional remark) die spaumlter ganz wegfallen kann wenn die Unterscheidung ver-standen worden ist33 Dieses Verstaumlndnis aber zeigt sich so Diamond nicht darin daszlig man einen raquoZug der Wirklichkeitlaquo erfaszligt hat sondern darin daszlig man Freges Notation zu beherrschen gelernt hat Ihr zufolge druumlckt sich in der Notation also in der Schreibweise nicht in einzelnen Behaup-tungssaumltzen34 Freges Unterscheidung von Gegenstand und Begriff am klarsten und eindeutigsten aus und der Sinn der Uumlbergangsbemerkungen liegt demnach einzig darin in den korrekten Gebrauch der Notation und damit des logischen Systems mit seinen eingearbeiteten Unterscheidungen einzufuumlhren Vor diesem Hintergrund gibt es keinen raquoInhaltlaquo der nach der Einfuumlhrung uumlbrig bliebe und damit auch keinen Inhalt den man raquozeigenlaquo muumlszligte oder koumlnnte und daher kann man die Leiter dann wegwerfen (und einfach den Symbolismus richtig anwenden) Eine Deutung wie diejenige

33 Als Fregedeutung kann diese Interpretation nicht uumlberzeugen weil Frege seinen pa-radox klingenden Satz ohne Zoumlgern fuumlr wahr haumllt Aus der Perspektive Wittgensteins je-doch der den Gedanken einer notwendigen strukturellen Parallelitaumlt zwischen raquoZeichen und Bezeichnetemlaquo uumlberwunden hat waumlre diese Deutung uumlberzeugend Man kann Dia-mond in diesem Punkt eine Uumlberinterpretation des fruumlhen Wittgenstein vorwerfen die sie auch noch auf Frege ausdehnt

34 Das heiszligt daszlig Freges Grundunterscheidung sich praktisch an jedem symbolisch no-tierten Satz zeigen laumlszligt

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Geachs erscheint vor diesem Hintergrund als halbherzig Zum einen meint man daszlig manche wichtigen Saumltze nichts sagen sondern nur etwas zeigen zum anderen aber haumllt man doch daran fest daszlig diese Saumltze einen Inhalt haben und indirekt etwas uumlber die Realitaumlt ausdruumlcken Fuumlr Diamond ist das ein Sich-druumlcken (chickening out)35 Diesem halbherzigen Versuch setzt sie ein konsequentes Ernstnehmen der Unsinnigkeit der Abhandlungssaumltze und des Wegwerfens der Leiter entgegen Der Versuch mit dem raquoUnsinnlaquo Ernst zu machen hat als raquoresolute Lesartlaquo (resolute reading) dem neuen An-satz spaumlter den Namen gegeben36 Diamond stellt die Frage wie ernst man 654 tatsaumlchlich nehmen sollte und weiter ob der Redeweise von raquoZuumlgen der Realitaumlt die nicht in Worten ausgedruumlckt werden koumlnnenlaquo ein Sinn abzugewinnen ist37 Diamonds Antwort ist ebenso einfach wie provokativ Ja die Bemerkung 654 muszlig sehr ernst genommen werden und gerade deshalb kann es keine unausdruumlckbaren Zuumlge der Realitaumlt geben sondern wir muumlssen akzeptieren daszlig die Saumltze der Abhandlung im strengen und gewoumlhnlichen Sinne unsinnig sind sie sind um das Vorwort zu zitieren raquoeinfach Unsinnlaquo Damit aber verliert die Unterscheidung von Sagen und Zeigen ihren quasi-metaphysischen Charakter38

Bemerkung 654 deutet Diamond nun so daszlig Wittgenstein darin einen bewuszligten und wesentlichen Unterschied mache zwischen dem Verstehen seiner Saumltze und dem Verstehen seiner Person (raquower mich verstehtlaquo)39 Man solle naumlmlich verstehen daszlig seine Saumltze nicht zu verstehen sind Wir sol-len genauer gesagt mit unserer Einbildungskraft uns in die Position je-mandes versetzen der glaubt die Saumltze des Buches zu verstehen damit aber sollen wir so Diamond zugleich verstehen daszlig es hier nichts zu verstehen gibt daszlig es sich nur um eine Illusion von Verstehen handelt

35 Systematisch betrachtet kann man darin ein noch zu weitgehendes Festhalten an der grundsaumltzlichen Aumlhnlichkeit der Funktionsweise (oder raquoBezeichnungsweiselaquo) saumlmtlicher Satzarten nach dem Vorbild Freges sehen der die Grundunterscheidung von ZeichenSinn des ZeichensBedeutung des Zeichens uumlberall durchfuumlhren will waumlhrend nach Wittgenstein schon fuumlr logische Saumltze weder von Sinn noch von Bedeutung die Rede sein kann

36 Ricketts spricht in seinem Beitrag zum Cambridge Companion (Anm 19) S 93 von einer raquoresolut und konsistent angewendeten Konzeption der Wahrheitlaquo nach der es raquokeine unausdruumlckbaren Wahrheiten geben kannlaquo In Anschluszlig daran hat sich dann auf eine Anregung Goldfarbs hin die Rede einer raquoresoluten Lesartlaquo eingebuumlrgert

37 Diamond Ethics Imagination and the Method of Wittgensteinrsquos Tractatus (1991) auch in New Wittgenstein S 149ndash173 hier S 181

38 Daszlig die Unterscheidung auf andere Weise logisch zentral ist fuumlhrt Diamond an an-derer Stelle aus (vgl Anm 12)

39 Diamond greift dabei (S 160) indirekt auch den Gedanken Cavells auf daszlig es in Wittgensteins Philosophie immer auch um Selbsterkenntnis geht also um die eigene Per-son Dieses Element spielt vor allem bei anderen Vertretern der resoluten Lesart eine be-traumlchtliche Rolle und traumlgt einiges zu ihrer Attraktivitaumlt bei

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(150) Die Saumltze und damit das Buch sollen als vollstaumlndig unsinnig er-kannt werden ndash davon ausgenommen sind allerdings die Bemerkungen die den Rahmen bilden und in denen Wittgenstein einige Hinweise dar-uumlber gibt wie das Buch aufzufassen ist (S 149)40 Es gibt dabei keine lo-gische wesentliche Unterscheidung zwischen zwei Arten von Unsinn sol-chem der etwas Richtiges zeigt und solchem der schlicht Ausdruck einer Verwirrung ist (wie die Saumltze der traditionellen Metaphysik)41 Daszlig man-che unsinnigen Saumltze als Erlaumluterungen dienen koumlnnen ist diesen Saumltzen ganz aumluszligerlich (S 159) sozusagen eine Zufaumllligkeit hat aber nichts mit einem moumlglichen Gehalt dieser Saumltze zu tun Dies wendet sich gegen eine entsprechende Unterscheidung bei Anscombe zwischen raquoden Dingen die wahr waumlren wenn sie gesagt werden koumlnnten und denen die falsch wauml-ren wenn sie gesagt werden koumlnntenlaquo42 Man kann nach Diamond von solchen Unsinnsarten nicht sprechen Eine Konsequenz dieser Radikalitaumlt liegt nun darin daszlig die gesamte innere Struktur der Abhandlung verloren-zugehen scheint Wenn alles Unsinn ist was kann dann noch Unterschiede der einzelnen Passagen ausmachen Genau dies entspricht gerade einem zentralen Motiv von Diamonds Ansatz So verweist sie etwas darauf daszlig im Buch zwar Bemerkungen mit ethischer Thematik vorkommen daszlig aber in einem tieferen Sinne jeder Satz (oder das gesamte Buch) einen ethischen Charakter hat indem es darin eine bestimmte Haltung aus-druumlckt ganz unabhaumlngig vom gerade verwendeten Vokabular Diese Auf-fassung daszlig zentrale philosophische Einsichten vom jeweils verwendeten Vokabular und den aufgestellten Behauptungen weitgehend unabhaumlngig sind weil es nicht auf das Vokabular sondern auf den Gebrauch ankommt ist ein Kernstuumlck in Diamonds Ansatz43 Ihr geht es vor allem anderen darum Wittgensteins philosophische Haltung aufzuklaumlren indem sie spe-zifi sche Passagen die Miszligverstaumlndnisse verursachen erklaumlrt Die Absicht

40 Diese radikal klingende Behauptung ist insofern miszligverstaumlndlich als Diamond nicht alle Saumltze der Abhandlung sozusagen per defi nitionem fuumlr unsinnig erklaumlren will ihr geht es vielmehr vor allem darum klarzustellen daszlig wenn ein spezifi scher Satz unsinnig ist er es auch wirklich ist und daszlig es inkonsequent ist sozusagen einen raquoSinn zweiter Ordnunglaquo einzufuumlhren

41 Die starke Konzentration der Diskussion auf Fragen von raquoUnsinnlaquo uumlbersieht haumlufi g daszlig Wittgenstein Unsinn ausgesprochen liebte Einer seiner Lieblingsautoren war Lewis Carroll auf den er haumlufi ger in seinen Schriften anspielt oder verweist und er selbst sam-melte uumlber Jahrzehnte Beispiele besonders absurder Zeitungsartikel Vgl dazu jetzt Brian McGuinness (Hg) Wittgenstein in Cambridge Letters and Documents Oxford 2008 S 192 und 468 auszligerdem Brian McGuinness In Praise of Nonsense (unveroumlffentlicht)

42 Anscombe Introduction (Anm 9) S 162 zit von Diamond Ethics S 15843 Sie fuumlhrt dies an Beispielen des spaumlten Wittgenstein aus der Mathematik (u a den

erwaumlhnten Vorlesungen) und der Ethik in ihrem Beitrag zum Cambridge Companion naumlher aus und erkennt ein solches Vorgehen auch in der Abhandlung und bei Frege wieder

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Wittgensteins Schriften als Ganze zu interpretieren tritt demgegenuumlber ganz in den Hintergrund Insofern ist 654 auch wieder nicht uumlberzube-werten sondern dient nur als ein besonders markanter Ausgangspunkt um verfehlte Auffassungen abzuwehren44 So ist die Abhandlung fuumlr Dia-mond kein Buch uumlber Logik denn ein solches kann es streng genommen ebenfalls nicht geben Die Logik ist vielmehr raquodem was Saumltze sind bereits intern eingeschriebenlaquo (S 151) Anders gesagt Wir koumlnnen an jedem be-liebigen Satz wenn wir nur richtig hinsehen alle Elemente der richtigen logischen Auffassung aufweisen und daher ist jeder Versuch diese vor-gaumlngige Struktur explizit zu machen immer etwas Nachtraumlgliches das schon raquozu spaumlt kommtlaquo und dadurch stets etwas Schiefes eben Unsinniges an sich hat Der eigentliche Ausdruck von Wittgensteins philosophischen Auffassungen sind daher nicht irgendwelche Inhalte seines Buches son-dern die Art wie sie ausgedruumlckt sind (S 170)

Eine besondere Eigenheit fast aller Arbeiten Diamonds ist ihre sehr spe-zifi sche Ausrichtung auf eine je besondere Fragestellung In vielen Faumlllen greift sie charakteristische Fehleinschaumltzungen oder auch nur miszliggluumlckte Formulierungen anderer Autoren auf und erlaumlutert geduldig sorgfaumlltig und oft in wiederholten bisweilen kreisenden Gedankengaumlngen welche Art von Fehleinschaumltzung vorliegt aus der die verungluumlckte Formulierung hervorgegangen ist Ihre Klaumlrungsarbeit bezieht sich fast immer auf einen konkreten Fall nicht auf eine allgemeine These Dadurch sperren sich ihre Texte gegen Lesegewohnheiten die auf Thesen und Argumente oder auf systematische Darlegungen und einen hohen Allgemeinheitsgrad hin ori-entiert sind Besonders instruktiv ist ihre Aufklaumlrung eines Beispiels von Anscombe (raquorsaquoJemandlsaquo ist nicht der Name von jemandemlaquo) in dem sie einen Versuch beleuchtet mit dem Anscombe ihrerseits im Sinne des fruumlhen Wittgenstein eine ganz elementare sprachlogische Klarstellung zu treffen versucht die den Unterschied zwischen Sagen und Zeigen nicht in allge-meiner (raquometaphysischerlaquo) sondern in ganz spezifi scher logischer Absicht betrifft45 Ihr Ergebnis lautet daszlig die Logik und damit die Gebrauchswei-sen von Ausdruumlcken wie raquojemandlaquo im einzelnen sorgfaumlltig beschrieben werden muumlssen daszlig man dies nicht mit einem Satz allein klarstellen kann

44 Die Erfolgsgeschichte der resoluten Lesart haumlngt eng damit zusammen daszlig man das ganze Buch als raquobloszligen Unsinnlaquo auffassen will bei Diamond liegt jedoch genau besehen keine Interpretation des gesamten Buches vor Sie will vielmehr nur einige Kernpunkte klarstellen verknuumlpft diese Klarstellungen allerdings mit einigen allgemeiner klingenden Zusatzbemerkungen

45 Diamond Saying and Showing (wie Anm 12) In diesem Beispiel bleibt jedoch An-scombe die die Frage in einem Streich entscheiden und klaumlren will dem Geist des fruumlhen Wittgenstein naumlher als Diamond mit ihrer sorgfaumlltigen Beschreibung der Sprachspiele mit raquojemandlaquo

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Damit will Diamond einen Beitrag dazu leisten die raquophilosophi sche Klauml-rung zu klaumlrenlaquo (to clarify philosophical clarifi cation)46

Das Ziel ihrer Arbeit ist jeweils die Klaumlrung unuumlbersichtlicher begriff-licher Verhaumlltnisse um so zu einer natuumlrlichen raquorealistischenlaquo Sicht zu kommen47 An Paradoxien ist sie grundsaumltzlich nicht interessiert auszliger insofern es darum geht deren Quellen aufzudecken sie als Symptome von begriffl ichen Unklarheiten zu sehen

Charakteristisch fuumlr Diamonds Vorgehensweise ist auch eine Uumlberle-gung die von einer Bemerkung Kripkes ihren Ausgang nimmt Einmal schreibt Wittgenstein raquoMan kann von einem Ding nicht aussagen es sei 1 m lang noch es sei nicht 1 m lang und das ist das Urmeter in Parislaquo (PhU 50) Kripke nennt diese Behauptung die aus dem Zusammenhang gerissen etwas entschieden Paradoxes hat offensichtlich falsch ohne je-doch den genauen Zusammenhang zu beachten48 Genau darauf kommt es Diamond aber an und sie erlaumlutert detailliert hartnaumlckig und zielstrebig

46 Ebd S 15347 Diamonds Grundanliegen kann man auch so formulieren daszlig sie an die Stelle von

philosophischen raquoPhantasienlaquo die aufs Allgemeine eines zurechtgestellten Sprachgebrauchs gehen eine realistische Einstellung die sich vor allem um Einzelheiten kuumlmmert setzt (The Realistic Spirit in der gleichnamigen Sammlung S 39ndash72)

48 Tatsaumlchlich ist die Bemerkung Kripkes weitaus weniger beilaumlufi g als Diamond sugge-riert Er schreibt raquoWittgenstein sagt etwas sehr Verwirrendes hieruumlber Er sagt raquoMan kann von einem Ding nicht sagen es sei 1 m lang noch es sei nicht 1 m lang und das ist das Urmeter in Paris ndash Damit haben wir aber diesem natuumlrlich nicht irgendeine merkwuumlrdige Eigenschaft zugeschrieben sondern nur seine eigenartige Rolle im Spiel des Messens mit dem Metermaszlig gekennzeichnetlaquo (PhU 50) Das scheint aber in der Tat eine sehr raquomerk-wuumlrdige Eigenschaftlaquo fuumlr einen Stab zu sein Ich denke Wittgenstein muszlig sich hier irren Wenn der Stock 3937 Inches lang ist (ich nehme an daszlig wir einen anderen Standard fuumlr Inches haben) warum ist er nicht 1 m lang Wir wollen jedenfalls annehmen daszlig Witt-genstein sich irrt und daszlig der Stab 1 m lang istlaquo (Kripke Naming and Necessity 1980 Name und Notwendigkeit FrankfurtM 1981 S 65 f) Diamond weist zwar zu Recht darauf hin daszlig Kripkes theoretisches Vokabular nur uumlber Eigenschaften (er diskutiert Fragen von Referenz und sprachlicher Bedeutung separat) nicht aber uumlber raquoStellungen im Sprachspiellaquo verfuumlgt und daszlig er deshalb zur tatsaumlchlich merkwuumlrdigen Deutung des Satzes als raquokontin-gente Wahrheit a priorilaquo (S 68) kommt (Dies entspricht wiederum in einigem der ja auch raquoeigenartigenlaquo Rolle im Sprachspiel) Beim Ausfuumlhren des Beispiels gegen Wittgenstein argumentiert Kripke jedoch intern vollkommen konsistent und faktisch auch an einem Sprachspiel orientiert wenn er (in Klammern) annimmt daszlig wir uumlber einen eigenen unabhaumlngigen Maszligstab fuumlr englische Zoll verfuumlgen Dann naumlmlich kann man das Urmeter ohne weiteres wie jeden anderen Gegenstand auch (auszliger in diesem Spiel dem raquoUr-Yardlaquo das Kripke jedoch nicht erwaumlhnt ndash und insofern hat Kripke die Problematik nur geschickt verschoben) abmessen und das Ergebnis anschlieszligend umrechnen Damit nimmt Kripke Wittgensteins Bemerkung das Paradoxe fuumlhrt dabei allerdings (unkommentiert) einen raquoDoppelstandardlaquo der Messung ein der nicht weiter geklaumlrt wird Die Sorgfalt in Kripkes Ausfuumlhrungen legen daher nahe die Rede davon daszlig Wittgenstein raquoirrelaquo nicht als Hin-weis auf einen einzelnen zufaumllligen Fehler sondern auf eine insgesamt verfehlte Auffas-sung zu verstehen

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wie Wittgenstein zu seiner Aumluszligerung kommt und inwiefern die Institution des Messens davon abhaumlngt daszlig man Maszligstaumlbe einfuumlhrt mit denen dann andere Objekte gemessen werden49 Da Laumlngenangaben entsprechend im-mer auf den Vergleich zu einem Maszligstab bezogen sind entsteht die kuriose Situation daszlig die Laumlnge des Urmeters durch Anlegen an sich selbst be-stimmt werden muumlszligte Nach Kripke ist dies ein Fall von Identitaumlt d h im Fall der Identitaumlt kann man auch ohne jede Messung sagen daszlig das betref-fende Objekt 1 m lang ist (oder eben raquoso lang wie es istlaquo ndash denn wie lang sollte es sonst sein) Damit aber gleicht er den Fall der Messung an den Fall der bloszligen Festsetzung in dem gar keine Messung erfolgt und genau genommen auch keine Messung moumlglich ist (denn man kann keinen Maszlig-stab an sich selbst anlegen weil dazu mindestens zwei Objekte benoumltigt werden) an und uumlbersieht die begriffl iche Verschiedenheit beider Faumllle Durch dieses Beispiel beleuchtet Diamond vor allem den Begriff der Gleichheit bzw Identitaumlt der von Kripke und weiten Teilen der philoso-phischen Tradition als unproblematischer absoluter Fixpunkt in Anspruch genommen wird den Wittgenstein aber einer fruumlhen Kritik (553 ff) und einer spaumlteren genauen Beschreibung (PhU 251 ff) unterzogen hat Zur Aufklaumlrung ist es noumltig den Ort den die Rede von raquogleichlaquo und raquoiden-tischlaquo in der Sprache hat genauer zu beleuchten und zu beschreiben an-statt ihn als quasi sprachunabhaumlngig gegeben einfach vorauszusetzen50

Diamonds Arbeit zielt so durchgehend auf die Klaumlrung scheinbar para-doxer oder merkwuumlrdiger Behauptungen ab und sie sieht ihr Ziel erst dann erreicht wenn aufgezeigt ist daszlig im Sprachspiel alles mit ganz ge-woumlhnlichen Dingen zugeht Paradoxe Behauptungen haben darin keinen Ort Auch ihre Anmerkungen zum Schluszlig von Wittgensteins Abhandlung sind daher systematisch als solche Aufklaumlrungen (etwa der paradoxen Re-deweise von Saumltzen die raquowahr waumlren wenn sie gesagt werden koumlnntenlaquo) zu verstehen auch wenn sie stellenweise selbst sehr uumlberraschend klingen Ihr Grundgedanke lautet jedoch Auch raquounsinniglaquo ist ein ganz gewoumlhn-liches Wort welches Wittgenstein verwendet und wenn er es verwendet dann meint er es auch so wie er es sagt51

49 Diamond betont mit (dem spaumlten) Wittgenstein die grundlegende Bedeutung von sprachlichen Institutionen waumlhrend Kripke konsequent davon absieht und alles als Fakten (unterschiedlicher Art) interpretiert

50 Kripkes Auffassung der Identitaumlt ist sprachunabhaumlngig und sozusagen raquorein objektivlaquo angelegt Fuumlr ihn ist jeder Gegenstand notwendigerweise mit sich selbst identisch und weist eine bestimmte raquoobjektivelaquo Laumlnge auf Wittgenstein dagegen weist darauf hin daszlig auch zum Wort raquoidentischlaquo ein Sprachspiel gehoumlrt das diesem Wort erst seine klare Ver-wendung gibt

51 Einiges spricht jedoch auch dafuumlr daszlig diese Auffassung eher dem spaumlten Wittgen-stein entspricht und daszlig in 654 raquounsinniglaquo gerade nicht im alltaumlglichen Sinn verwendet wird

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5 Es ist bei dieser sehr punktuellen Methodik um so bemerkenswerter und selbst geradezu paradox daszlig Diamonds Ansatz der Ausgangspunkt einer ganzen Richtung der Wittgensteininterpretation und noch dazu der Abhandlung geworden ist Diese Entwicklung hat viel mit der Arbeit von James Conant zu tun der dem Ansatz eine allgemeinere und leichter ein-zuordnende Form gegeben und das Zentrum der Aufmerksamkeit noch viel staumlrker als Diamond auf die Abhandlung und ihren Schluszlig gelenkt hat Conant stellt Wittgensteins Text in einen weiteren Rahmen indem er etwa Wittgenstein mit Kierkegaard Carnap und anderen Autoren ver-gleicht und indem er sich um die Historiographie der Tractatusdeutungen und insbesondere der impliziten Voraussetzungen dieser Deutungen in einer Weise bemuumlht daszlig die resolute Lesart als natuumlrlicher Abschluszlig einer Stufenfolge erscheint Dadurch entsteht der Eindruck daszlig die raquoresolutelaquo Deutung auf uumlberlegene Weise alle vorangegangenen Deutungsversuche in sich aufnimmt und ihnen den gehoumlrigen Platz anweist so daszlig kein sys-tematischer Raum mehr fuumlr Gegenvorschlaumlge bleibt52

In seiner bisher umfangreichsten Darstellung53 gibt Conant zunaumlchst eine Rekonstruktion der rationalen Genese der bisherigen Lesarten die er die raquopositivistischelaquo und die raquoUnsagbarkeitslesartlaquo (ineffability reading) nennt Als deren gemeinsame Grundvoraussetzung arbeitet er die Annahme her-aus daszlig es etwas wie raquogehaltvollen Unsinnlaquo (substantial nonsense) in der Abhandlung geben muumlsse Er zeigt dann auf daszlig und wie sich beide Auf-fassungen gegenseitig bedingen und inwiefern keine von beiden zu einer stabilen und konsequenten (eben raquoresolutlaquo durchhaltbaren) Position fuumlhrt Tatsaumlchlich setzt sich Conant fast ausschlieszliglich mit der von ihm als Stan-dardinterpretation (S 394) angesehenen Lesart und ihrem Hauptvertreter Peter Hacker auseinander54 Die Kernthematik des Aufsatzes der die Me-

52 Der Gestus erinnert stellenweise an Hegels Vorgehen Conant ist auch an anderer Stelle mit weitreichenden Sortiervorschlaumlgen hervorgetreten so etwa in bezug auf Spiel-arten des Skeptizismus wo er eine Cartesische und eine Kantische Spielart des Skeptizis-mus und damit der Philosophie uumlberhaupt unterscheidet (Varieties of Skepticism in D McManus (Hg) Wittgenstein and Skepticism London 2004)

53 James Conant The Method of the Tractatus in Reck From Frege to Wittgenstein daran orientiert sich das Folgende Mehrere Aufsaumltze Conants ergaumlnzen diesen Beitrag noch ndash Durch haumlufi ge Verweise auf einander einen gemeinsamen Aufsatz sowie an beide gerich-tete Kritik ist aumlhnlich wie in der Kopenhagener Deutung der Quantenphysik der Ein-druck entstanden als handele es sich um ein und dieselbe Auffassung Dieser Eindruck taumluscht jedoch in einigen wichtigen Punkten ebenso wie im Fall der Kopenhagener Deu-tung wie aus dem Folgenden klar werden wird

54 Tatsaumlchlich liegt der systematische Schwerpunkt der Kontroverse zwischen ConantDiamond und Hacker auf der Interpretation der Philosophie des spaumlten Wittgenstein die von beiden Parteien als der eindeutig uumlberlegene und bis heute unuumlberbotene philoso-phische Ansatz angesehen wird Diese grundsaumltzliche Debatte um die Deutung von Witt-gensteins Spaumltphilosophie hat erst in Ansaumltzen besonders in einigen Aufsaumltzen von Dia-

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thode der Abhandlung zu klaumlren beansprucht kreist um die Leitbegriffe raquoErlaumluterunglaquo und raquoUnsinnlaquo (S 378) Wie Diamond fi ndet Conant dies bei Frege vorgebildet wobei er dessen Verfahren so zusammenfaszligt daszlig nach Frege raquodie Erlaumluterung logisch einfacher Ausdruumlcke wie Begriff und Gegenstand unvermeidlicherweise mit (dem geschickten Einsatz von) Unsinn arbeiten muszliglaquo (S 387) In der Deutung dieses Verfahrens durch Frege sieht Conant jedoch eine Spannung denn Frege glaubt raquodaszlig er in solchen Faumlllen etwas sagen will was im strengen Sinn nicht gesagt werden kann und druumlckt sich dann so aus daszlig seine Woumlrter einen Gedanken auszudruumlk ken versuchen damit aber notwendigerweise scheiternlaquo (S 391) Damit vertritt Frege aumlhnlich wie Geach und Hacker selbst eine substan-tielle Auffassung von Unsinn55 Nach Conant liegt die Hauptabsicht von Wittensteins Abhandlung nun genau darin eine solche substantielle Auffas-sung von Unsinn nicht zu vertreten sondern zu uumlberwinden Die Unter-scheidung zwischen sinnvollen und nicht sinnvollen Saumltzen liegt nach Conants Deutung nun praumlziser gefaszligt darin raquoEinen Satz als sinnvoll wahr-nehmen bedeutet daszlig man im Satzzeichen das Satzsymbol wahrnimmt Einen Satz als Unsinn wahrzunehmen bedeutet daszlig man im Zeichen kein Symbol erkennen kannlaquo (S 404) Ein Satz ist also dann raquobloszliger Unsinnlaquo wenn eine Zeichenreihe raquokeine erkennbare logische Syntax hatlaquo (S 400) Damit gibt es aber streng genommen keine raquounsinnigen Saumltzelaquo sondern nur Zeichenreihen die auf den ersten Blick wie Saumltze aussehen bei denen aber der Versuch in ihnen eine logische Form aufzufi nden scheitert Die Rede von raquoUnsinnlaquo bezieht sich also nicht auf die Saumltze oder Zeichenrei-hen selbst sondern allein auf unser Scheitern Zentral wird dadurch der Begriff des raquoSymbolslaquo Ein Symbol ist ein Zeichen zusammen mit einer logisch durchsichtigen Verwendungsweise (S 414) Die bekannte Sprach-kritik der Abhandlung (40031) erweist sich so nicht als Versuch die sinn-vollen von den unsinnigen Zeichen(reihen) durch ein Sinnkriterium zu trennen sondern raquodie Quelle des scheinbaren Unsinns liegt in unserer Beziehung zum sprachlichen Zeichen nicht im sprachlichen Zeichen selbstlaquo (S 419) Die Philosophie ist entsprechend Wittgensteins Diktum

mond begonnen Als zentralen Gegensatz zwischen der eigenen Position und derjenigen Hackers formuliert Conant daszlig nach Hacker der fruumlhe Wittgenstein an unausdruumlckbare Wahrheiten glaubte waumlhrend der spaumlte dies als Irrtum durchschaute waumlhrend Wittgen-stein tatsaumlchlich schon in der Abhandlung die darin vorausgesetzte substantielle Auffassung von Unsinn ablehnte Weiter glaubt er in Hackers Deutung des spaumlten Wittgenstein raquoeine verkleidete Fassung der Auffassung die er dem fruumlhen Wittgenstein zuschreibtlaquo zu erken-nen was der wahren Radikalitaumlt dieses Denkens nicht gerecht werde (Conant Two Con-ceptions of Die Uumlberwindung der Metaphysik in Wittgenstein in America (Anm 17) S 13ndash62 hier S 38 Anm 42)

55 In diesem Punkt ist Conant exegetisch weitaus vorsichtiger als Diamond die weniger Scheu hat Frege eine systematisch uumlberzeugende Konzeption zuzuschreiben

111Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

raquokeine Lehre sondern eine Taumltigkeitlaquo Diese Taumltigkeit besteht nach Con-ant darin daszlig eine Illusion von Sinn aufgebaut und am Ende zerstoumlrt wird Das Ziel des Buches ist daher raquonicht eine Einsicht in metaphysische Zuumlge der Wirklichkeit sondern in die Quellen der Metaphysiklaquo (S 421) Nach Conant gibt es im Text nur raquo(scheinbar) eine Lehre uumlber raquodie Gren-zen des Denkenslaquolaquo (S 424) tatsaumlchlich aber sind raquodie Erlaumluterungen des Autors nur dann erfolgreich wenn wir den Haupttext als Unsinn erken-nenlaquo (S 424) Conants Darstellung verleiht der resoluten Lesart dadurch daszlig er aufzeigt wie die grundlegenden Spannungen in den fruumlheren Deu-tungsansaumltzen aufgeloumlst werden koumlnnen den Anschein einer teleologischen Zwangslaumlufi gkeit Nicht zufaumlllig spielt daher die fortgesetzte Auseinan-dersetzung mit der raquoUnsagbarkeitslesartlaquo eine zentrale Rolle in seinen Ausfuumlhrungen Ein nicht zu unterschaumltzender Teil der Anziehungskraft der resoluten Lesart liegt genau darin daszlig sie den einzigen konsistenten wenn auch zunaumlchst uumlberspitzt aber damit zugleich auch brillant wirken-den Ausweg aus den Bemuumlhungen um ein Verstaumlndnis der Logisch-Philoso-phischen Abhandlung zu bieten scheint56

Conants umfangreicher Beitrag zur Festschrift fuumlr Cora Diamond57 verstaumlrkt die genannten Tendenzen noch Dies zeigt sich bereits an der Form Unter dem Titel raquoA Recently Discovered Manuscriptlaquo wird ein gewisser raquoJohannes Climacuslaquo58 als Herausgeber eines Aufsatzes von Con-ant eingefuumlhrt der in Gestalt einer fi ktiven theologischen Auseinanderset-zung um die richtige Wittgensteinorthodoxie eigene (ziemlich dogma-tisch-uneinsichtsvolle) Kommentare zu den einzelnen Teilen von Conants Text abgibt Dieser Text selbst greift schon im Titel und uumlber weite Stre-cken ironisch den Ton theologischer Kontroversen auf Thema der Arbeit ist die umstrittene raquometa-wittgensteinschelaquo Frage ob Anhaumlnger der reso-luten Lesart (die noch einmal zusammenfassend vorgestellt wird) uumlber-haupt uumlber den Spielraum verfuumlgen um einen wesentlichen Unterschied zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein herauszuarbeiten (S 32) Diese Frage geht Conant dialektisch an indem er drei verschie-dene Listen praumlsentiert eine erste (S 49) die scheinbare Lehren der Ab-handlung enthaumllt die aber tatsaumlchlich so Conant Auffassungen sind vor

56 Diese Zwangslaumlufi gkeit tritt in Diamonds Arbeiten weitaus weniger hervor Fuumlr sie ist die Abhandlung ein reiches Buch das zahlreiche ausgesprochen weiterfuumlhrende und faszinierende Passagen enthaumllt die philosophisch weiterhelfen nicht ein Werk das sozu-sagen unter einer Drohung lebt und dessen Leser nach einem Ausweg suchen

57 James Conant Mild-Mono-Wittgensteinianism in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 29ndash142

58 Dieses von Kierkegaard entlehnte Pseudonym verwendet Conant seinerseits in einem Zitat aus der Abschlieszligenden unwissenschaftlichen Nachschrift (31) mit der Bemerkung daszlig Ironie und Ernsthaftigkeit einander nicht ausschlieszligen In fruumlheren Texten hatte Conant raquoClimacuslaquo mit raquoLeiterlaquo uumlbersetzt (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 291)

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denen Wittgenstein seine Leser warnen will eine zweite mit Auffas-sungen die Wittgenstein in der Abhandlung natuumlrlich klar und unkontro-vers erschienen die aber dennoch Ausdruck philosophischer Ansichten sind die er selbst spaumlter als problematisch ansah (S 83)

Damit ist fuumlr eine Differenz zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein ein Spielraum gewonnen der dann durch eine dritte Liste wieder in einen ironischen Schwebezustand gebracht wird indem Conant Saumltze praumlsentiert die man gleichermaszligen dem fruumlhen wie dem spaumlten Wittgenstein zuordnen kann bisweilen indem leichte Variationen des Wortlauts mitgefuumlhrt werden wie raquoDie Logik (Grammatik) muszlig fuumlr sich selber sorgenlaquo (S 106) Conant spricht von raquoAugenblicken atemberau-bender Kontinuitaumltlaquo (S 108) gerade dort wo Wittgenstein die Konzeption der Abhandlung kritisiert (PhU 97ndash133) Als Ergebnis der Untersuchung bleibt so der Eindruck von gleichzeitig auszligerordentlicher Kontinuitaumlt und deutlicher Diskontinuitaumlt in Wittgensteins philosophischer Entwicklung Auch daszlig eine resolute Lesart eher raquoein Programm um das Buch zu lesenlaquo (111 Anm 4) ist als tatsaumlchlich eine durchgehende Lektuumlre ist deutlich ausgesprochen59

Der philosophische Ansatz und Stil Conants ist dem von Diamond in vie-ler Hinsicht entgegengesetzt Waumlhrend Diamond von konkreten Einzelfaumll-len ausgeht und diese im Hin- und Hergehen aufzuklaumlren versucht geht Conant ganz von auszligen mit einem umfassenden Blick in Beziehung zur gesamten Philosophiegeschichte an die Fragen heran Ein bevorzugter Vergleich ist derjenige Wittgensteins mit Kierkegaard insbesondere in der Frage des Verhaumlltnisses des Autors zu seinen Buumlchern60 Man koumlnnte gera-

59 In der gemeinsam verfaszligten Arbeit On Reading The Tractatus Resolutely Reply to Me-redith Williams and Peter Sullivan in M KoumllbelB Weiss Wittgensteinrsquos Lasting Signifi cance London 2004 S 46ndash99 erlaumlutern Diamond und Conant einige Punkte ihres Ansatzes ge-genuumlber Versuchen das Buch als System von Behauptungen zu lesen (Williams) und gegen die Kritik ihre Lesart sei unvollstaumlndig letzteres mit dem Hinweis es handle sich bislang lediglich um ein Forschungsprogramm aber gerade nicht um ein Rezept das eine leichte und zusammenhaumlngende Lektuumlre ermoumlgliche (S 68) Peter Sullivan wird als der produk-tivste Kritiker bezeichnet weil er auf spezifi sche Inkonsistenzen hinweise (vgl die in Anm 64 genannte Arbeit) Sullivans eigene Deutungsvorschlaumlge bleiben jedoch eher tra-ditionellen ontologisch orientierten Ansaumltzen verhaftet (vgl What is the Tractatus About ebenfalls in KoumllbelWeiszlig S 32ndash45) Diese gemeinsame Arbeit verbleibt jedoch insge-samt auf einer sehr allgemeinen und wenig spezifi schen Ebene

60 So etwa Conant Putting Two and Two together Kierkegaard Wittgenstein and the Point of View for Their Work as Authors in T TessinM von der Ruhr (Hg) Philosophy and the Grammar of Religious Belief London 1995 S 248ndash331 Als Zusammenfassung schreibt Co-nant dort daszlig der fruumlhe Wittgenstein aumlhnlich wie Kierkegaard raquoden Leser in die Wahr-heit hineintaumluschen willlaquo zu welchem Zweck er raquoeine ausgefeilte Struktur scheinbarer Behauptungenlaquo verwendet (S 302) Fuumlr ein solches Verstaumlndnis gibt es bei Kierkegaard zahlreiche Hinweise bei Wittgenstein streng genommen keine er will alles raquoklar sagenlaquo

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dezu sagen daszlig sich Conant mehr fuumlr die Frage der Autorschaft als fuumlr das Werk selbst interessiert61 Es geht ihm darum den richtigen Blickwinkel auf das Werk zu gewinnen und den entwickelt er durch weitgespannte Ver-gleiche durch die Analyse der Selbstkommentare und zusaumltzlichen Erlaumlute-rungen Dabei scheint das Ziel vorrangig die Einordnung vorhandener Zu-gangsmoumlglichkeiten zu sein die er dann in eine systematische Ordnung bringt62 Diese Systematik verweist dann gewissermaszligen teleologisch auf eine einzige offene Moumlglichkeit als den richtigen Zugang zu einem Problem oder einem Text Waumlhrend Diamond also einzelne Miszligverstaumlndnisse auf-klaumlrt zieht Conant die groszligen orientierenden Linien63 Damit aber ergaumln-zen beide Ansaumltze einander wiederum in einem Maszlige daszlig sie von auszligen in aller Regel als eine Einheit angesehen werden Erst durch Conants Ord-nungsvorschlaumlge hat Diamonds Ansatz diejenige Uumlbersichtlichkeit und Handhabbarkeit gewonnen die eine breitere Wirksamkeit ermoumlglichen

Einmal schreibt er kritisch raquoDer Verkehr mit Autoren wie Hamann Kierkegaard macht ihre Herausgeber anmaszligend Diese Versuchung wuumlrde der Herausgeber des Cherubi-nischen Wandersmannes nie fuumlhlen noch auch der Confessionen des Augustin oder einer Schrift Luthers Es ist wohl das daszlig die Ironie eines Autors den Leser anmaszligend zu ma-chen geneigt istlaquo (Denkbewegungen [1931] FrankfurtM S 41)

61 In einem fruumlheren Aufsatz The Search for Logically Alien Thought Descartes Kant Frege and the Tractatus in Philosophical Topics 20 (1991) S 115ndash180 vergleicht Conant Witt-gensteins Vorgehen mit einem langen Witz bzw einer Parabel die ein absurdes Gespraumlch wiedergibt in dem ein Pole von einem Juden wissen will worin raquodas Geheimnis der Ju-denlaquo besteht und das nach allerhand Umwegen mit der Einsicht endet daszlig da raquokein Ge-heimnis istlaquo ndash aber so erfahren wir eben das raquoist das Geheimnislaquo (S 160)

62 Conants umfassende Perspektive geht mit einigen Zurechtstellungen bei der Inter-pretation einher die das Material entsprechend dem umfassenden Entwurf leicht umfor-men In seinem langen Aufsatz spricht er Wittgenstein eine besondere Konzeption von Klarheit zu die darin liegen soll daszlig man am Ende das Buch als unsinnig erkennt (374) er uumlbergeht dabei aber daszlig Wittgenstein gegenuumlber Russell unmittelbar auf den voumlllig neu-artigen Inhalt der logischen Konzeption verweist und dabei sogar das Wort raquoTheorielaquo ver-wendet als Ziel formuliert Wittgenstein auch nicht daszlig man bestimmte Konzeptionen als nur scheinbar konsistent erkennen soll (377) sondern daszlig man die Logik der Sprache ein-sehen lernt ohne ein Verstaumlndnis von 654 ist nach Conant kein Verstaumlndnis des Buches moumlglich (378) dies gilt aber angesichts der konzentrierten Form fuumlr jeden Satz des Buches wobei die Schluszligbemerkung eher selbstrefl exiv auf das Buch und die Darstellungsform Bezug nimmt als auf die bis dahin entwickelte Einsicht der gegenuumlber der bloszligen Selbstre-fl exion die Prioritaumlt einzuraumlumen waumlre die Woumlrter raquoUnsinnlaquo und raquoErlaumluternlaquo (378) sind entschieden nicht die Kernbegriffe des Buches zum einen kommen eher die Formen raquoun-sinniglaquo oder raquoes ist ein Unsinnlaquo vor nicht das Substantiv zum anderen sind viel eher raquoKlar-heitlaquo und raquoklarlaquo die zentralen Ausdruumlcke Carnap wird als derjenige hingestellt der nichts verstanden habe aber Wittgenstein hat gerade Carnap 1932 des Plagiats bezichtigt und Conant verkehrt Wittgensteins Aumluszligerung er koumlnne sich raquonicht denkenlaquo daszlig Carnap den Sinn des Buches raquoso ganz und gar miszligverstandenlaquo haben koumlnnte ins gerade Gegenteil und zitiert sie mehrfach (378 Anm 9 Anm 99 als Motto in Two Conceptions wie Anm 54)

63 Relativ haumlufi g verwendet Conant auch ganz traditionelle Ordnungsinstrumente wie raquoArtlaquo und raquoGattunglaquo (vgl Conant Method (Anm 53) S 435 Anm 43 436 Anm 48)

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Ein Punkt hat Kritiker besonders irritiert naumlmlich Diamonds und Co-nants Bestehen darauf daszlig der Text streng und konsequent stuumlckweise (piecemeal) gelesen werden soll Dies scheint mit der radikalen Grundten-denz nicht recht vereinbar oder die Radikalitaumlt doch stark abzuschwaumlchen ndash es koumlnnte aber dazu fuumlhren daszlig man das Gewicht der bisweilen daran angeknuumlpften allgemeineren Betrachtungen als wesentlich geringer anse-hen koumlnnte als es derzeit in aller Regel geschieht Tatsaumlchlich ist der stuumlckweise Zugang sehr charakteristisch fuumlr Diamonds Methode und die allgemein gehaltenen radikalen Thesen wirken in ihren Texten eher wie Fremdkoumlrper Die raquoTheselaquo von der notwendig stuumlckweisen Interpretation reduziert sich daher im Kern auf die wichtige aber unspektakulaumlre me-thodische Beobachtung daszlig es ohne Zweifel richtig ist daszlig man die Ab-handlung sorgfaumlltig langsam und schrittweise entschluumlsseln muszlig gerade damit man die einheitliche und uumlbergreifende Konzeption (und daran ist nichts stuumlckweise und zusammengebastelt) genau richtig auffassen kann

6 Tatsaumlchlich sind die Vertreter der resoluten Lesart insgesamt weit erfolgreicher in der Kritik konkurrierender Ansaumltze als in der Interpreta-tion des Textes selbst Ein groszliger Teil der Debatte wird in der Gestalt von Auseinandersetzungen um das richtige Verstaumlndnis bzw den Maszligstab fuumlr eine angemessene Interpretation gefuumlhrt Dies ist in gewissem Sinne fol-gerichtig denn ein Textverstaumlndnis im gewoumlhnlichen Sinn des Wortes kann es von einem im strengen Sinn unsinnigen Text ja kaum geben Die Debatte behandelt deshalb vorrangig Fragen wie die welches denn der raquoZweck des Unsinnslaquo sei64 Dazu hat Michael Kremer Vorschlaumlge entwi-ckelt die die ethische Dimension des Buches herausarbeiten65 Er zieht Vergleiche zu Wittgensteins Beschaumlftigung mit ethischen und religioumlsen Fragen etwa dem Neuen Testament und dem Gedanken daszlig wir einse-hen muumlssen daszlig wir die raquoSuche nach einer Rechtfertigung unseres Lebens aufgeben muumlssenlaquo (S 56) weil der Versuch einer solchen Selbstrechtferti-gung ein Akt des Hochmutes waumlre Als Ergebnis glaubt er festhalten zu muumlssen daszlig das Buch ein raquoknow-howlaquo kein raquoWissen-daszliglaquo vermittelt raquoDieses Buch und seinen Autor zu verstehen bedeutet zu lernen wie man lebtlaquo66 (S 62) In aumlhnlicher Weise deutet Kremer die Frage nach der

64 Michael Kremer The Purpose of Tractarian Nonsense in Nous 35 2001 S 39ndash73 Darauf reagiert Sullivan mit detaillierter Einzelkritik On Trying to be Resolute A Response to Kremer on the Tractatus in European Journal of Philosophy 10 (2002) S 43ndash78 (vor allem S 66ndash68 mit Hinweisen auf die spaumlrlichen Textbelege)

65 Fragen der Ethik spielen uumlberhaupt in den Arbeiten von Diamond Conant und an-deren resoluten Lesern eine groszlige Rolle was aber hier nicht im einzelnen verfolgt werden kann

66 Schon Diamond Ethics (Anm 37) S 169 spricht als Ziel an daszlig wir raquokeine falschen Anforderungen an die Welt stellenlaquo sollen

115Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

raquoWahrheit des Solipsismuslaquo dahingehend daszlig es darum geht den eigenen Stolz zu uumlberwinden67 Selbst die Frage nach dem raquoHauptproblem der Phi-losophielaquo naumlmlich der Unterscheidung von Sagen und Zeigen versucht Kremer so zu beantworten daszlig Wittgenstein vor allem vor der unberech-tigten und zu vorschnellen Anwendung dieser Unterscheidung warnt (und er will zeigen daszlig insofern diese Unterscheidung als Hauptproblem ange-sprochen wird Wittgenstein dieses Problem raquoloumlsenlaquo will)68 All diese Vor-schlaumlge lenken jedoch systematisch von einer tatsaumlchlichen Lektuumlre von Wittgensteins Buch eher ab

Innerhalb der resoluten Stroumlmung ist Juliet Floyd als radikale raquoJakobine-rinlaquo bezeichnet worden weil sie schon fuumlr den fruumlhen Wittgenstein gene-rell die Existenz einer einheitlichen Auffassung von Logik Bedeutung Sagen und Zeigen aber auch eines eindeutigen Ideals der Klarheit leug-net69 Sie nennt Wittgensteins Vorgehen dialektisch bzw refl ektierend (S 188) so daszlig Wittgenstein nicht auf eine einzelne Stoszligrichtung hin festzulegen ist Dadurch wird zum einen erneut die Moumlglichkeit in Frage gestellt den Text uumlberhaupt einigermaszligen einheitlich zu interpretieren zum anderen eroumlffnen sich Moumlglichkeiten relativ frei auch wieder kon-struktivere (S 187) Zuumlge festzustellen Wenn Floyd als Grundgegensatz der Deutungen die Frage betont ob man Wittgenstein so versteht als wolle er raquodie Endlichkeit oder expressive Begrenztheit der Sprache beto-nenlaquo oder ob er die raquooffene Entwicklung und Vielfalt menschlicher Aus-drucksmoumlglichkeitenlaquo (S 177) herausarbeiten will dann steht auch dies nur in einem eher lockeren Bezug zum Text Genau an dieser Stelle setzen die wichtigsten Kritiker an

7 Als prominentester und heftigster Kritiker ist Peter Hacker hervor-getreten70 Hacker kritisiert und polemisiert aus einer Position der exten-

67 Michael Kremer To What Extent is Solipsism a Truth in Stocker Post-Analytic Tractatus S 59ndash84 Das ist eine sehr ungewoumlhnliche Lesart dieser sonst erkenntnistheore-tisch aufgefaszligten Passage

68 Michael Kremer The Cardinal Problem of Philosophy in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 143ndash176 Kremers Deutung beruht vor allem darauf daszlig Wittgenstein in seinem Brief an Russell (15 8 1919) diese Unterscheidung einmal als raquoHauptpunktlaquo und dann auch als raquoHauptproblemlaquo anspricht Kremer deutet dies so daszlig die Unterscheidung als zu loumlsendes raquoProblemlaquo aufgefaszligt wird

69 Juliet Floyd Wittgenstein and the Inexpressible in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 177ndash234 hier S 185 und 196

70 Hackers Schriften dienen zugleich umgekehrt Diamond und Conant als Illustrati-onen fuumlr die raquoStandardlesartlaquo und dafuumlr wie man Wittgenstein nicht interpretieren sollte so schon 1985 in Diamond Throwing Away the Ladder (Anm 30) S 194 als Beispiel fuumlr raquochickening outlaquo Hacker ist auch als einziger Kritiker im Sammelband New Wittgenstein vertreten Was he Trying to Whistle It in New Wittgenstein S 353ndash388 Sein Sammelband Connections and Controversies Oxford 2001 enthaumllt neben dem Nachdruck auf S 98ndash140 noch eine Fortsetzung When the Whistling Had to Stop S 141ndash169

116 Wolfgang Kienzler PhR

siven Kommentieung des spaumlten Wittgenstein und zugleich des philo-sophischen Common Sense heraus Er sieht in der Abhandlung raquoeine ver-bluumlffende Lehre auf verbluumlffende Weise dargebotenlaquo (S 353) ndash diese Charakterisierung entnimmt er jedoch nicht erst seinen neuen Gegnern sondern einer eher traditionellen realistisch-metaphysischen Deutung von David Pears Hacker versteht das Buch als einen gescheiterten Versuch wesentliche Wahrheiten die nicht gesagt werden koumlnnen dennoch zu zeigen Dies sieht er als gesichertes Faktum an dessen Vorhandensein er mit Energie gegen Versuche es zu leugnen untermauert Dazu zaumlhlt er zehn Beispiele solcher Versuche auf von logischen Beziehungen zwischen Saumltzen bis zur Harmonie zwischen Gedanke Sprache und Wirklichkeit (S 353ndash355) und stellt sich ganz auf die Seite schon der fruumlhen Kritiker besonders des Wiener Kreises die den Schluszlig des Buches raquoganz unglaub-wuumlrdig fandenlaquo (S 355)71 Er nennt den Ansatz von Diamond und Conant raquopostmodernlaquo offenbar darauf berechnet zu provozieren jedoch frei von ernsthaften Absichten nicht aber das Buch richtig einschaumltzen zu wollen (S 356)72

Hacker sieht das Buch als offensichtlich inkonsistent an und beruft sich dabei auf Wittgensteins spaumltere Meinung zur Bestaumltigung dieses Faktums (S 370) Von daher fallen alle Versuche das Buch insgesamt nachzuvoll-ziehen zwangslaumlufi g ebenfalls der Inkonsistenz anheim Als Maszligstab der Inkonsistenz dient ihm dabei die Unvereinbarkeit und Widerspruumlchlich-keit der im Buch vorgetragenen (raquogesagtenlaquo oder raquogezeigtenlaquo) Lehren Da-mit aber stellt sich Hacker explizit auf einen Standpunkt den Wittgenstein fuumlr sein eigenes Werk ablehnt das ja explizit raquokein Lehrbuchlaquo (Vorwort) sein will Hacker reduziert das Buch auf einen Lehrinhalt den er unzurei-chend fi ndet ndash der Gegensatz zu Diamond und Conant liegt bereits hier denn beide Seiten differieren vor allem darin was das Buch eigentlich

71 In dieser Hinsicht stimmt seine Einschaumltzung mit derjenigen Conants uumlberein der seinerseits Hacker in die Naumlhe Carnaps plaziert (Two Conceptions of Die Uumlberwindung S 14 ff) Ohne Hacker sofort zu nennen schreibt Conant Carnap (wie spaumlter Hacker) eine substantielle Auffassung von Unsinn zu

72 Hacker lehnt sowohl die Abhandlung als auch Freges philosophische Grundkonzepti-on ab und setzt sie als verfehlten Versuch in scharfen Kontrast zum Denken des spaumlten Wittgenstein Diese Haltung wird in seinem Kommentar zu den Philosophischen Untersu-chungen deutlich besonders eklatant jedoch in dem (gemeinsam mit Gordon Baker ver-faszligten) gegen Dummetts Fregedeutung geschriebenen Frege Logical Excavations (Oxford 1984) Das Auftreten der resoluten Lesart gibt Hacker daher nicht den Grund zu seiner Ablehnung des fruumlhen Wittgenstein sondern vor allem den Anlaszlig seine Gruumlnde zu buumln-deln und erneut vorzubringen (Der verstorbene Gordon Baker der zunaumlchst gemeinsam mit Hacker mehrere Baumlnde zum spaumlten Wittgenstein verfaszligte dann aber seinen Ansatz weiterentwickelte und dabei in einigen Punkten der resoluten Lesart nahekam sei hier noch erwaumlhnt vgl Baker Wittgensteinrsquos Method Neglected Aspects Oxford 2004)

117Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

leisten will Hacker sieht einen eklatanten Gegensatz zwischen Wittgen-steins Erklaumlrung nichts lehren zu wollen und seinem tatsaumlchlichen Vor-gehen seine Gegner versuchen gerade diese Aumluszligerungen Wittgensteins zu verstehen und ihnen entsprechend den Text so zu lesen daszlig er keine raquoLehrenlaquo enthaumllt sondern auf andere Art und Weise arbeitet

Hacker versucht entsprechend auch nicht Diamond und Conant ge-recht zu werden sondern listet vor allem eine Reihe von Kritikpunkten auf Zum einen weist er auf eine gewisse hermeneutische Willkuumlr hin mit der nur relativ wenige insgesamt unzusammenhaumlngende Partien herange-zogen werden wobei einige Passagen doch wieder als ganz gewoumlhnlich und sinnvoll gelesen werden ohne daszlig eine klare Abgrenzung nach Kri-terien gegeben wuumlrde Die haumlufi g verwendete Rede vom raquoRahmenlaquo des Buches im Unterschied zum raquoHauptteillaquo bleibt ihm zufolge unklar abge-grenzt da zum Rahmen auch Bemerkungen wie 4112 aus der Mitte des Textes gezaumlhlt werden73 Im Zusammenhang damit weist er darauf hin daszlig zwischen den Arten von Unsinn doch ein Unterschied gemacht wer-de wenigstens nach der Wirkung auf den Leser74 Und schlieszliglich ver-sucht er nachzuweisen daszlig Wittgenstein selbst weder in seiner fruumlheren noch in seiner spaumlteren Zeit eine solche radikale Lesart seiner eigenen Ar-beit vorgetragen oder unterstuumltzt habe

Eine spezielle Streitfrage liegt darin ob es nach Wittgenstein raquoUumlbertre-tungen der logischen Syntaxlaquo geben koumlnne Diamond und Conant be-haupten nein Hacker versucht an Beispielen aufzuzeigen daszlig Wittgen-stein dies wiederholt anspricht (S 365ndash367)75 Der grundlegende Dissens betrifft hier die Frage ob Wittgenstein sich vorrangig um den Begriff und die Festlegung einer logischen Syntax als Einfuumlhrung sinnvoller Rede be-muumlht denn wenn es um die Festlegung und ggf die Erweiterung und Ver-aumlnderung von Sinn geht dann gibt es nichts was uumlbertreten oder verfehlt werden koumlnnte ndash oder aber ob Wittgenstein wie Hacker ihn liest jemand ist der vor allem schon bestehende syntaktische Systeme betrachtet und dabei die Moumlglichkeiten behandelt sich gegenuumlber den Vorschriften be-

73 Conants Auskunft daszlig nicht der Ort im Text sondern die Funktion der Bemerkung daruumlber entscheide ob es zu Rahmen oder Hauptteil gehoumlre vermag als Gegenargument nicht wirklich zu uumlberzeugen

74 Dies leugnen Conant und Diamond keineswegs nur kommt es ihnen gerade auf den Unterschied zwischen logischen und anderen Einteilungsgruumlnden an

75 Dieser Punkt ist auch deswegen zentral weil fuumlr Hacker Unsinn genau dadurch ent-steht daszlig man die logische Syntax verletzt (Was he Trying S 367) waumlhrend fuumlr Conant und Diamond Unsinn dann vorliegt wenn wir mit einer Zeichenreihe schlicht nichts anfangen koumlnnen also kein Symbol darin erkennen Dieser Frage widmet Hacker den Aufsatz Wittgenstein Carnap and the New American Wittgensteinians in Philosophical Quar-terly 53 (2003) S 1ndash23 und Diamond die Entgegnung Logical Syntax in Wittgensteinrsquos Tractatus in Philosophical Quartely 55 (2005) S 78ndash88

118 Wolfgang Kienzler PhR

stimmter Systeme abweichend zu verhalten und ihre Regeln zu verletzen Die Frage ist ob Wittgenstein die Syntax mit einem bestehenden Spiel analog setzt oder nicht76 Fuumlr beide Aspekte gibt es Belege im Text77

Eine gewisse Uumlbereinstimmung zwischen Hacker und seinen Gegnern liegt ironischerweise darin daszlig keine der beiden Seiten eine durchge-hende Interpretation der Abhandlung anstrebt Hacker haumllt dies aufgrund der Inkonsistenz fuumlr uninteressant (wenn auch theoretisch moumlglich) Dia-mond ist vorrangig an Einzelfragen und am methodischen Standard des spaumlten Wittgenstein interessiert (wozu sie in der Abhandlung letztlich doch nur eine Vorstufe fi ndet) und Conant ist hauptsaumlchlich damit beschaumlftigt vorgaumlngige Kriterien fuumlr eine uumlberzeugende Lektuumlre zu entwickeln78

Als zentrale unbeantwortete Frage bleibt daruumlber hinaus das Problem bestehen wie man Wittgensteins Sprache und die Art seiner Behaup-tungen im Text konsequent aufzufassen hat denn hier weist Hacker auf deutliche Inkonsistenzen der resoluten Leser hin Zum einen wird von raquobloszligem Unsinnlaquo gesprochen dann wieder werden Passagen so gelesen wie gewoumlhnliche behauptende Prosa zum einen ist von Ironie die Rede dann wieder scheint alles ganz woumlrtlich aufzufassen zu sein79

8 Marie McGinn hat den bisher ehrgeizigsten Versuch unternommen die Staumlrken beider konkurrierender Ansaumltze zu verbinden und die jewei-

76 Vgl Diamond (wie die vorige Anm) S 86 Hacker vertritt hier einen eher kantischen Ansatz der die Grenzen der Vernunft bereits abgesteckt vorfi ndet (ein fuumlr Hacker wichtiges Buch ist P Strawsons Kantdeutung in The Bounds of Sense) Diamond und Conant sehen Wittgenstein als radikaleren Denker nach dem diese Grenzen immer wieder neu bestimmt werden muumlssen bzw nach dem es genau genommen keine Grenzen gibt da das Entschei-dende die Moumlglichkeit neuer Begriffsbildungen ist ohne daszlig man sich an irgendeiner Vorgabe (oder Grenze) orientieren kann die man entweder trifft oder verfehlt

77 Zum einen schreibt Wittgenstein raquoWir koumlnnen einem Zeichen nicht den unrechten Sinn gebenlaquo (54733) also bei der Bedeutungsfestsetzung nichts verfehlen zum anderen erklaumlrt er schlicht Saumltze wie raquo1 ist eine Zahllaquo (41272) die sich auf unsere bestehende Spra-che beziehen fuumlr unsinnig weil darin das Wort raquoZahllaquo als gewoumlhnliches Begriffswort statt als raquoformaler Begrifflaquo und also falsch verwendet wird Daszlig 1 eine Zahl ist ist schon da-durch klar daszlig wir das Zahlzeichen 1 verwenden und gerade deshalb koumlnnen wir dies nicht noch zusaumltzlich behaupten Es ist allerdings richtig daszlig Wittgenstein im letzteren Fall strenggenommen nicht von der raquoVerletzung der logischen Syntaxlaquo spricht sondern das Gebilde einfach raquounsinniglaquo nennt da fuumlr solche Faumllle gar keine logische Syntax im exakten Sinn verfuumlgbar ist Die gesamte Abhandlung ist in dieser Hinsicht nirgends der Versuch eine vorliegende Syntax zu treffen aber auch nicht eine neue Syntax festzulegen sondern sie befaszligt sich vielmehr mit den Bedingungen der Moumlglichkeit von Syntax uumlberhaupt Insofern verfehlen sowohl Hacker auch Diamond und Conant diesen Kernpunkt des Buches

78 So etwa im Abschnitt What makes a Reading resolute in Mono-Wittgensteinianism S 42ndash47

79 Vgl dazu W Kienzler Die Sprache des Tractatus Klar oder deutlich Karl Kraus Witt-genstein und die Frage der Terminologie in F GoumlppelsriederJ Volbers (Ed) Philosophie als Lebensform Muumlnchen 2008 (im Erscheinen)

119Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

ligen Schwaumlchen zu vermeiden80 Sie will Wittgenstein keine metaphy-sischen Lehren zuschreiben81 aber doch sicherstellen daszlig wir aus dem Buch etwas Konstruktives lernen koumlnnen Dazu nimmt sie den Begriff der Klaumlrung als Orientierungspunkt Die Aufgabe des Buches ist es demnach die Logik der Sprache aufzuklaumlren Wenn dies aber ohne die Verwendung positiver Lehren geschehen soll muszlig es indirekt geschehen naumlmlich da-durch daszlig die Sprache sich indirekt selbst klaumlrt das heiszligt daszlig eine solche Klaumlrung nicht auf etwas auszligerhalb der Sprache Bezug nimmt denn das waumlre Kennzeichen einer metaphysischen Auffassung McGinn schreibt et-was kryptisch raquoEs ist ein Werk in dem die Natur des Satzes die schon klar ist obwohl wir sie noch nicht klar sehen sich selbst fuumlr uns klaumlrtlaquo82

Sie betont jedoch sehr zu Recht daszlig Wittgenstein in seiner Abhandlung die eine groszlige Frage loumlsen wollte raquoDas Wesen des Satzes angeben heiszligt das Wesen aller Beschreibung angeben also das Wesen der Weltlaquo (54711)83

Damit aber waumlren alle (oder raquodielaquo) philosophischen Probleme geloumlst Ohne eine solche Voraussetzung die Wittgenstein offenbar als grundle-gende Einsicht erschien ist seine Handlungsweise gar nicht nachvollzieh-bar naumlmlich ein uumlberaus kurzes Buch zu verfassen in dem alle philoso-phischen Fragen im Prinzip jedenfalls beantwortet sind Dies ist nur moumlglich wenn diese Fragen so eng zusammenhaumlngen daszlig die Loumlsung der einen zugleich die Loumlsung der anderen bedeutet Dieser Grundgedanke strukturiert McGinns Buch und gibt ihm eine klare Linie84 Sie untersucht die besonders von Conant behandelten Fragen nach den Bedingungen einer angemessenen Lektuumlre fast gar nicht und antwortet insofern nicht durch Gegenargumente sondern durch die Tat durch einen Gang durch das Buch Es uumlberrascht dabei daszlig sie den Anfang zunaumlchst weglaumlszligt und nach Einleitungskapiteln zur Abgrenzung gegen Frege und Russell gleich mit dem Begriff des Bildes und dann des Satzes beginnt Tatsaumlchlich zeigt McGinn uumlberzeugend auf daszlig die Eingangspassagen am besten als Hin-fuumlhrungen zur raquoTheorie des Satzeslaquo aufgefaszligt werden und nicht als eigen-staumlndiges Theoriestuumlck einer vorangestellten Ontologie (sei diese nur scheinbar als Illusion aufgebaut oder ernst gemeint vgl etwa Diamond

80 Marie McGinn Elucidating the Tractatus81 Marie McGinn Between Metaphysics and Nonsense Elucidation in Wittgensteinrsquos Tracta-

tus In Philosophical Quarterly 49 (1999) S 491ndash513 hier S 107)82 Damit bleibt McGinn nahe an Aumluszligerungen von Diamond und Conant (etwa Method

S 424)83 Zit in McGinn Elucidating S 24084 Das erste Kapitel The Single Great Problem behandelt diese Frage zeigt aber bereits

daszlig sich McGinn nicht vollstaumlndig auf den Text einlaumlszligt sondern ihn von Anfang an stark aus der Perspektive der Philosophischen Untersuchungen her deutet (die im letzen Kapitel er-neut den Maszligstab der Betrachtung bilden)

120 Wolfgang Kienzler PhR

Ethics S 160) Vor dem Hintergrund der Auffassung des sinnvollen Satzes wird der Anfang dann relativ leicht verstaumlndlich In der Darstellung von McGinn wird die Abhandlung wieder zu einer Abhandlung einer nuumlch-ternen Darlegung uumlber die Voraussetzungen sinnvollen Sprechens und Ausdruumlckens uumlber die Unterschiede der Satzarten und die allgemeine Form des Satzes Allerdings ruumlcken so die Einzelheiten der Sprachlogik ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit und die Fragen nach der Natur der Philosophie aber auch die nach der Einheit des Buches treten ganz in den Hintergrund Das Buch enthaumllt kein Kapitel zum Philosophiebegriff des fruumlhen Wittgenstein und kaum Erlaumluterungen zur spezifi schen Form der Darstellung oder zur Strategie der Praumlsentation Einige Themen wie die Ethik Arithmetik oder die Naturgesetze werden ganz uumlbergangen dabei waumlre an diesen Beispielen die angestrebte Einheitlichkeit erst richtig aufzuzeigen gewesen In dieser Hinsicht erklaumlrt McGinn die Abhandlung in der Form die sie 1916 noch hatte bevor Wittgenstein die Schluszligpassa-gen einarbeitete und als sie noch staumlrker eine Abhandlung in raquophiloso-phischer Logiklaquo war85 Gegen Diamond und Conant stellt sie klar heraus daszlig das Ziel der Klaumlrung raquodurch Einsicht in das Funktionieren der Spra-chelaquo erreicht werden soll und nicht indirekt dadurch daszlig raquodie Versuche philosophische Saumltze zu bilden als Unsinn erkannt werdenlaquo (S 254 Anm 6) Die sehr nuumlchterne Art McGinns zeigt einen Wittgenstein der ganz unironisch seine logisch-philosophische Konzeption Schritt fuumlr Schritt entwickelt86

85 Vgl Brian McGuinness Wittgensteinrsquos 1916 Abhandlung in R HallerK Puhl (Hg) Wittgenstein and the Future of Philosophy Wien 2002 S 272ndash282 Die grundlegenden philologischen Arbeiten von McGuinness werden in der gegenwaumlrtigen Debatte leider wenig fruchtbar gemacht

86 Das stark gestiegene Interesse am fruumlhen Wittgenstein hat eine ganze Reihe von Monographien hervorgebracht die jedoch nur selten das gelassene exegetische Niveau McGinns erreichen sondern in der Regel mehr oder weniger exzentrische Deutungen in den Mittelpunkt stellen

M Ostrow Wittgenstein and the Liberating Word CambridgeMass 2002 (eine Zusam-menfassung in Reck From Frege to Wittgenstein) versucht eine an Floyd orientierte raquodialek-tische Interpretationlaquo die sich am Leitmotiv des raquoerloumlsenden Worteslaquo orientiert aber ins-gesamt zu vage bleibt zumal sich die Differenz zum spaumlteren Wittgenstein ganz aufzuloumlsen scheint und wichtige Passagen unberuumlcksichtigt bleiben

E Friedlander Signs of Sense Reading Wittgensteinrsquos Tractatus Cambridge Mass 2001 scheint das Raumltselhafte geradezu zu genieszligen und nennt als sein Ziel raquonicht das Raumltsel des Buches zu loumlsen sondern seinen raumltselhaften Charakter auf eine wahrhaft zum Denken herausfordernde Art aufzuzeigenlaquo (S XV) und will geradezu raquoseinen raumltselhaften Charak-ter rechtfertigenlaquo (16)

U Nordmann Wittgensteinrsquos Tractatus An Introduction Cambridge 2005 faszligt das Buch als ein Gedankenexperiment und eine groszlige Reductio ad Absurdum auf zu der er einige Praumlmissen ergaumlnzt Er deutet das Buch als im Konjunktiv geaumluszligert wodurch der Behaup-

121Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Ausblick

Die Arbeiten von Diamond und Conant haben zu einer neuen Welle des Interesses an Wittgensteins Fruumlhwerk gefuumlhrt und die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten vor allem aber auch das Potential seiner Abhandlung gelenkt Im Zentrum steht dabei die Natur der Philosophie als Erlaumlute-rung die selbst nicht in die Gestalt einer Lehre gebracht werden kann oder anders ausgedruumlckt der entscheidende Unterschied zwischen einer philosophischen und einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Untersu-chung

Gerade dadurch daszlig sie die Abhandlung stellenweise sehr nah an den spaumlten Wittgenstein heranruumlcken eroumlffnen Conant und Diamond Moumlg-lichkeiten die Souveraumlnitaumlt und Subtilitaumlt des Buches erst richtig zu wuumlr-digen Dies geschieht jedoch um den Preis daszlig einige Teile des Buches herausgegriffen andere dagegen kaum beruumlcksichtigt werden

Nicht hinreichend geklaumlrt scheint auch die Frage nach dem sprachlichen Grundton des Buches Diamond geht immer wieder von einem nahe an der Alltagssprache stehenden Redegestus aus (aumlhnlich wie der spaumlte Wittgen-stein) waumlhrend Conant aus der weiteren Perspektive ironische Zuumlge be-schreibt87 Gemeinsam ist den resoluten Lesern daszlig sie Wittgensteins Saumltze in der Abhandlung auf doppelte Weise auffassen Sie unterscheiden an vielen Stellen einen buchstaumlblichen naheliegenden Sinn der sich bei naumlherer Be-trachtung als inkohaumlrent erweist und der so zerfaumlllt88 Daher wird in ihrer

tungscharakter eingeklammert die Klaumlrungsfunktion jedoch trotzdem ermoumlglicht wird Er gewinnt so eine Kategorie von Saumltzen die raquounsinnig aber bedeutungsvolllaquo (176) sind

L Gunnarsson Wittgensteins Leiter Bodenheim 2002 greift einen Gedanken Conants auf daszlig wir naumlmlich den Hauptteil des Buches wegwerfen und den Rahmen behalten sollen (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 286) und entwickelt daraus die Fik-tion es waumlre tatsaumlchlich nur das Vorwort und der Schluszlig der Abhandlung erhalten ndash und will daraus den Gehalt des Buches ohne Verlust rekonstruieren Diese Veranschaulichung zeigt besonders klar auf wie verfehlt dieser Ansatz ist wenn man ihn auf die konkrete Interpretationspraxis bezieht

87 Die Parallele zwischen Wittgenstein und Kierkegaard scheint in zentralen Punkten gerade nicht zu bestehen denn Wittgenstein distanziert sich gerade nicht von seinem Buch sondern erklaumlrt seine Auffassungen fuumlr defi nitiv richtig und alternativlos ganz ent-gegen dem verwirrenden Spiel Kierkegaards mit unterschiedlichen Pseudonymen und Perspektiven Ein passenderer Vergleich waumlre etwa mit Hume moumlglich der am Ende seiner Untersuchung uumlber die Prinzipien der Moral (Abschnitt 9 Teil 1) seine Ergebnisse fuumlr derart einfach klar kohaumlrent und uumlberzeugend haumllt daszlig dem nichts hinzuzufuumlgen ist so daszlig er selbst geradezu in Versuchung kommen koumlnnte dogmatisch davon uumlberzeugt zu sein

88 So fuumlhrt Diamond (in Ethics wie Anm 37) folgende Beispiele dafuumlr an 1 das woruuml-ber man schweigen muszlig (aber das kann es doch nicht geben weil es kein raquodaruumlberlaquo ist S 149) 2 die Saumltze der Abhandlung die zu verstehen seien (oder doch raquoer selbstlaquo wie Witt-genstein dann uumlberraschenderweise sagt S 149) 3 die Anfangssaumltze uumlber die Welt (aber daruumlber kann es doch keine Saumltze geben S 160) 4 der Schein daszlig ab 64 Saumltze uumlber Ethik

122 Wolfgang Kienzler PhR

Perspektive das Buch durchgehend doppelboumldig und loumlst sich schlieszliglich in Nichts auf wobei in der Aufl oumlsung gerade die Absicht des Buches bestehen soll89 Demgegenuumlber kann festgehalten werden daszlig Wittgenstein nir-gends von Ironie spricht wohl aber davon daszlig er das Wesentliche in Kuumlr-ze klar ausdruumlcken will Eine wichtige Differenz innerhalb der resoluten Lesart liegt weiter darin welche Wichtigkeit man den eher technischen Aspekten der Abhandlung zuschreibt Ricketts und Goldfarb sehen viele Zuumlge des Buches von technischen Erwaumlgungen motiviert und gepraumlgt waumlhrend Diamond und Conant den Sinn der symbolischen Notation vor allem darin sehen wesentliche Unterschiede klarzustellen90

Das Motto erklaumlrt daszlig man raquoalles was man weiszliglaquo schlieszliglich raquoin drei Worten sagenlaquo kann Viele der scheinbaren Widerspruumlche und Doppelt-heiten die resolute Leser beobachten koumlnnten sich von daher moumlglicher-weise der Absicht verdanken im Buch logisch praumlzise Saumltze zu erwarten eine Absicht die bestaumlndig getaumluscht wird91 Wuumlrde man die Saumltze eher als Instrumente verstehen die allmaumlhlich entsprechend den Stufen der Lei-ter zur Klarheit anleiten ohne daszlig der Leser in die selbstrefl exive Geste verwickelt werden soll dann koumlnnte eine einfachere und klarere Lesart entstehen die auch mehr Sinn fuumlr den Zusammenhang und die spezi-fi schen Darstellungsmittel des Buches entwickeln wuumlrde ndash wenn denn eine solche zusammenhaumlngende Erlaumluterung als gemeinsames Ziel fest-staumlnde92 Auch Fragen der Textkritik die derzeit nur sehr sporadisch ge-streift werden koumlnnten dann eine groumlszligere Rolle spielen

Wolfgang Kienzler (ChemnitzJena)

vorkommen (die es doch gar nicht geben kann S 164) 5 der Schein daszlig im Buch Saumltze raquouumlber Logiklaquo vorkommen (die es ebenfalls nicht geben kann S 164) In allen Beispielen kann man die Situation natuumlrlicher so darstellen daszlig man die Saumltze der Abhandlung von vornherein zwar woumlrtlich aber nicht buchstaumlblich nimmt sondern sich von ihren zur Klarheit die sich erst allmaumlhlich einstellen kann fuumlhren laumlszligt

89 Diese Doppeltheit der Lesart ist den resoluten Lesern und ihren Kritikern gemein-sam sie ist aber keineswegs selbstverstaumlndlich und widerspricht dem Grundgedanken der Klarheit

90 Dies ist das Thema von Diamond What Does a Concept-Script Do in The Realistic Spirit S 115ndash144 Sie sieht darin ein raquoWerkzeug geistiger Befreiunglaquo (143) deutet damit aber tendenziell wieder einen Gedanken der Abhandlung in Frege hinein der zunaumlchst die Umgangssprache ganz zugunsten der exakteren Begriffsschrift verbannen wollte

91 In weiten Teilen der resoluten Beitraumlge kann man auch eine gewisse Vergegenstaumlnd-lichung mancher von Wittgenstein verwendeter Woumlrter wahrnehmen die dazu fuumlhren daszlig die Rede von raquoUnsinnlaquo raquoErlaumluterunglaquo u a zunaumlchst gegenstaumlndlich miszligverstanden und anschlieszligend als Gegenstaumlndlichkeit leugnend gedeutet wird Eine Beachtung von Wittgensteins ungezwungenem und unterminologischem Sprachgebrauch koumlnnte viele dieser Schleifen uumlberfl uumlssig machen

92 Das Buch von McGinn kann dazu als erster wichtiger konstruktiver Schritt angese-hen werden auch wenn es insgesamt etwas zu additiv verfaumlhrt

Page 4: Neue Lektüren von Wittgensteins Logisch-Philosophischer ... · 10 E. Stenius : Wittgensteins Traktat [1960], Frankfurt/M. 1969, nennt den Schluß »keine echte Verdammung [. . .]

98 Wolfgang Kienzler PhR

von Geach13 mit der These daszlig Wittgensteins Buch nur dann nicht selbst-widerspruumlchlich wird wenn man davon ausgeht daszlig darin das Wichtig-ste die raquowichtigsten Zuumlge der Realitaumltlaquo zwar nicht raquogesagtlaquo wohl aber raquogezeigtlaquo werden Diamond greift dieses Problem auf und stellt im Gegen-zug heraus daszlig die Rede davon daszlig es ein raquoetwaslaquo gibt das zwar nicht gesagt wohl aber gezeigt werden kann inkonsequent ist Wittgensteins Rede von raquoUnsinnlaquo ist ihr zufolge ganz ernst zu nehmen und nicht zu umgehen er meint wirklich daszlig seine Saumltze raquoeinfach nur Unsinn sindlaquo Seit 1990 tritt James Conant an die Seite von Diamond und entwickelt die-se Lesart weiter u a durch Vergleiche zu Kierkegaards Schreibweise und durch eine Rekonstruktion der gesamten Deutungsdebatte Seit etwa 1997 spricht man von einer raquoresoluten Lesartlaquo14 Am 23 und 24 April 1998 fi ndet ein Treffen der wichtigsten Kontrahenten beim Boston Colloquium on the History and Philosophy of Science statt bei dem auch eine radikale raquoJako-binischelaquo Fraktion ( J Floyd) auftritt15 Daraus geht zT der Sammelband The New Wittgenstein (2000)16 hervor der als Ausdruck einer ganzen Strouml-mung aufgefaszligt und breit diskutiert wird und dem weitere Sammlungen folgen17 Er enthaumllt auch eine kritische Stellungnahme von Peter Hacker

13 P Geach Saying and Showing in Frege and Wittgenstein in J Hintikka (Hg) Essays on Wittgenstein in Honor of G Hv Wright Acta Philosophica Fennica 28 Amsterdam 1976 S 54ndash70

14 Die Herausgeber des Cambridge Companion zu Wittgenstein (1996) vergleichen Witt-genstein mit Sokrates (S 29 f) wissen aber von besonderen aktuellen Debatten nichts zu berichten Diamond ist darin als eine von mehreren Interpreten vertreten sie behandelt die Frage ob man nicht durch den Vergleich mit den Bemerkungen zur Mathematik zei-gen kann daszlig es vor allem fuumlr den spaumlten Wittgenstein weniger auf das Vokabular als auf den konkreten Gebrauch der Saumltze ankommt etwa wenn man fragt ob es sich in einem konkreten Fall um eine Frage der Ethik handelt ndash und daszlig man durch eine solche Auffas-sung weniger in Versuchung kommt zu glauben man koumlnne ethische Werte quasi wahr-nehmen (im Sinne eines ethischen raquoRealismuslaquo) Vgl C Diamond Wittgenstein mathema-tics and ethics Resisting the attractions of realism S 226ndash260 Im Beitrag von Ricketts faumlllt beilaumlufi g das Wort raquoresolutlaquo Auch das Wittgenstein-Lexikon von Hanjo Glock (Oxford 1996 Darmstadt 2000) das in seinem Ansatz Peter Hacker verpfl ichtet ist nennt in der kommentierten Bibliographie ohne weitere Anmerkungen Diamonds Aufsaumltze raquoschwierig aber interessant besonders zum Thema Unsinnlaquo

15 Vgl dazu V Hofmann Ein Bostoner Streitgespraumlch uumlber Wittgensteins Tractatus Frank-furter Allgemeine Zeitung 10 Juni 1998

16 Die verbreitete Rede vom raquoneuen Wittgensteinlaquo bleibt sehr vage und erscheint wenig hilfreich Ein etwas klareres Konzept ist dagegen mit der raquotherapeutischenlaquo Auffassung verbunden nach der es Wittgenstein lediglich darum geht seine Leser von ihren falschen Gedankengaumlngen zu heilen ohne diese durch irgend etwas substantiell Neues zu ersetzen Diese Variante die den Gesichtspunkt der Wirkung besonders hervorhebt ist sehr stark auf den spaumlten Wittgenstein bezogen Diamond hebt demgegenuumlber zu Recht den logischen Charakter von Wittgensteins Analysen hervor

17 Saumlmtliche Baumlnde enthalten auch viel fuumlr die Diskussion kaum einschlaumlgiges Material Zu nennen ist Timothy McCarthySean C Stidd (Hg) Wittgenstein in America Oxford

99Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

dem prominentesten Kritiker des Neuansatzes Das Wittgenstein-Sympo-sium Kirchberg 2001 zum 50 Todestag Wittgensteins wird von der De-batte um die neue Lesart beherrscht 2002 erscheint die bisher ausfuumlhr-lichste Darstellung von Conant Beitraumlge von Warren Goldfarb18 Thomas Ricketts19 Juliet Floyd Michael Kremer und anderen erweitern das Lager der raquoresolutenlaquo Leser20 2006 erscheint eine Monographie von Marie Mc-Ginn die eine Synthese der aumllteren und der neueren Lesart versucht Die Festschrift fuumlr Cora Diamond (2007) enthaumllt bereits Ruumlckblicke auf die bisherigen Entwicklungen sowie die Perspektive das Diskussionsfeld end-guumlltig auf den spaumlten Wittgenstein auszuweiten21

3 Ausgangspunkt der Entwicklung war Cora Diamonds Versuch aus studentischen Aufzeichnungen Wittgensteins Vorlesungen uumlber die Grund-

2001 (tatsaumlchlich sind die meisten Vertreter der resoluten Lesart Amerikaner [raquoMost Brits donrsquot buy itlaquo]) Reck From Frege to Wittgenstein (2002) mit Conants langem Aufsatz sowie Stocker Post-Analytic Tractatus (2004) Dieser letzte Band ist insofern symptomatisch als er sehr heterogenes Material unterschiedlicher Qualitaumlt bietet Neben Aufsaumltzen von Co-nant Diamond und Kremer sowie einigen allgemeineren Beitraumlgen enthaumllt der Band L E Brouwers fruumlhe Schrift Life Art and Mysticism (niederlaumlndisch 1905) mit dem Hinweis daszlig sie raquodasjenige explizit macht was bei Wittgenstein auszligerhalb der Grenzen des Sag-baren verbleibtlaquo (Einleitung des Herausgebers S 3) Ein solches Verstaumlndnis von Explika-tion kann man nur als kurios bezeichnen

18 Warren Goldfarb hat in Metaphysics and Nonsense On Cora Diamondrsquos The Realistic Spirit in Journal of Philosophical Research 22 (1997) S 57ndash73 der Stroumlmung den Namen gegeben sonst aber wenig veroumlffentlicht (vgl die Liste der Texte in Floyd Wittgenstein and the Inexpressible in Wittgenstein and the Moral Life S 229)

19 Als fuumlhrender Fregeinterpret geht Ricketts von der Schwierigkeit aus daszlig es keinen logisch wohlgebildeten Satz geben kann der ausdruumlckt daszlig Begriffe keine Gegenstaumlnde sind da Saumltze der Form A=B voraussetzen daszlig die Ausdruumlcke auf beiden Seiten der Glei-chung (oder Ungleichung) derselben Kategorie angehoumlren und der fragliche Satz daher die schlichte Verneinung eines solchen Satzes sein muumlszligte Varianten desselben Problems fi ndet er in refl ektierterer Form auch bei Wittgenstein wieder vgl dazu Pictures Logic and the Limits of Sense in Wittgensteinrsquos Tractatus in Wittgenstein Companion S 59ndash99 vor allem S 88ndash94 Eine besondere Gemeinsamkeit von Ricketts Goldfarb und anderen liegt darin herauszustellen daszlig Wittgenstein offenbar von seinen Lesern erwartet daszlig sie zugleich auf den Inhalt seiner Saumltze und auf die logische Form dieser Saumltze achten sollen wobei der Effekt eintritt daszlig die logische Form der Saumltze dem in ihnen (scheinbar) Gesagten wider-spricht wodurch sich der Sinn der gesamten Ausfuumlhrungen von innen her zersetzt und in Unsinn aufl oumlst Ricketts zeigt dies fuumlr die Satzreihe zwischen 2 und 21

20 Ein weiterer wichtiger Vertreter und Anreger dieser Wittgensteinlektuumlre ist der 1995 verstorbene Peter Winch dessen Sammelband Trying to Make Sense (Oxford 1987 Versu-chen zu verstehen FrankfurtM 1992) in vieler Hinsicht den Arbeiten von Diamond ver-gleichbar ist Zwei wichtige Arbeiten Conant Method of the Tractatus und Diamond How Long ist the Standard Meter at Paris in Wittgenstein in America (s Anm 17 dieser Band geht auf eine von Winch organisierte Tagung zuruumlck) sind dem Andenken an Winch gewid-met

21 Conant nennt in seinem Beitrag sechzehn Mitstreiter (Mono-Wittgensteinianism S 11 Anm 3)

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lagen der Mathematik von 193922 einigermaszligen zusammenhaumlngend zu rekonstruieren23 Diamond gewann aus dieser Arbeit den schlagenden Eindruck wie schwierig es ist Wittgensteins Herangehensweise an philo-sophische Fragen richtig aufzufassen und auszudruumlcken24 Diesem Grun-dimpuls Wittgensteins philosophischen Ansatz in seiner Schwierigkeit und Radikalitaumlt zu erlaumlutern verdankt sich ein groszliger Teil von Diamonds weiterer Arbeit25

Zentral ist ein starkes Interesse an der Spaumltphilosophie Wittgensteins demgegenuumlber erscheint die fruumlhe Denkweise als erster und wichtiger Schritt in die richtige Richtung nicht aber als ein gescheiterter Versuch dem Wittgenstein spaumlter etwas grundlegend Anderes entgegensetzte Dia-monds Interesse an der Abhandlung ist zunaumlchst eher indirekt und liegt darin zu zeigen wie der radikale Ansatz schon des fruumlhen Wittgenstein interpretativ weitgehend abgefl acht und miszligverstanden wurde Die Initi-alzuumlndung zu einer intensiven Beschaumlftigung mit dem fruumlhen Wittgen-stein ging dann von Peter Geachs Versuch aus durch Zuhilfenahme der

22 Wittgenstein Lectures on the Foundations of Mathematics 1939 Ithaca N Y 1976 (= Schriften Bd 7 1978 dieser wichtige Text ist in der deutschen Uumlbersetzung wenig beach-tet und nicht nachgedruckt worden)

23 Es gelang Diamond schlieszliglich auf bewundernswerte Weise aus den unterschied-lichen stark voneinander abweichenden Mitschriften einen zusammenhaumlngenden Text zu erstellen Diese philologisch anfechtbare und fuumlr den Leser nicht uumlberpruumlfbare Praxis wur-de in spaumlteren Veroumlffentlichungen von Vorlesungen Wittgensteins zugunsten der paral-lelen Wiedergabe der einzelnen Mitschriften aufgegeben Damit verschwanden aber auch Erfahrungen wie diejenige Diamonds

24 Diamond schreibt raquoIch brauchte vier Jahre um uumlberhaupt zu verstehen was in diesen Vorlesungen eigentlich vor sich ginglaquo (Diamond How Did I Come to be Acquainted with Wittgensteinrsquos Work In Philosophical Investigations 14 2001 S 108ndash115 S 109 diese Ausgabe enthaumllt entsprechende Auskuumlnfte u a auch von Cavell Conant und Hacker) Die Arbeit an dieser Edition hat Diamonds Perspektive entscheidend gepraumlgt Man koumlnnte sa-gen daszlig Diamond sich in ihren eigenen Veroumlffentlichungen an dem Ideal orientiert das Wittgenstein in diesen Vorlesungen paradigmatisch vorfuumlhrt Er nimmt einen Satz etwa aus einer Schrift des bedeutenden Mathematikers Hardy daszlig mathematischen Saumltzen raquoin irgendeiner wenn auch noch so subtilen Form etwas in der Realitaumlt entsprichtlaquo und zeigt durch intensive Deutungsbemuumlhungen und praumlgnante Beispiele auf inwiefern diese For-mulierung zwar nicht falsch ist wohl aber und das ist weit gravierender eine grundsaumltz-lich verfehlte Einstellung zum raquoGegenstand der Mathematiklaquo ausdruumlckt (25 und 26 Vor-lesung S 290 ff)

25 Diamond greift zudem Impulse von Rush Rhees und Elizabeth Anscombe auf beides unmittelbare Schuumller sowie Nachlaszligverwalter und Herausgeber Wittgensteins sowie von Stanley Cavell der zunaumlchst von Austin beeinfl uszligt weitgehend unabhaumlngig eine ganz auf die Philosophischen Untersuchungen konzentrierte Lektuumlre Wittgensteins entwickelt und durch seine Lehrtaumltigkeit auch auf Conant Goldfarb und Ricketts gewirkt hat (wie die vorherige Anm S 109 f) Allerdings uumlberschreitet Cavells bisweilen sehr kreative Um-gangsweise mit den Texten haumlufi g die Grenzen dessen was man Interpretation nennen kann

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Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen Wittgenstein davor zu ret-ten sich selbst philosophisch mattzusetzen (raquoLudwigrsquos self-matelaquo)26 Geach war damit derjenige der dem Schluszlig des Buches nicht nur besondere Aufmerksamkeit schenkte sondern ihn zum Pruumlfstein uumlber Erfolg oder Scheitern von Wittgensteins fruumlher Philosophie bzw der Versuche sie zu verstehen machte

Fast alle Versuche den Schluszlig zu verstehen knuumlpfen an die im Text zentrale Unterscheidung zwischen raquoSagenlaquo und raquoZeigenlaquo an Wittgenstein selbst nannte sie einmal den raquoHauptpunktlaquo seiner Philosophie (Brief an Russell vom 19 8 1919) und er entwickelt sie bei der Behandlung radikal unterschiedlicher Arten von Saumltzen Empirische oder raquosinnvollelaquo Saumltze vergleicht er mit Bildern die Sachverhalte darstellen Wenn der darge-stellte Sachverhalt besteht ist der Satz wahr wenn er nicht besteht falsch Saumltze sagen daszlig die von ihnen dargestellten Sachverhalte bestehen Sie sind artikuliert und tun dies mit Hilfe ihrer spezifi schen logischen Form Die-se Form raquoweisen sie auflaquo aber sie sagen sie nicht aus sondern raquozeigenlaquo sie Diese beiden Aspekte das von einem Satz Ausgesagte und Behauptete sowie die dabei zum Einsatz kommenden sprachlogischen Mittel trennt Wittgenstein scharf Weiter betont er daszlig die Saumltze der Logik keine Sach-verhalte darstellen sondern bereits aufgrund ihrer Form als korrekt und insofern raquowahrlaquo oder als widerspruumlchlich und insofern raquofalschlaquo zu erken-nen sind Wittgenstein spricht von raquoTautologienlaquo27 und raquoKontradiktionenlaquo Diesen rein formalen Charakter der logischen Saumltze druumlckt Wittgenstein auch so aus daszlig er sie raquosinnloslaquo nennt und bemerkt raquoDie Saumltze der Logik sagen also Nichtslaquo (611)28 Er druumlckt dies auch so aus daszlig logische Saumltze raquozeigen daszlig sie nichts sagenlaquo (4461) Sagen und Zeigen sind fuumlr ihn strikt getrennte Ausdrucksformen raquoWas gezeigt werden kann kann nicht gesagt werdenlaquo (41212) Weiterhin untersucht Wittgenstein die Natur der philo-sophischen Saumltze und kommt zu dem Schluszlig daszlig diese weder zur Gruppe der sinnvollen noch zu der der sinnlosen Saumltze gehoumlren Da seiner Mei-nung nach der Philosophie uumlberdies kein eigener Gegenstandsbereich zugewiesen werden kann erklaumlrt er daszlig die Philosophie raquokeine Lehre sondern eine Taumltigkeitlaquo (4112) sei naumlmlich die Taumltigkeit der logischen

26 Saying and Showing in Frege and Wittgenstein (wie Anm 13 Zit S 54) Diamond deutet den Schluszlig nicht defensiv wie Geach sondern offensiv als Versuch etwas Wichtiges klar-zustellen

27 Wittgenstein etabliert damit eine ganz neue Verwendungsweise des Wortes raquoTauto-logielaquo die durch die aussagenlogischen Wahrheitsbedingungen erklaumlrt ist

28 Wittgenstein verwendet die Ausdruumlcke raquosinnvolllaquo raquosinnloslaquo und raquounsinniglaquo um wichtige Unterschiede lokal zu markieren aber als Terminologie entstammt diese Trias der Sekundaumlrliteratur und der Neuuumlbersetzung des Buches durch David Pears und Brian McGuinness (1961)

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Klaumlrung der Gedanken und der Klarstellung der grundlegenden Funk-tionsweise des sprachlichen und symbolischen Ausdrucks29

Nach Geach muszlig man Wittgensteins Buch so verstehen daszlig darin zum einen etwas gesagt wird daszlig aber wichtige Zuumlge der Realitaumlt ( features of reality) entsprechend Wittgensteins Analysen nicht gesagt wohl aber ge-zeigt werden koumlnnen Die Schluszligbemerkung waumlre dann so aufzufassen daszlig man einsehen muszlig daszlig die philosophisch wichtigen Einsichten nur gezeigt werden koumlnnen sie damit aber in Saumltzen enthalten sind die streng genommen unsinnig sind weil sie nicht etwas raquosagenlaquo so naumlmlich wie der Terminus raquosagenlaquo in der Abhandlung verwendet wird Geach sieht in dieser Unterscheidung eine Einsicht die Wittgenstein von Frege uumlbernimmt und erweitert

In ihrem Aufsatz Throwing Away the Ladder (1985)30 setzt sich Diamond intensiv mit Geach auseinander und entwickelt daraus wesentliche Ele-mente die die Diskussion bis heute praumlgen Dazu gehoumlrt der Bezug auf Frege In seinen raquoErlaumluterungenlaquo31 logischer Grundbegriffe also dessen was er das raquoLogischeinfachelaquo nennt und was entsprechend durch keine Defi nition weiter zergliedert werden kann spricht Frege deutlich aus daszlig er sich bildlich und unexakt ja teilweise sogar streng genommen falsch ausdruumlcken muszlig um das Gemeinte zu vermitteln32 Das wichtigste Bei-spiel Freges ist die grundlegende Unterscheidung von Gegenstand und Begriff die er so erlaumlutert daszlig Gegenstaumlnde abgeschlossen Begriffe dage-

29 Die Saumltze der Philosophie waumlren nach Wittgenstein daher in Abgrenzung zu den beiden ersten Gruppen als raquounsinniglaquo einzustufen Diese relativ harmlose Deutung die 654 zu einer letztlich terminologischen Bemerkung macht wird von Diamond und Conant jedoch nicht geteilt Es ist eine Staumlrke des Ansatzes von DiamondConant daszlig sie die Abhandlung nicht nach einem terminologischen Schema zu entschluumlsseln versuchen im besonderen Fall von 654 ist ihr Ergebnis dennoch zweifelhaft denn man kann die Bemer-kung als raquoabschlieszligende selbstrefl exive Schluszligbemerkunglaquo verstehen die einfach ein letz-tes zusaumltzliches Licht auf das Ganze werfen und die Klarheit damit abrunden nicht aber diese erst herstellen soll Der Vergleich des Schlusses mit der Pointe eines Witzes die alles in ein voumlllig neues Licht taucht und die Spannung zusammenbrechen laumlszligt (vgl unten Anm 62) wirkt etwas gezwungen In seinen Anweisungen an Ogden (Letters to Ogden Oxford 1973 S 19) fuumlr die Uumlbersetzung des Buches besteht Wittgenstein darauf daszlig der raquoSinn nicht die Woumlrterlaquo uumlbersetzt werden und nennt dann wieder das Ganze raquoUnsinnlaquo dies weist darauf hin daszlig fuumlr ihn das Ganze nicht einfach durch und durch als Unsinn zu bezeichnen ist

30 Throwing Away the Ladder How to Read the Tractatus auch in The Realistic Spirit S 179ndash204

31 Auch dieser Terminus stammt von Frege obwohl er nicht auf den Bereich analy-tischer Philosophie beschraumlnkt ist (vgl M Heideggers Erlaumluterungen zu Houmllderlins Dichtung und das zugehoumlrige Vorwort)

32 Vgl dazu auch Gottfried Gabriel Der Logiker als Metaphoriker Freges philosophische Rhetorik in Gabriel Zwischen Logik und Literatur Stuttgart 1991 S 65ndash88 Auch Gabriel sieht bei Wittgenstein die konsequente Durchfuumlhrung Fregescher Einsichten

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gen ungesaumlttigt sind und eine Leerstelle aufweisen die nur durch einen Gegenstand gesaumlttigt werden kann Dies gilt fuumlr Frege sowohl fuumlr die Be-griffe und Gegenstaumlnde selbst als auch fuumlr die Ausdruumlcke mit denen wir sprachlich Begriffe bzw Gegenstaumlnde bezeichnen Daher ist jedoch fuumlr ihn jeder Ausdruck ohne Leerstelle zwangslaumlufi g ein Gegenstandsname kein Begriffswort Sprachlich gesehen sind alle Ausdruumlcke mit dem be-stimmten Artikel (raquoder Nlaquo) Eigennamen solche mit dem unbestimmten Artikel (raquo ist ein Pferdlaquo) Begriffswoumlrter Damit aber ist ein Ausdruck wie raquoder Begriff Pferdlaquo schon aus syntaktischen Gruumlnden ein Gegenstandsna-me und kein Begriffswort Entsprechend erklaumlrt Frege den Satz raquoDer Be-griff Pferd ist kein Begrifflaquo allein aufgrund der syntaktischen Form fuumlr wahr weil die Worte raquoder Nlaquo und damit auch raquoDer Begriff Nlaquo nur einen Gegenstand bezeichnen koumlnnen Daruumlber hinaus erklaumlrt er daszlig es voumlllig unmoumlglich ist einen wahren Satz der Form raquoDer Begriff F ist ein Begrifflaquo zu bilden da wir an der Subjektstelle immer im logischen Sinn einen Ei-gennamen und kein Begriffswort vorfi nden Wir koumlnnen also nach Frege in gewoumlhnlichen Saumltzen gar keine korrekten Aussagen uumlber Begriffe ma-chen Gegen Geach deutet Diamond diesen Fall nun so daszlig Frege mit dem paradox klingenden Satz seine Leser zur richtigen Einsicht in das Wesen des Begriffs anleiten moumlchte und zwar indem er absichtsvoll etwas Unsinniges sagt in Gestalt einer vorlaumlufi gen Ausdrucksweise (transitional remark) die spaumlter ganz wegfallen kann wenn die Unterscheidung ver-standen worden ist33 Dieses Verstaumlndnis aber zeigt sich so Diamond nicht darin daszlig man einen raquoZug der Wirklichkeitlaquo erfaszligt hat sondern darin daszlig man Freges Notation zu beherrschen gelernt hat Ihr zufolge druumlckt sich in der Notation also in der Schreibweise nicht in einzelnen Behaup-tungssaumltzen34 Freges Unterscheidung von Gegenstand und Begriff am klarsten und eindeutigsten aus und der Sinn der Uumlbergangsbemerkungen liegt demnach einzig darin in den korrekten Gebrauch der Notation und damit des logischen Systems mit seinen eingearbeiteten Unterscheidungen einzufuumlhren Vor diesem Hintergrund gibt es keinen raquoInhaltlaquo der nach der Einfuumlhrung uumlbrig bliebe und damit auch keinen Inhalt den man raquozeigenlaquo muumlszligte oder koumlnnte und daher kann man die Leiter dann wegwerfen (und einfach den Symbolismus richtig anwenden) Eine Deutung wie diejenige

33 Als Fregedeutung kann diese Interpretation nicht uumlberzeugen weil Frege seinen pa-radox klingenden Satz ohne Zoumlgern fuumlr wahr haumllt Aus der Perspektive Wittgensteins je-doch der den Gedanken einer notwendigen strukturellen Parallelitaumlt zwischen raquoZeichen und Bezeichnetemlaquo uumlberwunden hat waumlre diese Deutung uumlberzeugend Man kann Dia-mond in diesem Punkt eine Uumlberinterpretation des fruumlhen Wittgenstein vorwerfen die sie auch noch auf Frege ausdehnt

34 Das heiszligt daszlig Freges Grundunterscheidung sich praktisch an jedem symbolisch no-tierten Satz zeigen laumlszligt

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Geachs erscheint vor diesem Hintergrund als halbherzig Zum einen meint man daszlig manche wichtigen Saumltze nichts sagen sondern nur etwas zeigen zum anderen aber haumllt man doch daran fest daszlig diese Saumltze einen Inhalt haben und indirekt etwas uumlber die Realitaumlt ausdruumlcken Fuumlr Diamond ist das ein Sich-druumlcken (chickening out)35 Diesem halbherzigen Versuch setzt sie ein konsequentes Ernstnehmen der Unsinnigkeit der Abhandlungssaumltze und des Wegwerfens der Leiter entgegen Der Versuch mit dem raquoUnsinnlaquo Ernst zu machen hat als raquoresolute Lesartlaquo (resolute reading) dem neuen An-satz spaumlter den Namen gegeben36 Diamond stellt die Frage wie ernst man 654 tatsaumlchlich nehmen sollte und weiter ob der Redeweise von raquoZuumlgen der Realitaumlt die nicht in Worten ausgedruumlckt werden koumlnnenlaquo ein Sinn abzugewinnen ist37 Diamonds Antwort ist ebenso einfach wie provokativ Ja die Bemerkung 654 muszlig sehr ernst genommen werden und gerade deshalb kann es keine unausdruumlckbaren Zuumlge der Realitaumlt geben sondern wir muumlssen akzeptieren daszlig die Saumltze der Abhandlung im strengen und gewoumlhnlichen Sinne unsinnig sind sie sind um das Vorwort zu zitieren raquoeinfach Unsinnlaquo Damit aber verliert die Unterscheidung von Sagen und Zeigen ihren quasi-metaphysischen Charakter38

Bemerkung 654 deutet Diamond nun so daszlig Wittgenstein darin einen bewuszligten und wesentlichen Unterschied mache zwischen dem Verstehen seiner Saumltze und dem Verstehen seiner Person (raquower mich verstehtlaquo)39 Man solle naumlmlich verstehen daszlig seine Saumltze nicht zu verstehen sind Wir sol-len genauer gesagt mit unserer Einbildungskraft uns in die Position je-mandes versetzen der glaubt die Saumltze des Buches zu verstehen damit aber sollen wir so Diamond zugleich verstehen daszlig es hier nichts zu verstehen gibt daszlig es sich nur um eine Illusion von Verstehen handelt

35 Systematisch betrachtet kann man darin ein noch zu weitgehendes Festhalten an der grundsaumltzlichen Aumlhnlichkeit der Funktionsweise (oder raquoBezeichnungsweiselaquo) saumlmtlicher Satzarten nach dem Vorbild Freges sehen der die Grundunterscheidung von ZeichenSinn des ZeichensBedeutung des Zeichens uumlberall durchfuumlhren will waumlhrend nach Wittgenstein schon fuumlr logische Saumltze weder von Sinn noch von Bedeutung die Rede sein kann

36 Ricketts spricht in seinem Beitrag zum Cambridge Companion (Anm 19) S 93 von einer raquoresolut und konsistent angewendeten Konzeption der Wahrheitlaquo nach der es raquokeine unausdruumlckbaren Wahrheiten geben kannlaquo In Anschluszlig daran hat sich dann auf eine Anregung Goldfarbs hin die Rede einer raquoresoluten Lesartlaquo eingebuumlrgert

37 Diamond Ethics Imagination and the Method of Wittgensteinrsquos Tractatus (1991) auch in New Wittgenstein S 149ndash173 hier S 181

38 Daszlig die Unterscheidung auf andere Weise logisch zentral ist fuumlhrt Diamond an an-derer Stelle aus (vgl Anm 12)

39 Diamond greift dabei (S 160) indirekt auch den Gedanken Cavells auf daszlig es in Wittgensteins Philosophie immer auch um Selbsterkenntnis geht also um die eigene Per-son Dieses Element spielt vor allem bei anderen Vertretern der resoluten Lesart eine be-traumlchtliche Rolle und traumlgt einiges zu ihrer Attraktivitaumlt bei

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(150) Die Saumltze und damit das Buch sollen als vollstaumlndig unsinnig er-kannt werden ndash davon ausgenommen sind allerdings die Bemerkungen die den Rahmen bilden und in denen Wittgenstein einige Hinweise dar-uumlber gibt wie das Buch aufzufassen ist (S 149)40 Es gibt dabei keine lo-gische wesentliche Unterscheidung zwischen zwei Arten von Unsinn sol-chem der etwas Richtiges zeigt und solchem der schlicht Ausdruck einer Verwirrung ist (wie die Saumltze der traditionellen Metaphysik)41 Daszlig man-che unsinnigen Saumltze als Erlaumluterungen dienen koumlnnen ist diesen Saumltzen ganz aumluszligerlich (S 159) sozusagen eine Zufaumllligkeit hat aber nichts mit einem moumlglichen Gehalt dieser Saumltze zu tun Dies wendet sich gegen eine entsprechende Unterscheidung bei Anscombe zwischen raquoden Dingen die wahr waumlren wenn sie gesagt werden koumlnnten und denen die falsch wauml-ren wenn sie gesagt werden koumlnntenlaquo42 Man kann nach Diamond von solchen Unsinnsarten nicht sprechen Eine Konsequenz dieser Radikalitaumlt liegt nun darin daszlig die gesamte innere Struktur der Abhandlung verloren-zugehen scheint Wenn alles Unsinn ist was kann dann noch Unterschiede der einzelnen Passagen ausmachen Genau dies entspricht gerade einem zentralen Motiv von Diamonds Ansatz So verweist sie etwas darauf daszlig im Buch zwar Bemerkungen mit ethischer Thematik vorkommen daszlig aber in einem tieferen Sinne jeder Satz (oder das gesamte Buch) einen ethischen Charakter hat indem es darin eine bestimmte Haltung aus-druumlckt ganz unabhaumlngig vom gerade verwendeten Vokabular Diese Auf-fassung daszlig zentrale philosophische Einsichten vom jeweils verwendeten Vokabular und den aufgestellten Behauptungen weitgehend unabhaumlngig sind weil es nicht auf das Vokabular sondern auf den Gebrauch ankommt ist ein Kernstuumlck in Diamonds Ansatz43 Ihr geht es vor allem anderen darum Wittgensteins philosophische Haltung aufzuklaumlren indem sie spe-zifi sche Passagen die Miszligverstaumlndnisse verursachen erklaumlrt Die Absicht

40 Diese radikal klingende Behauptung ist insofern miszligverstaumlndlich als Diamond nicht alle Saumltze der Abhandlung sozusagen per defi nitionem fuumlr unsinnig erklaumlren will ihr geht es vielmehr vor allem darum klarzustellen daszlig wenn ein spezifi scher Satz unsinnig ist er es auch wirklich ist und daszlig es inkonsequent ist sozusagen einen raquoSinn zweiter Ordnunglaquo einzufuumlhren

41 Die starke Konzentration der Diskussion auf Fragen von raquoUnsinnlaquo uumlbersieht haumlufi g daszlig Wittgenstein Unsinn ausgesprochen liebte Einer seiner Lieblingsautoren war Lewis Carroll auf den er haumlufi ger in seinen Schriften anspielt oder verweist und er selbst sam-melte uumlber Jahrzehnte Beispiele besonders absurder Zeitungsartikel Vgl dazu jetzt Brian McGuinness (Hg) Wittgenstein in Cambridge Letters and Documents Oxford 2008 S 192 und 468 auszligerdem Brian McGuinness In Praise of Nonsense (unveroumlffentlicht)

42 Anscombe Introduction (Anm 9) S 162 zit von Diamond Ethics S 15843 Sie fuumlhrt dies an Beispielen des spaumlten Wittgenstein aus der Mathematik (u a den

erwaumlhnten Vorlesungen) und der Ethik in ihrem Beitrag zum Cambridge Companion naumlher aus und erkennt ein solches Vorgehen auch in der Abhandlung und bei Frege wieder

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Wittgensteins Schriften als Ganze zu interpretieren tritt demgegenuumlber ganz in den Hintergrund Insofern ist 654 auch wieder nicht uumlberzube-werten sondern dient nur als ein besonders markanter Ausgangspunkt um verfehlte Auffassungen abzuwehren44 So ist die Abhandlung fuumlr Dia-mond kein Buch uumlber Logik denn ein solches kann es streng genommen ebenfalls nicht geben Die Logik ist vielmehr raquodem was Saumltze sind bereits intern eingeschriebenlaquo (S 151) Anders gesagt Wir koumlnnen an jedem be-liebigen Satz wenn wir nur richtig hinsehen alle Elemente der richtigen logischen Auffassung aufweisen und daher ist jeder Versuch diese vor-gaumlngige Struktur explizit zu machen immer etwas Nachtraumlgliches das schon raquozu spaumlt kommtlaquo und dadurch stets etwas Schiefes eben Unsinniges an sich hat Der eigentliche Ausdruck von Wittgensteins philosophischen Auffassungen sind daher nicht irgendwelche Inhalte seines Buches son-dern die Art wie sie ausgedruumlckt sind (S 170)

Eine besondere Eigenheit fast aller Arbeiten Diamonds ist ihre sehr spe-zifi sche Ausrichtung auf eine je besondere Fragestellung In vielen Faumlllen greift sie charakteristische Fehleinschaumltzungen oder auch nur miszliggluumlckte Formulierungen anderer Autoren auf und erlaumlutert geduldig sorgfaumlltig und oft in wiederholten bisweilen kreisenden Gedankengaumlngen welche Art von Fehleinschaumltzung vorliegt aus der die verungluumlckte Formulierung hervorgegangen ist Ihre Klaumlrungsarbeit bezieht sich fast immer auf einen konkreten Fall nicht auf eine allgemeine These Dadurch sperren sich ihre Texte gegen Lesegewohnheiten die auf Thesen und Argumente oder auf systematische Darlegungen und einen hohen Allgemeinheitsgrad hin ori-entiert sind Besonders instruktiv ist ihre Aufklaumlrung eines Beispiels von Anscombe (raquorsaquoJemandlsaquo ist nicht der Name von jemandemlaquo) in dem sie einen Versuch beleuchtet mit dem Anscombe ihrerseits im Sinne des fruumlhen Wittgenstein eine ganz elementare sprachlogische Klarstellung zu treffen versucht die den Unterschied zwischen Sagen und Zeigen nicht in allge-meiner (raquometaphysischerlaquo) sondern in ganz spezifi scher logischer Absicht betrifft45 Ihr Ergebnis lautet daszlig die Logik und damit die Gebrauchswei-sen von Ausdruumlcken wie raquojemandlaquo im einzelnen sorgfaumlltig beschrieben werden muumlssen daszlig man dies nicht mit einem Satz allein klarstellen kann

44 Die Erfolgsgeschichte der resoluten Lesart haumlngt eng damit zusammen daszlig man das ganze Buch als raquobloszligen Unsinnlaquo auffassen will bei Diamond liegt jedoch genau besehen keine Interpretation des gesamten Buches vor Sie will vielmehr nur einige Kernpunkte klarstellen verknuumlpft diese Klarstellungen allerdings mit einigen allgemeiner klingenden Zusatzbemerkungen

45 Diamond Saying and Showing (wie Anm 12) In diesem Beispiel bleibt jedoch An-scombe die die Frage in einem Streich entscheiden und klaumlren will dem Geist des fruumlhen Wittgenstein naumlher als Diamond mit ihrer sorgfaumlltigen Beschreibung der Sprachspiele mit raquojemandlaquo

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Damit will Diamond einen Beitrag dazu leisten die raquophilosophi sche Klauml-rung zu klaumlrenlaquo (to clarify philosophical clarifi cation)46

Das Ziel ihrer Arbeit ist jeweils die Klaumlrung unuumlbersichtlicher begriff-licher Verhaumlltnisse um so zu einer natuumlrlichen raquorealistischenlaquo Sicht zu kommen47 An Paradoxien ist sie grundsaumltzlich nicht interessiert auszliger insofern es darum geht deren Quellen aufzudecken sie als Symptome von begriffl ichen Unklarheiten zu sehen

Charakteristisch fuumlr Diamonds Vorgehensweise ist auch eine Uumlberle-gung die von einer Bemerkung Kripkes ihren Ausgang nimmt Einmal schreibt Wittgenstein raquoMan kann von einem Ding nicht aussagen es sei 1 m lang noch es sei nicht 1 m lang und das ist das Urmeter in Parislaquo (PhU 50) Kripke nennt diese Behauptung die aus dem Zusammenhang gerissen etwas entschieden Paradoxes hat offensichtlich falsch ohne je-doch den genauen Zusammenhang zu beachten48 Genau darauf kommt es Diamond aber an und sie erlaumlutert detailliert hartnaumlckig und zielstrebig

46 Ebd S 15347 Diamonds Grundanliegen kann man auch so formulieren daszlig sie an die Stelle von

philosophischen raquoPhantasienlaquo die aufs Allgemeine eines zurechtgestellten Sprachgebrauchs gehen eine realistische Einstellung die sich vor allem um Einzelheiten kuumlmmert setzt (The Realistic Spirit in der gleichnamigen Sammlung S 39ndash72)

48 Tatsaumlchlich ist die Bemerkung Kripkes weitaus weniger beilaumlufi g als Diamond sugge-riert Er schreibt raquoWittgenstein sagt etwas sehr Verwirrendes hieruumlber Er sagt raquoMan kann von einem Ding nicht sagen es sei 1 m lang noch es sei nicht 1 m lang und das ist das Urmeter in Paris ndash Damit haben wir aber diesem natuumlrlich nicht irgendeine merkwuumlrdige Eigenschaft zugeschrieben sondern nur seine eigenartige Rolle im Spiel des Messens mit dem Metermaszlig gekennzeichnetlaquo (PhU 50) Das scheint aber in der Tat eine sehr raquomerk-wuumlrdige Eigenschaftlaquo fuumlr einen Stab zu sein Ich denke Wittgenstein muszlig sich hier irren Wenn der Stock 3937 Inches lang ist (ich nehme an daszlig wir einen anderen Standard fuumlr Inches haben) warum ist er nicht 1 m lang Wir wollen jedenfalls annehmen daszlig Witt-genstein sich irrt und daszlig der Stab 1 m lang istlaquo (Kripke Naming and Necessity 1980 Name und Notwendigkeit FrankfurtM 1981 S 65 f) Diamond weist zwar zu Recht darauf hin daszlig Kripkes theoretisches Vokabular nur uumlber Eigenschaften (er diskutiert Fragen von Referenz und sprachlicher Bedeutung separat) nicht aber uumlber raquoStellungen im Sprachspiellaquo verfuumlgt und daszlig er deshalb zur tatsaumlchlich merkwuumlrdigen Deutung des Satzes als raquokontin-gente Wahrheit a priorilaquo (S 68) kommt (Dies entspricht wiederum in einigem der ja auch raquoeigenartigenlaquo Rolle im Sprachspiel) Beim Ausfuumlhren des Beispiels gegen Wittgenstein argumentiert Kripke jedoch intern vollkommen konsistent und faktisch auch an einem Sprachspiel orientiert wenn er (in Klammern) annimmt daszlig wir uumlber einen eigenen unabhaumlngigen Maszligstab fuumlr englische Zoll verfuumlgen Dann naumlmlich kann man das Urmeter ohne weiteres wie jeden anderen Gegenstand auch (auszliger in diesem Spiel dem raquoUr-Yardlaquo das Kripke jedoch nicht erwaumlhnt ndash und insofern hat Kripke die Problematik nur geschickt verschoben) abmessen und das Ergebnis anschlieszligend umrechnen Damit nimmt Kripke Wittgensteins Bemerkung das Paradoxe fuumlhrt dabei allerdings (unkommentiert) einen raquoDoppelstandardlaquo der Messung ein der nicht weiter geklaumlrt wird Die Sorgfalt in Kripkes Ausfuumlhrungen legen daher nahe die Rede davon daszlig Wittgenstein raquoirrelaquo nicht als Hin-weis auf einen einzelnen zufaumllligen Fehler sondern auf eine insgesamt verfehlte Auffas-sung zu verstehen

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wie Wittgenstein zu seiner Aumluszligerung kommt und inwiefern die Institution des Messens davon abhaumlngt daszlig man Maszligstaumlbe einfuumlhrt mit denen dann andere Objekte gemessen werden49 Da Laumlngenangaben entsprechend im-mer auf den Vergleich zu einem Maszligstab bezogen sind entsteht die kuriose Situation daszlig die Laumlnge des Urmeters durch Anlegen an sich selbst be-stimmt werden muumlszligte Nach Kripke ist dies ein Fall von Identitaumlt d h im Fall der Identitaumlt kann man auch ohne jede Messung sagen daszlig das betref-fende Objekt 1 m lang ist (oder eben raquoso lang wie es istlaquo ndash denn wie lang sollte es sonst sein) Damit aber gleicht er den Fall der Messung an den Fall der bloszligen Festsetzung in dem gar keine Messung erfolgt und genau genommen auch keine Messung moumlglich ist (denn man kann keinen Maszlig-stab an sich selbst anlegen weil dazu mindestens zwei Objekte benoumltigt werden) an und uumlbersieht die begriffl iche Verschiedenheit beider Faumllle Durch dieses Beispiel beleuchtet Diamond vor allem den Begriff der Gleichheit bzw Identitaumlt der von Kripke und weiten Teilen der philoso-phischen Tradition als unproblematischer absoluter Fixpunkt in Anspruch genommen wird den Wittgenstein aber einer fruumlhen Kritik (553 ff) und einer spaumlteren genauen Beschreibung (PhU 251 ff) unterzogen hat Zur Aufklaumlrung ist es noumltig den Ort den die Rede von raquogleichlaquo und raquoiden-tischlaquo in der Sprache hat genauer zu beleuchten und zu beschreiben an-statt ihn als quasi sprachunabhaumlngig gegeben einfach vorauszusetzen50

Diamonds Arbeit zielt so durchgehend auf die Klaumlrung scheinbar para-doxer oder merkwuumlrdiger Behauptungen ab und sie sieht ihr Ziel erst dann erreicht wenn aufgezeigt ist daszlig im Sprachspiel alles mit ganz ge-woumlhnlichen Dingen zugeht Paradoxe Behauptungen haben darin keinen Ort Auch ihre Anmerkungen zum Schluszlig von Wittgensteins Abhandlung sind daher systematisch als solche Aufklaumlrungen (etwa der paradoxen Re-deweise von Saumltzen die raquowahr waumlren wenn sie gesagt werden koumlnntenlaquo) zu verstehen auch wenn sie stellenweise selbst sehr uumlberraschend klingen Ihr Grundgedanke lautet jedoch Auch raquounsinniglaquo ist ein ganz gewoumlhn-liches Wort welches Wittgenstein verwendet und wenn er es verwendet dann meint er es auch so wie er es sagt51

49 Diamond betont mit (dem spaumlten) Wittgenstein die grundlegende Bedeutung von sprachlichen Institutionen waumlhrend Kripke konsequent davon absieht und alles als Fakten (unterschiedlicher Art) interpretiert

50 Kripkes Auffassung der Identitaumlt ist sprachunabhaumlngig und sozusagen raquorein objektivlaquo angelegt Fuumlr ihn ist jeder Gegenstand notwendigerweise mit sich selbst identisch und weist eine bestimmte raquoobjektivelaquo Laumlnge auf Wittgenstein dagegen weist darauf hin daszlig auch zum Wort raquoidentischlaquo ein Sprachspiel gehoumlrt das diesem Wort erst seine klare Ver-wendung gibt

51 Einiges spricht jedoch auch dafuumlr daszlig diese Auffassung eher dem spaumlten Wittgen-stein entspricht und daszlig in 654 raquounsinniglaquo gerade nicht im alltaumlglichen Sinn verwendet wird

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5 Es ist bei dieser sehr punktuellen Methodik um so bemerkenswerter und selbst geradezu paradox daszlig Diamonds Ansatz der Ausgangspunkt einer ganzen Richtung der Wittgensteininterpretation und noch dazu der Abhandlung geworden ist Diese Entwicklung hat viel mit der Arbeit von James Conant zu tun der dem Ansatz eine allgemeinere und leichter ein-zuordnende Form gegeben und das Zentrum der Aufmerksamkeit noch viel staumlrker als Diamond auf die Abhandlung und ihren Schluszlig gelenkt hat Conant stellt Wittgensteins Text in einen weiteren Rahmen indem er etwa Wittgenstein mit Kierkegaard Carnap und anderen Autoren ver-gleicht und indem er sich um die Historiographie der Tractatusdeutungen und insbesondere der impliziten Voraussetzungen dieser Deutungen in einer Weise bemuumlht daszlig die resolute Lesart als natuumlrlicher Abschluszlig einer Stufenfolge erscheint Dadurch entsteht der Eindruck daszlig die raquoresolutelaquo Deutung auf uumlberlegene Weise alle vorangegangenen Deutungsversuche in sich aufnimmt und ihnen den gehoumlrigen Platz anweist so daszlig kein sys-tematischer Raum mehr fuumlr Gegenvorschlaumlge bleibt52

In seiner bisher umfangreichsten Darstellung53 gibt Conant zunaumlchst eine Rekonstruktion der rationalen Genese der bisherigen Lesarten die er die raquopositivistischelaquo und die raquoUnsagbarkeitslesartlaquo (ineffability reading) nennt Als deren gemeinsame Grundvoraussetzung arbeitet er die Annahme her-aus daszlig es etwas wie raquogehaltvollen Unsinnlaquo (substantial nonsense) in der Abhandlung geben muumlsse Er zeigt dann auf daszlig und wie sich beide Auf-fassungen gegenseitig bedingen und inwiefern keine von beiden zu einer stabilen und konsequenten (eben raquoresolutlaquo durchhaltbaren) Position fuumlhrt Tatsaumlchlich setzt sich Conant fast ausschlieszliglich mit der von ihm als Stan-dardinterpretation (S 394) angesehenen Lesart und ihrem Hauptvertreter Peter Hacker auseinander54 Die Kernthematik des Aufsatzes der die Me-

52 Der Gestus erinnert stellenweise an Hegels Vorgehen Conant ist auch an anderer Stelle mit weitreichenden Sortiervorschlaumlgen hervorgetreten so etwa in bezug auf Spiel-arten des Skeptizismus wo er eine Cartesische und eine Kantische Spielart des Skeptizis-mus und damit der Philosophie uumlberhaupt unterscheidet (Varieties of Skepticism in D McManus (Hg) Wittgenstein and Skepticism London 2004)

53 James Conant The Method of the Tractatus in Reck From Frege to Wittgenstein daran orientiert sich das Folgende Mehrere Aufsaumltze Conants ergaumlnzen diesen Beitrag noch ndash Durch haumlufi ge Verweise auf einander einen gemeinsamen Aufsatz sowie an beide gerich-tete Kritik ist aumlhnlich wie in der Kopenhagener Deutung der Quantenphysik der Ein-druck entstanden als handele es sich um ein und dieselbe Auffassung Dieser Eindruck taumluscht jedoch in einigen wichtigen Punkten ebenso wie im Fall der Kopenhagener Deu-tung wie aus dem Folgenden klar werden wird

54 Tatsaumlchlich liegt der systematische Schwerpunkt der Kontroverse zwischen ConantDiamond und Hacker auf der Interpretation der Philosophie des spaumlten Wittgenstein die von beiden Parteien als der eindeutig uumlberlegene und bis heute unuumlberbotene philoso-phische Ansatz angesehen wird Diese grundsaumltzliche Debatte um die Deutung von Witt-gensteins Spaumltphilosophie hat erst in Ansaumltzen besonders in einigen Aufsaumltzen von Dia-

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thode der Abhandlung zu klaumlren beansprucht kreist um die Leitbegriffe raquoErlaumluterunglaquo und raquoUnsinnlaquo (S 378) Wie Diamond fi ndet Conant dies bei Frege vorgebildet wobei er dessen Verfahren so zusammenfaszligt daszlig nach Frege raquodie Erlaumluterung logisch einfacher Ausdruumlcke wie Begriff und Gegenstand unvermeidlicherweise mit (dem geschickten Einsatz von) Unsinn arbeiten muszliglaquo (S 387) In der Deutung dieses Verfahrens durch Frege sieht Conant jedoch eine Spannung denn Frege glaubt raquodaszlig er in solchen Faumlllen etwas sagen will was im strengen Sinn nicht gesagt werden kann und druumlckt sich dann so aus daszlig seine Woumlrter einen Gedanken auszudruumlk ken versuchen damit aber notwendigerweise scheiternlaquo (S 391) Damit vertritt Frege aumlhnlich wie Geach und Hacker selbst eine substan-tielle Auffassung von Unsinn55 Nach Conant liegt die Hauptabsicht von Wittensteins Abhandlung nun genau darin eine solche substantielle Auffas-sung von Unsinn nicht zu vertreten sondern zu uumlberwinden Die Unter-scheidung zwischen sinnvollen und nicht sinnvollen Saumltzen liegt nach Conants Deutung nun praumlziser gefaszligt darin raquoEinen Satz als sinnvoll wahr-nehmen bedeutet daszlig man im Satzzeichen das Satzsymbol wahrnimmt Einen Satz als Unsinn wahrzunehmen bedeutet daszlig man im Zeichen kein Symbol erkennen kannlaquo (S 404) Ein Satz ist also dann raquobloszliger Unsinnlaquo wenn eine Zeichenreihe raquokeine erkennbare logische Syntax hatlaquo (S 400) Damit gibt es aber streng genommen keine raquounsinnigen Saumltzelaquo sondern nur Zeichenreihen die auf den ersten Blick wie Saumltze aussehen bei denen aber der Versuch in ihnen eine logische Form aufzufi nden scheitert Die Rede von raquoUnsinnlaquo bezieht sich also nicht auf die Saumltze oder Zeichenrei-hen selbst sondern allein auf unser Scheitern Zentral wird dadurch der Begriff des raquoSymbolslaquo Ein Symbol ist ein Zeichen zusammen mit einer logisch durchsichtigen Verwendungsweise (S 414) Die bekannte Sprach-kritik der Abhandlung (40031) erweist sich so nicht als Versuch die sinn-vollen von den unsinnigen Zeichen(reihen) durch ein Sinnkriterium zu trennen sondern raquodie Quelle des scheinbaren Unsinns liegt in unserer Beziehung zum sprachlichen Zeichen nicht im sprachlichen Zeichen selbstlaquo (S 419) Die Philosophie ist entsprechend Wittgensteins Diktum

mond begonnen Als zentralen Gegensatz zwischen der eigenen Position und derjenigen Hackers formuliert Conant daszlig nach Hacker der fruumlhe Wittgenstein an unausdruumlckbare Wahrheiten glaubte waumlhrend der spaumlte dies als Irrtum durchschaute waumlhrend Wittgen-stein tatsaumlchlich schon in der Abhandlung die darin vorausgesetzte substantielle Auffassung von Unsinn ablehnte Weiter glaubt er in Hackers Deutung des spaumlten Wittgenstein raquoeine verkleidete Fassung der Auffassung die er dem fruumlhen Wittgenstein zuschreibtlaquo zu erken-nen was der wahren Radikalitaumlt dieses Denkens nicht gerecht werde (Conant Two Con-ceptions of Die Uumlberwindung der Metaphysik in Wittgenstein in America (Anm 17) S 13ndash62 hier S 38 Anm 42)

55 In diesem Punkt ist Conant exegetisch weitaus vorsichtiger als Diamond die weniger Scheu hat Frege eine systematisch uumlberzeugende Konzeption zuzuschreiben

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raquokeine Lehre sondern eine Taumltigkeitlaquo Diese Taumltigkeit besteht nach Con-ant darin daszlig eine Illusion von Sinn aufgebaut und am Ende zerstoumlrt wird Das Ziel des Buches ist daher raquonicht eine Einsicht in metaphysische Zuumlge der Wirklichkeit sondern in die Quellen der Metaphysiklaquo (S 421) Nach Conant gibt es im Text nur raquo(scheinbar) eine Lehre uumlber raquodie Gren-zen des Denkenslaquolaquo (S 424) tatsaumlchlich aber sind raquodie Erlaumluterungen des Autors nur dann erfolgreich wenn wir den Haupttext als Unsinn erken-nenlaquo (S 424) Conants Darstellung verleiht der resoluten Lesart dadurch daszlig er aufzeigt wie die grundlegenden Spannungen in den fruumlheren Deu-tungsansaumltzen aufgeloumlst werden koumlnnen den Anschein einer teleologischen Zwangslaumlufi gkeit Nicht zufaumlllig spielt daher die fortgesetzte Auseinan-dersetzung mit der raquoUnsagbarkeitslesartlaquo eine zentrale Rolle in seinen Ausfuumlhrungen Ein nicht zu unterschaumltzender Teil der Anziehungskraft der resoluten Lesart liegt genau darin daszlig sie den einzigen konsistenten wenn auch zunaumlchst uumlberspitzt aber damit zugleich auch brillant wirken-den Ausweg aus den Bemuumlhungen um ein Verstaumlndnis der Logisch-Philoso-phischen Abhandlung zu bieten scheint56

Conants umfangreicher Beitrag zur Festschrift fuumlr Cora Diamond57 verstaumlrkt die genannten Tendenzen noch Dies zeigt sich bereits an der Form Unter dem Titel raquoA Recently Discovered Manuscriptlaquo wird ein gewisser raquoJohannes Climacuslaquo58 als Herausgeber eines Aufsatzes von Con-ant eingefuumlhrt der in Gestalt einer fi ktiven theologischen Auseinanderset-zung um die richtige Wittgensteinorthodoxie eigene (ziemlich dogma-tisch-uneinsichtsvolle) Kommentare zu den einzelnen Teilen von Conants Text abgibt Dieser Text selbst greift schon im Titel und uumlber weite Stre-cken ironisch den Ton theologischer Kontroversen auf Thema der Arbeit ist die umstrittene raquometa-wittgensteinschelaquo Frage ob Anhaumlnger der reso-luten Lesart (die noch einmal zusammenfassend vorgestellt wird) uumlber-haupt uumlber den Spielraum verfuumlgen um einen wesentlichen Unterschied zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein herauszuarbeiten (S 32) Diese Frage geht Conant dialektisch an indem er drei verschie-dene Listen praumlsentiert eine erste (S 49) die scheinbare Lehren der Ab-handlung enthaumllt die aber tatsaumlchlich so Conant Auffassungen sind vor

56 Diese Zwangslaumlufi gkeit tritt in Diamonds Arbeiten weitaus weniger hervor Fuumlr sie ist die Abhandlung ein reiches Buch das zahlreiche ausgesprochen weiterfuumlhrende und faszinierende Passagen enthaumllt die philosophisch weiterhelfen nicht ein Werk das sozu-sagen unter einer Drohung lebt und dessen Leser nach einem Ausweg suchen

57 James Conant Mild-Mono-Wittgensteinianism in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 29ndash142

58 Dieses von Kierkegaard entlehnte Pseudonym verwendet Conant seinerseits in einem Zitat aus der Abschlieszligenden unwissenschaftlichen Nachschrift (31) mit der Bemerkung daszlig Ironie und Ernsthaftigkeit einander nicht ausschlieszligen In fruumlheren Texten hatte Conant raquoClimacuslaquo mit raquoLeiterlaquo uumlbersetzt (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 291)

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denen Wittgenstein seine Leser warnen will eine zweite mit Auffas-sungen die Wittgenstein in der Abhandlung natuumlrlich klar und unkontro-vers erschienen die aber dennoch Ausdruck philosophischer Ansichten sind die er selbst spaumlter als problematisch ansah (S 83)

Damit ist fuumlr eine Differenz zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein ein Spielraum gewonnen der dann durch eine dritte Liste wieder in einen ironischen Schwebezustand gebracht wird indem Conant Saumltze praumlsentiert die man gleichermaszligen dem fruumlhen wie dem spaumlten Wittgenstein zuordnen kann bisweilen indem leichte Variationen des Wortlauts mitgefuumlhrt werden wie raquoDie Logik (Grammatik) muszlig fuumlr sich selber sorgenlaquo (S 106) Conant spricht von raquoAugenblicken atemberau-bender Kontinuitaumltlaquo (S 108) gerade dort wo Wittgenstein die Konzeption der Abhandlung kritisiert (PhU 97ndash133) Als Ergebnis der Untersuchung bleibt so der Eindruck von gleichzeitig auszligerordentlicher Kontinuitaumlt und deutlicher Diskontinuitaumlt in Wittgensteins philosophischer Entwicklung Auch daszlig eine resolute Lesart eher raquoein Programm um das Buch zu lesenlaquo (111 Anm 4) ist als tatsaumlchlich eine durchgehende Lektuumlre ist deutlich ausgesprochen59

Der philosophische Ansatz und Stil Conants ist dem von Diamond in vie-ler Hinsicht entgegengesetzt Waumlhrend Diamond von konkreten Einzelfaumll-len ausgeht und diese im Hin- und Hergehen aufzuklaumlren versucht geht Conant ganz von auszligen mit einem umfassenden Blick in Beziehung zur gesamten Philosophiegeschichte an die Fragen heran Ein bevorzugter Vergleich ist derjenige Wittgensteins mit Kierkegaard insbesondere in der Frage des Verhaumlltnisses des Autors zu seinen Buumlchern60 Man koumlnnte gera-

59 In der gemeinsam verfaszligten Arbeit On Reading The Tractatus Resolutely Reply to Me-redith Williams and Peter Sullivan in M KoumllbelB Weiss Wittgensteinrsquos Lasting Signifi cance London 2004 S 46ndash99 erlaumlutern Diamond und Conant einige Punkte ihres Ansatzes ge-genuumlber Versuchen das Buch als System von Behauptungen zu lesen (Williams) und gegen die Kritik ihre Lesart sei unvollstaumlndig letzteres mit dem Hinweis es handle sich bislang lediglich um ein Forschungsprogramm aber gerade nicht um ein Rezept das eine leichte und zusammenhaumlngende Lektuumlre ermoumlgliche (S 68) Peter Sullivan wird als der produk-tivste Kritiker bezeichnet weil er auf spezifi sche Inkonsistenzen hinweise (vgl die in Anm 64 genannte Arbeit) Sullivans eigene Deutungsvorschlaumlge bleiben jedoch eher tra-ditionellen ontologisch orientierten Ansaumltzen verhaftet (vgl What is the Tractatus About ebenfalls in KoumllbelWeiszlig S 32ndash45) Diese gemeinsame Arbeit verbleibt jedoch insge-samt auf einer sehr allgemeinen und wenig spezifi schen Ebene

60 So etwa Conant Putting Two and Two together Kierkegaard Wittgenstein and the Point of View for Their Work as Authors in T TessinM von der Ruhr (Hg) Philosophy and the Grammar of Religious Belief London 1995 S 248ndash331 Als Zusammenfassung schreibt Co-nant dort daszlig der fruumlhe Wittgenstein aumlhnlich wie Kierkegaard raquoden Leser in die Wahr-heit hineintaumluschen willlaquo zu welchem Zweck er raquoeine ausgefeilte Struktur scheinbarer Behauptungenlaquo verwendet (S 302) Fuumlr ein solches Verstaumlndnis gibt es bei Kierkegaard zahlreiche Hinweise bei Wittgenstein streng genommen keine er will alles raquoklar sagenlaquo

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dezu sagen daszlig sich Conant mehr fuumlr die Frage der Autorschaft als fuumlr das Werk selbst interessiert61 Es geht ihm darum den richtigen Blickwinkel auf das Werk zu gewinnen und den entwickelt er durch weitgespannte Ver-gleiche durch die Analyse der Selbstkommentare und zusaumltzlichen Erlaumlute-rungen Dabei scheint das Ziel vorrangig die Einordnung vorhandener Zu-gangsmoumlglichkeiten zu sein die er dann in eine systematische Ordnung bringt62 Diese Systematik verweist dann gewissermaszligen teleologisch auf eine einzige offene Moumlglichkeit als den richtigen Zugang zu einem Problem oder einem Text Waumlhrend Diamond also einzelne Miszligverstaumlndnisse auf-klaumlrt zieht Conant die groszligen orientierenden Linien63 Damit aber ergaumln-zen beide Ansaumltze einander wiederum in einem Maszlige daszlig sie von auszligen in aller Regel als eine Einheit angesehen werden Erst durch Conants Ord-nungsvorschlaumlge hat Diamonds Ansatz diejenige Uumlbersichtlichkeit und Handhabbarkeit gewonnen die eine breitere Wirksamkeit ermoumlglichen

Einmal schreibt er kritisch raquoDer Verkehr mit Autoren wie Hamann Kierkegaard macht ihre Herausgeber anmaszligend Diese Versuchung wuumlrde der Herausgeber des Cherubi-nischen Wandersmannes nie fuumlhlen noch auch der Confessionen des Augustin oder einer Schrift Luthers Es ist wohl das daszlig die Ironie eines Autors den Leser anmaszligend zu ma-chen geneigt istlaquo (Denkbewegungen [1931] FrankfurtM S 41)

61 In einem fruumlheren Aufsatz The Search for Logically Alien Thought Descartes Kant Frege and the Tractatus in Philosophical Topics 20 (1991) S 115ndash180 vergleicht Conant Witt-gensteins Vorgehen mit einem langen Witz bzw einer Parabel die ein absurdes Gespraumlch wiedergibt in dem ein Pole von einem Juden wissen will worin raquodas Geheimnis der Ju-denlaquo besteht und das nach allerhand Umwegen mit der Einsicht endet daszlig da raquokein Ge-heimnis istlaquo ndash aber so erfahren wir eben das raquoist das Geheimnislaquo (S 160)

62 Conants umfassende Perspektive geht mit einigen Zurechtstellungen bei der Inter-pretation einher die das Material entsprechend dem umfassenden Entwurf leicht umfor-men In seinem langen Aufsatz spricht er Wittgenstein eine besondere Konzeption von Klarheit zu die darin liegen soll daszlig man am Ende das Buch als unsinnig erkennt (374) er uumlbergeht dabei aber daszlig Wittgenstein gegenuumlber Russell unmittelbar auf den voumlllig neu-artigen Inhalt der logischen Konzeption verweist und dabei sogar das Wort raquoTheorielaquo ver-wendet als Ziel formuliert Wittgenstein auch nicht daszlig man bestimmte Konzeptionen als nur scheinbar konsistent erkennen soll (377) sondern daszlig man die Logik der Sprache ein-sehen lernt ohne ein Verstaumlndnis von 654 ist nach Conant kein Verstaumlndnis des Buches moumlglich (378) dies gilt aber angesichts der konzentrierten Form fuumlr jeden Satz des Buches wobei die Schluszligbemerkung eher selbstrefl exiv auf das Buch und die Darstellungsform Bezug nimmt als auf die bis dahin entwickelte Einsicht der gegenuumlber der bloszligen Selbstre-fl exion die Prioritaumlt einzuraumlumen waumlre die Woumlrter raquoUnsinnlaquo und raquoErlaumluternlaquo (378) sind entschieden nicht die Kernbegriffe des Buches zum einen kommen eher die Formen raquoun-sinniglaquo oder raquoes ist ein Unsinnlaquo vor nicht das Substantiv zum anderen sind viel eher raquoKlar-heitlaquo und raquoklarlaquo die zentralen Ausdruumlcke Carnap wird als derjenige hingestellt der nichts verstanden habe aber Wittgenstein hat gerade Carnap 1932 des Plagiats bezichtigt und Conant verkehrt Wittgensteins Aumluszligerung er koumlnne sich raquonicht denkenlaquo daszlig Carnap den Sinn des Buches raquoso ganz und gar miszligverstandenlaquo haben koumlnnte ins gerade Gegenteil und zitiert sie mehrfach (378 Anm 9 Anm 99 als Motto in Two Conceptions wie Anm 54)

63 Relativ haumlufi g verwendet Conant auch ganz traditionelle Ordnungsinstrumente wie raquoArtlaquo und raquoGattunglaquo (vgl Conant Method (Anm 53) S 435 Anm 43 436 Anm 48)

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Ein Punkt hat Kritiker besonders irritiert naumlmlich Diamonds und Co-nants Bestehen darauf daszlig der Text streng und konsequent stuumlckweise (piecemeal) gelesen werden soll Dies scheint mit der radikalen Grundten-denz nicht recht vereinbar oder die Radikalitaumlt doch stark abzuschwaumlchen ndash es koumlnnte aber dazu fuumlhren daszlig man das Gewicht der bisweilen daran angeknuumlpften allgemeineren Betrachtungen als wesentlich geringer anse-hen koumlnnte als es derzeit in aller Regel geschieht Tatsaumlchlich ist der stuumlckweise Zugang sehr charakteristisch fuumlr Diamonds Methode und die allgemein gehaltenen radikalen Thesen wirken in ihren Texten eher wie Fremdkoumlrper Die raquoTheselaquo von der notwendig stuumlckweisen Interpretation reduziert sich daher im Kern auf die wichtige aber unspektakulaumlre me-thodische Beobachtung daszlig es ohne Zweifel richtig ist daszlig man die Ab-handlung sorgfaumlltig langsam und schrittweise entschluumlsseln muszlig gerade damit man die einheitliche und uumlbergreifende Konzeption (und daran ist nichts stuumlckweise und zusammengebastelt) genau richtig auffassen kann

6 Tatsaumlchlich sind die Vertreter der resoluten Lesart insgesamt weit erfolgreicher in der Kritik konkurrierender Ansaumltze als in der Interpreta-tion des Textes selbst Ein groszliger Teil der Debatte wird in der Gestalt von Auseinandersetzungen um das richtige Verstaumlndnis bzw den Maszligstab fuumlr eine angemessene Interpretation gefuumlhrt Dies ist in gewissem Sinne fol-gerichtig denn ein Textverstaumlndnis im gewoumlhnlichen Sinn des Wortes kann es von einem im strengen Sinn unsinnigen Text ja kaum geben Die Debatte behandelt deshalb vorrangig Fragen wie die welches denn der raquoZweck des Unsinnslaquo sei64 Dazu hat Michael Kremer Vorschlaumlge entwi-ckelt die die ethische Dimension des Buches herausarbeiten65 Er zieht Vergleiche zu Wittgensteins Beschaumlftigung mit ethischen und religioumlsen Fragen etwa dem Neuen Testament und dem Gedanken daszlig wir einse-hen muumlssen daszlig wir die raquoSuche nach einer Rechtfertigung unseres Lebens aufgeben muumlssenlaquo (S 56) weil der Versuch einer solchen Selbstrechtferti-gung ein Akt des Hochmutes waumlre Als Ergebnis glaubt er festhalten zu muumlssen daszlig das Buch ein raquoknow-howlaquo kein raquoWissen-daszliglaquo vermittelt raquoDieses Buch und seinen Autor zu verstehen bedeutet zu lernen wie man lebtlaquo66 (S 62) In aumlhnlicher Weise deutet Kremer die Frage nach der

64 Michael Kremer The Purpose of Tractarian Nonsense in Nous 35 2001 S 39ndash73 Darauf reagiert Sullivan mit detaillierter Einzelkritik On Trying to be Resolute A Response to Kremer on the Tractatus in European Journal of Philosophy 10 (2002) S 43ndash78 (vor allem S 66ndash68 mit Hinweisen auf die spaumlrlichen Textbelege)

65 Fragen der Ethik spielen uumlberhaupt in den Arbeiten von Diamond Conant und an-deren resoluten Lesern eine groszlige Rolle was aber hier nicht im einzelnen verfolgt werden kann

66 Schon Diamond Ethics (Anm 37) S 169 spricht als Ziel an daszlig wir raquokeine falschen Anforderungen an die Welt stellenlaquo sollen

115Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

raquoWahrheit des Solipsismuslaquo dahingehend daszlig es darum geht den eigenen Stolz zu uumlberwinden67 Selbst die Frage nach dem raquoHauptproblem der Phi-losophielaquo naumlmlich der Unterscheidung von Sagen und Zeigen versucht Kremer so zu beantworten daszlig Wittgenstein vor allem vor der unberech-tigten und zu vorschnellen Anwendung dieser Unterscheidung warnt (und er will zeigen daszlig insofern diese Unterscheidung als Hauptproblem ange-sprochen wird Wittgenstein dieses Problem raquoloumlsenlaquo will)68 All diese Vor-schlaumlge lenken jedoch systematisch von einer tatsaumlchlichen Lektuumlre von Wittgensteins Buch eher ab

Innerhalb der resoluten Stroumlmung ist Juliet Floyd als radikale raquoJakobine-rinlaquo bezeichnet worden weil sie schon fuumlr den fruumlhen Wittgenstein gene-rell die Existenz einer einheitlichen Auffassung von Logik Bedeutung Sagen und Zeigen aber auch eines eindeutigen Ideals der Klarheit leug-net69 Sie nennt Wittgensteins Vorgehen dialektisch bzw refl ektierend (S 188) so daszlig Wittgenstein nicht auf eine einzelne Stoszligrichtung hin festzulegen ist Dadurch wird zum einen erneut die Moumlglichkeit in Frage gestellt den Text uumlberhaupt einigermaszligen einheitlich zu interpretieren zum anderen eroumlffnen sich Moumlglichkeiten relativ frei auch wieder kon-struktivere (S 187) Zuumlge festzustellen Wenn Floyd als Grundgegensatz der Deutungen die Frage betont ob man Wittgenstein so versteht als wolle er raquodie Endlichkeit oder expressive Begrenztheit der Sprache beto-nenlaquo oder ob er die raquooffene Entwicklung und Vielfalt menschlicher Aus-drucksmoumlglichkeitenlaquo (S 177) herausarbeiten will dann steht auch dies nur in einem eher lockeren Bezug zum Text Genau an dieser Stelle setzen die wichtigsten Kritiker an

7 Als prominentester und heftigster Kritiker ist Peter Hacker hervor-getreten70 Hacker kritisiert und polemisiert aus einer Position der exten-

67 Michael Kremer To What Extent is Solipsism a Truth in Stocker Post-Analytic Tractatus S 59ndash84 Das ist eine sehr ungewoumlhnliche Lesart dieser sonst erkenntnistheore-tisch aufgefaszligten Passage

68 Michael Kremer The Cardinal Problem of Philosophy in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 143ndash176 Kremers Deutung beruht vor allem darauf daszlig Wittgenstein in seinem Brief an Russell (15 8 1919) diese Unterscheidung einmal als raquoHauptpunktlaquo und dann auch als raquoHauptproblemlaquo anspricht Kremer deutet dies so daszlig die Unterscheidung als zu loumlsendes raquoProblemlaquo aufgefaszligt wird

69 Juliet Floyd Wittgenstein and the Inexpressible in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 177ndash234 hier S 185 und 196

70 Hackers Schriften dienen zugleich umgekehrt Diamond und Conant als Illustrati-onen fuumlr die raquoStandardlesartlaquo und dafuumlr wie man Wittgenstein nicht interpretieren sollte so schon 1985 in Diamond Throwing Away the Ladder (Anm 30) S 194 als Beispiel fuumlr raquochickening outlaquo Hacker ist auch als einziger Kritiker im Sammelband New Wittgenstein vertreten Was he Trying to Whistle It in New Wittgenstein S 353ndash388 Sein Sammelband Connections and Controversies Oxford 2001 enthaumllt neben dem Nachdruck auf S 98ndash140 noch eine Fortsetzung When the Whistling Had to Stop S 141ndash169

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siven Kommentieung des spaumlten Wittgenstein und zugleich des philo-sophischen Common Sense heraus Er sieht in der Abhandlung raquoeine ver-bluumlffende Lehre auf verbluumlffende Weise dargebotenlaquo (S 353) ndash diese Charakterisierung entnimmt er jedoch nicht erst seinen neuen Gegnern sondern einer eher traditionellen realistisch-metaphysischen Deutung von David Pears Hacker versteht das Buch als einen gescheiterten Versuch wesentliche Wahrheiten die nicht gesagt werden koumlnnen dennoch zu zeigen Dies sieht er als gesichertes Faktum an dessen Vorhandensein er mit Energie gegen Versuche es zu leugnen untermauert Dazu zaumlhlt er zehn Beispiele solcher Versuche auf von logischen Beziehungen zwischen Saumltzen bis zur Harmonie zwischen Gedanke Sprache und Wirklichkeit (S 353ndash355) und stellt sich ganz auf die Seite schon der fruumlhen Kritiker besonders des Wiener Kreises die den Schluszlig des Buches raquoganz unglaub-wuumlrdig fandenlaquo (S 355)71 Er nennt den Ansatz von Diamond und Conant raquopostmodernlaquo offenbar darauf berechnet zu provozieren jedoch frei von ernsthaften Absichten nicht aber das Buch richtig einschaumltzen zu wollen (S 356)72

Hacker sieht das Buch als offensichtlich inkonsistent an und beruft sich dabei auf Wittgensteins spaumltere Meinung zur Bestaumltigung dieses Faktums (S 370) Von daher fallen alle Versuche das Buch insgesamt nachzuvoll-ziehen zwangslaumlufi g ebenfalls der Inkonsistenz anheim Als Maszligstab der Inkonsistenz dient ihm dabei die Unvereinbarkeit und Widerspruumlchlich-keit der im Buch vorgetragenen (raquogesagtenlaquo oder raquogezeigtenlaquo) Lehren Da-mit aber stellt sich Hacker explizit auf einen Standpunkt den Wittgenstein fuumlr sein eigenes Werk ablehnt das ja explizit raquokein Lehrbuchlaquo (Vorwort) sein will Hacker reduziert das Buch auf einen Lehrinhalt den er unzurei-chend fi ndet ndash der Gegensatz zu Diamond und Conant liegt bereits hier denn beide Seiten differieren vor allem darin was das Buch eigentlich

71 In dieser Hinsicht stimmt seine Einschaumltzung mit derjenigen Conants uumlberein der seinerseits Hacker in die Naumlhe Carnaps plaziert (Two Conceptions of Die Uumlberwindung S 14 ff) Ohne Hacker sofort zu nennen schreibt Conant Carnap (wie spaumlter Hacker) eine substantielle Auffassung von Unsinn zu

72 Hacker lehnt sowohl die Abhandlung als auch Freges philosophische Grundkonzepti-on ab und setzt sie als verfehlten Versuch in scharfen Kontrast zum Denken des spaumlten Wittgenstein Diese Haltung wird in seinem Kommentar zu den Philosophischen Untersu-chungen deutlich besonders eklatant jedoch in dem (gemeinsam mit Gordon Baker ver-faszligten) gegen Dummetts Fregedeutung geschriebenen Frege Logical Excavations (Oxford 1984) Das Auftreten der resoluten Lesart gibt Hacker daher nicht den Grund zu seiner Ablehnung des fruumlhen Wittgenstein sondern vor allem den Anlaszlig seine Gruumlnde zu buumln-deln und erneut vorzubringen (Der verstorbene Gordon Baker der zunaumlchst gemeinsam mit Hacker mehrere Baumlnde zum spaumlten Wittgenstein verfaszligte dann aber seinen Ansatz weiterentwickelte und dabei in einigen Punkten der resoluten Lesart nahekam sei hier noch erwaumlhnt vgl Baker Wittgensteinrsquos Method Neglected Aspects Oxford 2004)

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leisten will Hacker sieht einen eklatanten Gegensatz zwischen Wittgen-steins Erklaumlrung nichts lehren zu wollen und seinem tatsaumlchlichen Vor-gehen seine Gegner versuchen gerade diese Aumluszligerungen Wittgensteins zu verstehen und ihnen entsprechend den Text so zu lesen daszlig er keine raquoLehrenlaquo enthaumllt sondern auf andere Art und Weise arbeitet

Hacker versucht entsprechend auch nicht Diamond und Conant ge-recht zu werden sondern listet vor allem eine Reihe von Kritikpunkten auf Zum einen weist er auf eine gewisse hermeneutische Willkuumlr hin mit der nur relativ wenige insgesamt unzusammenhaumlngende Partien herange-zogen werden wobei einige Passagen doch wieder als ganz gewoumlhnlich und sinnvoll gelesen werden ohne daszlig eine klare Abgrenzung nach Kri-terien gegeben wuumlrde Die haumlufi g verwendete Rede vom raquoRahmenlaquo des Buches im Unterschied zum raquoHauptteillaquo bleibt ihm zufolge unklar abge-grenzt da zum Rahmen auch Bemerkungen wie 4112 aus der Mitte des Textes gezaumlhlt werden73 Im Zusammenhang damit weist er darauf hin daszlig zwischen den Arten von Unsinn doch ein Unterschied gemacht wer-de wenigstens nach der Wirkung auf den Leser74 Und schlieszliglich ver-sucht er nachzuweisen daszlig Wittgenstein selbst weder in seiner fruumlheren noch in seiner spaumlteren Zeit eine solche radikale Lesart seiner eigenen Ar-beit vorgetragen oder unterstuumltzt habe

Eine spezielle Streitfrage liegt darin ob es nach Wittgenstein raquoUumlbertre-tungen der logischen Syntaxlaquo geben koumlnne Diamond und Conant be-haupten nein Hacker versucht an Beispielen aufzuzeigen daszlig Wittgen-stein dies wiederholt anspricht (S 365ndash367)75 Der grundlegende Dissens betrifft hier die Frage ob Wittgenstein sich vorrangig um den Begriff und die Festlegung einer logischen Syntax als Einfuumlhrung sinnvoller Rede be-muumlht denn wenn es um die Festlegung und ggf die Erweiterung und Ver-aumlnderung von Sinn geht dann gibt es nichts was uumlbertreten oder verfehlt werden koumlnnte ndash oder aber ob Wittgenstein wie Hacker ihn liest jemand ist der vor allem schon bestehende syntaktische Systeme betrachtet und dabei die Moumlglichkeiten behandelt sich gegenuumlber den Vorschriften be-

73 Conants Auskunft daszlig nicht der Ort im Text sondern die Funktion der Bemerkung daruumlber entscheide ob es zu Rahmen oder Hauptteil gehoumlre vermag als Gegenargument nicht wirklich zu uumlberzeugen

74 Dies leugnen Conant und Diamond keineswegs nur kommt es ihnen gerade auf den Unterschied zwischen logischen und anderen Einteilungsgruumlnden an

75 Dieser Punkt ist auch deswegen zentral weil fuumlr Hacker Unsinn genau dadurch ent-steht daszlig man die logische Syntax verletzt (Was he Trying S 367) waumlhrend fuumlr Conant und Diamond Unsinn dann vorliegt wenn wir mit einer Zeichenreihe schlicht nichts anfangen koumlnnen also kein Symbol darin erkennen Dieser Frage widmet Hacker den Aufsatz Wittgenstein Carnap and the New American Wittgensteinians in Philosophical Quar-terly 53 (2003) S 1ndash23 und Diamond die Entgegnung Logical Syntax in Wittgensteinrsquos Tractatus in Philosophical Quartely 55 (2005) S 78ndash88

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stimmter Systeme abweichend zu verhalten und ihre Regeln zu verletzen Die Frage ist ob Wittgenstein die Syntax mit einem bestehenden Spiel analog setzt oder nicht76 Fuumlr beide Aspekte gibt es Belege im Text77

Eine gewisse Uumlbereinstimmung zwischen Hacker und seinen Gegnern liegt ironischerweise darin daszlig keine der beiden Seiten eine durchge-hende Interpretation der Abhandlung anstrebt Hacker haumllt dies aufgrund der Inkonsistenz fuumlr uninteressant (wenn auch theoretisch moumlglich) Dia-mond ist vorrangig an Einzelfragen und am methodischen Standard des spaumlten Wittgenstein interessiert (wozu sie in der Abhandlung letztlich doch nur eine Vorstufe fi ndet) und Conant ist hauptsaumlchlich damit beschaumlftigt vorgaumlngige Kriterien fuumlr eine uumlberzeugende Lektuumlre zu entwickeln78

Als zentrale unbeantwortete Frage bleibt daruumlber hinaus das Problem bestehen wie man Wittgensteins Sprache und die Art seiner Behaup-tungen im Text konsequent aufzufassen hat denn hier weist Hacker auf deutliche Inkonsistenzen der resoluten Leser hin Zum einen wird von raquobloszligem Unsinnlaquo gesprochen dann wieder werden Passagen so gelesen wie gewoumlhnliche behauptende Prosa zum einen ist von Ironie die Rede dann wieder scheint alles ganz woumlrtlich aufzufassen zu sein79

8 Marie McGinn hat den bisher ehrgeizigsten Versuch unternommen die Staumlrken beider konkurrierender Ansaumltze zu verbinden und die jewei-

76 Vgl Diamond (wie die vorige Anm) S 86 Hacker vertritt hier einen eher kantischen Ansatz der die Grenzen der Vernunft bereits abgesteckt vorfi ndet (ein fuumlr Hacker wichtiges Buch ist P Strawsons Kantdeutung in The Bounds of Sense) Diamond und Conant sehen Wittgenstein als radikaleren Denker nach dem diese Grenzen immer wieder neu bestimmt werden muumlssen bzw nach dem es genau genommen keine Grenzen gibt da das Entschei-dende die Moumlglichkeit neuer Begriffsbildungen ist ohne daszlig man sich an irgendeiner Vorgabe (oder Grenze) orientieren kann die man entweder trifft oder verfehlt

77 Zum einen schreibt Wittgenstein raquoWir koumlnnen einem Zeichen nicht den unrechten Sinn gebenlaquo (54733) also bei der Bedeutungsfestsetzung nichts verfehlen zum anderen erklaumlrt er schlicht Saumltze wie raquo1 ist eine Zahllaquo (41272) die sich auf unsere bestehende Spra-che beziehen fuumlr unsinnig weil darin das Wort raquoZahllaquo als gewoumlhnliches Begriffswort statt als raquoformaler Begrifflaquo und also falsch verwendet wird Daszlig 1 eine Zahl ist ist schon da-durch klar daszlig wir das Zahlzeichen 1 verwenden und gerade deshalb koumlnnen wir dies nicht noch zusaumltzlich behaupten Es ist allerdings richtig daszlig Wittgenstein im letzteren Fall strenggenommen nicht von der raquoVerletzung der logischen Syntaxlaquo spricht sondern das Gebilde einfach raquounsinniglaquo nennt da fuumlr solche Faumllle gar keine logische Syntax im exakten Sinn verfuumlgbar ist Die gesamte Abhandlung ist in dieser Hinsicht nirgends der Versuch eine vorliegende Syntax zu treffen aber auch nicht eine neue Syntax festzulegen sondern sie befaszligt sich vielmehr mit den Bedingungen der Moumlglichkeit von Syntax uumlberhaupt Insofern verfehlen sowohl Hacker auch Diamond und Conant diesen Kernpunkt des Buches

78 So etwa im Abschnitt What makes a Reading resolute in Mono-Wittgensteinianism S 42ndash47

79 Vgl dazu W Kienzler Die Sprache des Tractatus Klar oder deutlich Karl Kraus Witt-genstein und die Frage der Terminologie in F GoumlppelsriederJ Volbers (Ed) Philosophie als Lebensform Muumlnchen 2008 (im Erscheinen)

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ligen Schwaumlchen zu vermeiden80 Sie will Wittgenstein keine metaphy-sischen Lehren zuschreiben81 aber doch sicherstellen daszlig wir aus dem Buch etwas Konstruktives lernen koumlnnen Dazu nimmt sie den Begriff der Klaumlrung als Orientierungspunkt Die Aufgabe des Buches ist es demnach die Logik der Sprache aufzuklaumlren Wenn dies aber ohne die Verwendung positiver Lehren geschehen soll muszlig es indirekt geschehen naumlmlich da-durch daszlig die Sprache sich indirekt selbst klaumlrt das heiszligt daszlig eine solche Klaumlrung nicht auf etwas auszligerhalb der Sprache Bezug nimmt denn das waumlre Kennzeichen einer metaphysischen Auffassung McGinn schreibt et-was kryptisch raquoEs ist ein Werk in dem die Natur des Satzes die schon klar ist obwohl wir sie noch nicht klar sehen sich selbst fuumlr uns klaumlrtlaquo82

Sie betont jedoch sehr zu Recht daszlig Wittgenstein in seiner Abhandlung die eine groszlige Frage loumlsen wollte raquoDas Wesen des Satzes angeben heiszligt das Wesen aller Beschreibung angeben also das Wesen der Weltlaquo (54711)83

Damit aber waumlren alle (oder raquodielaquo) philosophischen Probleme geloumlst Ohne eine solche Voraussetzung die Wittgenstein offenbar als grundle-gende Einsicht erschien ist seine Handlungsweise gar nicht nachvollzieh-bar naumlmlich ein uumlberaus kurzes Buch zu verfassen in dem alle philoso-phischen Fragen im Prinzip jedenfalls beantwortet sind Dies ist nur moumlglich wenn diese Fragen so eng zusammenhaumlngen daszlig die Loumlsung der einen zugleich die Loumlsung der anderen bedeutet Dieser Grundgedanke strukturiert McGinns Buch und gibt ihm eine klare Linie84 Sie untersucht die besonders von Conant behandelten Fragen nach den Bedingungen einer angemessenen Lektuumlre fast gar nicht und antwortet insofern nicht durch Gegenargumente sondern durch die Tat durch einen Gang durch das Buch Es uumlberrascht dabei daszlig sie den Anfang zunaumlchst weglaumlszligt und nach Einleitungskapiteln zur Abgrenzung gegen Frege und Russell gleich mit dem Begriff des Bildes und dann des Satzes beginnt Tatsaumlchlich zeigt McGinn uumlberzeugend auf daszlig die Eingangspassagen am besten als Hin-fuumlhrungen zur raquoTheorie des Satzeslaquo aufgefaszligt werden und nicht als eigen-staumlndiges Theoriestuumlck einer vorangestellten Ontologie (sei diese nur scheinbar als Illusion aufgebaut oder ernst gemeint vgl etwa Diamond

80 Marie McGinn Elucidating the Tractatus81 Marie McGinn Between Metaphysics and Nonsense Elucidation in Wittgensteinrsquos Tracta-

tus In Philosophical Quarterly 49 (1999) S 491ndash513 hier S 107)82 Damit bleibt McGinn nahe an Aumluszligerungen von Diamond und Conant (etwa Method

S 424)83 Zit in McGinn Elucidating S 24084 Das erste Kapitel The Single Great Problem behandelt diese Frage zeigt aber bereits

daszlig sich McGinn nicht vollstaumlndig auf den Text einlaumlszligt sondern ihn von Anfang an stark aus der Perspektive der Philosophischen Untersuchungen her deutet (die im letzen Kapitel er-neut den Maszligstab der Betrachtung bilden)

120 Wolfgang Kienzler PhR

Ethics S 160) Vor dem Hintergrund der Auffassung des sinnvollen Satzes wird der Anfang dann relativ leicht verstaumlndlich In der Darstellung von McGinn wird die Abhandlung wieder zu einer Abhandlung einer nuumlch-ternen Darlegung uumlber die Voraussetzungen sinnvollen Sprechens und Ausdruumlckens uumlber die Unterschiede der Satzarten und die allgemeine Form des Satzes Allerdings ruumlcken so die Einzelheiten der Sprachlogik ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit und die Fragen nach der Natur der Philosophie aber auch die nach der Einheit des Buches treten ganz in den Hintergrund Das Buch enthaumllt kein Kapitel zum Philosophiebegriff des fruumlhen Wittgenstein und kaum Erlaumluterungen zur spezifi schen Form der Darstellung oder zur Strategie der Praumlsentation Einige Themen wie die Ethik Arithmetik oder die Naturgesetze werden ganz uumlbergangen dabei waumlre an diesen Beispielen die angestrebte Einheitlichkeit erst richtig aufzuzeigen gewesen In dieser Hinsicht erklaumlrt McGinn die Abhandlung in der Form die sie 1916 noch hatte bevor Wittgenstein die Schluszligpassa-gen einarbeitete und als sie noch staumlrker eine Abhandlung in raquophiloso-phischer Logiklaquo war85 Gegen Diamond und Conant stellt sie klar heraus daszlig das Ziel der Klaumlrung raquodurch Einsicht in das Funktionieren der Spra-chelaquo erreicht werden soll und nicht indirekt dadurch daszlig raquodie Versuche philosophische Saumltze zu bilden als Unsinn erkannt werdenlaquo (S 254 Anm 6) Die sehr nuumlchterne Art McGinns zeigt einen Wittgenstein der ganz unironisch seine logisch-philosophische Konzeption Schritt fuumlr Schritt entwickelt86

85 Vgl Brian McGuinness Wittgensteinrsquos 1916 Abhandlung in R HallerK Puhl (Hg) Wittgenstein and the Future of Philosophy Wien 2002 S 272ndash282 Die grundlegenden philologischen Arbeiten von McGuinness werden in der gegenwaumlrtigen Debatte leider wenig fruchtbar gemacht

86 Das stark gestiegene Interesse am fruumlhen Wittgenstein hat eine ganze Reihe von Monographien hervorgebracht die jedoch nur selten das gelassene exegetische Niveau McGinns erreichen sondern in der Regel mehr oder weniger exzentrische Deutungen in den Mittelpunkt stellen

M Ostrow Wittgenstein and the Liberating Word CambridgeMass 2002 (eine Zusam-menfassung in Reck From Frege to Wittgenstein) versucht eine an Floyd orientierte raquodialek-tische Interpretationlaquo die sich am Leitmotiv des raquoerloumlsenden Worteslaquo orientiert aber ins-gesamt zu vage bleibt zumal sich die Differenz zum spaumlteren Wittgenstein ganz aufzuloumlsen scheint und wichtige Passagen unberuumlcksichtigt bleiben

E Friedlander Signs of Sense Reading Wittgensteinrsquos Tractatus Cambridge Mass 2001 scheint das Raumltselhafte geradezu zu genieszligen und nennt als sein Ziel raquonicht das Raumltsel des Buches zu loumlsen sondern seinen raumltselhaften Charakter auf eine wahrhaft zum Denken herausfordernde Art aufzuzeigenlaquo (S XV) und will geradezu raquoseinen raumltselhaften Charak-ter rechtfertigenlaquo (16)

U Nordmann Wittgensteinrsquos Tractatus An Introduction Cambridge 2005 faszligt das Buch als ein Gedankenexperiment und eine groszlige Reductio ad Absurdum auf zu der er einige Praumlmissen ergaumlnzt Er deutet das Buch als im Konjunktiv geaumluszligert wodurch der Behaup-

121Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Ausblick

Die Arbeiten von Diamond und Conant haben zu einer neuen Welle des Interesses an Wittgensteins Fruumlhwerk gefuumlhrt und die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten vor allem aber auch das Potential seiner Abhandlung gelenkt Im Zentrum steht dabei die Natur der Philosophie als Erlaumlute-rung die selbst nicht in die Gestalt einer Lehre gebracht werden kann oder anders ausgedruumlckt der entscheidende Unterschied zwischen einer philosophischen und einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Untersu-chung

Gerade dadurch daszlig sie die Abhandlung stellenweise sehr nah an den spaumlten Wittgenstein heranruumlcken eroumlffnen Conant und Diamond Moumlg-lichkeiten die Souveraumlnitaumlt und Subtilitaumlt des Buches erst richtig zu wuumlr-digen Dies geschieht jedoch um den Preis daszlig einige Teile des Buches herausgegriffen andere dagegen kaum beruumlcksichtigt werden

Nicht hinreichend geklaumlrt scheint auch die Frage nach dem sprachlichen Grundton des Buches Diamond geht immer wieder von einem nahe an der Alltagssprache stehenden Redegestus aus (aumlhnlich wie der spaumlte Wittgen-stein) waumlhrend Conant aus der weiteren Perspektive ironische Zuumlge be-schreibt87 Gemeinsam ist den resoluten Lesern daszlig sie Wittgensteins Saumltze in der Abhandlung auf doppelte Weise auffassen Sie unterscheiden an vielen Stellen einen buchstaumlblichen naheliegenden Sinn der sich bei naumlherer Be-trachtung als inkohaumlrent erweist und der so zerfaumlllt88 Daher wird in ihrer

tungscharakter eingeklammert die Klaumlrungsfunktion jedoch trotzdem ermoumlglicht wird Er gewinnt so eine Kategorie von Saumltzen die raquounsinnig aber bedeutungsvolllaquo (176) sind

L Gunnarsson Wittgensteins Leiter Bodenheim 2002 greift einen Gedanken Conants auf daszlig wir naumlmlich den Hauptteil des Buches wegwerfen und den Rahmen behalten sollen (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 286) und entwickelt daraus die Fik-tion es waumlre tatsaumlchlich nur das Vorwort und der Schluszlig der Abhandlung erhalten ndash und will daraus den Gehalt des Buches ohne Verlust rekonstruieren Diese Veranschaulichung zeigt besonders klar auf wie verfehlt dieser Ansatz ist wenn man ihn auf die konkrete Interpretationspraxis bezieht

87 Die Parallele zwischen Wittgenstein und Kierkegaard scheint in zentralen Punkten gerade nicht zu bestehen denn Wittgenstein distanziert sich gerade nicht von seinem Buch sondern erklaumlrt seine Auffassungen fuumlr defi nitiv richtig und alternativlos ganz ent-gegen dem verwirrenden Spiel Kierkegaards mit unterschiedlichen Pseudonymen und Perspektiven Ein passenderer Vergleich waumlre etwa mit Hume moumlglich der am Ende seiner Untersuchung uumlber die Prinzipien der Moral (Abschnitt 9 Teil 1) seine Ergebnisse fuumlr derart einfach klar kohaumlrent und uumlberzeugend haumllt daszlig dem nichts hinzuzufuumlgen ist so daszlig er selbst geradezu in Versuchung kommen koumlnnte dogmatisch davon uumlberzeugt zu sein

88 So fuumlhrt Diamond (in Ethics wie Anm 37) folgende Beispiele dafuumlr an 1 das woruuml-ber man schweigen muszlig (aber das kann es doch nicht geben weil es kein raquodaruumlberlaquo ist S 149) 2 die Saumltze der Abhandlung die zu verstehen seien (oder doch raquoer selbstlaquo wie Witt-genstein dann uumlberraschenderweise sagt S 149) 3 die Anfangssaumltze uumlber die Welt (aber daruumlber kann es doch keine Saumltze geben S 160) 4 der Schein daszlig ab 64 Saumltze uumlber Ethik

122 Wolfgang Kienzler PhR

Perspektive das Buch durchgehend doppelboumldig und loumlst sich schlieszliglich in Nichts auf wobei in der Aufl oumlsung gerade die Absicht des Buches bestehen soll89 Demgegenuumlber kann festgehalten werden daszlig Wittgenstein nir-gends von Ironie spricht wohl aber davon daszlig er das Wesentliche in Kuumlr-ze klar ausdruumlcken will Eine wichtige Differenz innerhalb der resoluten Lesart liegt weiter darin welche Wichtigkeit man den eher technischen Aspekten der Abhandlung zuschreibt Ricketts und Goldfarb sehen viele Zuumlge des Buches von technischen Erwaumlgungen motiviert und gepraumlgt waumlhrend Diamond und Conant den Sinn der symbolischen Notation vor allem darin sehen wesentliche Unterschiede klarzustellen90

Das Motto erklaumlrt daszlig man raquoalles was man weiszliglaquo schlieszliglich raquoin drei Worten sagenlaquo kann Viele der scheinbaren Widerspruumlche und Doppelt-heiten die resolute Leser beobachten koumlnnten sich von daher moumlglicher-weise der Absicht verdanken im Buch logisch praumlzise Saumltze zu erwarten eine Absicht die bestaumlndig getaumluscht wird91 Wuumlrde man die Saumltze eher als Instrumente verstehen die allmaumlhlich entsprechend den Stufen der Lei-ter zur Klarheit anleiten ohne daszlig der Leser in die selbstrefl exive Geste verwickelt werden soll dann koumlnnte eine einfachere und klarere Lesart entstehen die auch mehr Sinn fuumlr den Zusammenhang und die spezi-fi schen Darstellungsmittel des Buches entwickeln wuumlrde ndash wenn denn eine solche zusammenhaumlngende Erlaumluterung als gemeinsames Ziel fest-staumlnde92 Auch Fragen der Textkritik die derzeit nur sehr sporadisch ge-streift werden koumlnnten dann eine groumlszligere Rolle spielen

Wolfgang Kienzler (ChemnitzJena)

vorkommen (die es doch gar nicht geben kann S 164) 5 der Schein daszlig im Buch Saumltze raquouumlber Logiklaquo vorkommen (die es ebenfalls nicht geben kann S 164) In allen Beispielen kann man die Situation natuumlrlicher so darstellen daszlig man die Saumltze der Abhandlung von vornherein zwar woumlrtlich aber nicht buchstaumlblich nimmt sondern sich von ihren zur Klarheit die sich erst allmaumlhlich einstellen kann fuumlhren laumlszligt

89 Diese Doppeltheit der Lesart ist den resoluten Lesern und ihren Kritikern gemein-sam sie ist aber keineswegs selbstverstaumlndlich und widerspricht dem Grundgedanken der Klarheit

90 Dies ist das Thema von Diamond What Does a Concept-Script Do in The Realistic Spirit S 115ndash144 Sie sieht darin ein raquoWerkzeug geistiger Befreiunglaquo (143) deutet damit aber tendenziell wieder einen Gedanken der Abhandlung in Frege hinein der zunaumlchst die Umgangssprache ganz zugunsten der exakteren Begriffsschrift verbannen wollte

91 In weiten Teilen der resoluten Beitraumlge kann man auch eine gewisse Vergegenstaumlnd-lichung mancher von Wittgenstein verwendeter Woumlrter wahrnehmen die dazu fuumlhren daszlig die Rede von raquoUnsinnlaquo raquoErlaumluterunglaquo u a zunaumlchst gegenstaumlndlich miszligverstanden und anschlieszligend als Gegenstaumlndlichkeit leugnend gedeutet wird Eine Beachtung von Wittgensteins ungezwungenem und unterminologischem Sprachgebrauch koumlnnte viele dieser Schleifen uumlberfl uumlssig machen

92 Das Buch von McGinn kann dazu als erster wichtiger konstruktiver Schritt angese-hen werden auch wenn es insgesamt etwas zu additiv verfaumlhrt

Page 5: Neue Lektüren von Wittgensteins Logisch-Philosophischer ... · 10 E. Stenius : Wittgensteins Traktat [1960], Frankfurt/M. 1969, nennt den Schluß »keine echte Verdammung [. . .]

99Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

dem prominentesten Kritiker des Neuansatzes Das Wittgenstein-Sympo-sium Kirchberg 2001 zum 50 Todestag Wittgensteins wird von der De-batte um die neue Lesart beherrscht 2002 erscheint die bisher ausfuumlhr-lichste Darstellung von Conant Beitraumlge von Warren Goldfarb18 Thomas Ricketts19 Juliet Floyd Michael Kremer und anderen erweitern das Lager der raquoresolutenlaquo Leser20 2006 erscheint eine Monographie von Marie Mc-Ginn die eine Synthese der aumllteren und der neueren Lesart versucht Die Festschrift fuumlr Cora Diamond (2007) enthaumllt bereits Ruumlckblicke auf die bisherigen Entwicklungen sowie die Perspektive das Diskussionsfeld end-guumlltig auf den spaumlten Wittgenstein auszuweiten21

3 Ausgangspunkt der Entwicklung war Cora Diamonds Versuch aus studentischen Aufzeichnungen Wittgensteins Vorlesungen uumlber die Grund-

2001 (tatsaumlchlich sind die meisten Vertreter der resoluten Lesart Amerikaner [raquoMost Brits donrsquot buy itlaquo]) Reck From Frege to Wittgenstein (2002) mit Conants langem Aufsatz sowie Stocker Post-Analytic Tractatus (2004) Dieser letzte Band ist insofern symptomatisch als er sehr heterogenes Material unterschiedlicher Qualitaumlt bietet Neben Aufsaumltzen von Co-nant Diamond und Kremer sowie einigen allgemeineren Beitraumlgen enthaumllt der Band L E Brouwers fruumlhe Schrift Life Art and Mysticism (niederlaumlndisch 1905) mit dem Hinweis daszlig sie raquodasjenige explizit macht was bei Wittgenstein auszligerhalb der Grenzen des Sag-baren verbleibtlaquo (Einleitung des Herausgebers S 3) Ein solches Verstaumlndnis von Explika-tion kann man nur als kurios bezeichnen

18 Warren Goldfarb hat in Metaphysics and Nonsense On Cora Diamondrsquos The Realistic Spirit in Journal of Philosophical Research 22 (1997) S 57ndash73 der Stroumlmung den Namen gegeben sonst aber wenig veroumlffentlicht (vgl die Liste der Texte in Floyd Wittgenstein and the Inexpressible in Wittgenstein and the Moral Life S 229)

19 Als fuumlhrender Fregeinterpret geht Ricketts von der Schwierigkeit aus daszlig es keinen logisch wohlgebildeten Satz geben kann der ausdruumlckt daszlig Begriffe keine Gegenstaumlnde sind da Saumltze der Form A=B voraussetzen daszlig die Ausdruumlcke auf beiden Seiten der Glei-chung (oder Ungleichung) derselben Kategorie angehoumlren und der fragliche Satz daher die schlichte Verneinung eines solchen Satzes sein muumlszligte Varianten desselben Problems fi ndet er in refl ektierterer Form auch bei Wittgenstein wieder vgl dazu Pictures Logic and the Limits of Sense in Wittgensteinrsquos Tractatus in Wittgenstein Companion S 59ndash99 vor allem S 88ndash94 Eine besondere Gemeinsamkeit von Ricketts Goldfarb und anderen liegt darin herauszustellen daszlig Wittgenstein offenbar von seinen Lesern erwartet daszlig sie zugleich auf den Inhalt seiner Saumltze und auf die logische Form dieser Saumltze achten sollen wobei der Effekt eintritt daszlig die logische Form der Saumltze dem in ihnen (scheinbar) Gesagten wider-spricht wodurch sich der Sinn der gesamten Ausfuumlhrungen von innen her zersetzt und in Unsinn aufl oumlst Ricketts zeigt dies fuumlr die Satzreihe zwischen 2 und 21

20 Ein weiterer wichtiger Vertreter und Anreger dieser Wittgensteinlektuumlre ist der 1995 verstorbene Peter Winch dessen Sammelband Trying to Make Sense (Oxford 1987 Versu-chen zu verstehen FrankfurtM 1992) in vieler Hinsicht den Arbeiten von Diamond ver-gleichbar ist Zwei wichtige Arbeiten Conant Method of the Tractatus und Diamond How Long ist the Standard Meter at Paris in Wittgenstein in America (s Anm 17 dieser Band geht auf eine von Winch organisierte Tagung zuruumlck) sind dem Andenken an Winch gewid-met

21 Conant nennt in seinem Beitrag sechzehn Mitstreiter (Mono-Wittgensteinianism S 11 Anm 3)

100 Wolfgang Kienzler PhR

lagen der Mathematik von 193922 einigermaszligen zusammenhaumlngend zu rekonstruieren23 Diamond gewann aus dieser Arbeit den schlagenden Eindruck wie schwierig es ist Wittgensteins Herangehensweise an philo-sophische Fragen richtig aufzufassen und auszudruumlcken24 Diesem Grun-dimpuls Wittgensteins philosophischen Ansatz in seiner Schwierigkeit und Radikalitaumlt zu erlaumlutern verdankt sich ein groszliger Teil von Diamonds weiterer Arbeit25

Zentral ist ein starkes Interesse an der Spaumltphilosophie Wittgensteins demgegenuumlber erscheint die fruumlhe Denkweise als erster und wichtiger Schritt in die richtige Richtung nicht aber als ein gescheiterter Versuch dem Wittgenstein spaumlter etwas grundlegend Anderes entgegensetzte Dia-monds Interesse an der Abhandlung ist zunaumlchst eher indirekt und liegt darin zu zeigen wie der radikale Ansatz schon des fruumlhen Wittgenstein interpretativ weitgehend abgefl acht und miszligverstanden wurde Die Initi-alzuumlndung zu einer intensiven Beschaumlftigung mit dem fruumlhen Wittgen-stein ging dann von Peter Geachs Versuch aus durch Zuhilfenahme der

22 Wittgenstein Lectures on the Foundations of Mathematics 1939 Ithaca N Y 1976 (= Schriften Bd 7 1978 dieser wichtige Text ist in der deutschen Uumlbersetzung wenig beach-tet und nicht nachgedruckt worden)

23 Es gelang Diamond schlieszliglich auf bewundernswerte Weise aus den unterschied-lichen stark voneinander abweichenden Mitschriften einen zusammenhaumlngenden Text zu erstellen Diese philologisch anfechtbare und fuumlr den Leser nicht uumlberpruumlfbare Praxis wur-de in spaumlteren Veroumlffentlichungen von Vorlesungen Wittgensteins zugunsten der paral-lelen Wiedergabe der einzelnen Mitschriften aufgegeben Damit verschwanden aber auch Erfahrungen wie diejenige Diamonds

24 Diamond schreibt raquoIch brauchte vier Jahre um uumlberhaupt zu verstehen was in diesen Vorlesungen eigentlich vor sich ginglaquo (Diamond How Did I Come to be Acquainted with Wittgensteinrsquos Work In Philosophical Investigations 14 2001 S 108ndash115 S 109 diese Ausgabe enthaumllt entsprechende Auskuumlnfte u a auch von Cavell Conant und Hacker) Die Arbeit an dieser Edition hat Diamonds Perspektive entscheidend gepraumlgt Man koumlnnte sa-gen daszlig Diamond sich in ihren eigenen Veroumlffentlichungen an dem Ideal orientiert das Wittgenstein in diesen Vorlesungen paradigmatisch vorfuumlhrt Er nimmt einen Satz etwa aus einer Schrift des bedeutenden Mathematikers Hardy daszlig mathematischen Saumltzen raquoin irgendeiner wenn auch noch so subtilen Form etwas in der Realitaumlt entsprichtlaquo und zeigt durch intensive Deutungsbemuumlhungen und praumlgnante Beispiele auf inwiefern diese For-mulierung zwar nicht falsch ist wohl aber und das ist weit gravierender eine grundsaumltz-lich verfehlte Einstellung zum raquoGegenstand der Mathematiklaquo ausdruumlckt (25 und 26 Vor-lesung S 290 ff)

25 Diamond greift zudem Impulse von Rush Rhees und Elizabeth Anscombe auf beides unmittelbare Schuumller sowie Nachlaszligverwalter und Herausgeber Wittgensteins sowie von Stanley Cavell der zunaumlchst von Austin beeinfl uszligt weitgehend unabhaumlngig eine ganz auf die Philosophischen Untersuchungen konzentrierte Lektuumlre Wittgensteins entwickelt und durch seine Lehrtaumltigkeit auch auf Conant Goldfarb und Ricketts gewirkt hat (wie die vorherige Anm S 109 f) Allerdings uumlberschreitet Cavells bisweilen sehr kreative Um-gangsweise mit den Texten haumlufi g die Grenzen dessen was man Interpretation nennen kann

101Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen Wittgenstein davor zu ret-ten sich selbst philosophisch mattzusetzen (raquoLudwigrsquos self-matelaquo)26 Geach war damit derjenige der dem Schluszlig des Buches nicht nur besondere Aufmerksamkeit schenkte sondern ihn zum Pruumlfstein uumlber Erfolg oder Scheitern von Wittgensteins fruumlher Philosophie bzw der Versuche sie zu verstehen machte

Fast alle Versuche den Schluszlig zu verstehen knuumlpfen an die im Text zentrale Unterscheidung zwischen raquoSagenlaquo und raquoZeigenlaquo an Wittgenstein selbst nannte sie einmal den raquoHauptpunktlaquo seiner Philosophie (Brief an Russell vom 19 8 1919) und er entwickelt sie bei der Behandlung radikal unterschiedlicher Arten von Saumltzen Empirische oder raquosinnvollelaquo Saumltze vergleicht er mit Bildern die Sachverhalte darstellen Wenn der darge-stellte Sachverhalt besteht ist der Satz wahr wenn er nicht besteht falsch Saumltze sagen daszlig die von ihnen dargestellten Sachverhalte bestehen Sie sind artikuliert und tun dies mit Hilfe ihrer spezifi schen logischen Form Die-se Form raquoweisen sie auflaquo aber sie sagen sie nicht aus sondern raquozeigenlaquo sie Diese beiden Aspekte das von einem Satz Ausgesagte und Behauptete sowie die dabei zum Einsatz kommenden sprachlogischen Mittel trennt Wittgenstein scharf Weiter betont er daszlig die Saumltze der Logik keine Sach-verhalte darstellen sondern bereits aufgrund ihrer Form als korrekt und insofern raquowahrlaquo oder als widerspruumlchlich und insofern raquofalschlaquo zu erken-nen sind Wittgenstein spricht von raquoTautologienlaquo27 und raquoKontradiktionenlaquo Diesen rein formalen Charakter der logischen Saumltze druumlckt Wittgenstein auch so aus daszlig er sie raquosinnloslaquo nennt und bemerkt raquoDie Saumltze der Logik sagen also Nichtslaquo (611)28 Er druumlckt dies auch so aus daszlig logische Saumltze raquozeigen daszlig sie nichts sagenlaquo (4461) Sagen und Zeigen sind fuumlr ihn strikt getrennte Ausdrucksformen raquoWas gezeigt werden kann kann nicht gesagt werdenlaquo (41212) Weiterhin untersucht Wittgenstein die Natur der philo-sophischen Saumltze und kommt zu dem Schluszlig daszlig diese weder zur Gruppe der sinnvollen noch zu der der sinnlosen Saumltze gehoumlren Da seiner Mei-nung nach der Philosophie uumlberdies kein eigener Gegenstandsbereich zugewiesen werden kann erklaumlrt er daszlig die Philosophie raquokeine Lehre sondern eine Taumltigkeitlaquo (4112) sei naumlmlich die Taumltigkeit der logischen

26 Saying and Showing in Frege and Wittgenstein (wie Anm 13 Zit S 54) Diamond deutet den Schluszlig nicht defensiv wie Geach sondern offensiv als Versuch etwas Wichtiges klar-zustellen

27 Wittgenstein etabliert damit eine ganz neue Verwendungsweise des Wortes raquoTauto-logielaquo die durch die aussagenlogischen Wahrheitsbedingungen erklaumlrt ist

28 Wittgenstein verwendet die Ausdruumlcke raquosinnvolllaquo raquosinnloslaquo und raquounsinniglaquo um wichtige Unterschiede lokal zu markieren aber als Terminologie entstammt diese Trias der Sekundaumlrliteratur und der Neuuumlbersetzung des Buches durch David Pears und Brian McGuinness (1961)

102 Wolfgang Kienzler PhR

Klaumlrung der Gedanken und der Klarstellung der grundlegenden Funk-tionsweise des sprachlichen und symbolischen Ausdrucks29

Nach Geach muszlig man Wittgensteins Buch so verstehen daszlig darin zum einen etwas gesagt wird daszlig aber wichtige Zuumlge der Realitaumlt ( features of reality) entsprechend Wittgensteins Analysen nicht gesagt wohl aber ge-zeigt werden koumlnnen Die Schluszligbemerkung waumlre dann so aufzufassen daszlig man einsehen muszlig daszlig die philosophisch wichtigen Einsichten nur gezeigt werden koumlnnen sie damit aber in Saumltzen enthalten sind die streng genommen unsinnig sind weil sie nicht etwas raquosagenlaquo so naumlmlich wie der Terminus raquosagenlaquo in der Abhandlung verwendet wird Geach sieht in dieser Unterscheidung eine Einsicht die Wittgenstein von Frege uumlbernimmt und erweitert

In ihrem Aufsatz Throwing Away the Ladder (1985)30 setzt sich Diamond intensiv mit Geach auseinander und entwickelt daraus wesentliche Ele-mente die die Diskussion bis heute praumlgen Dazu gehoumlrt der Bezug auf Frege In seinen raquoErlaumluterungenlaquo31 logischer Grundbegriffe also dessen was er das raquoLogischeinfachelaquo nennt und was entsprechend durch keine Defi nition weiter zergliedert werden kann spricht Frege deutlich aus daszlig er sich bildlich und unexakt ja teilweise sogar streng genommen falsch ausdruumlcken muszlig um das Gemeinte zu vermitteln32 Das wichtigste Bei-spiel Freges ist die grundlegende Unterscheidung von Gegenstand und Begriff die er so erlaumlutert daszlig Gegenstaumlnde abgeschlossen Begriffe dage-

29 Die Saumltze der Philosophie waumlren nach Wittgenstein daher in Abgrenzung zu den beiden ersten Gruppen als raquounsinniglaquo einzustufen Diese relativ harmlose Deutung die 654 zu einer letztlich terminologischen Bemerkung macht wird von Diamond und Conant jedoch nicht geteilt Es ist eine Staumlrke des Ansatzes von DiamondConant daszlig sie die Abhandlung nicht nach einem terminologischen Schema zu entschluumlsseln versuchen im besonderen Fall von 654 ist ihr Ergebnis dennoch zweifelhaft denn man kann die Bemer-kung als raquoabschlieszligende selbstrefl exive Schluszligbemerkunglaquo verstehen die einfach ein letz-tes zusaumltzliches Licht auf das Ganze werfen und die Klarheit damit abrunden nicht aber diese erst herstellen soll Der Vergleich des Schlusses mit der Pointe eines Witzes die alles in ein voumlllig neues Licht taucht und die Spannung zusammenbrechen laumlszligt (vgl unten Anm 62) wirkt etwas gezwungen In seinen Anweisungen an Ogden (Letters to Ogden Oxford 1973 S 19) fuumlr die Uumlbersetzung des Buches besteht Wittgenstein darauf daszlig der raquoSinn nicht die Woumlrterlaquo uumlbersetzt werden und nennt dann wieder das Ganze raquoUnsinnlaquo dies weist darauf hin daszlig fuumlr ihn das Ganze nicht einfach durch und durch als Unsinn zu bezeichnen ist

30 Throwing Away the Ladder How to Read the Tractatus auch in The Realistic Spirit S 179ndash204

31 Auch dieser Terminus stammt von Frege obwohl er nicht auf den Bereich analy-tischer Philosophie beschraumlnkt ist (vgl M Heideggers Erlaumluterungen zu Houmllderlins Dichtung und das zugehoumlrige Vorwort)

32 Vgl dazu auch Gottfried Gabriel Der Logiker als Metaphoriker Freges philosophische Rhetorik in Gabriel Zwischen Logik und Literatur Stuttgart 1991 S 65ndash88 Auch Gabriel sieht bei Wittgenstein die konsequente Durchfuumlhrung Fregescher Einsichten

103Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

gen ungesaumlttigt sind und eine Leerstelle aufweisen die nur durch einen Gegenstand gesaumlttigt werden kann Dies gilt fuumlr Frege sowohl fuumlr die Be-griffe und Gegenstaumlnde selbst als auch fuumlr die Ausdruumlcke mit denen wir sprachlich Begriffe bzw Gegenstaumlnde bezeichnen Daher ist jedoch fuumlr ihn jeder Ausdruck ohne Leerstelle zwangslaumlufi g ein Gegenstandsname kein Begriffswort Sprachlich gesehen sind alle Ausdruumlcke mit dem be-stimmten Artikel (raquoder Nlaquo) Eigennamen solche mit dem unbestimmten Artikel (raquo ist ein Pferdlaquo) Begriffswoumlrter Damit aber ist ein Ausdruck wie raquoder Begriff Pferdlaquo schon aus syntaktischen Gruumlnden ein Gegenstandsna-me und kein Begriffswort Entsprechend erklaumlrt Frege den Satz raquoDer Be-griff Pferd ist kein Begrifflaquo allein aufgrund der syntaktischen Form fuumlr wahr weil die Worte raquoder Nlaquo und damit auch raquoDer Begriff Nlaquo nur einen Gegenstand bezeichnen koumlnnen Daruumlber hinaus erklaumlrt er daszlig es voumlllig unmoumlglich ist einen wahren Satz der Form raquoDer Begriff F ist ein Begrifflaquo zu bilden da wir an der Subjektstelle immer im logischen Sinn einen Ei-gennamen und kein Begriffswort vorfi nden Wir koumlnnen also nach Frege in gewoumlhnlichen Saumltzen gar keine korrekten Aussagen uumlber Begriffe ma-chen Gegen Geach deutet Diamond diesen Fall nun so daszlig Frege mit dem paradox klingenden Satz seine Leser zur richtigen Einsicht in das Wesen des Begriffs anleiten moumlchte und zwar indem er absichtsvoll etwas Unsinniges sagt in Gestalt einer vorlaumlufi gen Ausdrucksweise (transitional remark) die spaumlter ganz wegfallen kann wenn die Unterscheidung ver-standen worden ist33 Dieses Verstaumlndnis aber zeigt sich so Diamond nicht darin daszlig man einen raquoZug der Wirklichkeitlaquo erfaszligt hat sondern darin daszlig man Freges Notation zu beherrschen gelernt hat Ihr zufolge druumlckt sich in der Notation also in der Schreibweise nicht in einzelnen Behaup-tungssaumltzen34 Freges Unterscheidung von Gegenstand und Begriff am klarsten und eindeutigsten aus und der Sinn der Uumlbergangsbemerkungen liegt demnach einzig darin in den korrekten Gebrauch der Notation und damit des logischen Systems mit seinen eingearbeiteten Unterscheidungen einzufuumlhren Vor diesem Hintergrund gibt es keinen raquoInhaltlaquo der nach der Einfuumlhrung uumlbrig bliebe und damit auch keinen Inhalt den man raquozeigenlaquo muumlszligte oder koumlnnte und daher kann man die Leiter dann wegwerfen (und einfach den Symbolismus richtig anwenden) Eine Deutung wie diejenige

33 Als Fregedeutung kann diese Interpretation nicht uumlberzeugen weil Frege seinen pa-radox klingenden Satz ohne Zoumlgern fuumlr wahr haumllt Aus der Perspektive Wittgensteins je-doch der den Gedanken einer notwendigen strukturellen Parallelitaumlt zwischen raquoZeichen und Bezeichnetemlaquo uumlberwunden hat waumlre diese Deutung uumlberzeugend Man kann Dia-mond in diesem Punkt eine Uumlberinterpretation des fruumlhen Wittgenstein vorwerfen die sie auch noch auf Frege ausdehnt

34 Das heiszligt daszlig Freges Grundunterscheidung sich praktisch an jedem symbolisch no-tierten Satz zeigen laumlszligt

104 Wolfgang Kienzler PhR

Geachs erscheint vor diesem Hintergrund als halbherzig Zum einen meint man daszlig manche wichtigen Saumltze nichts sagen sondern nur etwas zeigen zum anderen aber haumllt man doch daran fest daszlig diese Saumltze einen Inhalt haben und indirekt etwas uumlber die Realitaumlt ausdruumlcken Fuumlr Diamond ist das ein Sich-druumlcken (chickening out)35 Diesem halbherzigen Versuch setzt sie ein konsequentes Ernstnehmen der Unsinnigkeit der Abhandlungssaumltze und des Wegwerfens der Leiter entgegen Der Versuch mit dem raquoUnsinnlaquo Ernst zu machen hat als raquoresolute Lesartlaquo (resolute reading) dem neuen An-satz spaumlter den Namen gegeben36 Diamond stellt die Frage wie ernst man 654 tatsaumlchlich nehmen sollte und weiter ob der Redeweise von raquoZuumlgen der Realitaumlt die nicht in Worten ausgedruumlckt werden koumlnnenlaquo ein Sinn abzugewinnen ist37 Diamonds Antwort ist ebenso einfach wie provokativ Ja die Bemerkung 654 muszlig sehr ernst genommen werden und gerade deshalb kann es keine unausdruumlckbaren Zuumlge der Realitaumlt geben sondern wir muumlssen akzeptieren daszlig die Saumltze der Abhandlung im strengen und gewoumlhnlichen Sinne unsinnig sind sie sind um das Vorwort zu zitieren raquoeinfach Unsinnlaquo Damit aber verliert die Unterscheidung von Sagen und Zeigen ihren quasi-metaphysischen Charakter38

Bemerkung 654 deutet Diamond nun so daszlig Wittgenstein darin einen bewuszligten und wesentlichen Unterschied mache zwischen dem Verstehen seiner Saumltze und dem Verstehen seiner Person (raquower mich verstehtlaquo)39 Man solle naumlmlich verstehen daszlig seine Saumltze nicht zu verstehen sind Wir sol-len genauer gesagt mit unserer Einbildungskraft uns in die Position je-mandes versetzen der glaubt die Saumltze des Buches zu verstehen damit aber sollen wir so Diamond zugleich verstehen daszlig es hier nichts zu verstehen gibt daszlig es sich nur um eine Illusion von Verstehen handelt

35 Systematisch betrachtet kann man darin ein noch zu weitgehendes Festhalten an der grundsaumltzlichen Aumlhnlichkeit der Funktionsweise (oder raquoBezeichnungsweiselaquo) saumlmtlicher Satzarten nach dem Vorbild Freges sehen der die Grundunterscheidung von ZeichenSinn des ZeichensBedeutung des Zeichens uumlberall durchfuumlhren will waumlhrend nach Wittgenstein schon fuumlr logische Saumltze weder von Sinn noch von Bedeutung die Rede sein kann

36 Ricketts spricht in seinem Beitrag zum Cambridge Companion (Anm 19) S 93 von einer raquoresolut und konsistent angewendeten Konzeption der Wahrheitlaquo nach der es raquokeine unausdruumlckbaren Wahrheiten geben kannlaquo In Anschluszlig daran hat sich dann auf eine Anregung Goldfarbs hin die Rede einer raquoresoluten Lesartlaquo eingebuumlrgert

37 Diamond Ethics Imagination and the Method of Wittgensteinrsquos Tractatus (1991) auch in New Wittgenstein S 149ndash173 hier S 181

38 Daszlig die Unterscheidung auf andere Weise logisch zentral ist fuumlhrt Diamond an an-derer Stelle aus (vgl Anm 12)

39 Diamond greift dabei (S 160) indirekt auch den Gedanken Cavells auf daszlig es in Wittgensteins Philosophie immer auch um Selbsterkenntnis geht also um die eigene Per-son Dieses Element spielt vor allem bei anderen Vertretern der resoluten Lesart eine be-traumlchtliche Rolle und traumlgt einiges zu ihrer Attraktivitaumlt bei

105Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

(150) Die Saumltze und damit das Buch sollen als vollstaumlndig unsinnig er-kannt werden ndash davon ausgenommen sind allerdings die Bemerkungen die den Rahmen bilden und in denen Wittgenstein einige Hinweise dar-uumlber gibt wie das Buch aufzufassen ist (S 149)40 Es gibt dabei keine lo-gische wesentliche Unterscheidung zwischen zwei Arten von Unsinn sol-chem der etwas Richtiges zeigt und solchem der schlicht Ausdruck einer Verwirrung ist (wie die Saumltze der traditionellen Metaphysik)41 Daszlig man-che unsinnigen Saumltze als Erlaumluterungen dienen koumlnnen ist diesen Saumltzen ganz aumluszligerlich (S 159) sozusagen eine Zufaumllligkeit hat aber nichts mit einem moumlglichen Gehalt dieser Saumltze zu tun Dies wendet sich gegen eine entsprechende Unterscheidung bei Anscombe zwischen raquoden Dingen die wahr waumlren wenn sie gesagt werden koumlnnten und denen die falsch wauml-ren wenn sie gesagt werden koumlnntenlaquo42 Man kann nach Diamond von solchen Unsinnsarten nicht sprechen Eine Konsequenz dieser Radikalitaumlt liegt nun darin daszlig die gesamte innere Struktur der Abhandlung verloren-zugehen scheint Wenn alles Unsinn ist was kann dann noch Unterschiede der einzelnen Passagen ausmachen Genau dies entspricht gerade einem zentralen Motiv von Diamonds Ansatz So verweist sie etwas darauf daszlig im Buch zwar Bemerkungen mit ethischer Thematik vorkommen daszlig aber in einem tieferen Sinne jeder Satz (oder das gesamte Buch) einen ethischen Charakter hat indem es darin eine bestimmte Haltung aus-druumlckt ganz unabhaumlngig vom gerade verwendeten Vokabular Diese Auf-fassung daszlig zentrale philosophische Einsichten vom jeweils verwendeten Vokabular und den aufgestellten Behauptungen weitgehend unabhaumlngig sind weil es nicht auf das Vokabular sondern auf den Gebrauch ankommt ist ein Kernstuumlck in Diamonds Ansatz43 Ihr geht es vor allem anderen darum Wittgensteins philosophische Haltung aufzuklaumlren indem sie spe-zifi sche Passagen die Miszligverstaumlndnisse verursachen erklaumlrt Die Absicht

40 Diese radikal klingende Behauptung ist insofern miszligverstaumlndlich als Diamond nicht alle Saumltze der Abhandlung sozusagen per defi nitionem fuumlr unsinnig erklaumlren will ihr geht es vielmehr vor allem darum klarzustellen daszlig wenn ein spezifi scher Satz unsinnig ist er es auch wirklich ist und daszlig es inkonsequent ist sozusagen einen raquoSinn zweiter Ordnunglaquo einzufuumlhren

41 Die starke Konzentration der Diskussion auf Fragen von raquoUnsinnlaquo uumlbersieht haumlufi g daszlig Wittgenstein Unsinn ausgesprochen liebte Einer seiner Lieblingsautoren war Lewis Carroll auf den er haumlufi ger in seinen Schriften anspielt oder verweist und er selbst sam-melte uumlber Jahrzehnte Beispiele besonders absurder Zeitungsartikel Vgl dazu jetzt Brian McGuinness (Hg) Wittgenstein in Cambridge Letters and Documents Oxford 2008 S 192 und 468 auszligerdem Brian McGuinness In Praise of Nonsense (unveroumlffentlicht)

42 Anscombe Introduction (Anm 9) S 162 zit von Diamond Ethics S 15843 Sie fuumlhrt dies an Beispielen des spaumlten Wittgenstein aus der Mathematik (u a den

erwaumlhnten Vorlesungen) und der Ethik in ihrem Beitrag zum Cambridge Companion naumlher aus und erkennt ein solches Vorgehen auch in der Abhandlung und bei Frege wieder

106 Wolfgang Kienzler PhR

Wittgensteins Schriften als Ganze zu interpretieren tritt demgegenuumlber ganz in den Hintergrund Insofern ist 654 auch wieder nicht uumlberzube-werten sondern dient nur als ein besonders markanter Ausgangspunkt um verfehlte Auffassungen abzuwehren44 So ist die Abhandlung fuumlr Dia-mond kein Buch uumlber Logik denn ein solches kann es streng genommen ebenfalls nicht geben Die Logik ist vielmehr raquodem was Saumltze sind bereits intern eingeschriebenlaquo (S 151) Anders gesagt Wir koumlnnen an jedem be-liebigen Satz wenn wir nur richtig hinsehen alle Elemente der richtigen logischen Auffassung aufweisen und daher ist jeder Versuch diese vor-gaumlngige Struktur explizit zu machen immer etwas Nachtraumlgliches das schon raquozu spaumlt kommtlaquo und dadurch stets etwas Schiefes eben Unsinniges an sich hat Der eigentliche Ausdruck von Wittgensteins philosophischen Auffassungen sind daher nicht irgendwelche Inhalte seines Buches son-dern die Art wie sie ausgedruumlckt sind (S 170)

Eine besondere Eigenheit fast aller Arbeiten Diamonds ist ihre sehr spe-zifi sche Ausrichtung auf eine je besondere Fragestellung In vielen Faumlllen greift sie charakteristische Fehleinschaumltzungen oder auch nur miszliggluumlckte Formulierungen anderer Autoren auf und erlaumlutert geduldig sorgfaumlltig und oft in wiederholten bisweilen kreisenden Gedankengaumlngen welche Art von Fehleinschaumltzung vorliegt aus der die verungluumlckte Formulierung hervorgegangen ist Ihre Klaumlrungsarbeit bezieht sich fast immer auf einen konkreten Fall nicht auf eine allgemeine These Dadurch sperren sich ihre Texte gegen Lesegewohnheiten die auf Thesen und Argumente oder auf systematische Darlegungen und einen hohen Allgemeinheitsgrad hin ori-entiert sind Besonders instruktiv ist ihre Aufklaumlrung eines Beispiels von Anscombe (raquorsaquoJemandlsaquo ist nicht der Name von jemandemlaquo) in dem sie einen Versuch beleuchtet mit dem Anscombe ihrerseits im Sinne des fruumlhen Wittgenstein eine ganz elementare sprachlogische Klarstellung zu treffen versucht die den Unterschied zwischen Sagen und Zeigen nicht in allge-meiner (raquometaphysischerlaquo) sondern in ganz spezifi scher logischer Absicht betrifft45 Ihr Ergebnis lautet daszlig die Logik und damit die Gebrauchswei-sen von Ausdruumlcken wie raquojemandlaquo im einzelnen sorgfaumlltig beschrieben werden muumlssen daszlig man dies nicht mit einem Satz allein klarstellen kann

44 Die Erfolgsgeschichte der resoluten Lesart haumlngt eng damit zusammen daszlig man das ganze Buch als raquobloszligen Unsinnlaquo auffassen will bei Diamond liegt jedoch genau besehen keine Interpretation des gesamten Buches vor Sie will vielmehr nur einige Kernpunkte klarstellen verknuumlpft diese Klarstellungen allerdings mit einigen allgemeiner klingenden Zusatzbemerkungen

45 Diamond Saying and Showing (wie Anm 12) In diesem Beispiel bleibt jedoch An-scombe die die Frage in einem Streich entscheiden und klaumlren will dem Geist des fruumlhen Wittgenstein naumlher als Diamond mit ihrer sorgfaumlltigen Beschreibung der Sprachspiele mit raquojemandlaquo

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Damit will Diamond einen Beitrag dazu leisten die raquophilosophi sche Klauml-rung zu klaumlrenlaquo (to clarify philosophical clarifi cation)46

Das Ziel ihrer Arbeit ist jeweils die Klaumlrung unuumlbersichtlicher begriff-licher Verhaumlltnisse um so zu einer natuumlrlichen raquorealistischenlaquo Sicht zu kommen47 An Paradoxien ist sie grundsaumltzlich nicht interessiert auszliger insofern es darum geht deren Quellen aufzudecken sie als Symptome von begriffl ichen Unklarheiten zu sehen

Charakteristisch fuumlr Diamonds Vorgehensweise ist auch eine Uumlberle-gung die von einer Bemerkung Kripkes ihren Ausgang nimmt Einmal schreibt Wittgenstein raquoMan kann von einem Ding nicht aussagen es sei 1 m lang noch es sei nicht 1 m lang und das ist das Urmeter in Parislaquo (PhU 50) Kripke nennt diese Behauptung die aus dem Zusammenhang gerissen etwas entschieden Paradoxes hat offensichtlich falsch ohne je-doch den genauen Zusammenhang zu beachten48 Genau darauf kommt es Diamond aber an und sie erlaumlutert detailliert hartnaumlckig und zielstrebig

46 Ebd S 15347 Diamonds Grundanliegen kann man auch so formulieren daszlig sie an die Stelle von

philosophischen raquoPhantasienlaquo die aufs Allgemeine eines zurechtgestellten Sprachgebrauchs gehen eine realistische Einstellung die sich vor allem um Einzelheiten kuumlmmert setzt (The Realistic Spirit in der gleichnamigen Sammlung S 39ndash72)

48 Tatsaumlchlich ist die Bemerkung Kripkes weitaus weniger beilaumlufi g als Diamond sugge-riert Er schreibt raquoWittgenstein sagt etwas sehr Verwirrendes hieruumlber Er sagt raquoMan kann von einem Ding nicht sagen es sei 1 m lang noch es sei nicht 1 m lang und das ist das Urmeter in Paris ndash Damit haben wir aber diesem natuumlrlich nicht irgendeine merkwuumlrdige Eigenschaft zugeschrieben sondern nur seine eigenartige Rolle im Spiel des Messens mit dem Metermaszlig gekennzeichnetlaquo (PhU 50) Das scheint aber in der Tat eine sehr raquomerk-wuumlrdige Eigenschaftlaquo fuumlr einen Stab zu sein Ich denke Wittgenstein muszlig sich hier irren Wenn der Stock 3937 Inches lang ist (ich nehme an daszlig wir einen anderen Standard fuumlr Inches haben) warum ist er nicht 1 m lang Wir wollen jedenfalls annehmen daszlig Witt-genstein sich irrt und daszlig der Stab 1 m lang istlaquo (Kripke Naming and Necessity 1980 Name und Notwendigkeit FrankfurtM 1981 S 65 f) Diamond weist zwar zu Recht darauf hin daszlig Kripkes theoretisches Vokabular nur uumlber Eigenschaften (er diskutiert Fragen von Referenz und sprachlicher Bedeutung separat) nicht aber uumlber raquoStellungen im Sprachspiellaquo verfuumlgt und daszlig er deshalb zur tatsaumlchlich merkwuumlrdigen Deutung des Satzes als raquokontin-gente Wahrheit a priorilaquo (S 68) kommt (Dies entspricht wiederum in einigem der ja auch raquoeigenartigenlaquo Rolle im Sprachspiel) Beim Ausfuumlhren des Beispiels gegen Wittgenstein argumentiert Kripke jedoch intern vollkommen konsistent und faktisch auch an einem Sprachspiel orientiert wenn er (in Klammern) annimmt daszlig wir uumlber einen eigenen unabhaumlngigen Maszligstab fuumlr englische Zoll verfuumlgen Dann naumlmlich kann man das Urmeter ohne weiteres wie jeden anderen Gegenstand auch (auszliger in diesem Spiel dem raquoUr-Yardlaquo das Kripke jedoch nicht erwaumlhnt ndash und insofern hat Kripke die Problematik nur geschickt verschoben) abmessen und das Ergebnis anschlieszligend umrechnen Damit nimmt Kripke Wittgensteins Bemerkung das Paradoxe fuumlhrt dabei allerdings (unkommentiert) einen raquoDoppelstandardlaquo der Messung ein der nicht weiter geklaumlrt wird Die Sorgfalt in Kripkes Ausfuumlhrungen legen daher nahe die Rede davon daszlig Wittgenstein raquoirrelaquo nicht als Hin-weis auf einen einzelnen zufaumllligen Fehler sondern auf eine insgesamt verfehlte Auffas-sung zu verstehen

108 Wolfgang Kienzler PhR

wie Wittgenstein zu seiner Aumluszligerung kommt und inwiefern die Institution des Messens davon abhaumlngt daszlig man Maszligstaumlbe einfuumlhrt mit denen dann andere Objekte gemessen werden49 Da Laumlngenangaben entsprechend im-mer auf den Vergleich zu einem Maszligstab bezogen sind entsteht die kuriose Situation daszlig die Laumlnge des Urmeters durch Anlegen an sich selbst be-stimmt werden muumlszligte Nach Kripke ist dies ein Fall von Identitaumlt d h im Fall der Identitaumlt kann man auch ohne jede Messung sagen daszlig das betref-fende Objekt 1 m lang ist (oder eben raquoso lang wie es istlaquo ndash denn wie lang sollte es sonst sein) Damit aber gleicht er den Fall der Messung an den Fall der bloszligen Festsetzung in dem gar keine Messung erfolgt und genau genommen auch keine Messung moumlglich ist (denn man kann keinen Maszlig-stab an sich selbst anlegen weil dazu mindestens zwei Objekte benoumltigt werden) an und uumlbersieht die begriffl iche Verschiedenheit beider Faumllle Durch dieses Beispiel beleuchtet Diamond vor allem den Begriff der Gleichheit bzw Identitaumlt der von Kripke und weiten Teilen der philoso-phischen Tradition als unproblematischer absoluter Fixpunkt in Anspruch genommen wird den Wittgenstein aber einer fruumlhen Kritik (553 ff) und einer spaumlteren genauen Beschreibung (PhU 251 ff) unterzogen hat Zur Aufklaumlrung ist es noumltig den Ort den die Rede von raquogleichlaquo und raquoiden-tischlaquo in der Sprache hat genauer zu beleuchten und zu beschreiben an-statt ihn als quasi sprachunabhaumlngig gegeben einfach vorauszusetzen50

Diamonds Arbeit zielt so durchgehend auf die Klaumlrung scheinbar para-doxer oder merkwuumlrdiger Behauptungen ab und sie sieht ihr Ziel erst dann erreicht wenn aufgezeigt ist daszlig im Sprachspiel alles mit ganz ge-woumlhnlichen Dingen zugeht Paradoxe Behauptungen haben darin keinen Ort Auch ihre Anmerkungen zum Schluszlig von Wittgensteins Abhandlung sind daher systematisch als solche Aufklaumlrungen (etwa der paradoxen Re-deweise von Saumltzen die raquowahr waumlren wenn sie gesagt werden koumlnntenlaquo) zu verstehen auch wenn sie stellenweise selbst sehr uumlberraschend klingen Ihr Grundgedanke lautet jedoch Auch raquounsinniglaquo ist ein ganz gewoumlhn-liches Wort welches Wittgenstein verwendet und wenn er es verwendet dann meint er es auch so wie er es sagt51

49 Diamond betont mit (dem spaumlten) Wittgenstein die grundlegende Bedeutung von sprachlichen Institutionen waumlhrend Kripke konsequent davon absieht und alles als Fakten (unterschiedlicher Art) interpretiert

50 Kripkes Auffassung der Identitaumlt ist sprachunabhaumlngig und sozusagen raquorein objektivlaquo angelegt Fuumlr ihn ist jeder Gegenstand notwendigerweise mit sich selbst identisch und weist eine bestimmte raquoobjektivelaquo Laumlnge auf Wittgenstein dagegen weist darauf hin daszlig auch zum Wort raquoidentischlaquo ein Sprachspiel gehoumlrt das diesem Wort erst seine klare Ver-wendung gibt

51 Einiges spricht jedoch auch dafuumlr daszlig diese Auffassung eher dem spaumlten Wittgen-stein entspricht und daszlig in 654 raquounsinniglaquo gerade nicht im alltaumlglichen Sinn verwendet wird

109Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

5 Es ist bei dieser sehr punktuellen Methodik um so bemerkenswerter und selbst geradezu paradox daszlig Diamonds Ansatz der Ausgangspunkt einer ganzen Richtung der Wittgensteininterpretation und noch dazu der Abhandlung geworden ist Diese Entwicklung hat viel mit der Arbeit von James Conant zu tun der dem Ansatz eine allgemeinere und leichter ein-zuordnende Form gegeben und das Zentrum der Aufmerksamkeit noch viel staumlrker als Diamond auf die Abhandlung und ihren Schluszlig gelenkt hat Conant stellt Wittgensteins Text in einen weiteren Rahmen indem er etwa Wittgenstein mit Kierkegaard Carnap und anderen Autoren ver-gleicht und indem er sich um die Historiographie der Tractatusdeutungen und insbesondere der impliziten Voraussetzungen dieser Deutungen in einer Weise bemuumlht daszlig die resolute Lesart als natuumlrlicher Abschluszlig einer Stufenfolge erscheint Dadurch entsteht der Eindruck daszlig die raquoresolutelaquo Deutung auf uumlberlegene Weise alle vorangegangenen Deutungsversuche in sich aufnimmt und ihnen den gehoumlrigen Platz anweist so daszlig kein sys-tematischer Raum mehr fuumlr Gegenvorschlaumlge bleibt52

In seiner bisher umfangreichsten Darstellung53 gibt Conant zunaumlchst eine Rekonstruktion der rationalen Genese der bisherigen Lesarten die er die raquopositivistischelaquo und die raquoUnsagbarkeitslesartlaquo (ineffability reading) nennt Als deren gemeinsame Grundvoraussetzung arbeitet er die Annahme her-aus daszlig es etwas wie raquogehaltvollen Unsinnlaquo (substantial nonsense) in der Abhandlung geben muumlsse Er zeigt dann auf daszlig und wie sich beide Auf-fassungen gegenseitig bedingen und inwiefern keine von beiden zu einer stabilen und konsequenten (eben raquoresolutlaquo durchhaltbaren) Position fuumlhrt Tatsaumlchlich setzt sich Conant fast ausschlieszliglich mit der von ihm als Stan-dardinterpretation (S 394) angesehenen Lesart und ihrem Hauptvertreter Peter Hacker auseinander54 Die Kernthematik des Aufsatzes der die Me-

52 Der Gestus erinnert stellenweise an Hegels Vorgehen Conant ist auch an anderer Stelle mit weitreichenden Sortiervorschlaumlgen hervorgetreten so etwa in bezug auf Spiel-arten des Skeptizismus wo er eine Cartesische und eine Kantische Spielart des Skeptizis-mus und damit der Philosophie uumlberhaupt unterscheidet (Varieties of Skepticism in D McManus (Hg) Wittgenstein and Skepticism London 2004)

53 James Conant The Method of the Tractatus in Reck From Frege to Wittgenstein daran orientiert sich das Folgende Mehrere Aufsaumltze Conants ergaumlnzen diesen Beitrag noch ndash Durch haumlufi ge Verweise auf einander einen gemeinsamen Aufsatz sowie an beide gerich-tete Kritik ist aumlhnlich wie in der Kopenhagener Deutung der Quantenphysik der Ein-druck entstanden als handele es sich um ein und dieselbe Auffassung Dieser Eindruck taumluscht jedoch in einigen wichtigen Punkten ebenso wie im Fall der Kopenhagener Deu-tung wie aus dem Folgenden klar werden wird

54 Tatsaumlchlich liegt der systematische Schwerpunkt der Kontroverse zwischen ConantDiamond und Hacker auf der Interpretation der Philosophie des spaumlten Wittgenstein die von beiden Parteien als der eindeutig uumlberlegene und bis heute unuumlberbotene philoso-phische Ansatz angesehen wird Diese grundsaumltzliche Debatte um die Deutung von Witt-gensteins Spaumltphilosophie hat erst in Ansaumltzen besonders in einigen Aufsaumltzen von Dia-

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thode der Abhandlung zu klaumlren beansprucht kreist um die Leitbegriffe raquoErlaumluterunglaquo und raquoUnsinnlaquo (S 378) Wie Diamond fi ndet Conant dies bei Frege vorgebildet wobei er dessen Verfahren so zusammenfaszligt daszlig nach Frege raquodie Erlaumluterung logisch einfacher Ausdruumlcke wie Begriff und Gegenstand unvermeidlicherweise mit (dem geschickten Einsatz von) Unsinn arbeiten muszliglaquo (S 387) In der Deutung dieses Verfahrens durch Frege sieht Conant jedoch eine Spannung denn Frege glaubt raquodaszlig er in solchen Faumlllen etwas sagen will was im strengen Sinn nicht gesagt werden kann und druumlckt sich dann so aus daszlig seine Woumlrter einen Gedanken auszudruumlk ken versuchen damit aber notwendigerweise scheiternlaquo (S 391) Damit vertritt Frege aumlhnlich wie Geach und Hacker selbst eine substan-tielle Auffassung von Unsinn55 Nach Conant liegt die Hauptabsicht von Wittensteins Abhandlung nun genau darin eine solche substantielle Auffas-sung von Unsinn nicht zu vertreten sondern zu uumlberwinden Die Unter-scheidung zwischen sinnvollen und nicht sinnvollen Saumltzen liegt nach Conants Deutung nun praumlziser gefaszligt darin raquoEinen Satz als sinnvoll wahr-nehmen bedeutet daszlig man im Satzzeichen das Satzsymbol wahrnimmt Einen Satz als Unsinn wahrzunehmen bedeutet daszlig man im Zeichen kein Symbol erkennen kannlaquo (S 404) Ein Satz ist also dann raquobloszliger Unsinnlaquo wenn eine Zeichenreihe raquokeine erkennbare logische Syntax hatlaquo (S 400) Damit gibt es aber streng genommen keine raquounsinnigen Saumltzelaquo sondern nur Zeichenreihen die auf den ersten Blick wie Saumltze aussehen bei denen aber der Versuch in ihnen eine logische Form aufzufi nden scheitert Die Rede von raquoUnsinnlaquo bezieht sich also nicht auf die Saumltze oder Zeichenrei-hen selbst sondern allein auf unser Scheitern Zentral wird dadurch der Begriff des raquoSymbolslaquo Ein Symbol ist ein Zeichen zusammen mit einer logisch durchsichtigen Verwendungsweise (S 414) Die bekannte Sprach-kritik der Abhandlung (40031) erweist sich so nicht als Versuch die sinn-vollen von den unsinnigen Zeichen(reihen) durch ein Sinnkriterium zu trennen sondern raquodie Quelle des scheinbaren Unsinns liegt in unserer Beziehung zum sprachlichen Zeichen nicht im sprachlichen Zeichen selbstlaquo (S 419) Die Philosophie ist entsprechend Wittgensteins Diktum

mond begonnen Als zentralen Gegensatz zwischen der eigenen Position und derjenigen Hackers formuliert Conant daszlig nach Hacker der fruumlhe Wittgenstein an unausdruumlckbare Wahrheiten glaubte waumlhrend der spaumlte dies als Irrtum durchschaute waumlhrend Wittgen-stein tatsaumlchlich schon in der Abhandlung die darin vorausgesetzte substantielle Auffassung von Unsinn ablehnte Weiter glaubt er in Hackers Deutung des spaumlten Wittgenstein raquoeine verkleidete Fassung der Auffassung die er dem fruumlhen Wittgenstein zuschreibtlaquo zu erken-nen was der wahren Radikalitaumlt dieses Denkens nicht gerecht werde (Conant Two Con-ceptions of Die Uumlberwindung der Metaphysik in Wittgenstein in America (Anm 17) S 13ndash62 hier S 38 Anm 42)

55 In diesem Punkt ist Conant exegetisch weitaus vorsichtiger als Diamond die weniger Scheu hat Frege eine systematisch uumlberzeugende Konzeption zuzuschreiben

111Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

raquokeine Lehre sondern eine Taumltigkeitlaquo Diese Taumltigkeit besteht nach Con-ant darin daszlig eine Illusion von Sinn aufgebaut und am Ende zerstoumlrt wird Das Ziel des Buches ist daher raquonicht eine Einsicht in metaphysische Zuumlge der Wirklichkeit sondern in die Quellen der Metaphysiklaquo (S 421) Nach Conant gibt es im Text nur raquo(scheinbar) eine Lehre uumlber raquodie Gren-zen des Denkenslaquolaquo (S 424) tatsaumlchlich aber sind raquodie Erlaumluterungen des Autors nur dann erfolgreich wenn wir den Haupttext als Unsinn erken-nenlaquo (S 424) Conants Darstellung verleiht der resoluten Lesart dadurch daszlig er aufzeigt wie die grundlegenden Spannungen in den fruumlheren Deu-tungsansaumltzen aufgeloumlst werden koumlnnen den Anschein einer teleologischen Zwangslaumlufi gkeit Nicht zufaumlllig spielt daher die fortgesetzte Auseinan-dersetzung mit der raquoUnsagbarkeitslesartlaquo eine zentrale Rolle in seinen Ausfuumlhrungen Ein nicht zu unterschaumltzender Teil der Anziehungskraft der resoluten Lesart liegt genau darin daszlig sie den einzigen konsistenten wenn auch zunaumlchst uumlberspitzt aber damit zugleich auch brillant wirken-den Ausweg aus den Bemuumlhungen um ein Verstaumlndnis der Logisch-Philoso-phischen Abhandlung zu bieten scheint56

Conants umfangreicher Beitrag zur Festschrift fuumlr Cora Diamond57 verstaumlrkt die genannten Tendenzen noch Dies zeigt sich bereits an der Form Unter dem Titel raquoA Recently Discovered Manuscriptlaquo wird ein gewisser raquoJohannes Climacuslaquo58 als Herausgeber eines Aufsatzes von Con-ant eingefuumlhrt der in Gestalt einer fi ktiven theologischen Auseinanderset-zung um die richtige Wittgensteinorthodoxie eigene (ziemlich dogma-tisch-uneinsichtsvolle) Kommentare zu den einzelnen Teilen von Conants Text abgibt Dieser Text selbst greift schon im Titel und uumlber weite Stre-cken ironisch den Ton theologischer Kontroversen auf Thema der Arbeit ist die umstrittene raquometa-wittgensteinschelaquo Frage ob Anhaumlnger der reso-luten Lesart (die noch einmal zusammenfassend vorgestellt wird) uumlber-haupt uumlber den Spielraum verfuumlgen um einen wesentlichen Unterschied zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein herauszuarbeiten (S 32) Diese Frage geht Conant dialektisch an indem er drei verschie-dene Listen praumlsentiert eine erste (S 49) die scheinbare Lehren der Ab-handlung enthaumllt die aber tatsaumlchlich so Conant Auffassungen sind vor

56 Diese Zwangslaumlufi gkeit tritt in Diamonds Arbeiten weitaus weniger hervor Fuumlr sie ist die Abhandlung ein reiches Buch das zahlreiche ausgesprochen weiterfuumlhrende und faszinierende Passagen enthaumllt die philosophisch weiterhelfen nicht ein Werk das sozu-sagen unter einer Drohung lebt und dessen Leser nach einem Ausweg suchen

57 James Conant Mild-Mono-Wittgensteinianism in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 29ndash142

58 Dieses von Kierkegaard entlehnte Pseudonym verwendet Conant seinerseits in einem Zitat aus der Abschlieszligenden unwissenschaftlichen Nachschrift (31) mit der Bemerkung daszlig Ironie und Ernsthaftigkeit einander nicht ausschlieszligen In fruumlheren Texten hatte Conant raquoClimacuslaquo mit raquoLeiterlaquo uumlbersetzt (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 291)

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denen Wittgenstein seine Leser warnen will eine zweite mit Auffas-sungen die Wittgenstein in der Abhandlung natuumlrlich klar und unkontro-vers erschienen die aber dennoch Ausdruck philosophischer Ansichten sind die er selbst spaumlter als problematisch ansah (S 83)

Damit ist fuumlr eine Differenz zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein ein Spielraum gewonnen der dann durch eine dritte Liste wieder in einen ironischen Schwebezustand gebracht wird indem Conant Saumltze praumlsentiert die man gleichermaszligen dem fruumlhen wie dem spaumlten Wittgenstein zuordnen kann bisweilen indem leichte Variationen des Wortlauts mitgefuumlhrt werden wie raquoDie Logik (Grammatik) muszlig fuumlr sich selber sorgenlaquo (S 106) Conant spricht von raquoAugenblicken atemberau-bender Kontinuitaumltlaquo (S 108) gerade dort wo Wittgenstein die Konzeption der Abhandlung kritisiert (PhU 97ndash133) Als Ergebnis der Untersuchung bleibt so der Eindruck von gleichzeitig auszligerordentlicher Kontinuitaumlt und deutlicher Diskontinuitaumlt in Wittgensteins philosophischer Entwicklung Auch daszlig eine resolute Lesart eher raquoein Programm um das Buch zu lesenlaquo (111 Anm 4) ist als tatsaumlchlich eine durchgehende Lektuumlre ist deutlich ausgesprochen59

Der philosophische Ansatz und Stil Conants ist dem von Diamond in vie-ler Hinsicht entgegengesetzt Waumlhrend Diamond von konkreten Einzelfaumll-len ausgeht und diese im Hin- und Hergehen aufzuklaumlren versucht geht Conant ganz von auszligen mit einem umfassenden Blick in Beziehung zur gesamten Philosophiegeschichte an die Fragen heran Ein bevorzugter Vergleich ist derjenige Wittgensteins mit Kierkegaard insbesondere in der Frage des Verhaumlltnisses des Autors zu seinen Buumlchern60 Man koumlnnte gera-

59 In der gemeinsam verfaszligten Arbeit On Reading The Tractatus Resolutely Reply to Me-redith Williams and Peter Sullivan in M KoumllbelB Weiss Wittgensteinrsquos Lasting Signifi cance London 2004 S 46ndash99 erlaumlutern Diamond und Conant einige Punkte ihres Ansatzes ge-genuumlber Versuchen das Buch als System von Behauptungen zu lesen (Williams) und gegen die Kritik ihre Lesart sei unvollstaumlndig letzteres mit dem Hinweis es handle sich bislang lediglich um ein Forschungsprogramm aber gerade nicht um ein Rezept das eine leichte und zusammenhaumlngende Lektuumlre ermoumlgliche (S 68) Peter Sullivan wird als der produk-tivste Kritiker bezeichnet weil er auf spezifi sche Inkonsistenzen hinweise (vgl die in Anm 64 genannte Arbeit) Sullivans eigene Deutungsvorschlaumlge bleiben jedoch eher tra-ditionellen ontologisch orientierten Ansaumltzen verhaftet (vgl What is the Tractatus About ebenfalls in KoumllbelWeiszlig S 32ndash45) Diese gemeinsame Arbeit verbleibt jedoch insge-samt auf einer sehr allgemeinen und wenig spezifi schen Ebene

60 So etwa Conant Putting Two and Two together Kierkegaard Wittgenstein and the Point of View for Their Work as Authors in T TessinM von der Ruhr (Hg) Philosophy and the Grammar of Religious Belief London 1995 S 248ndash331 Als Zusammenfassung schreibt Co-nant dort daszlig der fruumlhe Wittgenstein aumlhnlich wie Kierkegaard raquoden Leser in die Wahr-heit hineintaumluschen willlaquo zu welchem Zweck er raquoeine ausgefeilte Struktur scheinbarer Behauptungenlaquo verwendet (S 302) Fuumlr ein solches Verstaumlndnis gibt es bei Kierkegaard zahlreiche Hinweise bei Wittgenstein streng genommen keine er will alles raquoklar sagenlaquo

113Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

dezu sagen daszlig sich Conant mehr fuumlr die Frage der Autorschaft als fuumlr das Werk selbst interessiert61 Es geht ihm darum den richtigen Blickwinkel auf das Werk zu gewinnen und den entwickelt er durch weitgespannte Ver-gleiche durch die Analyse der Selbstkommentare und zusaumltzlichen Erlaumlute-rungen Dabei scheint das Ziel vorrangig die Einordnung vorhandener Zu-gangsmoumlglichkeiten zu sein die er dann in eine systematische Ordnung bringt62 Diese Systematik verweist dann gewissermaszligen teleologisch auf eine einzige offene Moumlglichkeit als den richtigen Zugang zu einem Problem oder einem Text Waumlhrend Diamond also einzelne Miszligverstaumlndnisse auf-klaumlrt zieht Conant die groszligen orientierenden Linien63 Damit aber ergaumln-zen beide Ansaumltze einander wiederum in einem Maszlige daszlig sie von auszligen in aller Regel als eine Einheit angesehen werden Erst durch Conants Ord-nungsvorschlaumlge hat Diamonds Ansatz diejenige Uumlbersichtlichkeit und Handhabbarkeit gewonnen die eine breitere Wirksamkeit ermoumlglichen

Einmal schreibt er kritisch raquoDer Verkehr mit Autoren wie Hamann Kierkegaard macht ihre Herausgeber anmaszligend Diese Versuchung wuumlrde der Herausgeber des Cherubi-nischen Wandersmannes nie fuumlhlen noch auch der Confessionen des Augustin oder einer Schrift Luthers Es ist wohl das daszlig die Ironie eines Autors den Leser anmaszligend zu ma-chen geneigt istlaquo (Denkbewegungen [1931] FrankfurtM S 41)

61 In einem fruumlheren Aufsatz The Search for Logically Alien Thought Descartes Kant Frege and the Tractatus in Philosophical Topics 20 (1991) S 115ndash180 vergleicht Conant Witt-gensteins Vorgehen mit einem langen Witz bzw einer Parabel die ein absurdes Gespraumlch wiedergibt in dem ein Pole von einem Juden wissen will worin raquodas Geheimnis der Ju-denlaquo besteht und das nach allerhand Umwegen mit der Einsicht endet daszlig da raquokein Ge-heimnis istlaquo ndash aber so erfahren wir eben das raquoist das Geheimnislaquo (S 160)

62 Conants umfassende Perspektive geht mit einigen Zurechtstellungen bei der Inter-pretation einher die das Material entsprechend dem umfassenden Entwurf leicht umfor-men In seinem langen Aufsatz spricht er Wittgenstein eine besondere Konzeption von Klarheit zu die darin liegen soll daszlig man am Ende das Buch als unsinnig erkennt (374) er uumlbergeht dabei aber daszlig Wittgenstein gegenuumlber Russell unmittelbar auf den voumlllig neu-artigen Inhalt der logischen Konzeption verweist und dabei sogar das Wort raquoTheorielaquo ver-wendet als Ziel formuliert Wittgenstein auch nicht daszlig man bestimmte Konzeptionen als nur scheinbar konsistent erkennen soll (377) sondern daszlig man die Logik der Sprache ein-sehen lernt ohne ein Verstaumlndnis von 654 ist nach Conant kein Verstaumlndnis des Buches moumlglich (378) dies gilt aber angesichts der konzentrierten Form fuumlr jeden Satz des Buches wobei die Schluszligbemerkung eher selbstrefl exiv auf das Buch und die Darstellungsform Bezug nimmt als auf die bis dahin entwickelte Einsicht der gegenuumlber der bloszligen Selbstre-fl exion die Prioritaumlt einzuraumlumen waumlre die Woumlrter raquoUnsinnlaquo und raquoErlaumluternlaquo (378) sind entschieden nicht die Kernbegriffe des Buches zum einen kommen eher die Formen raquoun-sinniglaquo oder raquoes ist ein Unsinnlaquo vor nicht das Substantiv zum anderen sind viel eher raquoKlar-heitlaquo und raquoklarlaquo die zentralen Ausdruumlcke Carnap wird als derjenige hingestellt der nichts verstanden habe aber Wittgenstein hat gerade Carnap 1932 des Plagiats bezichtigt und Conant verkehrt Wittgensteins Aumluszligerung er koumlnne sich raquonicht denkenlaquo daszlig Carnap den Sinn des Buches raquoso ganz und gar miszligverstandenlaquo haben koumlnnte ins gerade Gegenteil und zitiert sie mehrfach (378 Anm 9 Anm 99 als Motto in Two Conceptions wie Anm 54)

63 Relativ haumlufi g verwendet Conant auch ganz traditionelle Ordnungsinstrumente wie raquoArtlaquo und raquoGattunglaquo (vgl Conant Method (Anm 53) S 435 Anm 43 436 Anm 48)

114 Wolfgang Kienzler PhR

Ein Punkt hat Kritiker besonders irritiert naumlmlich Diamonds und Co-nants Bestehen darauf daszlig der Text streng und konsequent stuumlckweise (piecemeal) gelesen werden soll Dies scheint mit der radikalen Grundten-denz nicht recht vereinbar oder die Radikalitaumlt doch stark abzuschwaumlchen ndash es koumlnnte aber dazu fuumlhren daszlig man das Gewicht der bisweilen daran angeknuumlpften allgemeineren Betrachtungen als wesentlich geringer anse-hen koumlnnte als es derzeit in aller Regel geschieht Tatsaumlchlich ist der stuumlckweise Zugang sehr charakteristisch fuumlr Diamonds Methode und die allgemein gehaltenen radikalen Thesen wirken in ihren Texten eher wie Fremdkoumlrper Die raquoTheselaquo von der notwendig stuumlckweisen Interpretation reduziert sich daher im Kern auf die wichtige aber unspektakulaumlre me-thodische Beobachtung daszlig es ohne Zweifel richtig ist daszlig man die Ab-handlung sorgfaumlltig langsam und schrittweise entschluumlsseln muszlig gerade damit man die einheitliche und uumlbergreifende Konzeption (und daran ist nichts stuumlckweise und zusammengebastelt) genau richtig auffassen kann

6 Tatsaumlchlich sind die Vertreter der resoluten Lesart insgesamt weit erfolgreicher in der Kritik konkurrierender Ansaumltze als in der Interpreta-tion des Textes selbst Ein groszliger Teil der Debatte wird in der Gestalt von Auseinandersetzungen um das richtige Verstaumlndnis bzw den Maszligstab fuumlr eine angemessene Interpretation gefuumlhrt Dies ist in gewissem Sinne fol-gerichtig denn ein Textverstaumlndnis im gewoumlhnlichen Sinn des Wortes kann es von einem im strengen Sinn unsinnigen Text ja kaum geben Die Debatte behandelt deshalb vorrangig Fragen wie die welches denn der raquoZweck des Unsinnslaquo sei64 Dazu hat Michael Kremer Vorschlaumlge entwi-ckelt die die ethische Dimension des Buches herausarbeiten65 Er zieht Vergleiche zu Wittgensteins Beschaumlftigung mit ethischen und religioumlsen Fragen etwa dem Neuen Testament und dem Gedanken daszlig wir einse-hen muumlssen daszlig wir die raquoSuche nach einer Rechtfertigung unseres Lebens aufgeben muumlssenlaquo (S 56) weil der Versuch einer solchen Selbstrechtferti-gung ein Akt des Hochmutes waumlre Als Ergebnis glaubt er festhalten zu muumlssen daszlig das Buch ein raquoknow-howlaquo kein raquoWissen-daszliglaquo vermittelt raquoDieses Buch und seinen Autor zu verstehen bedeutet zu lernen wie man lebtlaquo66 (S 62) In aumlhnlicher Weise deutet Kremer die Frage nach der

64 Michael Kremer The Purpose of Tractarian Nonsense in Nous 35 2001 S 39ndash73 Darauf reagiert Sullivan mit detaillierter Einzelkritik On Trying to be Resolute A Response to Kremer on the Tractatus in European Journal of Philosophy 10 (2002) S 43ndash78 (vor allem S 66ndash68 mit Hinweisen auf die spaumlrlichen Textbelege)

65 Fragen der Ethik spielen uumlberhaupt in den Arbeiten von Diamond Conant und an-deren resoluten Lesern eine groszlige Rolle was aber hier nicht im einzelnen verfolgt werden kann

66 Schon Diamond Ethics (Anm 37) S 169 spricht als Ziel an daszlig wir raquokeine falschen Anforderungen an die Welt stellenlaquo sollen

115Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

raquoWahrheit des Solipsismuslaquo dahingehend daszlig es darum geht den eigenen Stolz zu uumlberwinden67 Selbst die Frage nach dem raquoHauptproblem der Phi-losophielaquo naumlmlich der Unterscheidung von Sagen und Zeigen versucht Kremer so zu beantworten daszlig Wittgenstein vor allem vor der unberech-tigten und zu vorschnellen Anwendung dieser Unterscheidung warnt (und er will zeigen daszlig insofern diese Unterscheidung als Hauptproblem ange-sprochen wird Wittgenstein dieses Problem raquoloumlsenlaquo will)68 All diese Vor-schlaumlge lenken jedoch systematisch von einer tatsaumlchlichen Lektuumlre von Wittgensteins Buch eher ab

Innerhalb der resoluten Stroumlmung ist Juliet Floyd als radikale raquoJakobine-rinlaquo bezeichnet worden weil sie schon fuumlr den fruumlhen Wittgenstein gene-rell die Existenz einer einheitlichen Auffassung von Logik Bedeutung Sagen und Zeigen aber auch eines eindeutigen Ideals der Klarheit leug-net69 Sie nennt Wittgensteins Vorgehen dialektisch bzw refl ektierend (S 188) so daszlig Wittgenstein nicht auf eine einzelne Stoszligrichtung hin festzulegen ist Dadurch wird zum einen erneut die Moumlglichkeit in Frage gestellt den Text uumlberhaupt einigermaszligen einheitlich zu interpretieren zum anderen eroumlffnen sich Moumlglichkeiten relativ frei auch wieder kon-struktivere (S 187) Zuumlge festzustellen Wenn Floyd als Grundgegensatz der Deutungen die Frage betont ob man Wittgenstein so versteht als wolle er raquodie Endlichkeit oder expressive Begrenztheit der Sprache beto-nenlaquo oder ob er die raquooffene Entwicklung und Vielfalt menschlicher Aus-drucksmoumlglichkeitenlaquo (S 177) herausarbeiten will dann steht auch dies nur in einem eher lockeren Bezug zum Text Genau an dieser Stelle setzen die wichtigsten Kritiker an

7 Als prominentester und heftigster Kritiker ist Peter Hacker hervor-getreten70 Hacker kritisiert und polemisiert aus einer Position der exten-

67 Michael Kremer To What Extent is Solipsism a Truth in Stocker Post-Analytic Tractatus S 59ndash84 Das ist eine sehr ungewoumlhnliche Lesart dieser sonst erkenntnistheore-tisch aufgefaszligten Passage

68 Michael Kremer The Cardinal Problem of Philosophy in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 143ndash176 Kremers Deutung beruht vor allem darauf daszlig Wittgenstein in seinem Brief an Russell (15 8 1919) diese Unterscheidung einmal als raquoHauptpunktlaquo und dann auch als raquoHauptproblemlaquo anspricht Kremer deutet dies so daszlig die Unterscheidung als zu loumlsendes raquoProblemlaquo aufgefaszligt wird

69 Juliet Floyd Wittgenstein and the Inexpressible in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 177ndash234 hier S 185 und 196

70 Hackers Schriften dienen zugleich umgekehrt Diamond und Conant als Illustrati-onen fuumlr die raquoStandardlesartlaquo und dafuumlr wie man Wittgenstein nicht interpretieren sollte so schon 1985 in Diamond Throwing Away the Ladder (Anm 30) S 194 als Beispiel fuumlr raquochickening outlaquo Hacker ist auch als einziger Kritiker im Sammelband New Wittgenstein vertreten Was he Trying to Whistle It in New Wittgenstein S 353ndash388 Sein Sammelband Connections and Controversies Oxford 2001 enthaumllt neben dem Nachdruck auf S 98ndash140 noch eine Fortsetzung When the Whistling Had to Stop S 141ndash169

116 Wolfgang Kienzler PhR

siven Kommentieung des spaumlten Wittgenstein und zugleich des philo-sophischen Common Sense heraus Er sieht in der Abhandlung raquoeine ver-bluumlffende Lehre auf verbluumlffende Weise dargebotenlaquo (S 353) ndash diese Charakterisierung entnimmt er jedoch nicht erst seinen neuen Gegnern sondern einer eher traditionellen realistisch-metaphysischen Deutung von David Pears Hacker versteht das Buch als einen gescheiterten Versuch wesentliche Wahrheiten die nicht gesagt werden koumlnnen dennoch zu zeigen Dies sieht er als gesichertes Faktum an dessen Vorhandensein er mit Energie gegen Versuche es zu leugnen untermauert Dazu zaumlhlt er zehn Beispiele solcher Versuche auf von logischen Beziehungen zwischen Saumltzen bis zur Harmonie zwischen Gedanke Sprache und Wirklichkeit (S 353ndash355) und stellt sich ganz auf die Seite schon der fruumlhen Kritiker besonders des Wiener Kreises die den Schluszlig des Buches raquoganz unglaub-wuumlrdig fandenlaquo (S 355)71 Er nennt den Ansatz von Diamond und Conant raquopostmodernlaquo offenbar darauf berechnet zu provozieren jedoch frei von ernsthaften Absichten nicht aber das Buch richtig einschaumltzen zu wollen (S 356)72

Hacker sieht das Buch als offensichtlich inkonsistent an und beruft sich dabei auf Wittgensteins spaumltere Meinung zur Bestaumltigung dieses Faktums (S 370) Von daher fallen alle Versuche das Buch insgesamt nachzuvoll-ziehen zwangslaumlufi g ebenfalls der Inkonsistenz anheim Als Maszligstab der Inkonsistenz dient ihm dabei die Unvereinbarkeit und Widerspruumlchlich-keit der im Buch vorgetragenen (raquogesagtenlaquo oder raquogezeigtenlaquo) Lehren Da-mit aber stellt sich Hacker explizit auf einen Standpunkt den Wittgenstein fuumlr sein eigenes Werk ablehnt das ja explizit raquokein Lehrbuchlaquo (Vorwort) sein will Hacker reduziert das Buch auf einen Lehrinhalt den er unzurei-chend fi ndet ndash der Gegensatz zu Diamond und Conant liegt bereits hier denn beide Seiten differieren vor allem darin was das Buch eigentlich

71 In dieser Hinsicht stimmt seine Einschaumltzung mit derjenigen Conants uumlberein der seinerseits Hacker in die Naumlhe Carnaps plaziert (Two Conceptions of Die Uumlberwindung S 14 ff) Ohne Hacker sofort zu nennen schreibt Conant Carnap (wie spaumlter Hacker) eine substantielle Auffassung von Unsinn zu

72 Hacker lehnt sowohl die Abhandlung als auch Freges philosophische Grundkonzepti-on ab und setzt sie als verfehlten Versuch in scharfen Kontrast zum Denken des spaumlten Wittgenstein Diese Haltung wird in seinem Kommentar zu den Philosophischen Untersu-chungen deutlich besonders eklatant jedoch in dem (gemeinsam mit Gordon Baker ver-faszligten) gegen Dummetts Fregedeutung geschriebenen Frege Logical Excavations (Oxford 1984) Das Auftreten der resoluten Lesart gibt Hacker daher nicht den Grund zu seiner Ablehnung des fruumlhen Wittgenstein sondern vor allem den Anlaszlig seine Gruumlnde zu buumln-deln und erneut vorzubringen (Der verstorbene Gordon Baker der zunaumlchst gemeinsam mit Hacker mehrere Baumlnde zum spaumlten Wittgenstein verfaszligte dann aber seinen Ansatz weiterentwickelte und dabei in einigen Punkten der resoluten Lesart nahekam sei hier noch erwaumlhnt vgl Baker Wittgensteinrsquos Method Neglected Aspects Oxford 2004)

117Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

leisten will Hacker sieht einen eklatanten Gegensatz zwischen Wittgen-steins Erklaumlrung nichts lehren zu wollen und seinem tatsaumlchlichen Vor-gehen seine Gegner versuchen gerade diese Aumluszligerungen Wittgensteins zu verstehen und ihnen entsprechend den Text so zu lesen daszlig er keine raquoLehrenlaquo enthaumllt sondern auf andere Art und Weise arbeitet

Hacker versucht entsprechend auch nicht Diamond und Conant ge-recht zu werden sondern listet vor allem eine Reihe von Kritikpunkten auf Zum einen weist er auf eine gewisse hermeneutische Willkuumlr hin mit der nur relativ wenige insgesamt unzusammenhaumlngende Partien herange-zogen werden wobei einige Passagen doch wieder als ganz gewoumlhnlich und sinnvoll gelesen werden ohne daszlig eine klare Abgrenzung nach Kri-terien gegeben wuumlrde Die haumlufi g verwendete Rede vom raquoRahmenlaquo des Buches im Unterschied zum raquoHauptteillaquo bleibt ihm zufolge unklar abge-grenzt da zum Rahmen auch Bemerkungen wie 4112 aus der Mitte des Textes gezaumlhlt werden73 Im Zusammenhang damit weist er darauf hin daszlig zwischen den Arten von Unsinn doch ein Unterschied gemacht wer-de wenigstens nach der Wirkung auf den Leser74 Und schlieszliglich ver-sucht er nachzuweisen daszlig Wittgenstein selbst weder in seiner fruumlheren noch in seiner spaumlteren Zeit eine solche radikale Lesart seiner eigenen Ar-beit vorgetragen oder unterstuumltzt habe

Eine spezielle Streitfrage liegt darin ob es nach Wittgenstein raquoUumlbertre-tungen der logischen Syntaxlaquo geben koumlnne Diamond und Conant be-haupten nein Hacker versucht an Beispielen aufzuzeigen daszlig Wittgen-stein dies wiederholt anspricht (S 365ndash367)75 Der grundlegende Dissens betrifft hier die Frage ob Wittgenstein sich vorrangig um den Begriff und die Festlegung einer logischen Syntax als Einfuumlhrung sinnvoller Rede be-muumlht denn wenn es um die Festlegung und ggf die Erweiterung und Ver-aumlnderung von Sinn geht dann gibt es nichts was uumlbertreten oder verfehlt werden koumlnnte ndash oder aber ob Wittgenstein wie Hacker ihn liest jemand ist der vor allem schon bestehende syntaktische Systeme betrachtet und dabei die Moumlglichkeiten behandelt sich gegenuumlber den Vorschriften be-

73 Conants Auskunft daszlig nicht der Ort im Text sondern die Funktion der Bemerkung daruumlber entscheide ob es zu Rahmen oder Hauptteil gehoumlre vermag als Gegenargument nicht wirklich zu uumlberzeugen

74 Dies leugnen Conant und Diamond keineswegs nur kommt es ihnen gerade auf den Unterschied zwischen logischen und anderen Einteilungsgruumlnden an

75 Dieser Punkt ist auch deswegen zentral weil fuumlr Hacker Unsinn genau dadurch ent-steht daszlig man die logische Syntax verletzt (Was he Trying S 367) waumlhrend fuumlr Conant und Diamond Unsinn dann vorliegt wenn wir mit einer Zeichenreihe schlicht nichts anfangen koumlnnen also kein Symbol darin erkennen Dieser Frage widmet Hacker den Aufsatz Wittgenstein Carnap and the New American Wittgensteinians in Philosophical Quar-terly 53 (2003) S 1ndash23 und Diamond die Entgegnung Logical Syntax in Wittgensteinrsquos Tractatus in Philosophical Quartely 55 (2005) S 78ndash88

118 Wolfgang Kienzler PhR

stimmter Systeme abweichend zu verhalten und ihre Regeln zu verletzen Die Frage ist ob Wittgenstein die Syntax mit einem bestehenden Spiel analog setzt oder nicht76 Fuumlr beide Aspekte gibt es Belege im Text77

Eine gewisse Uumlbereinstimmung zwischen Hacker und seinen Gegnern liegt ironischerweise darin daszlig keine der beiden Seiten eine durchge-hende Interpretation der Abhandlung anstrebt Hacker haumllt dies aufgrund der Inkonsistenz fuumlr uninteressant (wenn auch theoretisch moumlglich) Dia-mond ist vorrangig an Einzelfragen und am methodischen Standard des spaumlten Wittgenstein interessiert (wozu sie in der Abhandlung letztlich doch nur eine Vorstufe fi ndet) und Conant ist hauptsaumlchlich damit beschaumlftigt vorgaumlngige Kriterien fuumlr eine uumlberzeugende Lektuumlre zu entwickeln78

Als zentrale unbeantwortete Frage bleibt daruumlber hinaus das Problem bestehen wie man Wittgensteins Sprache und die Art seiner Behaup-tungen im Text konsequent aufzufassen hat denn hier weist Hacker auf deutliche Inkonsistenzen der resoluten Leser hin Zum einen wird von raquobloszligem Unsinnlaquo gesprochen dann wieder werden Passagen so gelesen wie gewoumlhnliche behauptende Prosa zum einen ist von Ironie die Rede dann wieder scheint alles ganz woumlrtlich aufzufassen zu sein79

8 Marie McGinn hat den bisher ehrgeizigsten Versuch unternommen die Staumlrken beider konkurrierender Ansaumltze zu verbinden und die jewei-

76 Vgl Diamond (wie die vorige Anm) S 86 Hacker vertritt hier einen eher kantischen Ansatz der die Grenzen der Vernunft bereits abgesteckt vorfi ndet (ein fuumlr Hacker wichtiges Buch ist P Strawsons Kantdeutung in The Bounds of Sense) Diamond und Conant sehen Wittgenstein als radikaleren Denker nach dem diese Grenzen immer wieder neu bestimmt werden muumlssen bzw nach dem es genau genommen keine Grenzen gibt da das Entschei-dende die Moumlglichkeit neuer Begriffsbildungen ist ohne daszlig man sich an irgendeiner Vorgabe (oder Grenze) orientieren kann die man entweder trifft oder verfehlt

77 Zum einen schreibt Wittgenstein raquoWir koumlnnen einem Zeichen nicht den unrechten Sinn gebenlaquo (54733) also bei der Bedeutungsfestsetzung nichts verfehlen zum anderen erklaumlrt er schlicht Saumltze wie raquo1 ist eine Zahllaquo (41272) die sich auf unsere bestehende Spra-che beziehen fuumlr unsinnig weil darin das Wort raquoZahllaquo als gewoumlhnliches Begriffswort statt als raquoformaler Begrifflaquo und also falsch verwendet wird Daszlig 1 eine Zahl ist ist schon da-durch klar daszlig wir das Zahlzeichen 1 verwenden und gerade deshalb koumlnnen wir dies nicht noch zusaumltzlich behaupten Es ist allerdings richtig daszlig Wittgenstein im letzteren Fall strenggenommen nicht von der raquoVerletzung der logischen Syntaxlaquo spricht sondern das Gebilde einfach raquounsinniglaquo nennt da fuumlr solche Faumllle gar keine logische Syntax im exakten Sinn verfuumlgbar ist Die gesamte Abhandlung ist in dieser Hinsicht nirgends der Versuch eine vorliegende Syntax zu treffen aber auch nicht eine neue Syntax festzulegen sondern sie befaszligt sich vielmehr mit den Bedingungen der Moumlglichkeit von Syntax uumlberhaupt Insofern verfehlen sowohl Hacker auch Diamond und Conant diesen Kernpunkt des Buches

78 So etwa im Abschnitt What makes a Reading resolute in Mono-Wittgensteinianism S 42ndash47

79 Vgl dazu W Kienzler Die Sprache des Tractatus Klar oder deutlich Karl Kraus Witt-genstein und die Frage der Terminologie in F GoumlppelsriederJ Volbers (Ed) Philosophie als Lebensform Muumlnchen 2008 (im Erscheinen)

119Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

ligen Schwaumlchen zu vermeiden80 Sie will Wittgenstein keine metaphy-sischen Lehren zuschreiben81 aber doch sicherstellen daszlig wir aus dem Buch etwas Konstruktives lernen koumlnnen Dazu nimmt sie den Begriff der Klaumlrung als Orientierungspunkt Die Aufgabe des Buches ist es demnach die Logik der Sprache aufzuklaumlren Wenn dies aber ohne die Verwendung positiver Lehren geschehen soll muszlig es indirekt geschehen naumlmlich da-durch daszlig die Sprache sich indirekt selbst klaumlrt das heiszligt daszlig eine solche Klaumlrung nicht auf etwas auszligerhalb der Sprache Bezug nimmt denn das waumlre Kennzeichen einer metaphysischen Auffassung McGinn schreibt et-was kryptisch raquoEs ist ein Werk in dem die Natur des Satzes die schon klar ist obwohl wir sie noch nicht klar sehen sich selbst fuumlr uns klaumlrtlaquo82

Sie betont jedoch sehr zu Recht daszlig Wittgenstein in seiner Abhandlung die eine groszlige Frage loumlsen wollte raquoDas Wesen des Satzes angeben heiszligt das Wesen aller Beschreibung angeben also das Wesen der Weltlaquo (54711)83

Damit aber waumlren alle (oder raquodielaquo) philosophischen Probleme geloumlst Ohne eine solche Voraussetzung die Wittgenstein offenbar als grundle-gende Einsicht erschien ist seine Handlungsweise gar nicht nachvollzieh-bar naumlmlich ein uumlberaus kurzes Buch zu verfassen in dem alle philoso-phischen Fragen im Prinzip jedenfalls beantwortet sind Dies ist nur moumlglich wenn diese Fragen so eng zusammenhaumlngen daszlig die Loumlsung der einen zugleich die Loumlsung der anderen bedeutet Dieser Grundgedanke strukturiert McGinns Buch und gibt ihm eine klare Linie84 Sie untersucht die besonders von Conant behandelten Fragen nach den Bedingungen einer angemessenen Lektuumlre fast gar nicht und antwortet insofern nicht durch Gegenargumente sondern durch die Tat durch einen Gang durch das Buch Es uumlberrascht dabei daszlig sie den Anfang zunaumlchst weglaumlszligt und nach Einleitungskapiteln zur Abgrenzung gegen Frege und Russell gleich mit dem Begriff des Bildes und dann des Satzes beginnt Tatsaumlchlich zeigt McGinn uumlberzeugend auf daszlig die Eingangspassagen am besten als Hin-fuumlhrungen zur raquoTheorie des Satzeslaquo aufgefaszligt werden und nicht als eigen-staumlndiges Theoriestuumlck einer vorangestellten Ontologie (sei diese nur scheinbar als Illusion aufgebaut oder ernst gemeint vgl etwa Diamond

80 Marie McGinn Elucidating the Tractatus81 Marie McGinn Between Metaphysics and Nonsense Elucidation in Wittgensteinrsquos Tracta-

tus In Philosophical Quarterly 49 (1999) S 491ndash513 hier S 107)82 Damit bleibt McGinn nahe an Aumluszligerungen von Diamond und Conant (etwa Method

S 424)83 Zit in McGinn Elucidating S 24084 Das erste Kapitel The Single Great Problem behandelt diese Frage zeigt aber bereits

daszlig sich McGinn nicht vollstaumlndig auf den Text einlaumlszligt sondern ihn von Anfang an stark aus der Perspektive der Philosophischen Untersuchungen her deutet (die im letzen Kapitel er-neut den Maszligstab der Betrachtung bilden)

120 Wolfgang Kienzler PhR

Ethics S 160) Vor dem Hintergrund der Auffassung des sinnvollen Satzes wird der Anfang dann relativ leicht verstaumlndlich In der Darstellung von McGinn wird die Abhandlung wieder zu einer Abhandlung einer nuumlch-ternen Darlegung uumlber die Voraussetzungen sinnvollen Sprechens und Ausdruumlckens uumlber die Unterschiede der Satzarten und die allgemeine Form des Satzes Allerdings ruumlcken so die Einzelheiten der Sprachlogik ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit und die Fragen nach der Natur der Philosophie aber auch die nach der Einheit des Buches treten ganz in den Hintergrund Das Buch enthaumllt kein Kapitel zum Philosophiebegriff des fruumlhen Wittgenstein und kaum Erlaumluterungen zur spezifi schen Form der Darstellung oder zur Strategie der Praumlsentation Einige Themen wie die Ethik Arithmetik oder die Naturgesetze werden ganz uumlbergangen dabei waumlre an diesen Beispielen die angestrebte Einheitlichkeit erst richtig aufzuzeigen gewesen In dieser Hinsicht erklaumlrt McGinn die Abhandlung in der Form die sie 1916 noch hatte bevor Wittgenstein die Schluszligpassa-gen einarbeitete und als sie noch staumlrker eine Abhandlung in raquophiloso-phischer Logiklaquo war85 Gegen Diamond und Conant stellt sie klar heraus daszlig das Ziel der Klaumlrung raquodurch Einsicht in das Funktionieren der Spra-chelaquo erreicht werden soll und nicht indirekt dadurch daszlig raquodie Versuche philosophische Saumltze zu bilden als Unsinn erkannt werdenlaquo (S 254 Anm 6) Die sehr nuumlchterne Art McGinns zeigt einen Wittgenstein der ganz unironisch seine logisch-philosophische Konzeption Schritt fuumlr Schritt entwickelt86

85 Vgl Brian McGuinness Wittgensteinrsquos 1916 Abhandlung in R HallerK Puhl (Hg) Wittgenstein and the Future of Philosophy Wien 2002 S 272ndash282 Die grundlegenden philologischen Arbeiten von McGuinness werden in der gegenwaumlrtigen Debatte leider wenig fruchtbar gemacht

86 Das stark gestiegene Interesse am fruumlhen Wittgenstein hat eine ganze Reihe von Monographien hervorgebracht die jedoch nur selten das gelassene exegetische Niveau McGinns erreichen sondern in der Regel mehr oder weniger exzentrische Deutungen in den Mittelpunkt stellen

M Ostrow Wittgenstein and the Liberating Word CambridgeMass 2002 (eine Zusam-menfassung in Reck From Frege to Wittgenstein) versucht eine an Floyd orientierte raquodialek-tische Interpretationlaquo die sich am Leitmotiv des raquoerloumlsenden Worteslaquo orientiert aber ins-gesamt zu vage bleibt zumal sich die Differenz zum spaumlteren Wittgenstein ganz aufzuloumlsen scheint und wichtige Passagen unberuumlcksichtigt bleiben

E Friedlander Signs of Sense Reading Wittgensteinrsquos Tractatus Cambridge Mass 2001 scheint das Raumltselhafte geradezu zu genieszligen und nennt als sein Ziel raquonicht das Raumltsel des Buches zu loumlsen sondern seinen raumltselhaften Charakter auf eine wahrhaft zum Denken herausfordernde Art aufzuzeigenlaquo (S XV) und will geradezu raquoseinen raumltselhaften Charak-ter rechtfertigenlaquo (16)

U Nordmann Wittgensteinrsquos Tractatus An Introduction Cambridge 2005 faszligt das Buch als ein Gedankenexperiment und eine groszlige Reductio ad Absurdum auf zu der er einige Praumlmissen ergaumlnzt Er deutet das Buch als im Konjunktiv geaumluszligert wodurch der Behaup-

121Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Ausblick

Die Arbeiten von Diamond und Conant haben zu einer neuen Welle des Interesses an Wittgensteins Fruumlhwerk gefuumlhrt und die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten vor allem aber auch das Potential seiner Abhandlung gelenkt Im Zentrum steht dabei die Natur der Philosophie als Erlaumlute-rung die selbst nicht in die Gestalt einer Lehre gebracht werden kann oder anders ausgedruumlckt der entscheidende Unterschied zwischen einer philosophischen und einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Untersu-chung

Gerade dadurch daszlig sie die Abhandlung stellenweise sehr nah an den spaumlten Wittgenstein heranruumlcken eroumlffnen Conant und Diamond Moumlg-lichkeiten die Souveraumlnitaumlt und Subtilitaumlt des Buches erst richtig zu wuumlr-digen Dies geschieht jedoch um den Preis daszlig einige Teile des Buches herausgegriffen andere dagegen kaum beruumlcksichtigt werden

Nicht hinreichend geklaumlrt scheint auch die Frage nach dem sprachlichen Grundton des Buches Diamond geht immer wieder von einem nahe an der Alltagssprache stehenden Redegestus aus (aumlhnlich wie der spaumlte Wittgen-stein) waumlhrend Conant aus der weiteren Perspektive ironische Zuumlge be-schreibt87 Gemeinsam ist den resoluten Lesern daszlig sie Wittgensteins Saumltze in der Abhandlung auf doppelte Weise auffassen Sie unterscheiden an vielen Stellen einen buchstaumlblichen naheliegenden Sinn der sich bei naumlherer Be-trachtung als inkohaumlrent erweist und der so zerfaumlllt88 Daher wird in ihrer

tungscharakter eingeklammert die Klaumlrungsfunktion jedoch trotzdem ermoumlglicht wird Er gewinnt so eine Kategorie von Saumltzen die raquounsinnig aber bedeutungsvolllaquo (176) sind

L Gunnarsson Wittgensteins Leiter Bodenheim 2002 greift einen Gedanken Conants auf daszlig wir naumlmlich den Hauptteil des Buches wegwerfen und den Rahmen behalten sollen (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 286) und entwickelt daraus die Fik-tion es waumlre tatsaumlchlich nur das Vorwort und der Schluszlig der Abhandlung erhalten ndash und will daraus den Gehalt des Buches ohne Verlust rekonstruieren Diese Veranschaulichung zeigt besonders klar auf wie verfehlt dieser Ansatz ist wenn man ihn auf die konkrete Interpretationspraxis bezieht

87 Die Parallele zwischen Wittgenstein und Kierkegaard scheint in zentralen Punkten gerade nicht zu bestehen denn Wittgenstein distanziert sich gerade nicht von seinem Buch sondern erklaumlrt seine Auffassungen fuumlr defi nitiv richtig und alternativlos ganz ent-gegen dem verwirrenden Spiel Kierkegaards mit unterschiedlichen Pseudonymen und Perspektiven Ein passenderer Vergleich waumlre etwa mit Hume moumlglich der am Ende seiner Untersuchung uumlber die Prinzipien der Moral (Abschnitt 9 Teil 1) seine Ergebnisse fuumlr derart einfach klar kohaumlrent und uumlberzeugend haumllt daszlig dem nichts hinzuzufuumlgen ist so daszlig er selbst geradezu in Versuchung kommen koumlnnte dogmatisch davon uumlberzeugt zu sein

88 So fuumlhrt Diamond (in Ethics wie Anm 37) folgende Beispiele dafuumlr an 1 das woruuml-ber man schweigen muszlig (aber das kann es doch nicht geben weil es kein raquodaruumlberlaquo ist S 149) 2 die Saumltze der Abhandlung die zu verstehen seien (oder doch raquoer selbstlaquo wie Witt-genstein dann uumlberraschenderweise sagt S 149) 3 die Anfangssaumltze uumlber die Welt (aber daruumlber kann es doch keine Saumltze geben S 160) 4 der Schein daszlig ab 64 Saumltze uumlber Ethik

122 Wolfgang Kienzler PhR

Perspektive das Buch durchgehend doppelboumldig und loumlst sich schlieszliglich in Nichts auf wobei in der Aufl oumlsung gerade die Absicht des Buches bestehen soll89 Demgegenuumlber kann festgehalten werden daszlig Wittgenstein nir-gends von Ironie spricht wohl aber davon daszlig er das Wesentliche in Kuumlr-ze klar ausdruumlcken will Eine wichtige Differenz innerhalb der resoluten Lesart liegt weiter darin welche Wichtigkeit man den eher technischen Aspekten der Abhandlung zuschreibt Ricketts und Goldfarb sehen viele Zuumlge des Buches von technischen Erwaumlgungen motiviert und gepraumlgt waumlhrend Diamond und Conant den Sinn der symbolischen Notation vor allem darin sehen wesentliche Unterschiede klarzustellen90

Das Motto erklaumlrt daszlig man raquoalles was man weiszliglaquo schlieszliglich raquoin drei Worten sagenlaquo kann Viele der scheinbaren Widerspruumlche und Doppelt-heiten die resolute Leser beobachten koumlnnten sich von daher moumlglicher-weise der Absicht verdanken im Buch logisch praumlzise Saumltze zu erwarten eine Absicht die bestaumlndig getaumluscht wird91 Wuumlrde man die Saumltze eher als Instrumente verstehen die allmaumlhlich entsprechend den Stufen der Lei-ter zur Klarheit anleiten ohne daszlig der Leser in die selbstrefl exive Geste verwickelt werden soll dann koumlnnte eine einfachere und klarere Lesart entstehen die auch mehr Sinn fuumlr den Zusammenhang und die spezi-fi schen Darstellungsmittel des Buches entwickeln wuumlrde ndash wenn denn eine solche zusammenhaumlngende Erlaumluterung als gemeinsames Ziel fest-staumlnde92 Auch Fragen der Textkritik die derzeit nur sehr sporadisch ge-streift werden koumlnnten dann eine groumlszligere Rolle spielen

Wolfgang Kienzler (ChemnitzJena)

vorkommen (die es doch gar nicht geben kann S 164) 5 der Schein daszlig im Buch Saumltze raquouumlber Logiklaquo vorkommen (die es ebenfalls nicht geben kann S 164) In allen Beispielen kann man die Situation natuumlrlicher so darstellen daszlig man die Saumltze der Abhandlung von vornherein zwar woumlrtlich aber nicht buchstaumlblich nimmt sondern sich von ihren zur Klarheit die sich erst allmaumlhlich einstellen kann fuumlhren laumlszligt

89 Diese Doppeltheit der Lesart ist den resoluten Lesern und ihren Kritikern gemein-sam sie ist aber keineswegs selbstverstaumlndlich und widerspricht dem Grundgedanken der Klarheit

90 Dies ist das Thema von Diamond What Does a Concept-Script Do in The Realistic Spirit S 115ndash144 Sie sieht darin ein raquoWerkzeug geistiger Befreiunglaquo (143) deutet damit aber tendenziell wieder einen Gedanken der Abhandlung in Frege hinein der zunaumlchst die Umgangssprache ganz zugunsten der exakteren Begriffsschrift verbannen wollte

91 In weiten Teilen der resoluten Beitraumlge kann man auch eine gewisse Vergegenstaumlnd-lichung mancher von Wittgenstein verwendeter Woumlrter wahrnehmen die dazu fuumlhren daszlig die Rede von raquoUnsinnlaquo raquoErlaumluterunglaquo u a zunaumlchst gegenstaumlndlich miszligverstanden und anschlieszligend als Gegenstaumlndlichkeit leugnend gedeutet wird Eine Beachtung von Wittgensteins ungezwungenem und unterminologischem Sprachgebrauch koumlnnte viele dieser Schleifen uumlberfl uumlssig machen

92 Das Buch von McGinn kann dazu als erster wichtiger konstruktiver Schritt angese-hen werden auch wenn es insgesamt etwas zu additiv verfaumlhrt

Page 6: Neue Lektüren von Wittgensteins Logisch-Philosophischer ... · 10 E. Stenius : Wittgensteins Traktat [1960], Frankfurt/M. 1969, nennt den Schluß »keine echte Verdammung [. . .]

100 Wolfgang Kienzler PhR

lagen der Mathematik von 193922 einigermaszligen zusammenhaumlngend zu rekonstruieren23 Diamond gewann aus dieser Arbeit den schlagenden Eindruck wie schwierig es ist Wittgensteins Herangehensweise an philo-sophische Fragen richtig aufzufassen und auszudruumlcken24 Diesem Grun-dimpuls Wittgensteins philosophischen Ansatz in seiner Schwierigkeit und Radikalitaumlt zu erlaumlutern verdankt sich ein groszliger Teil von Diamonds weiterer Arbeit25

Zentral ist ein starkes Interesse an der Spaumltphilosophie Wittgensteins demgegenuumlber erscheint die fruumlhe Denkweise als erster und wichtiger Schritt in die richtige Richtung nicht aber als ein gescheiterter Versuch dem Wittgenstein spaumlter etwas grundlegend Anderes entgegensetzte Dia-monds Interesse an der Abhandlung ist zunaumlchst eher indirekt und liegt darin zu zeigen wie der radikale Ansatz schon des fruumlhen Wittgenstein interpretativ weitgehend abgefl acht und miszligverstanden wurde Die Initi-alzuumlndung zu einer intensiven Beschaumlftigung mit dem fruumlhen Wittgen-stein ging dann von Peter Geachs Versuch aus durch Zuhilfenahme der

22 Wittgenstein Lectures on the Foundations of Mathematics 1939 Ithaca N Y 1976 (= Schriften Bd 7 1978 dieser wichtige Text ist in der deutschen Uumlbersetzung wenig beach-tet und nicht nachgedruckt worden)

23 Es gelang Diamond schlieszliglich auf bewundernswerte Weise aus den unterschied-lichen stark voneinander abweichenden Mitschriften einen zusammenhaumlngenden Text zu erstellen Diese philologisch anfechtbare und fuumlr den Leser nicht uumlberpruumlfbare Praxis wur-de in spaumlteren Veroumlffentlichungen von Vorlesungen Wittgensteins zugunsten der paral-lelen Wiedergabe der einzelnen Mitschriften aufgegeben Damit verschwanden aber auch Erfahrungen wie diejenige Diamonds

24 Diamond schreibt raquoIch brauchte vier Jahre um uumlberhaupt zu verstehen was in diesen Vorlesungen eigentlich vor sich ginglaquo (Diamond How Did I Come to be Acquainted with Wittgensteinrsquos Work In Philosophical Investigations 14 2001 S 108ndash115 S 109 diese Ausgabe enthaumllt entsprechende Auskuumlnfte u a auch von Cavell Conant und Hacker) Die Arbeit an dieser Edition hat Diamonds Perspektive entscheidend gepraumlgt Man koumlnnte sa-gen daszlig Diamond sich in ihren eigenen Veroumlffentlichungen an dem Ideal orientiert das Wittgenstein in diesen Vorlesungen paradigmatisch vorfuumlhrt Er nimmt einen Satz etwa aus einer Schrift des bedeutenden Mathematikers Hardy daszlig mathematischen Saumltzen raquoin irgendeiner wenn auch noch so subtilen Form etwas in der Realitaumlt entsprichtlaquo und zeigt durch intensive Deutungsbemuumlhungen und praumlgnante Beispiele auf inwiefern diese For-mulierung zwar nicht falsch ist wohl aber und das ist weit gravierender eine grundsaumltz-lich verfehlte Einstellung zum raquoGegenstand der Mathematiklaquo ausdruumlckt (25 und 26 Vor-lesung S 290 ff)

25 Diamond greift zudem Impulse von Rush Rhees und Elizabeth Anscombe auf beides unmittelbare Schuumller sowie Nachlaszligverwalter und Herausgeber Wittgensteins sowie von Stanley Cavell der zunaumlchst von Austin beeinfl uszligt weitgehend unabhaumlngig eine ganz auf die Philosophischen Untersuchungen konzentrierte Lektuumlre Wittgensteins entwickelt und durch seine Lehrtaumltigkeit auch auf Conant Goldfarb und Ricketts gewirkt hat (wie die vorherige Anm S 109 f) Allerdings uumlberschreitet Cavells bisweilen sehr kreative Um-gangsweise mit den Texten haumlufi g die Grenzen dessen was man Interpretation nennen kann

101Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen Wittgenstein davor zu ret-ten sich selbst philosophisch mattzusetzen (raquoLudwigrsquos self-matelaquo)26 Geach war damit derjenige der dem Schluszlig des Buches nicht nur besondere Aufmerksamkeit schenkte sondern ihn zum Pruumlfstein uumlber Erfolg oder Scheitern von Wittgensteins fruumlher Philosophie bzw der Versuche sie zu verstehen machte

Fast alle Versuche den Schluszlig zu verstehen knuumlpfen an die im Text zentrale Unterscheidung zwischen raquoSagenlaquo und raquoZeigenlaquo an Wittgenstein selbst nannte sie einmal den raquoHauptpunktlaquo seiner Philosophie (Brief an Russell vom 19 8 1919) und er entwickelt sie bei der Behandlung radikal unterschiedlicher Arten von Saumltzen Empirische oder raquosinnvollelaquo Saumltze vergleicht er mit Bildern die Sachverhalte darstellen Wenn der darge-stellte Sachverhalt besteht ist der Satz wahr wenn er nicht besteht falsch Saumltze sagen daszlig die von ihnen dargestellten Sachverhalte bestehen Sie sind artikuliert und tun dies mit Hilfe ihrer spezifi schen logischen Form Die-se Form raquoweisen sie auflaquo aber sie sagen sie nicht aus sondern raquozeigenlaquo sie Diese beiden Aspekte das von einem Satz Ausgesagte und Behauptete sowie die dabei zum Einsatz kommenden sprachlogischen Mittel trennt Wittgenstein scharf Weiter betont er daszlig die Saumltze der Logik keine Sach-verhalte darstellen sondern bereits aufgrund ihrer Form als korrekt und insofern raquowahrlaquo oder als widerspruumlchlich und insofern raquofalschlaquo zu erken-nen sind Wittgenstein spricht von raquoTautologienlaquo27 und raquoKontradiktionenlaquo Diesen rein formalen Charakter der logischen Saumltze druumlckt Wittgenstein auch so aus daszlig er sie raquosinnloslaquo nennt und bemerkt raquoDie Saumltze der Logik sagen also Nichtslaquo (611)28 Er druumlckt dies auch so aus daszlig logische Saumltze raquozeigen daszlig sie nichts sagenlaquo (4461) Sagen und Zeigen sind fuumlr ihn strikt getrennte Ausdrucksformen raquoWas gezeigt werden kann kann nicht gesagt werdenlaquo (41212) Weiterhin untersucht Wittgenstein die Natur der philo-sophischen Saumltze und kommt zu dem Schluszlig daszlig diese weder zur Gruppe der sinnvollen noch zu der der sinnlosen Saumltze gehoumlren Da seiner Mei-nung nach der Philosophie uumlberdies kein eigener Gegenstandsbereich zugewiesen werden kann erklaumlrt er daszlig die Philosophie raquokeine Lehre sondern eine Taumltigkeitlaquo (4112) sei naumlmlich die Taumltigkeit der logischen

26 Saying and Showing in Frege and Wittgenstein (wie Anm 13 Zit S 54) Diamond deutet den Schluszlig nicht defensiv wie Geach sondern offensiv als Versuch etwas Wichtiges klar-zustellen

27 Wittgenstein etabliert damit eine ganz neue Verwendungsweise des Wortes raquoTauto-logielaquo die durch die aussagenlogischen Wahrheitsbedingungen erklaumlrt ist

28 Wittgenstein verwendet die Ausdruumlcke raquosinnvolllaquo raquosinnloslaquo und raquounsinniglaquo um wichtige Unterschiede lokal zu markieren aber als Terminologie entstammt diese Trias der Sekundaumlrliteratur und der Neuuumlbersetzung des Buches durch David Pears und Brian McGuinness (1961)

102 Wolfgang Kienzler PhR

Klaumlrung der Gedanken und der Klarstellung der grundlegenden Funk-tionsweise des sprachlichen und symbolischen Ausdrucks29

Nach Geach muszlig man Wittgensteins Buch so verstehen daszlig darin zum einen etwas gesagt wird daszlig aber wichtige Zuumlge der Realitaumlt ( features of reality) entsprechend Wittgensteins Analysen nicht gesagt wohl aber ge-zeigt werden koumlnnen Die Schluszligbemerkung waumlre dann so aufzufassen daszlig man einsehen muszlig daszlig die philosophisch wichtigen Einsichten nur gezeigt werden koumlnnen sie damit aber in Saumltzen enthalten sind die streng genommen unsinnig sind weil sie nicht etwas raquosagenlaquo so naumlmlich wie der Terminus raquosagenlaquo in der Abhandlung verwendet wird Geach sieht in dieser Unterscheidung eine Einsicht die Wittgenstein von Frege uumlbernimmt und erweitert

In ihrem Aufsatz Throwing Away the Ladder (1985)30 setzt sich Diamond intensiv mit Geach auseinander und entwickelt daraus wesentliche Ele-mente die die Diskussion bis heute praumlgen Dazu gehoumlrt der Bezug auf Frege In seinen raquoErlaumluterungenlaquo31 logischer Grundbegriffe also dessen was er das raquoLogischeinfachelaquo nennt und was entsprechend durch keine Defi nition weiter zergliedert werden kann spricht Frege deutlich aus daszlig er sich bildlich und unexakt ja teilweise sogar streng genommen falsch ausdruumlcken muszlig um das Gemeinte zu vermitteln32 Das wichtigste Bei-spiel Freges ist die grundlegende Unterscheidung von Gegenstand und Begriff die er so erlaumlutert daszlig Gegenstaumlnde abgeschlossen Begriffe dage-

29 Die Saumltze der Philosophie waumlren nach Wittgenstein daher in Abgrenzung zu den beiden ersten Gruppen als raquounsinniglaquo einzustufen Diese relativ harmlose Deutung die 654 zu einer letztlich terminologischen Bemerkung macht wird von Diamond und Conant jedoch nicht geteilt Es ist eine Staumlrke des Ansatzes von DiamondConant daszlig sie die Abhandlung nicht nach einem terminologischen Schema zu entschluumlsseln versuchen im besonderen Fall von 654 ist ihr Ergebnis dennoch zweifelhaft denn man kann die Bemer-kung als raquoabschlieszligende selbstrefl exive Schluszligbemerkunglaquo verstehen die einfach ein letz-tes zusaumltzliches Licht auf das Ganze werfen und die Klarheit damit abrunden nicht aber diese erst herstellen soll Der Vergleich des Schlusses mit der Pointe eines Witzes die alles in ein voumlllig neues Licht taucht und die Spannung zusammenbrechen laumlszligt (vgl unten Anm 62) wirkt etwas gezwungen In seinen Anweisungen an Ogden (Letters to Ogden Oxford 1973 S 19) fuumlr die Uumlbersetzung des Buches besteht Wittgenstein darauf daszlig der raquoSinn nicht die Woumlrterlaquo uumlbersetzt werden und nennt dann wieder das Ganze raquoUnsinnlaquo dies weist darauf hin daszlig fuumlr ihn das Ganze nicht einfach durch und durch als Unsinn zu bezeichnen ist

30 Throwing Away the Ladder How to Read the Tractatus auch in The Realistic Spirit S 179ndash204

31 Auch dieser Terminus stammt von Frege obwohl er nicht auf den Bereich analy-tischer Philosophie beschraumlnkt ist (vgl M Heideggers Erlaumluterungen zu Houmllderlins Dichtung und das zugehoumlrige Vorwort)

32 Vgl dazu auch Gottfried Gabriel Der Logiker als Metaphoriker Freges philosophische Rhetorik in Gabriel Zwischen Logik und Literatur Stuttgart 1991 S 65ndash88 Auch Gabriel sieht bei Wittgenstein die konsequente Durchfuumlhrung Fregescher Einsichten

103Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

gen ungesaumlttigt sind und eine Leerstelle aufweisen die nur durch einen Gegenstand gesaumlttigt werden kann Dies gilt fuumlr Frege sowohl fuumlr die Be-griffe und Gegenstaumlnde selbst als auch fuumlr die Ausdruumlcke mit denen wir sprachlich Begriffe bzw Gegenstaumlnde bezeichnen Daher ist jedoch fuumlr ihn jeder Ausdruck ohne Leerstelle zwangslaumlufi g ein Gegenstandsname kein Begriffswort Sprachlich gesehen sind alle Ausdruumlcke mit dem be-stimmten Artikel (raquoder Nlaquo) Eigennamen solche mit dem unbestimmten Artikel (raquo ist ein Pferdlaquo) Begriffswoumlrter Damit aber ist ein Ausdruck wie raquoder Begriff Pferdlaquo schon aus syntaktischen Gruumlnden ein Gegenstandsna-me und kein Begriffswort Entsprechend erklaumlrt Frege den Satz raquoDer Be-griff Pferd ist kein Begrifflaquo allein aufgrund der syntaktischen Form fuumlr wahr weil die Worte raquoder Nlaquo und damit auch raquoDer Begriff Nlaquo nur einen Gegenstand bezeichnen koumlnnen Daruumlber hinaus erklaumlrt er daszlig es voumlllig unmoumlglich ist einen wahren Satz der Form raquoDer Begriff F ist ein Begrifflaquo zu bilden da wir an der Subjektstelle immer im logischen Sinn einen Ei-gennamen und kein Begriffswort vorfi nden Wir koumlnnen also nach Frege in gewoumlhnlichen Saumltzen gar keine korrekten Aussagen uumlber Begriffe ma-chen Gegen Geach deutet Diamond diesen Fall nun so daszlig Frege mit dem paradox klingenden Satz seine Leser zur richtigen Einsicht in das Wesen des Begriffs anleiten moumlchte und zwar indem er absichtsvoll etwas Unsinniges sagt in Gestalt einer vorlaumlufi gen Ausdrucksweise (transitional remark) die spaumlter ganz wegfallen kann wenn die Unterscheidung ver-standen worden ist33 Dieses Verstaumlndnis aber zeigt sich so Diamond nicht darin daszlig man einen raquoZug der Wirklichkeitlaquo erfaszligt hat sondern darin daszlig man Freges Notation zu beherrschen gelernt hat Ihr zufolge druumlckt sich in der Notation also in der Schreibweise nicht in einzelnen Behaup-tungssaumltzen34 Freges Unterscheidung von Gegenstand und Begriff am klarsten und eindeutigsten aus und der Sinn der Uumlbergangsbemerkungen liegt demnach einzig darin in den korrekten Gebrauch der Notation und damit des logischen Systems mit seinen eingearbeiteten Unterscheidungen einzufuumlhren Vor diesem Hintergrund gibt es keinen raquoInhaltlaquo der nach der Einfuumlhrung uumlbrig bliebe und damit auch keinen Inhalt den man raquozeigenlaquo muumlszligte oder koumlnnte und daher kann man die Leiter dann wegwerfen (und einfach den Symbolismus richtig anwenden) Eine Deutung wie diejenige

33 Als Fregedeutung kann diese Interpretation nicht uumlberzeugen weil Frege seinen pa-radox klingenden Satz ohne Zoumlgern fuumlr wahr haumllt Aus der Perspektive Wittgensteins je-doch der den Gedanken einer notwendigen strukturellen Parallelitaumlt zwischen raquoZeichen und Bezeichnetemlaquo uumlberwunden hat waumlre diese Deutung uumlberzeugend Man kann Dia-mond in diesem Punkt eine Uumlberinterpretation des fruumlhen Wittgenstein vorwerfen die sie auch noch auf Frege ausdehnt

34 Das heiszligt daszlig Freges Grundunterscheidung sich praktisch an jedem symbolisch no-tierten Satz zeigen laumlszligt

104 Wolfgang Kienzler PhR

Geachs erscheint vor diesem Hintergrund als halbherzig Zum einen meint man daszlig manche wichtigen Saumltze nichts sagen sondern nur etwas zeigen zum anderen aber haumllt man doch daran fest daszlig diese Saumltze einen Inhalt haben und indirekt etwas uumlber die Realitaumlt ausdruumlcken Fuumlr Diamond ist das ein Sich-druumlcken (chickening out)35 Diesem halbherzigen Versuch setzt sie ein konsequentes Ernstnehmen der Unsinnigkeit der Abhandlungssaumltze und des Wegwerfens der Leiter entgegen Der Versuch mit dem raquoUnsinnlaquo Ernst zu machen hat als raquoresolute Lesartlaquo (resolute reading) dem neuen An-satz spaumlter den Namen gegeben36 Diamond stellt die Frage wie ernst man 654 tatsaumlchlich nehmen sollte und weiter ob der Redeweise von raquoZuumlgen der Realitaumlt die nicht in Worten ausgedruumlckt werden koumlnnenlaquo ein Sinn abzugewinnen ist37 Diamonds Antwort ist ebenso einfach wie provokativ Ja die Bemerkung 654 muszlig sehr ernst genommen werden und gerade deshalb kann es keine unausdruumlckbaren Zuumlge der Realitaumlt geben sondern wir muumlssen akzeptieren daszlig die Saumltze der Abhandlung im strengen und gewoumlhnlichen Sinne unsinnig sind sie sind um das Vorwort zu zitieren raquoeinfach Unsinnlaquo Damit aber verliert die Unterscheidung von Sagen und Zeigen ihren quasi-metaphysischen Charakter38

Bemerkung 654 deutet Diamond nun so daszlig Wittgenstein darin einen bewuszligten und wesentlichen Unterschied mache zwischen dem Verstehen seiner Saumltze und dem Verstehen seiner Person (raquower mich verstehtlaquo)39 Man solle naumlmlich verstehen daszlig seine Saumltze nicht zu verstehen sind Wir sol-len genauer gesagt mit unserer Einbildungskraft uns in die Position je-mandes versetzen der glaubt die Saumltze des Buches zu verstehen damit aber sollen wir so Diamond zugleich verstehen daszlig es hier nichts zu verstehen gibt daszlig es sich nur um eine Illusion von Verstehen handelt

35 Systematisch betrachtet kann man darin ein noch zu weitgehendes Festhalten an der grundsaumltzlichen Aumlhnlichkeit der Funktionsweise (oder raquoBezeichnungsweiselaquo) saumlmtlicher Satzarten nach dem Vorbild Freges sehen der die Grundunterscheidung von ZeichenSinn des ZeichensBedeutung des Zeichens uumlberall durchfuumlhren will waumlhrend nach Wittgenstein schon fuumlr logische Saumltze weder von Sinn noch von Bedeutung die Rede sein kann

36 Ricketts spricht in seinem Beitrag zum Cambridge Companion (Anm 19) S 93 von einer raquoresolut und konsistent angewendeten Konzeption der Wahrheitlaquo nach der es raquokeine unausdruumlckbaren Wahrheiten geben kannlaquo In Anschluszlig daran hat sich dann auf eine Anregung Goldfarbs hin die Rede einer raquoresoluten Lesartlaquo eingebuumlrgert

37 Diamond Ethics Imagination and the Method of Wittgensteinrsquos Tractatus (1991) auch in New Wittgenstein S 149ndash173 hier S 181

38 Daszlig die Unterscheidung auf andere Weise logisch zentral ist fuumlhrt Diamond an an-derer Stelle aus (vgl Anm 12)

39 Diamond greift dabei (S 160) indirekt auch den Gedanken Cavells auf daszlig es in Wittgensteins Philosophie immer auch um Selbsterkenntnis geht also um die eigene Per-son Dieses Element spielt vor allem bei anderen Vertretern der resoluten Lesart eine be-traumlchtliche Rolle und traumlgt einiges zu ihrer Attraktivitaumlt bei

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(150) Die Saumltze und damit das Buch sollen als vollstaumlndig unsinnig er-kannt werden ndash davon ausgenommen sind allerdings die Bemerkungen die den Rahmen bilden und in denen Wittgenstein einige Hinweise dar-uumlber gibt wie das Buch aufzufassen ist (S 149)40 Es gibt dabei keine lo-gische wesentliche Unterscheidung zwischen zwei Arten von Unsinn sol-chem der etwas Richtiges zeigt und solchem der schlicht Ausdruck einer Verwirrung ist (wie die Saumltze der traditionellen Metaphysik)41 Daszlig man-che unsinnigen Saumltze als Erlaumluterungen dienen koumlnnen ist diesen Saumltzen ganz aumluszligerlich (S 159) sozusagen eine Zufaumllligkeit hat aber nichts mit einem moumlglichen Gehalt dieser Saumltze zu tun Dies wendet sich gegen eine entsprechende Unterscheidung bei Anscombe zwischen raquoden Dingen die wahr waumlren wenn sie gesagt werden koumlnnten und denen die falsch wauml-ren wenn sie gesagt werden koumlnntenlaquo42 Man kann nach Diamond von solchen Unsinnsarten nicht sprechen Eine Konsequenz dieser Radikalitaumlt liegt nun darin daszlig die gesamte innere Struktur der Abhandlung verloren-zugehen scheint Wenn alles Unsinn ist was kann dann noch Unterschiede der einzelnen Passagen ausmachen Genau dies entspricht gerade einem zentralen Motiv von Diamonds Ansatz So verweist sie etwas darauf daszlig im Buch zwar Bemerkungen mit ethischer Thematik vorkommen daszlig aber in einem tieferen Sinne jeder Satz (oder das gesamte Buch) einen ethischen Charakter hat indem es darin eine bestimmte Haltung aus-druumlckt ganz unabhaumlngig vom gerade verwendeten Vokabular Diese Auf-fassung daszlig zentrale philosophische Einsichten vom jeweils verwendeten Vokabular und den aufgestellten Behauptungen weitgehend unabhaumlngig sind weil es nicht auf das Vokabular sondern auf den Gebrauch ankommt ist ein Kernstuumlck in Diamonds Ansatz43 Ihr geht es vor allem anderen darum Wittgensteins philosophische Haltung aufzuklaumlren indem sie spe-zifi sche Passagen die Miszligverstaumlndnisse verursachen erklaumlrt Die Absicht

40 Diese radikal klingende Behauptung ist insofern miszligverstaumlndlich als Diamond nicht alle Saumltze der Abhandlung sozusagen per defi nitionem fuumlr unsinnig erklaumlren will ihr geht es vielmehr vor allem darum klarzustellen daszlig wenn ein spezifi scher Satz unsinnig ist er es auch wirklich ist und daszlig es inkonsequent ist sozusagen einen raquoSinn zweiter Ordnunglaquo einzufuumlhren

41 Die starke Konzentration der Diskussion auf Fragen von raquoUnsinnlaquo uumlbersieht haumlufi g daszlig Wittgenstein Unsinn ausgesprochen liebte Einer seiner Lieblingsautoren war Lewis Carroll auf den er haumlufi ger in seinen Schriften anspielt oder verweist und er selbst sam-melte uumlber Jahrzehnte Beispiele besonders absurder Zeitungsartikel Vgl dazu jetzt Brian McGuinness (Hg) Wittgenstein in Cambridge Letters and Documents Oxford 2008 S 192 und 468 auszligerdem Brian McGuinness In Praise of Nonsense (unveroumlffentlicht)

42 Anscombe Introduction (Anm 9) S 162 zit von Diamond Ethics S 15843 Sie fuumlhrt dies an Beispielen des spaumlten Wittgenstein aus der Mathematik (u a den

erwaumlhnten Vorlesungen) und der Ethik in ihrem Beitrag zum Cambridge Companion naumlher aus und erkennt ein solches Vorgehen auch in der Abhandlung und bei Frege wieder

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Wittgensteins Schriften als Ganze zu interpretieren tritt demgegenuumlber ganz in den Hintergrund Insofern ist 654 auch wieder nicht uumlberzube-werten sondern dient nur als ein besonders markanter Ausgangspunkt um verfehlte Auffassungen abzuwehren44 So ist die Abhandlung fuumlr Dia-mond kein Buch uumlber Logik denn ein solches kann es streng genommen ebenfalls nicht geben Die Logik ist vielmehr raquodem was Saumltze sind bereits intern eingeschriebenlaquo (S 151) Anders gesagt Wir koumlnnen an jedem be-liebigen Satz wenn wir nur richtig hinsehen alle Elemente der richtigen logischen Auffassung aufweisen und daher ist jeder Versuch diese vor-gaumlngige Struktur explizit zu machen immer etwas Nachtraumlgliches das schon raquozu spaumlt kommtlaquo und dadurch stets etwas Schiefes eben Unsinniges an sich hat Der eigentliche Ausdruck von Wittgensteins philosophischen Auffassungen sind daher nicht irgendwelche Inhalte seines Buches son-dern die Art wie sie ausgedruumlckt sind (S 170)

Eine besondere Eigenheit fast aller Arbeiten Diamonds ist ihre sehr spe-zifi sche Ausrichtung auf eine je besondere Fragestellung In vielen Faumlllen greift sie charakteristische Fehleinschaumltzungen oder auch nur miszliggluumlckte Formulierungen anderer Autoren auf und erlaumlutert geduldig sorgfaumlltig und oft in wiederholten bisweilen kreisenden Gedankengaumlngen welche Art von Fehleinschaumltzung vorliegt aus der die verungluumlckte Formulierung hervorgegangen ist Ihre Klaumlrungsarbeit bezieht sich fast immer auf einen konkreten Fall nicht auf eine allgemeine These Dadurch sperren sich ihre Texte gegen Lesegewohnheiten die auf Thesen und Argumente oder auf systematische Darlegungen und einen hohen Allgemeinheitsgrad hin ori-entiert sind Besonders instruktiv ist ihre Aufklaumlrung eines Beispiels von Anscombe (raquorsaquoJemandlsaquo ist nicht der Name von jemandemlaquo) in dem sie einen Versuch beleuchtet mit dem Anscombe ihrerseits im Sinne des fruumlhen Wittgenstein eine ganz elementare sprachlogische Klarstellung zu treffen versucht die den Unterschied zwischen Sagen und Zeigen nicht in allge-meiner (raquometaphysischerlaquo) sondern in ganz spezifi scher logischer Absicht betrifft45 Ihr Ergebnis lautet daszlig die Logik und damit die Gebrauchswei-sen von Ausdruumlcken wie raquojemandlaquo im einzelnen sorgfaumlltig beschrieben werden muumlssen daszlig man dies nicht mit einem Satz allein klarstellen kann

44 Die Erfolgsgeschichte der resoluten Lesart haumlngt eng damit zusammen daszlig man das ganze Buch als raquobloszligen Unsinnlaquo auffassen will bei Diamond liegt jedoch genau besehen keine Interpretation des gesamten Buches vor Sie will vielmehr nur einige Kernpunkte klarstellen verknuumlpft diese Klarstellungen allerdings mit einigen allgemeiner klingenden Zusatzbemerkungen

45 Diamond Saying and Showing (wie Anm 12) In diesem Beispiel bleibt jedoch An-scombe die die Frage in einem Streich entscheiden und klaumlren will dem Geist des fruumlhen Wittgenstein naumlher als Diamond mit ihrer sorgfaumlltigen Beschreibung der Sprachspiele mit raquojemandlaquo

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Damit will Diamond einen Beitrag dazu leisten die raquophilosophi sche Klauml-rung zu klaumlrenlaquo (to clarify philosophical clarifi cation)46

Das Ziel ihrer Arbeit ist jeweils die Klaumlrung unuumlbersichtlicher begriff-licher Verhaumlltnisse um so zu einer natuumlrlichen raquorealistischenlaquo Sicht zu kommen47 An Paradoxien ist sie grundsaumltzlich nicht interessiert auszliger insofern es darum geht deren Quellen aufzudecken sie als Symptome von begriffl ichen Unklarheiten zu sehen

Charakteristisch fuumlr Diamonds Vorgehensweise ist auch eine Uumlberle-gung die von einer Bemerkung Kripkes ihren Ausgang nimmt Einmal schreibt Wittgenstein raquoMan kann von einem Ding nicht aussagen es sei 1 m lang noch es sei nicht 1 m lang und das ist das Urmeter in Parislaquo (PhU 50) Kripke nennt diese Behauptung die aus dem Zusammenhang gerissen etwas entschieden Paradoxes hat offensichtlich falsch ohne je-doch den genauen Zusammenhang zu beachten48 Genau darauf kommt es Diamond aber an und sie erlaumlutert detailliert hartnaumlckig und zielstrebig

46 Ebd S 15347 Diamonds Grundanliegen kann man auch so formulieren daszlig sie an die Stelle von

philosophischen raquoPhantasienlaquo die aufs Allgemeine eines zurechtgestellten Sprachgebrauchs gehen eine realistische Einstellung die sich vor allem um Einzelheiten kuumlmmert setzt (The Realistic Spirit in der gleichnamigen Sammlung S 39ndash72)

48 Tatsaumlchlich ist die Bemerkung Kripkes weitaus weniger beilaumlufi g als Diamond sugge-riert Er schreibt raquoWittgenstein sagt etwas sehr Verwirrendes hieruumlber Er sagt raquoMan kann von einem Ding nicht sagen es sei 1 m lang noch es sei nicht 1 m lang und das ist das Urmeter in Paris ndash Damit haben wir aber diesem natuumlrlich nicht irgendeine merkwuumlrdige Eigenschaft zugeschrieben sondern nur seine eigenartige Rolle im Spiel des Messens mit dem Metermaszlig gekennzeichnetlaquo (PhU 50) Das scheint aber in der Tat eine sehr raquomerk-wuumlrdige Eigenschaftlaquo fuumlr einen Stab zu sein Ich denke Wittgenstein muszlig sich hier irren Wenn der Stock 3937 Inches lang ist (ich nehme an daszlig wir einen anderen Standard fuumlr Inches haben) warum ist er nicht 1 m lang Wir wollen jedenfalls annehmen daszlig Witt-genstein sich irrt und daszlig der Stab 1 m lang istlaquo (Kripke Naming and Necessity 1980 Name und Notwendigkeit FrankfurtM 1981 S 65 f) Diamond weist zwar zu Recht darauf hin daszlig Kripkes theoretisches Vokabular nur uumlber Eigenschaften (er diskutiert Fragen von Referenz und sprachlicher Bedeutung separat) nicht aber uumlber raquoStellungen im Sprachspiellaquo verfuumlgt und daszlig er deshalb zur tatsaumlchlich merkwuumlrdigen Deutung des Satzes als raquokontin-gente Wahrheit a priorilaquo (S 68) kommt (Dies entspricht wiederum in einigem der ja auch raquoeigenartigenlaquo Rolle im Sprachspiel) Beim Ausfuumlhren des Beispiels gegen Wittgenstein argumentiert Kripke jedoch intern vollkommen konsistent und faktisch auch an einem Sprachspiel orientiert wenn er (in Klammern) annimmt daszlig wir uumlber einen eigenen unabhaumlngigen Maszligstab fuumlr englische Zoll verfuumlgen Dann naumlmlich kann man das Urmeter ohne weiteres wie jeden anderen Gegenstand auch (auszliger in diesem Spiel dem raquoUr-Yardlaquo das Kripke jedoch nicht erwaumlhnt ndash und insofern hat Kripke die Problematik nur geschickt verschoben) abmessen und das Ergebnis anschlieszligend umrechnen Damit nimmt Kripke Wittgensteins Bemerkung das Paradoxe fuumlhrt dabei allerdings (unkommentiert) einen raquoDoppelstandardlaquo der Messung ein der nicht weiter geklaumlrt wird Die Sorgfalt in Kripkes Ausfuumlhrungen legen daher nahe die Rede davon daszlig Wittgenstein raquoirrelaquo nicht als Hin-weis auf einen einzelnen zufaumllligen Fehler sondern auf eine insgesamt verfehlte Auffas-sung zu verstehen

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wie Wittgenstein zu seiner Aumluszligerung kommt und inwiefern die Institution des Messens davon abhaumlngt daszlig man Maszligstaumlbe einfuumlhrt mit denen dann andere Objekte gemessen werden49 Da Laumlngenangaben entsprechend im-mer auf den Vergleich zu einem Maszligstab bezogen sind entsteht die kuriose Situation daszlig die Laumlnge des Urmeters durch Anlegen an sich selbst be-stimmt werden muumlszligte Nach Kripke ist dies ein Fall von Identitaumlt d h im Fall der Identitaumlt kann man auch ohne jede Messung sagen daszlig das betref-fende Objekt 1 m lang ist (oder eben raquoso lang wie es istlaquo ndash denn wie lang sollte es sonst sein) Damit aber gleicht er den Fall der Messung an den Fall der bloszligen Festsetzung in dem gar keine Messung erfolgt und genau genommen auch keine Messung moumlglich ist (denn man kann keinen Maszlig-stab an sich selbst anlegen weil dazu mindestens zwei Objekte benoumltigt werden) an und uumlbersieht die begriffl iche Verschiedenheit beider Faumllle Durch dieses Beispiel beleuchtet Diamond vor allem den Begriff der Gleichheit bzw Identitaumlt der von Kripke und weiten Teilen der philoso-phischen Tradition als unproblematischer absoluter Fixpunkt in Anspruch genommen wird den Wittgenstein aber einer fruumlhen Kritik (553 ff) und einer spaumlteren genauen Beschreibung (PhU 251 ff) unterzogen hat Zur Aufklaumlrung ist es noumltig den Ort den die Rede von raquogleichlaquo und raquoiden-tischlaquo in der Sprache hat genauer zu beleuchten und zu beschreiben an-statt ihn als quasi sprachunabhaumlngig gegeben einfach vorauszusetzen50

Diamonds Arbeit zielt so durchgehend auf die Klaumlrung scheinbar para-doxer oder merkwuumlrdiger Behauptungen ab und sie sieht ihr Ziel erst dann erreicht wenn aufgezeigt ist daszlig im Sprachspiel alles mit ganz ge-woumlhnlichen Dingen zugeht Paradoxe Behauptungen haben darin keinen Ort Auch ihre Anmerkungen zum Schluszlig von Wittgensteins Abhandlung sind daher systematisch als solche Aufklaumlrungen (etwa der paradoxen Re-deweise von Saumltzen die raquowahr waumlren wenn sie gesagt werden koumlnntenlaquo) zu verstehen auch wenn sie stellenweise selbst sehr uumlberraschend klingen Ihr Grundgedanke lautet jedoch Auch raquounsinniglaquo ist ein ganz gewoumlhn-liches Wort welches Wittgenstein verwendet und wenn er es verwendet dann meint er es auch so wie er es sagt51

49 Diamond betont mit (dem spaumlten) Wittgenstein die grundlegende Bedeutung von sprachlichen Institutionen waumlhrend Kripke konsequent davon absieht und alles als Fakten (unterschiedlicher Art) interpretiert

50 Kripkes Auffassung der Identitaumlt ist sprachunabhaumlngig und sozusagen raquorein objektivlaquo angelegt Fuumlr ihn ist jeder Gegenstand notwendigerweise mit sich selbst identisch und weist eine bestimmte raquoobjektivelaquo Laumlnge auf Wittgenstein dagegen weist darauf hin daszlig auch zum Wort raquoidentischlaquo ein Sprachspiel gehoumlrt das diesem Wort erst seine klare Ver-wendung gibt

51 Einiges spricht jedoch auch dafuumlr daszlig diese Auffassung eher dem spaumlten Wittgen-stein entspricht und daszlig in 654 raquounsinniglaquo gerade nicht im alltaumlglichen Sinn verwendet wird

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5 Es ist bei dieser sehr punktuellen Methodik um so bemerkenswerter und selbst geradezu paradox daszlig Diamonds Ansatz der Ausgangspunkt einer ganzen Richtung der Wittgensteininterpretation und noch dazu der Abhandlung geworden ist Diese Entwicklung hat viel mit der Arbeit von James Conant zu tun der dem Ansatz eine allgemeinere und leichter ein-zuordnende Form gegeben und das Zentrum der Aufmerksamkeit noch viel staumlrker als Diamond auf die Abhandlung und ihren Schluszlig gelenkt hat Conant stellt Wittgensteins Text in einen weiteren Rahmen indem er etwa Wittgenstein mit Kierkegaard Carnap und anderen Autoren ver-gleicht und indem er sich um die Historiographie der Tractatusdeutungen und insbesondere der impliziten Voraussetzungen dieser Deutungen in einer Weise bemuumlht daszlig die resolute Lesart als natuumlrlicher Abschluszlig einer Stufenfolge erscheint Dadurch entsteht der Eindruck daszlig die raquoresolutelaquo Deutung auf uumlberlegene Weise alle vorangegangenen Deutungsversuche in sich aufnimmt und ihnen den gehoumlrigen Platz anweist so daszlig kein sys-tematischer Raum mehr fuumlr Gegenvorschlaumlge bleibt52

In seiner bisher umfangreichsten Darstellung53 gibt Conant zunaumlchst eine Rekonstruktion der rationalen Genese der bisherigen Lesarten die er die raquopositivistischelaquo und die raquoUnsagbarkeitslesartlaquo (ineffability reading) nennt Als deren gemeinsame Grundvoraussetzung arbeitet er die Annahme her-aus daszlig es etwas wie raquogehaltvollen Unsinnlaquo (substantial nonsense) in der Abhandlung geben muumlsse Er zeigt dann auf daszlig und wie sich beide Auf-fassungen gegenseitig bedingen und inwiefern keine von beiden zu einer stabilen und konsequenten (eben raquoresolutlaquo durchhaltbaren) Position fuumlhrt Tatsaumlchlich setzt sich Conant fast ausschlieszliglich mit der von ihm als Stan-dardinterpretation (S 394) angesehenen Lesart und ihrem Hauptvertreter Peter Hacker auseinander54 Die Kernthematik des Aufsatzes der die Me-

52 Der Gestus erinnert stellenweise an Hegels Vorgehen Conant ist auch an anderer Stelle mit weitreichenden Sortiervorschlaumlgen hervorgetreten so etwa in bezug auf Spiel-arten des Skeptizismus wo er eine Cartesische und eine Kantische Spielart des Skeptizis-mus und damit der Philosophie uumlberhaupt unterscheidet (Varieties of Skepticism in D McManus (Hg) Wittgenstein and Skepticism London 2004)

53 James Conant The Method of the Tractatus in Reck From Frege to Wittgenstein daran orientiert sich das Folgende Mehrere Aufsaumltze Conants ergaumlnzen diesen Beitrag noch ndash Durch haumlufi ge Verweise auf einander einen gemeinsamen Aufsatz sowie an beide gerich-tete Kritik ist aumlhnlich wie in der Kopenhagener Deutung der Quantenphysik der Ein-druck entstanden als handele es sich um ein und dieselbe Auffassung Dieser Eindruck taumluscht jedoch in einigen wichtigen Punkten ebenso wie im Fall der Kopenhagener Deu-tung wie aus dem Folgenden klar werden wird

54 Tatsaumlchlich liegt der systematische Schwerpunkt der Kontroverse zwischen ConantDiamond und Hacker auf der Interpretation der Philosophie des spaumlten Wittgenstein die von beiden Parteien als der eindeutig uumlberlegene und bis heute unuumlberbotene philoso-phische Ansatz angesehen wird Diese grundsaumltzliche Debatte um die Deutung von Witt-gensteins Spaumltphilosophie hat erst in Ansaumltzen besonders in einigen Aufsaumltzen von Dia-

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thode der Abhandlung zu klaumlren beansprucht kreist um die Leitbegriffe raquoErlaumluterunglaquo und raquoUnsinnlaquo (S 378) Wie Diamond fi ndet Conant dies bei Frege vorgebildet wobei er dessen Verfahren so zusammenfaszligt daszlig nach Frege raquodie Erlaumluterung logisch einfacher Ausdruumlcke wie Begriff und Gegenstand unvermeidlicherweise mit (dem geschickten Einsatz von) Unsinn arbeiten muszliglaquo (S 387) In der Deutung dieses Verfahrens durch Frege sieht Conant jedoch eine Spannung denn Frege glaubt raquodaszlig er in solchen Faumlllen etwas sagen will was im strengen Sinn nicht gesagt werden kann und druumlckt sich dann so aus daszlig seine Woumlrter einen Gedanken auszudruumlk ken versuchen damit aber notwendigerweise scheiternlaquo (S 391) Damit vertritt Frege aumlhnlich wie Geach und Hacker selbst eine substan-tielle Auffassung von Unsinn55 Nach Conant liegt die Hauptabsicht von Wittensteins Abhandlung nun genau darin eine solche substantielle Auffas-sung von Unsinn nicht zu vertreten sondern zu uumlberwinden Die Unter-scheidung zwischen sinnvollen und nicht sinnvollen Saumltzen liegt nach Conants Deutung nun praumlziser gefaszligt darin raquoEinen Satz als sinnvoll wahr-nehmen bedeutet daszlig man im Satzzeichen das Satzsymbol wahrnimmt Einen Satz als Unsinn wahrzunehmen bedeutet daszlig man im Zeichen kein Symbol erkennen kannlaquo (S 404) Ein Satz ist also dann raquobloszliger Unsinnlaquo wenn eine Zeichenreihe raquokeine erkennbare logische Syntax hatlaquo (S 400) Damit gibt es aber streng genommen keine raquounsinnigen Saumltzelaquo sondern nur Zeichenreihen die auf den ersten Blick wie Saumltze aussehen bei denen aber der Versuch in ihnen eine logische Form aufzufi nden scheitert Die Rede von raquoUnsinnlaquo bezieht sich also nicht auf die Saumltze oder Zeichenrei-hen selbst sondern allein auf unser Scheitern Zentral wird dadurch der Begriff des raquoSymbolslaquo Ein Symbol ist ein Zeichen zusammen mit einer logisch durchsichtigen Verwendungsweise (S 414) Die bekannte Sprach-kritik der Abhandlung (40031) erweist sich so nicht als Versuch die sinn-vollen von den unsinnigen Zeichen(reihen) durch ein Sinnkriterium zu trennen sondern raquodie Quelle des scheinbaren Unsinns liegt in unserer Beziehung zum sprachlichen Zeichen nicht im sprachlichen Zeichen selbstlaquo (S 419) Die Philosophie ist entsprechend Wittgensteins Diktum

mond begonnen Als zentralen Gegensatz zwischen der eigenen Position und derjenigen Hackers formuliert Conant daszlig nach Hacker der fruumlhe Wittgenstein an unausdruumlckbare Wahrheiten glaubte waumlhrend der spaumlte dies als Irrtum durchschaute waumlhrend Wittgen-stein tatsaumlchlich schon in der Abhandlung die darin vorausgesetzte substantielle Auffassung von Unsinn ablehnte Weiter glaubt er in Hackers Deutung des spaumlten Wittgenstein raquoeine verkleidete Fassung der Auffassung die er dem fruumlhen Wittgenstein zuschreibtlaquo zu erken-nen was der wahren Radikalitaumlt dieses Denkens nicht gerecht werde (Conant Two Con-ceptions of Die Uumlberwindung der Metaphysik in Wittgenstein in America (Anm 17) S 13ndash62 hier S 38 Anm 42)

55 In diesem Punkt ist Conant exegetisch weitaus vorsichtiger als Diamond die weniger Scheu hat Frege eine systematisch uumlberzeugende Konzeption zuzuschreiben

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raquokeine Lehre sondern eine Taumltigkeitlaquo Diese Taumltigkeit besteht nach Con-ant darin daszlig eine Illusion von Sinn aufgebaut und am Ende zerstoumlrt wird Das Ziel des Buches ist daher raquonicht eine Einsicht in metaphysische Zuumlge der Wirklichkeit sondern in die Quellen der Metaphysiklaquo (S 421) Nach Conant gibt es im Text nur raquo(scheinbar) eine Lehre uumlber raquodie Gren-zen des Denkenslaquolaquo (S 424) tatsaumlchlich aber sind raquodie Erlaumluterungen des Autors nur dann erfolgreich wenn wir den Haupttext als Unsinn erken-nenlaquo (S 424) Conants Darstellung verleiht der resoluten Lesart dadurch daszlig er aufzeigt wie die grundlegenden Spannungen in den fruumlheren Deu-tungsansaumltzen aufgeloumlst werden koumlnnen den Anschein einer teleologischen Zwangslaumlufi gkeit Nicht zufaumlllig spielt daher die fortgesetzte Auseinan-dersetzung mit der raquoUnsagbarkeitslesartlaquo eine zentrale Rolle in seinen Ausfuumlhrungen Ein nicht zu unterschaumltzender Teil der Anziehungskraft der resoluten Lesart liegt genau darin daszlig sie den einzigen konsistenten wenn auch zunaumlchst uumlberspitzt aber damit zugleich auch brillant wirken-den Ausweg aus den Bemuumlhungen um ein Verstaumlndnis der Logisch-Philoso-phischen Abhandlung zu bieten scheint56

Conants umfangreicher Beitrag zur Festschrift fuumlr Cora Diamond57 verstaumlrkt die genannten Tendenzen noch Dies zeigt sich bereits an der Form Unter dem Titel raquoA Recently Discovered Manuscriptlaquo wird ein gewisser raquoJohannes Climacuslaquo58 als Herausgeber eines Aufsatzes von Con-ant eingefuumlhrt der in Gestalt einer fi ktiven theologischen Auseinanderset-zung um die richtige Wittgensteinorthodoxie eigene (ziemlich dogma-tisch-uneinsichtsvolle) Kommentare zu den einzelnen Teilen von Conants Text abgibt Dieser Text selbst greift schon im Titel und uumlber weite Stre-cken ironisch den Ton theologischer Kontroversen auf Thema der Arbeit ist die umstrittene raquometa-wittgensteinschelaquo Frage ob Anhaumlnger der reso-luten Lesart (die noch einmal zusammenfassend vorgestellt wird) uumlber-haupt uumlber den Spielraum verfuumlgen um einen wesentlichen Unterschied zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein herauszuarbeiten (S 32) Diese Frage geht Conant dialektisch an indem er drei verschie-dene Listen praumlsentiert eine erste (S 49) die scheinbare Lehren der Ab-handlung enthaumllt die aber tatsaumlchlich so Conant Auffassungen sind vor

56 Diese Zwangslaumlufi gkeit tritt in Diamonds Arbeiten weitaus weniger hervor Fuumlr sie ist die Abhandlung ein reiches Buch das zahlreiche ausgesprochen weiterfuumlhrende und faszinierende Passagen enthaumllt die philosophisch weiterhelfen nicht ein Werk das sozu-sagen unter einer Drohung lebt und dessen Leser nach einem Ausweg suchen

57 James Conant Mild-Mono-Wittgensteinianism in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 29ndash142

58 Dieses von Kierkegaard entlehnte Pseudonym verwendet Conant seinerseits in einem Zitat aus der Abschlieszligenden unwissenschaftlichen Nachschrift (31) mit der Bemerkung daszlig Ironie und Ernsthaftigkeit einander nicht ausschlieszligen In fruumlheren Texten hatte Conant raquoClimacuslaquo mit raquoLeiterlaquo uumlbersetzt (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 291)

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denen Wittgenstein seine Leser warnen will eine zweite mit Auffas-sungen die Wittgenstein in der Abhandlung natuumlrlich klar und unkontro-vers erschienen die aber dennoch Ausdruck philosophischer Ansichten sind die er selbst spaumlter als problematisch ansah (S 83)

Damit ist fuumlr eine Differenz zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein ein Spielraum gewonnen der dann durch eine dritte Liste wieder in einen ironischen Schwebezustand gebracht wird indem Conant Saumltze praumlsentiert die man gleichermaszligen dem fruumlhen wie dem spaumlten Wittgenstein zuordnen kann bisweilen indem leichte Variationen des Wortlauts mitgefuumlhrt werden wie raquoDie Logik (Grammatik) muszlig fuumlr sich selber sorgenlaquo (S 106) Conant spricht von raquoAugenblicken atemberau-bender Kontinuitaumltlaquo (S 108) gerade dort wo Wittgenstein die Konzeption der Abhandlung kritisiert (PhU 97ndash133) Als Ergebnis der Untersuchung bleibt so der Eindruck von gleichzeitig auszligerordentlicher Kontinuitaumlt und deutlicher Diskontinuitaumlt in Wittgensteins philosophischer Entwicklung Auch daszlig eine resolute Lesart eher raquoein Programm um das Buch zu lesenlaquo (111 Anm 4) ist als tatsaumlchlich eine durchgehende Lektuumlre ist deutlich ausgesprochen59

Der philosophische Ansatz und Stil Conants ist dem von Diamond in vie-ler Hinsicht entgegengesetzt Waumlhrend Diamond von konkreten Einzelfaumll-len ausgeht und diese im Hin- und Hergehen aufzuklaumlren versucht geht Conant ganz von auszligen mit einem umfassenden Blick in Beziehung zur gesamten Philosophiegeschichte an die Fragen heran Ein bevorzugter Vergleich ist derjenige Wittgensteins mit Kierkegaard insbesondere in der Frage des Verhaumlltnisses des Autors zu seinen Buumlchern60 Man koumlnnte gera-

59 In der gemeinsam verfaszligten Arbeit On Reading The Tractatus Resolutely Reply to Me-redith Williams and Peter Sullivan in M KoumllbelB Weiss Wittgensteinrsquos Lasting Signifi cance London 2004 S 46ndash99 erlaumlutern Diamond und Conant einige Punkte ihres Ansatzes ge-genuumlber Versuchen das Buch als System von Behauptungen zu lesen (Williams) und gegen die Kritik ihre Lesart sei unvollstaumlndig letzteres mit dem Hinweis es handle sich bislang lediglich um ein Forschungsprogramm aber gerade nicht um ein Rezept das eine leichte und zusammenhaumlngende Lektuumlre ermoumlgliche (S 68) Peter Sullivan wird als der produk-tivste Kritiker bezeichnet weil er auf spezifi sche Inkonsistenzen hinweise (vgl die in Anm 64 genannte Arbeit) Sullivans eigene Deutungsvorschlaumlge bleiben jedoch eher tra-ditionellen ontologisch orientierten Ansaumltzen verhaftet (vgl What is the Tractatus About ebenfalls in KoumllbelWeiszlig S 32ndash45) Diese gemeinsame Arbeit verbleibt jedoch insge-samt auf einer sehr allgemeinen und wenig spezifi schen Ebene

60 So etwa Conant Putting Two and Two together Kierkegaard Wittgenstein and the Point of View for Their Work as Authors in T TessinM von der Ruhr (Hg) Philosophy and the Grammar of Religious Belief London 1995 S 248ndash331 Als Zusammenfassung schreibt Co-nant dort daszlig der fruumlhe Wittgenstein aumlhnlich wie Kierkegaard raquoden Leser in die Wahr-heit hineintaumluschen willlaquo zu welchem Zweck er raquoeine ausgefeilte Struktur scheinbarer Behauptungenlaquo verwendet (S 302) Fuumlr ein solches Verstaumlndnis gibt es bei Kierkegaard zahlreiche Hinweise bei Wittgenstein streng genommen keine er will alles raquoklar sagenlaquo

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dezu sagen daszlig sich Conant mehr fuumlr die Frage der Autorschaft als fuumlr das Werk selbst interessiert61 Es geht ihm darum den richtigen Blickwinkel auf das Werk zu gewinnen und den entwickelt er durch weitgespannte Ver-gleiche durch die Analyse der Selbstkommentare und zusaumltzlichen Erlaumlute-rungen Dabei scheint das Ziel vorrangig die Einordnung vorhandener Zu-gangsmoumlglichkeiten zu sein die er dann in eine systematische Ordnung bringt62 Diese Systematik verweist dann gewissermaszligen teleologisch auf eine einzige offene Moumlglichkeit als den richtigen Zugang zu einem Problem oder einem Text Waumlhrend Diamond also einzelne Miszligverstaumlndnisse auf-klaumlrt zieht Conant die groszligen orientierenden Linien63 Damit aber ergaumln-zen beide Ansaumltze einander wiederum in einem Maszlige daszlig sie von auszligen in aller Regel als eine Einheit angesehen werden Erst durch Conants Ord-nungsvorschlaumlge hat Diamonds Ansatz diejenige Uumlbersichtlichkeit und Handhabbarkeit gewonnen die eine breitere Wirksamkeit ermoumlglichen

Einmal schreibt er kritisch raquoDer Verkehr mit Autoren wie Hamann Kierkegaard macht ihre Herausgeber anmaszligend Diese Versuchung wuumlrde der Herausgeber des Cherubi-nischen Wandersmannes nie fuumlhlen noch auch der Confessionen des Augustin oder einer Schrift Luthers Es ist wohl das daszlig die Ironie eines Autors den Leser anmaszligend zu ma-chen geneigt istlaquo (Denkbewegungen [1931] FrankfurtM S 41)

61 In einem fruumlheren Aufsatz The Search for Logically Alien Thought Descartes Kant Frege and the Tractatus in Philosophical Topics 20 (1991) S 115ndash180 vergleicht Conant Witt-gensteins Vorgehen mit einem langen Witz bzw einer Parabel die ein absurdes Gespraumlch wiedergibt in dem ein Pole von einem Juden wissen will worin raquodas Geheimnis der Ju-denlaquo besteht und das nach allerhand Umwegen mit der Einsicht endet daszlig da raquokein Ge-heimnis istlaquo ndash aber so erfahren wir eben das raquoist das Geheimnislaquo (S 160)

62 Conants umfassende Perspektive geht mit einigen Zurechtstellungen bei der Inter-pretation einher die das Material entsprechend dem umfassenden Entwurf leicht umfor-men In seinem langen Aufsatz spricht er Wittgenstein eine besondere Konzeption von Klarheit zu die darin liegen soll daszlig man am Ende das Buch als unsinnig erkennt (374) er uumlbergeht dabei aber daszlig Wittgenstein gegenuumlber Russell unmittelbar auf den voumlllig neu-artigen Inhalt der logischen Konzeption verweist und dabei sogar das Wort raquoTheorielaquo ver-wendet als Ziel formuliert Wittgenstein auch nicht daszlig man bestimmte Konzeptionen als nur scheinbar konsistent erkennen soll (377) sondern daszlig man die Logik der Sprache ein-sehen lernt ohne ein Verstaumlndnis von 654 ist nach Conant kein Verstaumlndnis des Buches moumlglich (378) dies gilt aber angesichts der konzentrierten Form fuumlr jeden Satz des Buches wobei die Schluszligbemerkung eher selbstrefl exiv auf das Buch und die Darstellungsform Bezug nimmt als auf die bis dahin entwickelte Einsicht der gegenuumlber der bloszligen Selbstre-fl exion die Prioritaumlt einzuraumlumen waumlre die Woumlrter raquoUnsinnlaquo und raquoErlaumluternlaquo (378) sind entschieden nicht die Kernbegriffe des Buches zum einen kommen eher die Formen raquoun-sinniglaquo oder raquoes ist ein Unsinnlaquo vor nicht das Substantiv zum anderen sind viel eher raquoKlar-heitlaquo und raquoklarlaquo die zentralen Ausdruumlcke Carnap wird als derjenige hingestellt der nichts verstanden habe aber Wittgenstein hat gerade Carnap 1932 des Plagiats bezichtigt und Conant verkehrt Wittgensteins Aumluszligerung er koumlnne sich raquonicht denkenlaquo daszlig Carnap den Sinn des Buches raquoso ganz und gar miszligverstandenlaquo haben koumlnnte ins gerade Gegenteil und zitiert sie mehrfach (378 Anm 9 Anm 99 als Motto in Two Conceptions wie Anm 54)

63 Relativ haumlufi g verwendet Conant auch ganz traditionelle Ordnungsinstrumente wie raquoArtlaquo und raquoGattunglaquo (vgl Conant Method (Anm 53) S 435 Anm 43 436 Anm 48)

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Ein Punkt hat Kritiker besonders irritiert naumlmlich Diamonds und Co-nants Bestehen darauf daszlig der Text streng und konsequent stuumlckweise (piecemeal) gelesen werden soll Dies scheint mit der radikalen Grundten-denz nicht recht vereinbar oder die Radikalitaumlt doch stark abzuschwaumlchen ndash es koumlnnte aber dazu fuumlhren daszlig man das Gewicht der bisweilen daran angeknuumlpften allgemeineren Betrachtungen als wesentlich geringer anse-hen koumlnnte als es derzeit in aller Regel geschieht Tatsaumlchlich ist der stuumlckweise Zugang sehr charakteristisch fuumlr Diamonds Methode und die allgemein gehaltenen radikalen Thesen wirken in ihren Texten eher wie Fremdkoumlrper Die raquoTheselaquo von der notwendig stuumlckweisen Interpretation reduziert sich daher im Kern auf die wichtige aber unspektakulaumlre me-thodische Beobachtung daszlig es ohne Zweifel richtig ist daszlig man die Ab-handlung sorgfaumlltig langsam und schrittweise entschluumlsseln muszlig gerade damit man die einheitliche und uumlbergreifende Konzeption (und daran ist nichts stuumlckweise und zusammengebastelt) genau richtig auffassen kann

6 Tatsaumlchlich sind die Vertreter der resoluten Lesart insgesamt weit erfolgreicher in der Kritik konkurrierender Ansaumltze als in der Interpreta-tion des Textes selbst Ein groszliger Teil der Debatte wird in der Gestalt von Auseinandersetzungen um das richtige Verstaumlndnis bzw den Maszligstab fuumlr eine angemessene Interpretation gefuumlhrt Dies ist in gewissem Sinne fol-gerichtig denn ein Textverstaumlndnis im gewoumlhnlichen Sinn des Wortes kann es von einem im strengen Sinn unsinnigen Text ja kaum geben Die Debatte behandelt deshalb vorrangig Fragen wie die welches denn der raquoZweck des Unsinnslaquo sei64 Dazu hat Michael Kremer Vorschlaumlge entwi-ckelt die die ethische Dimension des Buches herausarbeiten65 Er zieht Vergleiche zu Wittgensteins Beschaumlftigung mit ethischen und religioumlsen Fragen etwa dem Neuen Testament und dem Gedanken daszlig wir einse-hen muumlssen daszlig wir die raquoSuche nach einer Rechtfertigung unseres Lebens aufgeben muumlssenlaquo (S 56) weil der Versuch einer solchen Selbstrechtferti-gung ein Akt des Hochmutes waumlre Als Ergebnis glaubt er festhalten zu muumlssen daszlig das Buch ein raquoknow-howlaquo kein raquoWissen-daszliglaquo vermittelt raquoDieses Buch und seinen Autor zu verstehen bedeutet zu lernen wie man lebtlaquo66 (S 62) In aumlhnlicher Weise deutet Kremer die Frage nach der

64 Michael Kremer The Purpose of Tractarian Nonsense in Nous 35 2001 S 39ndash73 Darauf reagiert Sullivan mit detaillierter Einzelkritik On Trying to be Resolute A Response to Kremer on the Tractatus in European Journal of Philosophy 10 (2002) S 43ndash78 (vor allem S 66ndash68 mit Hinweisen auf die spaumlrlichen Textbelege)

65 Fragen der Ethik spielen uumlberhaupt in den Arbeiten von Diamond Conant und an-deren resoluten Lesern eine groszlige Rolle was aber hier nicht im einzelnen verfolgt werden kann

66 Schon Diamond Ethics (Anm 37) S 169 spricht als Ziel an daszlig wir raquokeine falschen Anforderungen an die Welt stellenlaquo sollen

115Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

raquoWahrheit des Solipsismuslaquo dahingehend daszlig es darum geht den eigenen Stolz zu uumlberwinden67 Selbst die Frage nach dem raquoHauptproblem der Phi-losophielaquo naumlmlich der Unterscheidung von Sagen und Zeigen versucht Kremer so zu beantworten daszlig Wittgenstein vor allem vor der unberech-tigten und zu vorschnellen Anwendung dieser Unterscheidung warnt (und er will zeigen daszlig insofern diese Unterscheidung als Hauptproblem ange-sprochen wird Wittgenstein dieses Problem raquoloumlsenlaquo will)68 All diese Vor-schlaumlge lenken jedoch systematisch von einer tatsaumlchlichen Lektuumlre von Wittgensteins Buch eher ab

Innerhalb der resoluten Stroumlmung ist Juliet Floyd als radikale raquoJakobine-rinlaquo bezeichnet worden weil sie schon fuumlr den fruumlhen Wittgenstein gene-rell die Existenz einer einheitlichen Auffassung von Logik Bedeutung Sagen und Zeigen aber auch eines eindeutigen Ideals der Klarheit leug-net69 Sie nennt Wittgensteins Vorgehen dialektisch bzw refl ektierend (S 188) so daszlig Wittgenstein nicht auf eine einzelne Stoszligrichtung hin festzulegen ist Dadurch wird zum einen erneut die Moumlglichkeit in Frage gestellt den Text uumlberhaupt einigermaszligen einheitlich zu interpretieren zum anderen eroumlffnen sich Moumlglichkeiten relativ frei auch wieder kon-struktivere (S 187) Zuumlge festzustellen Wenn Floyd als Grundgegensatz der Deutungen die Frage betont ob man Wittgenstein so versteht als wolle er raquodie Endlichkeit oder expressive Begrenztheit der Sprache beto-nenlaquo oder ob er die raquooffene Entwicklung und Vielfalt menschlicher Aus-drucksmoumlglichkeitenlaquo (S 177) herausarbeiten will dann steht auch dies nur in einem eher lockeren Bezug zum Text Genau an dieser Stelle setzen die wichtigsten Kritiker an

7 Als prominentester und heftigster Kritiker ist Peter Hacker hervor-getreten70 Hacker kritisiert und polemisiert aus einer Position der exten-

67 Michael Kremer To What Extent is Solipsism a Truth in Stocker Post-Analytic Tractatus S 59ndash84 Das ist eine sehr ungewoumlhnliche Lesart dieser sonst erkenntnistheore-tisch aufgefaszligten Passage

68 Michael Kremer The Cardinal Problem of Philosophy in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 143ndash176 Kremers Deutung beruht vor allem darauf daszlig Wittgenstein in seinem Brief an Russell (15 8 1919) diese Unterscheidung einmal als raquoHauptpunktlaquo und dann auch als raquoHauptproblemlaquo anspricht Kremer deutet dies so daszlig die Unterscheidung als zu loumlsendes raquoProblemlaquo aufgefaszligt wird

69 Juliet Floyd Wittgenstein and the Inexpressible in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 177ndash234 hier S 185 und 196

70 Hackers Schriften dienen zugleich umgekehrt Diamond und Conant als Illustrati-onen fuumlr die raquoStandardlesartlaquo und dafuumlr wie man Wittgenstein nicht interpretieren sollte so schon 1985 in Diamond Throwing Away the Ladder (Anm 30) S 194 als Beispiel fuumlr raquochickening outlaquo Hacker ist auch als einziger Kritiker im Sammelband New Wittgenstein vertreten Was he Trying to Whistle It in New Wittgenstein S 353ndash388 Sein Sammelband Connections and Controversies Oxford 2001 enthaumllt neben dem Nachdruck auf S 98ndash140 noch eine Fortsetzung When the Whistling Had to Stop S 141ndash169

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siven Kommentieung des spaumlten Wittgenstein und zugleich des philo-sophischen Common Sense heraus Er sieht in der Abhandlung raquoeine ver-bluumlffende Lehre auf verbluumlffende Weise dargebotenlaquo (S 353) ndash diese Charakterisierung entnimmt er jedoch nicht erst seinen neuen Gegnern sondern einer eher traditionellen realistisch-metaphysischen Deutung von David Pears Hacker versteht das Buch als einen gescheiterten Versuch wesentliche Wahrheiten die nicht gesagt werden koumlnnen dennoch zu zeigen Dies sieht er als gesichertes Faktum an dessen Vorhandensein er mit Energie gegen Versuche es zu leugnen untermauert Dazu zaumlhlt er zehn Beispiele solcher Versuche auf von logischen Beziehungen zwischen Saumltzen bis zur Harmonie zwischen Gedanke Sprache und Wirklichkeit (S 353ndash355) und stellt sich ganz auf die Seite schon der fruumlhen Kritiker besonders des Wiener Kreises die den Schluszlig des Buches raquoganz unglaub-wuumlrdig fandenlaquo (S 355)71 Er nennt den Ansatz von Diamond und Conant raquopostmodernlaquo offenbar darauf berechnet zu provozieren jedoch frei von ernsthaften Absichten nicht aber das Buch richtig einschaumltzen zu wollen (S 356)72

Hacker sieht das Buch als offensichtlich inkonsistent an und beruft sich dabei auf Wittgensteins spaumltere Meinung zur Bestaumltigung dieses Faktums (S 370) Von daher fallen alle Versuche das Buch insgesamt nachzuvoll-ziehen zwangslaumlufi g ebenfalls der Inkonsistenz anheim Als Maszligstab der Inkonsistenz dient ihm dabei die Unvereinbarkeit und Widerspruumlchlich-keit der im Buch vorgetragenen (raquogesagtenlaquo oder raquogezeigtenlaquo) Lehren Da-mit aber stellt sich Hacker explizit auf einen Standpunkt den Wittgenstein fuumlr sein eigenes Werk ablehnt das ja explizit raquokein Lehrbuchlaquo (Vorwort) sein will Hacker reduziert das Buch auf einen Lehrinhalt den er unzurei-chend fi ndet ndash der Gegensatz zu Diamond und Conant liegt bereits hier denn beide Seiten differieren vor allem darin was das Buch eigentlich

71 In dieser Hinsicht stimmt seine Einschaumltzung mit derjenigen Conants uumlberein der seinerseits Hacker in die Naumlhe Carnaps plaziert (Two Conceptions of Die Uumlberwindung S 14 ff) Ohne Hacker sofort zu nennen schreibt Conant Carnap (wie spaumlter Hacker) eine substantielle Auffassung von Unsinn zu

72 Hacker lehnt sowohl die Abhandlung als auch Freges philosophische Grundkonzepti-on ab und setzt sie als verfehlten Versuch in scharfen Kontrast zum Denken des spaumlten Wittgenstein Diese Haltung wird in seinem Kommentar zu den Philosophischen Untersu-chungen deutlich besonders eklatant jedoch in dem (gemeinsam mit Gordon Baker ver-faszligten) gegen Dummetts Fregedeutung geschriebenen Frege Logical Excavations (Oxford 1984) Das Auftreten der resoluten Lesart gibt Hacker daher nicht den Grund zu seiner Ablehnung des fruumlhen Wittgenstein sondern vor allem den Anlaszlig seine Gruumlnde zu buumln-deln und erneut vorzubringen (Der verstorbene Gordon Baker der zunaumlchst gemeinsam mit Hacker mehrere Baumlnde zum spaumlten Wittgenstein verfaszligte dann aber seinen Ansatz weiterentwickelte und dabei in einigen Punkten der resoluten Lesart nahekam sei hier noch erwaumlhnt vgl Baker Wittgensteinrsquos Method Neglected Aspects Oxford 2004)

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leisten will Hacker sieht einen eklatanten Gegensatz zwischen Wittgen-steins Erklaumlrung nichts lehren zu wollen und seinem tatsaumlchlichen Vor-gehen seine Gegner versuchen gerade diese Aumluszligerungen Wittgensteins zu verstehen und ihnen entsprechend den Text so zu lesen daszlig er keine raquoLehrenlaquo enthaumllt sondern auf andere Art und Weise arbeitet

Hacker versucht entsprechend auch nicht Diamond und Conant ge-recht zu werden sondern listet vor allem eine Reihe von Kritikpunkten auf Zum einen weist er auf eine gewisse hermeneutische Willkuumlr hin mit der nur relativ wenige insgesamt unzusammenhaumlngende Partien herange-zogen werden wobei einige Passagen doch wieder als ganz gewoumlhnlich und sinnvoll gelesen werden ohne daszlig eine klare Abgrenzung nach Kri-terien gegeben wuumlrde Die haumlufi g verwendete Rede vom raquoRahmenlaquo des Buches im Unterschied zum raquoHauptteillaquo bleibt ihm zufolge unklar abge-grenzt da zum Rahmen auch Bemerkungen wie 4112 aus der Mitte des Textes gezaumlhlt werden73 Im Zusammenhang damit weist er darauf hin daszlig zwischen den Arten von Unsinn doch ein Unterschied gemacht wer-de wenigstens nach der Wirkung auf den Leser74 Und schlieszliglich ver-sucht er nachzuweisen daszlig Wittgenstein selbst weder in seiner fruumlheren noch in seiner spaumlteren Zeit eine solche radikale Lesart seiner eigenen Ar-beit vorgetragen oder unterstuumltzt habe

Eine spezielle Streitfrage liegt darin ob es nach Wittgenstein raquoUumlbertre-tungen der logischen Syntaxlaquo geben koumlnne Diamond und Conant be-haupten nein Hacker versucht an Beispielen aufzuzeigen daszlig Wittgen-stein dies wiederholt anspricht (S 365ndash367)75 Der grundlegende Dissens betrifft hier die Frage ob Wittgenstein sich vorrangig um den Begriff und die Festlegung einer logischen Syntax als Einfuumlhrung sinnvoller Rede be-muumlht denn wenn es um die Festlegung und ggf die Erweiterung und Ver-aumlnderung von Sinn geht dann gibt es nichts was uumlbertreten oder verfehlt werden koumlnnte ndash oder aber ob Wittgenstein wie Hacker ihn liest jemand ist der vor allem schon bestehende syntaktische Systeme betrachtet und dabei die Moumlglichkeiten behandelt sich gegenuumlber den Vorschriften be-

73 Conants Auskunft daszlig nicht der Ort im Text sondern die Funktion der Bemerkung daruumlber entscheide ob es zu Rahmen oder Hauptteil gehoumlre vermag als Gegenargument nicht wirklich zu uumlberzeugen

74 Dies leugnen Conant und Diamond keineswegs nur kommt es ihnen gerade auf den Unterschied zwischen logischen und anderen Einteilungsgruumlnden an

75 Dieser Punkt ist auch deswegen zentral weil fuumlr Hacker Unsinn genau dadurch ent-steht daszlig man die logische Syntax verletzt (Was he Trying S 367) waumlhrend fuumlr Conant und Diamond Unsinn dann vorliegt wenn wir mit einer Zeichenreihe schlicht nichts anfangen koumlnnen also kein Symbol darin erkennen Dieser Frage widmet Hacker den Aufsatz Wittgenstein Carnap and the New American Wittgensteinians in Philosophical Quar-terly 53 (2003) S 1ndash23 und Diamond die Entgegnung Logical Syntax in Wittgensteinrsquos Tractatus in Philosophical Quartely 55 (2005) S 78ndash88

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stimmter Systeme abweichend zu verhalten und ihre Regeln zu verletzen Die Frage ist ob Wittgenstein die Syntax mit einem bestehenden Spiel analog setzt oder nicht76 Fuumlr beide Aspekte gibt es Belege im Text77

Eine gewisse Uumlbereinstimmung zwischen Hacker und seinen Gegnern liegt ironischerweise darin daszlig keine der beiden Seiten eine durchge-hende Interpretation der Abhandlung anstrebt Hacker haumllt dies aufgrund der Inkonsistenz fuumlr uninteressant (wenn auch theoretisch moumlglich) Dia-mond ist vorrangig an Einzelfragen und am methodischen Standard des spaumlten Wittgenstein interessiert (wozu sie in der Abhandlung letztlich doch nur eine Vorstufe fi ndet) und Conant ist hauptsaumlchlich damit beschaumlftigt vorgaumlngige Kriterien fuumlr eine uumlberzeugende Lektuumlre zu entwickeln78

Als zentrale unbeantwortete Frage bleibt daruumlber hinaus das Problem bestehen wie man Wittgensteins Sprache und die Art seiner Behaup-tungen im Text konsequent aufzufassen hat denn hier weist Hacker auf deutliche Inkonsistenzen der resoluten Leser hin Zum einen wird von raquobloszligem Unsinnlaquo gesprochen dann wieder werden Passagen so gelesen wie gewoumlhnliche behauptende Prosa zum einen ist von Ironie die Rede dann wieder scheint alles ganz woumlrtlich aufzufassen zu sein79

8 Marie McGinn hat den bisher ehrgeizigsten Versuch unternommen die Staumlrken beider konkurrierender Ansaumltze zu verbinden und die jewei-

76 Vgl Diamond (wie die vorige Anm) S 86 Hacker vertritt hier einen eher kantischen Ansatz der die Grenzen der Vernunft bereits abgesteckt vorfi ndet (ein fuumlr Hacker wichtiges Buch ist P Strawsons Kantdeutung in The Bounds of Sense) Diamond und Conant sehen Wittgenstein als radikaleren Denker nach dem diese Grenzen immer wieder neu bestimmt werden muumlssen bzw nach dem es genau genommen keine Grenzen gibt da das Entschei-dende die Moumlglichkeit neuer Begriffsbildungen ist ohne daszlig man sich an irgendeiner Vorgabe (oder Grenze) orientieren kann die man entweder trifft oder verfehlt

77 Zum einen schreibt Wittgenstein raquoWir koumlnnen einem Zeichen nicht den unrechten Sinn gebenlaquo (54733) also bei der Bedeutungsfestsetzung nichts verfehlen zum anderen erklaumlrt er schlicht Saumltze wie raquo1 ist eine Zahllaquo (41272) die sich auf unsere bestehende Spra-che beziehen fuumlr unsinnig weil darin das Wort raquoZahllaquo als gewoumlhnliches Begriffswort statt als raquoformaler Begrifflaquo und also falsch verwendet wird Daszlig 1 eine Zahl ist ist schon da-durch klar daszlig wir das Zahlzeichen 1 verwenden und gerade deshalb koumlnnen wir dies nicht noch zusaumltzlich behaupten Es ist allerdings richtig daszlig Wittgenstein im letzteren Fall strenggenommen nicht von der raquoVerletzung der logischen Syntaxlaquo spricht sondern das Gebilde einfach raquounsinniglaquo nennt da fuumlr solche Faumllle gar keine logische Syntax im exakten Sinn verfuumlgbar ist Die gesamte Abhandlung ist in dieser Hinsicht nirgends der Versuch eine vorliegende Syntax zu treffen aber auch nicht eine neue Syntax festzulegen sondern sie befaszligt sich vielmehr mit den Bedingungen der Moumlglichkeit von Syntax uumlberhaupt Insofern verfehlen sowohl Hacker auch Diamond und Conant diesen Kernpunkt des Buches

78 So etwa im Abschnitt What makes a Reading resolute in Mono-Wittgensteinianism S 42ndash47

79 Vgl dazu W Kienzler Die Sprache des Tractatus Klar oder deutlich Karl Kraus Witt-genstein und die Frage der Terminologie in F GoumlppelsriederJ Volbers (Ed) Philosophie als Lebensform Muumlnchen 2008 (im Erscheinen)

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ligen Schwaumlchen zu vermeiden80 Sie will Wittgenstein keine metaphy-sischen Lehren zuschreiben81 aber doch sicherstellen daszlig wir aus dem Buch etwas Konstruktives lernen koumlnnen Dazu nimmt sie den Begriff der Klaumlrung als Orientierungspunkt Die Aufgabe des Buches ist es demnach die Logik der Sprache aufzuklaumlren Wenn dies aber ohne die Verwendung positiver Lehren geschehen soll muszlig es indirekt geschehen naumlmlich da-durch daszlig die Sprache sich indirekt selbst klaumlrt das heiszligt daszlig eine solche Klaumlrung nicht auf etwas auszligerhalb der Sprache Bezug nimmt denn das waumlre Kennzeichen einer metaphysischen Auffassung McGinn schreibt et-was kryptisch raquoEs ist ein Werk in dem die Natur des Satzes die schon klar ist obwohl wir sie noch nicht klar sehen sich selbst fuumlr uns klaumlrtlaquo82

Sie betont jedoch sehr zu Recht daszlig Wittgenstein in seiner Abhandlung die eine groszlige Frage loumlsen wollte raquoDas Wesen des Satzes angeben heiszligt das Wesen aller Beschreibung angeben also das Wesen der Weltlaquo (54711)83

Damit aber waumlren alle (oder raquodielaquo) philosophischen Probleme geloumlst Ohne eine solche Voraussetzung die Wittgenstein offenbar als grundle-gende Einsicht erschien ist seine Handlungsweise gar nicht nachvollzieh-bar naumlmlich ein uumlberaus kurzes Buch zu verfassen in dem alle philoso-phischen Fragen im Prinzip jedenfalls beantwortet sind Dies ist nur moumlglich wenn diese Fragen so eng zusammenhaumlngen daszlig die Loumlsung der einen zugleich die Loumlsung der anderen bedeutet Dieser Grundgedanke strukturiert McGinns Buch und gibt ihm eine klare Linie84 Sie untersucht die besonders von Conant behandelten Fragen nach den Bedingungen einer angemessenen Lektuumlre fast gar nicht und antwortet insofern nicht durch Gegenargumente sondern durch die Tat durch einen Gang durch das Buch Es uumlberrascht dabei daszlig sie den Anfang zunaumlchst weglaumlszligt und nach Einleitungskapiteln zur Abgrenzung gegen Frege und Russell gleich mit dem Begriff des Bildes und dann des Satzes beginnt Tatsaumlchlich zeigt McGinn uumlberzeugend auf daszlig die Eingangspassagen am besten als Hin-fuumlhrungen zur raquoTheorie des Satzeslaquo aufgefaszligt werden und nicht als eigen-staumlndiges Theoriestuumlck einer vorangestellten Ontologie (sei diese nur scheinbar als Illusion aufgebaut oder ernst gemeint vgl etwa Diamond

80 Marie McGinn Elucidating the Tractatus81 Marie McGinn Between Metaphysics and Nonsense Elucidation in Wittgensteinrsquos Tracta-

tus In Philosophical Quarterly 49 (1999) S 491ndash513 hier S 107)82 Damit bleibt McGinn nahe an Aumluszligerungen von Diamond und Conant (etwa Method

S 424)83 Zit in McGinn Elucidating S 24084 Das erste Kapitel The Single Great Problem behandelt diese Frage zeigt aber bereits

daszlig sich McGinn nicht vollstaumlndig auf den Text einlaumlszligt sondern ihn von Anfang an stark aus der Perspektive der Philosophischen Untersuchungen her deutet (die im letzen Kapitel er-neut den Maszligstab der Betrachtung bilden)

120 Wolfgang Kienzler PhR

Ethics S 160) Vor dem Hintergrund der Auffassung des sinnvollen Satzes wird der Anfang dann relativ leicht verstaumlndlich In der Darstellung von McGinn wird die Abhandlung wieder zu einer Abhandlung einer nuumlch-ternen Darlegung uumlber die Voraussetzungen sinnvollen Sprechens und Ausdruumlckens uumlber die Unterschiede der Satzarten und die allgemeine Form des Satzes Allerdings ruumlcken so die Einzelheiten der Sprachlogik ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit und die Fragen nach der Natur der Philosophie aber auch die nach der Einheit des Buches treten ganz in den Hintergrund Das Buch enthaumllt kein Kapitel zum Philosophiebegriff des fruumlhen Wittgenstein und kaum Erlaumluterungen zur spezifi schen Form der Darstellung oder zur Strategie der Praumlsentation Einige Themen wie die Ethik Arithmetik oder die Naturgesetze werden ganz uumlbergangen dabei waumlre an diesen Beispielen die angestrebte Einheitlichkeit erst richtig aufzuzeigen gewesen In dieser Hinsicht erklaumlrt McGinn die Abhandlung in der Form die sie 1916 noch hatte bevor Wittgenstein die Schluszligpassa-gen einarbeitete und als sie noch staumlrker eine Abhandlung in raquophiloso-phischer Logiklaquo war85 Gegen Diamond und Conant stellt sie klar heraus daszlig das Ziel der Klaumlrung raquodurch Einsicht in das Funktionieren der Spra-chelaquo erreicht werden soll und nicht indirekt dadurch daszlig raquodie Versuche philosophische Saumltze zu bilden als Unsinn erkannt werdenlaquo (S 254 Anm 6) Die sehr nuumlchterne Art McGinns zeigt einen Wittgenstein der ganz unironisch seine logisch-philosophische Konzeption Schritt fuumlr Schritt entwickelt86

85 Vgl Brian McGuinness Wittgensteinrsquos 1916 Abhandlung in R HallerK Puhl (Hg) Wittgenstein and the Future of Philosophy Wien 2002 S 272ndash282 Die grundlegenden philologischen Arbeiten von McGuinness werden in der gegenwaumlrtigen Debatte leider wenig fruchtbar gemacht

86 Das stark gestiegene Interesse am fruumlhen Wittgenstein hat eine ganze Reihe von Monographien hervorgebracht die jedoch nur selten das gelassene exegetische Niveau McGinns erreichen sondern in der Regel mehr oder weniger exzentrische Deutungen in den Mittelpunkt stellen

M Ostrow Wittgenstein and the Liberating Word CambridgeMass 2002 (eine Zusam-menfassung in Reck From Frege to Wittgenstein) versucht eine an Floyd orientierte raquodialek-tische Interpretationlaquo die sich am Leitmotiv des raquoerloumlsenden Worteslaquo orientiert aber ins-gesamt zu vage bleibt zumal sich die Differenz zum spaumlteren Wittgenstein ganz aufzuloumlsen scheint und wichtige Passagen unberuumlcksichtigt bleiben

E Friedlander Signs of Sense Reading Wittgensteinrsquos Tractatus Cambridge Mass 2001 scheint das Raumltselhafte geradezu zu genieszligen und nennt als sein Ziel raquonicht das Raumltsel des Buches zu loumlsen sondern seinen raumltselhaften Charakter auf eine wahrhaft zum Denken herausfordernde Art aufzuzeigenlaquo (S XV) und will geradezu raquoseinen raumltselhaften Charak-ter rechtfertigenlaquo (16)

U Nordmann Wittgensteinrsquos Tractatus An Introduction Cambridge 2005 faszligt das Buch als ein Gedankenexperiment und eine groszlige Reductio ad Absurdum auf zu der er einige Praumlmissen ergaumlnzt Er deutet das Buch als im Konjunktiv geaumluszligert wodurch der Behaup-

121Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Ausblick

Die Arbeiten von Diamond und Conant haben zu einer neuen Welle des Interesses an Wittgensteins Fruumlhwerk gefuumlhrt und die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten vor allem aber auch das Potential seiner Abhandlung gelenkt Im Zentrum steht dabei die Natur der Philosophie als Erlaumlute-rung die selbst nicht in die Gestalt einer Lehre gebracht werden kann oder anders ausgedruumlckt der entscheidende Unterschied zwischen einer philosophischen und einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Untersu-chung

Gerade dadurch daszlig sie die Abhandlung stellenweise sehr nah an den spaumlten Wittgenstein heranruumlcken eroumlffnen Conant und Diamond Moumlg-lichkeiten die Souveraumlnitaumlt und Subtilitaumlt des Buches erst richtig zu wuumlr-digen Dies geschieht jedoch um den Preis daszlig einige Teile des Buches herausgegriffen andere dagegen kaum beruumlcksichtigt werden

Nicht hinreichend geklaumlrt scheint auch die Frage nach dem sprachlichen Grundton des Buches Diamond geht immer wieder von einem nahe an der Alltagssprache stehenden Redegestus aus (aumlhnlich wie der spaumlte Wittgen-stein) waumlhrend Conant aus der weiteren Perspektive ironische Zuumlge be-schreibt87 Gemeinsam ist den resoluten Lesern daszlig sie Wittgensteins Saumltze in der Abhandlung auf doppelte Weise auffassen Sie unterscheiden an vielen Stellen einen buchstaumlblichen naheliegenden Sinn der sich bei naumlherer Be-trachtung als inkohaumlrent erweist und der so zerfaumlllt88 Daher wird in ihrer

tungscharakter eingeklammert die Klaumlrungsfunktion jedoch trotzdem ermoumlglicht wird Er gewinnt so eine Kategorie von Saumltzen die raquounsinnig aber bedeutungsvolllaquo (176) sind

L Gunnarsson Wittgensteins Leiter Bodenheim 2002 greift einen Gedanken Conants auf daszlig wir naumlmlich den Hauptteil des Buches wegwerfen und den Rahmen behalten sollen (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 286) und entwickelt daraus die Fik-tion es waumlre tatsaumlchlich nur das Vorwort und der Schluszlig der Abhandlung erhalten ndash und will daraus den Gehalt des Buches ohne Verlust rekonstruieren Diese Veranschaulichung zeigt besonders klar auf wie verfehlt dieser Ansatz ist wenn man ihn auf die konkrete Interpretationspraxis bezieht

87 Die Parallele zwischen Wittgenstein und Kierkegaard scheint in zentralen Punkten gerade nicht zu bestehen denn Wittgenstein distanziert sich gerade nicht von seinem Buch sondern erklaumlrt seine Auffassungen fuumlr defi nitiv richtig und alternativlos ganz ent-gegen dem verwirrenden Spiel Kierkegaards mit unterschiedlichen Pseudonymen und Perspektiven Ein passenderer Vergleich waumlre etwa mit Hume moumlglich der am Ende seiner Untersuchung uumlber die Prinzipien der Moral (Abschnitt 9 Teil 1) seine Ergebnisse fuumlr derart einfach klar kohaumlrent und uumlberzeugend haumllt daszlig dem nichts hinzuzufuumlgen ist so daszlig er selbst geradezu in Versuchung kommen koumlnnte dogmatisch davon uumlberzeugt zu sein

88 So fuumlhrt Diamond (in Ethics wie Anm 37) folgende Beispiele dafuumlr an 1 das woruuml-ber man schweigen muszlig (aber das kann es doch nicht geben weil es kein raquodaruumlberlaquo ist S 149) 2 die Saumltze der Abhandlung die zu verstehen seien (oder doch raquoer selbstlaquo wie Witt-genstein dann uumlberraschenderweise sagt S 149) 3 die Anfangssaumltze uumlber die Welt (aber daruumlber kann es doch keine Saumltze geben S 160) 4 der Schein daszlig ab 64 Saumltze uumlber Ethik

122 Wolfgang Kienzler PhR

Perspektive das Buch durchgehend doppelboumldig und loumlst sich schlieszliglich in Nichts auf wobei in der Aufl oumlsung gerade die Absicht des Buches bestehen soll89 Demgegenuumlber kann festgehalten werden daszlig Wittgenstein nir-gends von Ironie spricht wohl aber davon daszlig er das Wesentliche in Kuumlr-ze klar ausdruumlcken will Eine wichtige Differenz innerhalb der resoluten Lesart liegt weiter darin welche Wichtigkeit man den eher technischen Aspekten der Abhandlung zuschreibt Ricketts und Goldfarb sehen viele Zuumlge des Buches von technischen Erwaumlgungen motiviert und gepraumlgt waumlhrend Diamond und Conant den Sinn der symbolischen Notation vor allem darin sehen wesentliche Unterschiede klarzustellen90

Das Motto erklaumlrt daszlig man raquoalles was man weiszliglaquo schlieszliglich raquoin drei Worten sagenlaquo kann Viele der scheinbaren Widerspruumlche und Doppelt-heiten die resolute Leser beobachten koumlnnten sich von daher moumlglicher-weise der Absicht verdanken im Buch logisch praumlzise Saumltze zu erwarten eine Absicht die bestaumlndig getaumluscht wird91 Wuumlrde man die Saumltze eher als Instrumente verstehen die allmaumlhlich entsprechend den Stufen der Lei-ter zur Klarheit anleiten ohne daszlig der Leser in die selbstrefl exive Geste verwickelt werden soll dann koumlnnte eine einfachere und klarere Lesart entstehen die auch mehr Sinn fuumlr den Zusammenhang und die spezi-fi schen Darstellungsmittel des Buches entwickeln wuumlrde ndash wenn denn eine solche zusammenhaumlngende Erlaumluterung als gemeinsames Ziel fest-staumlnde92 Auch Fragen der Textkritik die derzeit nur sehr sporadisch ge-streift werden koumlnnten dann eine groumlszligere Rolle spielen

Wolfgang Kienzler (ChemnitzJena)

vorkommen (die es doch gar nicht geben kann S 164) 5 der Schein daszlig im Buch Saumltze raquouumlber Logiklaquo vorkommen (die es ebenfalls nicht geben kann S 164) In allen Beispielen kann man die Situation natuumlrlicher so darstellen daszlig man die Saumltze der Abhandlung von vornherein zwar woumlrtlich aber nicht buchstaumlblich nimmt sondern sich von ihren zur Klarheit die sich erst allmaumlhlich einstellen kann fuumlhren laumlszligt

89 Diese Doppeltheit der Lesart ist den resoluten Lesern und ihren Kritikern gemein-sam sie ist aber keineswegs selbstverstaumlndlich und widerspricht dem Grundgedanken der Klarheit

90 Dies ist das Thema von Diamond What Does a Concept-Script Do in The Realistic Spirit S 115ndash144 Sie sieht darin ein raquoWerkzeug geistiger Befreiunglaquo (143) deutet damit aber tendenziell wieder einen Gedanken der Abhandlung in Frege hinein der zunaumlchst die Umgangssprache ganz zugunsten der exakteren Begriffsschrift verbannen wollte

91 In weiten Teilen der resoluten Beitraumlge kann man auch eine gewisse Vergegenstaumlnd-lichung mancher von Wittgenstein verwendeter Woumlrter wahrnehmen die dazu fuumlhren daszlig die Rede von raquoUnsinnlaquo raquoErlaumluterunglaquo u a zunaumlchst gegenstaumlndlich miszligverstanden und anschlieszligend als Gegenstaumlndlichkeit leugnend gedeutet wird Eine Beachtung von Wittgensteins ungezwungenem und unterminologischem Sprachgebrauch koumlnnte viele dieser Schleifen uumlberfl uumlssig machen

92 Das Buch von McGinn kann dazu als erster wichtiger konstruktiver Schritt angese-hen werden auch wenn es insgesamt etwas zu additiv verfaumlhrt

Page 7: Neue Lektüren von Wittgensteins Logisch-Philosophischer ... · 10 E. Stenius : Wittgensteins Traktat [1960], Frankfurt/M. 1969, nennt den Schluß »keine echte Verdammung [. . .]

101Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen Wittgenstein davor zu ret-ten sich selbst philosophisch mattzusetzen (raquoLudwigrsquos self-matelaquo)26 Geach war damit derjenige der dem Schluszlig des Buches nicht nur besondere Aufmerksamkeit schenkte sondern ihn zum Pruumlfstein uumlber Erfolg oder Scheitern von Wittgensteins fruumlher Philosophie bzw der Versuche sie zu verstehen machte

Fast alle Versuche den Schluszlig zu verstehen knuumlpfen an die im Text zentrale Unterscheidung zwischen raquoSagenlaquo und raquoZeigenlaquo an Wittgenstein selbst nannte sie einmal den raquoHauptpunktlaquo seiner Philosophie (Brief an Russell vom 19 8 1919) und er entwickelt sie bei der Behandlung radikal unterschiedlicher Arten von Saumltzen Empirische oder raquosinnvollelaquo Saumltze vergleicht er mit Bildern die Sachverhalte darstellen Wenn der darge-stellte Sachverhalt besteht ist der Satz wahr wenn er nicht besteht falsch Saumltze sagen daszlig die von ihnen dargestellten Sachverhalte bestehen Sie sind artikuliert und tun dies mit Hilfe ihrer spezifi schen logischen Form Die-se Form raquoweisen sie auflaquo aber sie sagen sie nicht aus sondern raquozeigenlaquo sie Diese beiden Aspekte das von einem Satz Ausgesagte und Behauptete sowie die dabei zum Einsatz kommenden sprachlogischen Mittel trennt Wittgenstein scharf Weiter betont er daszlig die Saumltze der Logik keine Sach-verhalte darstellen sondern bereits aufgrund ihrer Form als korrekt und insofern raquowahrlaquo oder als widerspruumlchlich und insofern raquofalschlaquo zu erken-nen sind Wittgenstein spricht von raquoTautologienlaquo27 und raquoKontradiktionenlaquo Diesen rein formalen Charakter der logischen Saumltze druumlckt Wittgenstein auch so aus daszlig er sie raquosinnloslaquo nennt und bemerkt raquoDie Saumltze der Logik sagen also Nichtslaquo (611)28 Er druumlckt dies auch so aus daszlig logische Saumltze raquozeigen daszlig sie nichts sagenlaquo (4461) Sagen und Zeigen sind fuumlr ihn strikt getrennte Ausdrucksformen raquoWas gezeigt werden kann kann nicht gesagt werdenlaquo (41212) Weiterhin untersucht Wittgenstein die Natur der philo-sophischen Saumltze und kommt zu dem Schluszlig daszlig diese weder zur Gruppe der sinnvollen noch zu der der sinnlosen Saumltze gehoumlren Da seiner Mei-nung nach der Philosophie uumlberdies kein eigener Gegenstandsbereich zugewiesen werden kann erklaumlrt er daszlig die Philosophie raquokeine Lehre sondern eine Taumltigkeitlaquo (4112) sei naumlmlich die Taumltigkeit der logischen

26 Saying and Showing in Frege and Wittgenstein (wie Anm 13 Zit S 54) Diamond deutet den Schluszlig nicht defensiv wie Geach sondern offensiv als Versuch etwas Wichtiges klar-zustellen

27 Wittgenstein etabliert damit eine ganz neue Verwendungsweise des Wortes raquoTauto-logielaquo die durch die aussagenlogischen Wahrheitsbedingungen erklaumlrt ist

28 Wittgenstein verwendet die Ausdruumlcke raquosinnvolllaquo raquosinnloslaquo und raquounsinniglaquo um wichtige Unterschiede lokal zu markieren aber als Terminologie entstammt diese Trias der Sekundaumlrliteratur und der Neuuumlbersetzung des Buches durch David Pears und Brian McGuinness (1961)

102 Wolfgang Kienzler PhR

Klaumlrung der Gedanken und der Klarstellung der grundlegenden Funk-tionsweise des sprachlichen und symbolischen Ausdrucks29

Nach Geach muszlig man Wittgensteins Buch so verstehen daszlig darin zum einen etwas gesagt wird daszlig aber wichtige Zuumlge der Realitaumlt ( features of reality) entsprechend Wittgensteins Analysen nicht gesagt wohl aber ge-zeigt werden koumlnnen Die Schluszligbemerkung waumlre dann so aufzufassen daszlig man einsehen muszlig daszlig die philosophisch wichtigen Einsichten nur gezeigt werden koumlnnen sie damit aber in Saumltzen enthalten sind die streng genommen unsinnig sind weil sie nicht etwas raquosagenlaquo so naumlmlich wie der Terminus raquosagenlaquo in der Abhandlung verwendet wird Geach sieht in dieser Unterscheidung eine Einsicht die Wittgenstein von Frege uumlbernimmt und erweitert

In ihrem Aufsatz Throwing Away the Ladder (1985)30 setzt sich Diamond intensiv mit Geach auseinander und entwickelt daraus wesentliche Ele-mente die die Diskussion bis heute praumlgen Dazu gehoumlrt der Bezug auf Frege In seinen raquoErlaumluterungenlaquo31 logischer Grundbegriffe also dessen was er das raquoLogischeinfachelaquo nennt und was entsprechend durch keine Defi nition weiter zergliedert werden kann spricht Frege deutlich aus daszlig er sich bildlich und unexakt ja teilweise sogar streng genommen falsch ausdruumlcken muszlig um das Gemeinte zu vermitteln32 Das wichtigste Bei-spiel Freges ist die grundlegende Unterscheidung von Gegenstand und Begriff die er so erlaumlutert daszlig Gegenstaumlnde abgeschlossen Begriffe dage-

29 Die Saumltze der Philosophie waumlren nach Wittgenstein daher in Abgrenzung zu den beiden ersten Gruppen als raquounsinniglaquo einzustufen Diese relativ harmlose Deutung die 654 zu einer letztlich terminologischen Bemerkung macht wird von Diamond und Conant jedoch nicht geteilt Es ist eine Staumlrke des Ansatzes von DiamondConant daszlig sie die Abhandlung nicht nach einem terminologischen Schema zu entschluumlsseln versuchen im besonderen Fall von 654 ist ihr Ergebnis dennoch zweifelhaft denn man kann die Bemer-kung als raquoabschlieszligende selbstrefl exive Schluszligbemerkunglaquo verstehen die einfach ein letz-tes zusaumltzliches Licht auf das Ganze werfen und die Klarheit damit abrunden nicht aber diese erst herstellen soll Der Vergleich des Schlusses mit der Pointe eines Witzes die alles in ein voumlllig neues Licht taucht und die Spannung zusammenbrechen laumlszligt (vgl unten Anm 62) wirkt etwas gezwungen In seinen Anweisungen an Ogden (Letters to Ogden Oxford 1973 S 19) fuumlr die Uumlbersetzung des Buches besteht Wittgenstein darauf daszlig der raquoSinn nicht die Woumlrterlaquo uumlbersetzt werden und nennt dann wieder das Ganze raquoUnsinnlaquo dies weist darauf hin daszlig fuumlr ihn das Ganze nicht einfach durch und durch als Unsinn zu bezeichnen ist

30 Throwing Away the Ladder How to Read the Tractatus auch in The Realistic Spirit S 179ndash204

31 Auch dieser Terminus stammt von Frege obwohl er nicht auf den Bereich analy-tischer Philosophie beschraumlnkt ist (vgl M Heideggers Erlaumluterungen zu Houmllderlins Dichtung und das zugehoumlrige Vorwort)

32 Vgl dazu auch Gottfried Gabriel Der Logiker als Metaphoriker Freges philosophische Rhetorik in Gabriel Zwischen Logik und Literatur Stuttgart 1991 S 65ndash88 Auch Gabriel sieht bei Wittgenstein die konsequente Durchfuumlhrung Fregescher Einsichten

103Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

gen ungesaumlttigt sind und eine Leerstelle aufweisen die nur durch einen Gegenstand gesaumlttigt werden kann Dies gilt fuumlr Frege sowohl fuumlr die Be-griffe und Gegenstaumlnde selbst als auch fuumlr die Ausdruumlcke mit denen wir sprachlich Begriffe bzw Gegenstaumlnde bezeichnen Daher ist jedoch fuumlr ihn jeder Ausdruck ohne Leerstelle zwangslaumlufi g ein Gegenstandsname kein Begriffswort Sprachlich gesehen sind alle Ausdruumlcke mit dem be-stimmten Artikel (raquoder Nlaquo) Eigennamen solche mit dem unbestimmten Artikel (raquo ist ein Pferdlaquo) Begriffswoumlrter Damit aber ist ein Ausdruck wie raquoder Begriff Pferdlaquo schon aus syntaktischen Gruumlnden ein Gegenstandsna-me und kein Begriffswort Entsprechend erklaumlrt Frege den Satz raquoDer Be-griff Pferd ist kein Begrifflaquo allein aufgrund der syntaktischen Form fuumlr wahr weil die Worte raquoder Nlaquo und damit auch raquoDer Begriff Nlaquo nur einen Gegenstand bezeichnen koumlnnen Daruumlber hinaus erklaumlrt er daszlig es voumlllig unmoumlglich ist einen wahren Satz der Form raquoDer Begriff F ist ein Begrifflaquo zu bilden da wir an der Subjektstelle immer im logischen Sinn einen Ei-gennamen und kein Begriffswort vorfi nden Wir koumlnnen also nach Frege in gewoumlhnlichen Saumltzen gar keine korrekten Aussagen uumlber Begriffe ma-chen Gegen Geach deutet Diamond diesen Fall nun so daszlig Frege mit dem paradox klingenden Satz seine Leser zur richtigen Einsicht in das Wesen des Begriffs anleiten moumlchte und zwar indem er absichtsvoll etwas Unsinniges sagt in Gestalt einer vorlaumlufi gen Ausdrucksweise (transitional remark) die spaumlter ganz wegfallen kann wenn die Unterscheidung ver-standen worden ist33 Dieses Verstaumlndnis aber zeigt sich so Diamond nicht darin daszlig man einen raquoZug der Wirklichkeitlaquo erfaszligt hat sondern darin daszlig man Freges Notation zu beherrschen gelernt hat Ihr zufolge druumlckt sich in der Notation also in der Schreibweise nicht in einzelnen Behaup-tungssaumltzen34 Freges Unterscheidung von Gegenstand und Begriff am klarsten und eindeutigsten aus und der Sinn der Uumlbergangsbemerkungen liegt demnach einzig darin in den korrekten Gebrauch der Notation und damit des logischen Systems mit seinen eingearbeiteten Unterscheidungen einzufuumlhren Vor diesem Hintergrund gibt es keinen raquoInhaltlaquo der nach der Einfuumlhrung uumlbrig bliebe und damit auch keinen Inhalt den man raquozeigenlaquo muumlszligte oder koumlnnte und daher kann man die Leiter dann wegwerfen (und einfach den Symbolismus richtig anwenden) Eine Deutung wie diejenige

33 Als Fregedeutung kann diese Interpretation nicht uumlberzeugen weil Frege seinen pa-radox klingenden Satz ohne Zoumlgern fuumlr wahr haumllt Aus der Perspektive Wittgensteins je-doch der den Gedanken einer notwendigen strukturellen Parallelitaumlt zwischen raquoZeichen und Bezeichnetemlaquo uumlberwunden hat waumlre diese Deutung uumlberzeugend Man kann Dia-mond in diesem Punkt eine Uumlberinterpretation des fruumlhen Wittgenstein vorwerfen die sie auch noch auf Frege ausdehnt

34 Das heiszligt daszlig Freges Grundunterscheidung sich praktisch an jedem symbolisch no-tierten Satz zeigen laumlszligt

104 Wolfgang Kienzler PhR

Geachs erscheint vor diesem Hintergrund als halbherzig Zum einen meint man daszlig manche wichtigen Saumltze nichts sagen sondern nur etwas zeigen zum anderen aber haumllt man doch daran fest daszlig diese Saumltze einen Inhalt haben und indirekt etwas uumlber die Realitaumlt ausdruumlcken Fuumlr Diamond ist das ein Sich-druumlcken (chickening out)35 Diesem halbherzigen Versuch setzt sie ein konsequentes Ernstnehmen der Unsinnigkeit der Abhandlungssaumltze und des Wegwerfens der Leiter entgegen Der Versuch mit dem raquoUnsinnlaquo Ernst zu machen hat als raquoresolute Lesartlaquo (resolute reading) dem neuen An-satz spaumlter den Namen gegeben36 Diamond stellt die Frage wie ernst man 654 tatsaumlchlich nehmen sollte und weiter ob der Redeweise von raquoZuumlgen der Realitaumlt die nicht in Worten ausgedruumlckt werden koumlnnenlaquo ein Sinn abzugewinnen ist37 Diamonds Antwort ist ebenso einfach wie provokativ Ja die Bemerkung 654 muszlig sehr ernst genommen werden und gerade deshalb kann es keine unausdruumlckbaren Zuumlge der Realitaumlt geben sondern wir muumlssen akzeptieren daszlig die Saumltze der Abhandlung im strengen und gewoumlhnlichen Sinne unsinnig sind sie sind um das Vorwort zu zitieren raquoeinfach Unsinnlaquo Damit aber verliert die Unterscheidung von Sagen und Zeigen ihren quasi-metaphysischen Charakter38

Bemerkung 654 deutet Diamond nun so daszlig Wittgenstein darin einen bewuszligten und wesentlichen Unterschied mache zwischen dem Verstehen seiner Saumltze und dem Verstehen seiner Person (raquower mich verstehtlaquo)39 Man solle naumlmlich verstehen daszlig seine Saumltze nicht zu verstehen sind Wir sol-len genauer gesagt mit unserer Einbildungskraft uns in die Position je-mandes versetzen der glaubt die Saumltze des Buches zu verstehen damit aber sollen wir so Diamond zugleich verstehen daszlig es hier nichts zu verstehen gibt daszlig es sich nur um eine Illusion von Verstehen handelt

35 Systematisch betrachtet kann man darin ein noch zu weitgehendes Festhalten an der grundsaumltzlichen Aumlhnlichkeit der Funktionsweise (oder raquoBezeichnungsweiselaquo) saumlmtlicher Satzarten nach dem Vorbild Freges sehen der die Grundunterscheidung von ZeichenSinn des ZeichensBedeutung des Zeichens uumlberall durchfuumlhren will waumlhrend nach Wittgenstein schon fuumlr logische Saumltze weder von Sinn noch von Bedeutung die Rede sein kann

36 Ricketts spricht in seinem Beitrag zum Cambridge Companion (Anm 19) S 93 von einer raquoresolut und konsistent angewendeten Konzeption der Wahrheitlaquo nach der es raquokeine unausdruumlckbaren Wahrheiten geben kannlaquo In Anschluszlig daran hat sich dann auf eine Anregung Goldfarbs hin die Rede einer raquoresoluten Lesartlaquo eingebuumlrgert

37 Diamond Ethics Imagination and the Method of Wittgensteinrsquos Tractatus (1991) auch in New Wittgenstein S 149ndash173 hier S 181

38 Daszlig die Unterscheidung auf andere Weise logisch zentral ist fuumlhrt Diamond an an-derer Stelle aus (vgl Anm 12)

39 Diamond greift dabei (S 160) indirekt auch den Gedanken Cavells auf daszlig es in Wittgensteins Philosophie immer auch um Selbsterkenntnis geht also um die eigene Per-son Dieses Element spielt vor allem bei anderen Vertretern der resoluten Lesart eine be-traumlchtliche Rolle und traumlgt einiges zu ihrer Attraktivitaumlt bei

105Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

(150) Die Saumltze und damit das Buch sollen als vollstaumlndig unsinnig er-kannt werden ndash davon ausgenommen sind allerdings die Bemerkungen die den Rahmen bilden und in denen Wittgenstein einige Hinweise dar-uumlber gibt wie das Buch aufzufassen ist (S 149)40 Es gibt dabei keine lo-gische wesentliche Unterscheidung zwischen zwei Arten von Unsinn sol-chem der etwas Richtiges zeigt und solchem der schlicht Ausdruck einer Verwirrung ist (wie die Saumltze der traditionellen Metaphysik)41 Daszlig man-che unsinnigen Saumltze als Erlaumluterungen dienen koumlnnen ist diesen Saumltzen ganz aumluszligerlich (S 159) sozusagen eine Zufaumllligkeit hat aber nichts mit einem moumlglichen Gehalt dieser Saumltze zu tun Dies wendet sich gegen eine entsprechende Unterscheidung bei Anscombe zwischen raquoden Dingen die wahr waumlren wenn sie gesagt werden koumlnnten und denen die falsch wauml-ren wenn sie gesagt werden koumlnntenlaquo42 Man kann nach Diamond von solchen Unsinnsarten nicht sprechen Eine Konsequenz dieser Radikalitaumlt liegt nun darin daszlig die gesamte innere Struktur der Abhandlung verloren-zugehen scheint Wenn alles Unsinn ist was kann dann noch Unterschiede der einzelnen Passagen ausmachen Genau dies entspricht gerade einem zentralen Motiv von Diamonds Ansatz So verweist sie etwas darauf daszlig im Buch zwar Bemerkungen mit ethischer Thematik vorkommen daszlig aber in einem tieferen Sinne jeder Satz (oder das gesamte Buch) einen ethischen Charakter hat indem es darin eine bestimmte Haltung aus-druumlckt ganz unabhaumlngig vom gerade verwendeten Vokabular Diese Auf-fassung daszlig zentrale philosophische Einsichten vom jeweils verwendeten Vokabular und den aufgestellten Behauptungen weitgehend unabhaumlngig sind weil es nicht auf das Vokabular sondern auf den Gebrauch ankommt ist ein Kernstuumlck in Diamonds Ansatz43 Ihr geht es vor allem anderen darum Wittgensteins philosophische Haltung aufzuklaumlren indem sie spe-zifi sche Passagen die Miszligverstaumlndnisse verursachen erklaumlrt Die Absicht

40 Diese radikal klingende Behauptung ist insofern miszligverstaumlndlich als Diamond nicht alle Saumltze der Abhandlung sozusagen per defi nitionem fuumlr unsinnig erklaumlren will ihr geht es vielmehr vor allem darum klarzustellen daszlig wenn ein spezifi scher Satz unsinnig ist er es auch wirklich ist und daszlig es inkonsequent ist sozusagen einen raquoSinn zweiter Ordnunglaquo einzufuumlhren

41 Die starke Konzentration der Diskussion auf Fragen von raquoUnsinnlaquo uumlbersieht haumlufi g daszlig Wittgenstein Unsinn ausgesprochen liebte Einer seiner Lieblingsautoren war Lewis Carroll auf den er haumlufi ger in seinen Schriften anspielt oder verweist und er selbst sam-melte uumlber Jahrzehnte Beispiele besonders absurder Zeitungsartikel Vgl dazu jetzt Brian McGuinness (Hg) Wittgenstein in Cambridge Letters and Documents Oxford 2008 S 192 und 468 auszligerdem Brian McGuinness In Praise of Nonsense (unveroumlffentlicht)

42 Anscombe Introduction (Anm 9) S 162 zit von Diamond Ethics S 15843 Sie fuumlhrt dies an Beispielen des spaumlten Wittgenstein aus der Mathematik (u a den

erwaumlhnten Vorlesungen) und der Ethik in ihrem Beitrag zum Cambridge Companion naumlher aus und erkennt ein solches Vorgehen auch in der Abhandlung und bei Frege wieder

106 Wolfgang Kienzler PhR

Wittgensteins Schriften als Ganze zu interpretieren tritt demgegenuumlber ganz in den Hintergrund Insofern ist 654 auch wieder nicht uumlberzube-werten sondern dient nur als ein besonders markanter Ausgangspunkt um verfehlte Auffassungen abzuwehren44 So ist die Abhandlung fuumlr Dia-mond kein Buch uumlber Logik denn ein solches kann es streng genommen ebenfalls nicht geben Die Logik ist vielmehr raquodem was Saumltze sind bereits intern eingeschriebenlaquo (S 151) Anders gesagt Wir koumlnnen an jedem be-liebigen Satz wenn wir nur richtig hinsehen alle Elemente der richtigen logischen Auffassung aufweisen und daher ist jeder Versuch diese vor-gaumlngige Struktur explizit zu machen immer etwas Nachtraumlgliches das schon raquozu spaumlt kommtlaquo und dadurch stets etwas Schiefes eben Unsinniges an sich hat Der eigentliche Ausdruck von Wittgensteins philosophischen Auffassungen sind daher nicht irgendwelche Inhalte seines Buches son-dern die Art wie sie ausgedruumlckt sind (S 170)

Eine besondere Eigenheit fast aller Arbeiten Diamonds ist ihre sehr spe-zifi sche Ausrichtung auf eine je besondere Fragestellung In vielen Faumlllen greift sie charakteristische Fehleinschaumltzungen oder auch nur miszliggluumlckte Formulierungen anderer Autoren auf und erlaumlutert geduldig sorgfaumlltig und oft in wiederholten bisweilen kreisenden Gedankengaumlngen welche Art von Fehleinschaumltzung vorliegt aus der die verungluumlckte Formulierung hervorgegangen ist Ihre Klaumlrungsarbeit bezieht sich fast immer auf einen konkreten Fall nicht auf eine allgemeine These Dadurch sperren sich ihre Texte gegen Lesegewohnheiten die auf Thesen und Argumente oder auf systematische Darlegungen und einen hohen Allgemeinheitsgrad hin ori-entiert sind Besonders instruktiv ist ihre Aufklaumlrung eines Beispiels von Anscombe (raquorsaquoJemandlsaquo ist nicht der Name von jemandemlaquo) in dem sie einen Versuch beleuchtet mit dem Anscombe ihrerseits im Sinne des fruumlhen Wittgenstein eine ganz elementare sprachlogische Klarstellung zu treffen versucht die den Unterschied zwischen Sagen und Zeigen nicht in allge-meiner (raquometaphysischerlaquo) sondern in ganz spezifi scher logischer Absicht betrifft45 Ihr Ergebnis lautet daszlig die Logik und damit die Gebrauchswei-sen von Ausdruumlcken wie raquojemandlaquo im einzelnen sorgfaumlltig beschrieben werden muumlssen daszlig man dies nicht mit einem Satz allein klarstellen kann

44 Die Erfolgsgeschichte der resoluten Lesart haumlngt eng damit zusammen daszlig man das ganze Buch als raquobloszligen Unsinnlaquo auffassen will bei Diamond liegt jedoch genau besehen keine Interpretation des gesamten Buches vor Sie will vielmehr nur einige Kernpunkte klarstellen verknuumlpft diese Klarstellungen allerdings mit einigen allgemeiner klingenden Zusatzbemerkungen

45 Diamond Saying and Showing (wie Anm 12) In diesem Beispiel bleibt jedoch An-scombe die die Frage in einem Streich entscheiden und klaumlren will dem Geist des fruumlhen Wittgenstein naumlher als Diamond mit ihrer sorgfaumlltigen Beschreibung der Sprachspiele mit raquojemandlaquo

107Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Damit will Diamond einen Beitrag dazu leisten die raquophilosophi sche Klauml-rung zu klaumlrenlaquo (to clarify philosophical clarifi cation)46

Das Ziel ihrer Arbeit ist jeweils die Klaumlrung unuumlbersichtlicher begriff-licher Verhaumlltnisse um so zu einer natuumlrlichen raquorealistischenlaquo Sicht zu kommen47 An Paradoxien ist sie grundsaumltzlich nicht interessiert auszliger insofern es darum geht deren Quellen aufzudecken sie als Symptome von begriffl ichen Unklarheiten zu sehen

Charakteristisch fuumlr Diamonds Vorgehensweise ist auch eine Uumlberle-gung die von einer Bemerkung Kripkes ihren Ausgang nimmt Einmal schreibt Wittgenstein raquoMan kann von einem Ding nicht aussagen es sei 1 m lang noch es sei nicht 1 m lang und das ist das Urmeter in Parislaquo (PhU 50) Kripke nennt diese Behauptung die aus dem Zusammenhang gerissen etwas entschieden Paradoxes hat offensichtlich falsch ohne je-doch den genauen Zusammenhang zu beachten48 Genau darauf kommt es Diamond aber an und sie erlaumlutert detailliert hartnaumlckig und zielstrebig

46 Ebd S 15347 Diamonds Grundanliegen kann man auch so formulieren daszlig sie an die Stelle von

philosophischen raquoPhantasienlaquo die aufs Allgemeine eines zurechtgestellten Sprachgebrauchs gehen eine realistische Einstellung die sich vor allem um Einzelheiten kuumlmmert setzt (The Realistic Spirit in der gleichnamigen Sammlung S 39ndash72)

48 Tatsaumlchlich ist die Bemerkung Kripkes weitaus weniger beilaumlufi g als Diamond sugge-riert Er schreibt raquoWittgenstein sagt etwas sehr Verwirrendes hieruumlber Er sagt raquoMan kann von einem Ding nicht sagen es sei 1 m lang noch es sei nicht 1 m lang und das ist das Urmeter in Paris ndash Damit haben wir aber diesem natuumlrlich nicht irgendeine merkwuumlrdige Eigenschaft zugeschrieben sondern nur seine eigenartige Rolle im Spiel des Messens mit dem Metermaszlig gekennzeichnetlaquo (PhU 50) Das scheint aber in der Tat eine sehr raquomerk-wuumlrdige Eigenschaftlaquo fuumlr einen Stab zu sein Ich denke Wittgenstein muszlig sich hier irren Wenn der Stock 3937 Inches lang ist (ich nehme an daszlig wir einen anderen Standard fuumlr Inches haben) warum ist er nicht 1 m lang Wir wollen jedenfalls annehmen daszlig Witt-genstein sich irrt und daszlig der Stab 1 m lang istlaquo (Kripke Naming and Necessity 1980 Name und Notwendigkeit FrankfurtM 1981 S 65 f) Diamond weist zwar zu Recht darauf hin daszlig Kripkes theoretisches Vokabular nur uumlber Eigenschaften (er diskutiert Fragen von Referenz und sprachlicher Bedeutung separat) nicht aber uumlber raquoStellungen im Sprachspiellaquo verfuumlgt und daszlig er deshalb zur tatsaumlchlich merkwuumlrdigen Deutung des Satzes als raquokontin-gente Wahrheit a priorilaquo (S 68) kommt (Dies entspricht wiederum in einigem der ja auch raquoeigenartigenlaquo Rolle im Sprachspiel) Beim Ausfuumlhren des Beispiels gegen Wittgenstein argumentiert Kripke jedoch intern vollkommen konsistent und faktisch auch an einem Sprachspiel orientiert wenn er (in Klammern) annimmt daszlig wir uumlber einen eigenen unabhaumlngigen Maszligstab fuumlr englische Zoll verfuumlgen Dann naumlmlich kann man das Urmeter ohne weiteres wie jeden anderen Gegenstand auch (auszliger in diesem Spiel dem raquoUr-Yardlaquo das Kripke jedoch nicht erwaumlhnt ndash und insofern hat Kripke die Problematik nur geschickt verschoben) abmessen und das Ergebnis anschlieszligend umrechnen Damit nimmt Kripke Wittgensteins Bemerkung das Paradoxe fuumlhrt dabei allerdings (unkommentiert) einen raquoDoppelstandardlaquo der Messung ein der nicht weiter geklaumlrt wird Die Sorgfalt in Kripkes Ausfuumlhrungen legen daher nahe die Rede davon daszlig Wittgenstein raquoirrelaquo nicht als Hin-weis auf einen einzelnen zufaumllligen Fehler sondern auf eine insgesamt verfehlte Auffas-sung zu verstehen

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wie Wittgenstein zu seiner Aumluszligerung kommt und inwiefern die Institution des Messens davon abhaumlngt daszlig man Maszligstaumlbe einfuumlhrt mit denen dann andere Objekte gemessen werden49 Da Laumlngenangaben entsprechend im-mer auf den Vergleich zu einem Maszligstab bezogen sind entsteht die kuriose Situation daszlig die Laumlnge des Urmeters durch Anlegen an sich selbst be-stimmt werden muumlszligte Nach Kripke ist dies ein Fall von Identitaumlt d h im Fall der Identitaumlt kann man auch ohne jede Messung sagen daszlig das betref-fende Objekt 1 m lang ist (oder eben raquoso lang wie es istlaquo ndash denn wie lang sollte es sonst sein) Damit aber gleicht er den Fall der Messung an den Fall der bloszligen Festsetzung in dem gar keine Messung erfolgt und genau genommen auch keine Messung moumlglich ist (denn man kann keinen Maszlig-stab an sich selbst anlegen weil dazu mindestens zwei Objekte benoumltigt werden) an und uumlbersieht die begriffl iche Verschiedenheit beider Faumllle Durch dieses Beispiel beleuchtet Diamond vor allem den Begriff der Gleichheit bzw Identitaumlt der von Kripke und weiten Teilen der philoso-phischen Tradition als unproblematischer absoluter Fixpunkt in Anspruch genommen wird den Wittgenstein aber einer fruumlhen Kritik (553 ff) und einer spaumlteren genauen Beschreibung (PhU 251 ff) unterzogen hat Zur Aufklaumlrung ist es noumltig den Ort den die Rede von raquogleichlaquo und raquoiden-tischlaquo in der Sprache hat genauer zu beleuchten und zu beschreiben an-statt ihn als quasi sprachunabhaumlngig gegeben einfach vorauszusetzen50

Diamonds Arbeit zielt so durchgehend auf die Klaumlrung scheinbar para-doxer oder merkwuumlrdiger Behauptungen ab und sie sieht ihr Ziel erst dann erreicht wenn aufgezeigt ist daszlig im Sprachspiel alles mit ganz ge-woumlhnlichen Dingen zugeht Paradoxe Behauptungen haben darin keinen Ort Auch ihre Anmerkungen zum Schluszlig von Wittgensteins Abhandlung sind daher systematisch als solche Aufklaumlrungen (etwa der paradoxen Re-deweise von Saumltzen die raquowahr waumlren wenn sie gesagt werden koumlnntenlaquo) zu verstehen auch wenn sie stellenweise selbst sehr uumlberraschend klingen Ihr Grundgedanke lautet jedoch Auch raquounsinniglaquo ist ein ganz gewoumlhn-liches Wort welches Wittgenstein verwendet und wenn er es verwendet dann meint er es auch so wie er es sagt51

49 Diamond betont mit (dem spaumlten) Wittgenstein die grundlegende Bedeutung von sprachlichen Institutionen waumlhrend Kripke konsequent davon absieht und alles als Fakten (unterschiedlicher Art) interpretiert

50 Kripkes Auffassung der Identitaumlt ist sprachunabhaumlngig und sozusagen raquorein objektivlaquo angelegt Fuumlr ihn ist jeder Gegenstand notwendigerweise mit sich selbst identisch und weist eine bestimmte raquoobjektivelaquo Laumlnge auf Wittgenstein dagegen weist darauf hin daszlig auch zum Wort raquoidentischlaquo ein Sprachspiel gehoumlrt das diesem Wort erst seine klare Ver-wendung gibt

51 Einiges spricht jedoch auch dafuumlr daszlig diese Auffassung eher dem spaumlten Wittgen-stein entspricht und daszlig in 654 raquounsinniglaquo gerade nicht im alltaumlglichen Sinn verwendet wird

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5 Es ist bei dieser sehr punktuellen Methodik um so bemerkenswerter und selbst geradezu paradox daszlig Diamonds Ansatz der Ausgangspunkt einer ganzen Richtung der Wittgensteininterpretation und noch dazu der Abhandlung geworden ist Diese Entwicklung hat viel mit der Arbeit von James Conant zu tun der dem Ansatz eine allgemeinere und leichter ein-zuordnende Form gegeben und das Zentrum der Aufmerksamkeit noch viel staumlrker als Diamond auf die Abhandlung und ihren Schluszlig gelenkt hat Conant stellt Wittgensteins Text in einen weiteren Rahmen indem er etwa Wittgenstein mit Kierkegaard Carnap und anderen Autoren ver-gleicht und indem er sich um die Historiographie der Tractatusdeutungen und insbesondere der impliziten Voraussetzungen dieser Deutungen in einer Weise bemuumlht daszlig die resolute Lesart als natuumlrlicher Abschluszlig einer Stufenfolge erscheint Dadurch entsteht der Eindruck daszlig die raquoresolutelaquo Deutung auf uumlberlegene Weise alle vorangegangenen Deutungsversuche in sich aufnimmt und ihnen den gehoumlrigen Platz anweist so daszlig kein sys-tematischer Raum mehr fuumlr Gegenvorschlaumlge bleibt52

In seiner bisher umfangreichsten Darstellung53 gibt Conant zunaumlchst eine Rekonstruktion der rationalen Genese der bisherigen Lesarten die er die raquopositivistischelaquo und die raquoUnsagbarkeitslesartlaquo (ineffability reading) nennt Als deren gemeinsame Grundvoraussetzung arbeitet er die Annahme her-aus daszlig es etwas wie raquogehaltvollen Unsinnlaquo (substantial nonsense) in der Abhandlung geben muumlsse Er zeigt dann auf daszlig und wie sich beide Auf-fassungen gegenseitig bedingen und inwiefern keine von beiden zu einer stabilen und konsequenten (eben raquoresolutlaquo durchhaltbaren) Position fuumlhrt Tatsaumlchlich setzt sich Conant fast ausschlieszliglich mit der von ihm als Stan-dardinterpretation (S 394) angesehenen Lesart und ihrem Hauptvertreter Peter Hacker auseinander54 Die Kernthematik des Aufsatzes der die Me-

52 Der Gestus erinnert stellenweise an Hegels Vorgehen Conant ist auch an anderer Stelle mit weitreichenden Sortiervorschlaumlgen hervorgetreten so etwa in bezug auf Spiel-arten des Skeptizismus wo er eine Cartesische und eine Kantische Spielart des Skeptizis-mus und damit der Philosophie uumlberhaupt unterscheidet (Varieties of Skepticism in D McManus (Hg) Wittgenstein and Skepticism London 2004)

53 James Conant The Method of the Tractatus in Reck From Frege to Wittgenstein daran orientiert sich das Folgende Mehrere Aufsaumltze Conants ergaumlnzen diesen Beitrag noch ndash Durch haumlufi ge Verweise auf einander einen gemeinsamen Aufsatz sowie an beide gerich-tete Kritik ist aumlhnlich wie in der Kopenhagener Deutung der Quantenphysik der Ein-druck entstanden als handele es sich um ein und dieselbe Auffassung Dieser Eindruck taumluscht jedoch in einigen wichtigen Punkten ebenso wie im Fall der Kopenhagener Deu-tung wie aus dem Folgenden klar werden wird

54 Tatsaumlchlich liegt der systematische Schwerpunkt der Kontroverse zwischen ConantDiamond und Hacker auf der Interpretation der Philosophie des spaumlten Wittgenstein die von beiden Parteien als der eindeutig uumlberlegene und bis heute unuumlberbotene philoso-phische Ansatz angesehen wird Diese grundsaumltzliche Debatte um die Deutung von Witt-gensteins Spaumltphilosophie hat erst in Ansaumltzen besonders in einigen Aufsaumltzen von Dia-

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thode der Abhandlung zu klaumlren beansprucht kreist um die Leitbegriffe raquoErlaumluterunglaquo und raquoUnsinnlaquo (S 378) Wie Diamond fi ndet Conant dies bei Frege vorgebildet wobei er dessen Verfahren so zusammenfaszligt daszlig nach Frege raquodie Erlaumluterung logisch einfacher Ausdruumlcke wie Begriff und Gegenstand unvermeidlicherweise mit (dem geschickten Einsatz von) Unsinn arbeiten muszliglaquo (S 387) In der Deutung dieses Verfahrens durch Frege sieht Conant jedoch eine Spannung denn Frege glaubt raquodaszlig er in solchen Faumlllen etwas sagen will was im strengen Sinn nicht gesagt werden kann und druumlckt sich dann so aus daszlig seine Woumlrter einen Gedanken auszudruumlk ken versuchen damit aber notwendigerweise scheiternlaquo (S 391) Damit vertritt Frege aumlhnlich wie Geach und Hacker selbst eine substan-tielle Auffassung von Unsinn55 Nach Conant liegt die Hauptabsicht von Wittensteins Abhandlung nun genau darin eine solche substantielle Auffas-sung von Unsinn nicht zu vertreten sondern zu uumlberwinden Die Unter-scheidung zwischen sinnvollen und nicht sinnvollen Saumltzen liegt nach Conants Deutung nun praumlziser gefaszligt darin raquoEinen Satz als sinnvoll wahr-nehmen bedeutet daszlig man im Satzzeichen das Satzsymbol wahrnimmt Einen Satz als Unsinn wahrzunehmen bedeutet daszlig man im Zeichen kein Symbol erkennen kannlaquo (S 404) Ein Satz ist also dann raquobloszliger Unsinnlaquo wenn eine Zeichenreihe raquokeine erkennbare logische Syntax hatlaquo (S 400) Damit gibt es aber streng genommen keine raquounsinnigen Saumltzelaquo sondern nur Zeichenreihen die auf den ersten Blick wie Saumltze aussehen bei denen aber der Versuch in ihnen eine logische Form aufzufi nden scheitert Die Rede von raquoUnsinnlaquo bezieht sich also nicht auf die Saumltze oder Zeichenrei-hen selbst sondern allein auf unser Scheitern Zentral wird dadurch der Begriff des raquoSymbolslaquo Ein Symbol ist ein Zeichen zusammen mit einer logisch durchsichtigen Verwendungsweise (S 414) Die bekannte Sprach-kritik der Abhandlung (40031) erweist sich so nicht als Versuch die sinn-vollen von den unsinnigen Zeichen(reihen) durch ein Sinnkriterium zu trennen sondern raquodie Quelle des scheinbaren Unsinns liegt in unserer Beziehung zum sprachlichen Zeichen nicht im sprachlichen Zeichen selbstlaquo (S 419) Die Philosophie ist entsprechend Wittgensteins Diktum

mond begonnen Als zentralen Gegensatz zwischen der eigenen Position und derjenigen Hackers formuliert Conant daszlig nach Hacker der fruumlhe Wittgenstein an unausdruumlckbare Wahrheiten glaubte waumlhrend der spaumlte dies als Irrtum durchschaute waumlhrend Wittgen-stein tatsaumlchlich schon in der Abhandlung die darin vorausgesetzte substantielle Auffassung von Unsinn ablehnte Weiter glaubt er in Hackers Deutung des spaumlten Wittgenstein raquoeine verkleidete Fassung der Auffassung die er dem fruumlhen Wittgenstein zuschreibtlaquo zu erken-nen was der wahren Radikalitaumlt dieses Denkens nicht gerecht werde (Conant Two Con-ceptions of Die Uumlberwindung der Metaphysik in Wittgenstein in America (Anm 17) S 13ndash62 hier S 38 Anm 42)

55 In diesem Punkt ist Conant exegetisch weitaus vorsichtiger als Diamond die weniger Scheu hat Frege eine systematisch uumlberzeugende Konzeption zuzuschreiben

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raquokeine Lehre sondern eine Taumltigkeitlaquo Diese Taumltigkeit besteht nach Con-ant darin daszlig eine Illusion von Sinn aufgebaut und am Ende zerstoumlrt wird Das Ziel des Buches ist daher raquonicht eine Einsicht in metaphysische Zuumlge der Wirklichkeit sondern in die Quellen der Metaphysiklaquo (S 421) Nach Conant gibt es im Text nur raquo(scheinbar) eine Lehre uumlber raquodie Gren-zen des Denkenslaquolaquo (S 424) tatsaumlchlich aber sind raquodie Erlaumluterungen des Autors nur dann erfolgreich wenn wir den Haupttext als Unsinn erken-nenlaquo (S 424) Conants Darstellung verleiht der resoluten Lesart dadurch daszlig er aufzeigt wie die grundlegenden Spannungen in den fruumlheren Deu-tungsansaumltzen aufgeloumlst werden koumlnnen den Anschein einer teleologischen Zwangslaumlufi gkeit Nicht zufaumlllig spielt daher die fortgesetzte Auseinan-dersetzung mit der raquoUnsagbarkeitslesartlaquo eine zentrale Rolle in seinen Ausfuumlhrungen Ein nicht zu unterschaumltzender Teil der Anziehungskraft der resoluten Lesart liegt genau darin daszlig sie den einzigen konsistenten wenn auch zunaumlchst uumlberspitzt aber damit zugleich auch brillant wirken-den Ausweg aus den Bemuumlhungen um ein Verstaumlndnis der Logisch-Philoso-phischen Abhandlung zu bieten scheint56

Conants umfangreicher Beitrag zur Festschrift fuumlr Cora Diamond57 verstaumlrkt die genannten Tendenzen noch Dies zeigt sich bereits an der Form Unter dem Titel raquoA Recently Discovered Manuscriptlaquo wird ein gewisser raquoJohannes Climacuslaquo58 als Herausgeber eines Aufsatzes von Con-ant eingefuumlhrt der in Gestalt einer fi ktiven theologischen Auseinanderset-zung um die richtige Wittgensteinorthodoxie eigene (ziemlich dogma-tisch-uneinsichtsvolle) Kommentare zu den einzelnen Teilen von Conants Text abgibt Dieser Text selbst greift schon im Titel und uumlber weite Stre-cken ironisch den Ton theologischer Kontroversen auf Thema der Arbeit ist die umstrittene raquometa-wittgensteinschelaquo Frage ob Anhaumlnger der reso-luten Lesart (die noch einmal zusammenfassend vorgestellt wird) uumlber-haupt uumlber den Spielraum verfuumlgen um einen wesentlichen Unterschied zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein herauszuarbeiten (S 32) Diese Frage geht Conant dialektisch an indem er drei verschie-dene Listen praumlsentiert eine erste (S 49) die scheinbare Lehren der Ab-handlung enthaumllt die aber tatsaumlchlich so Conant Auffassungen sind vor

56 Diese Zwangslaumlufi gkeit tritt in Diamonds Arbeiten weitaus weniger hervor Fuumlr sie ist die Abhandlung ein reiches Buch das zahlreiche ausgesprochen weiterfuumlhrende und faszinierende Passagen enthaumllt die philosophisch weiterhelfen nicht ein Werk das sozu-sagen unter einer Drohung lebt und dessen Leser nach einem Ausweg suchen

57 James Conant Mild-Mono-Wittgensteinianism in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 29ndash142

58 Dieses von Kierkegaard entlehnte Pseudonym verwendet Conant seinerseits in einem Zitat aus der Abschlieszligenden unwissenschaftlichen Nachschrift (31) mit der Bemerkung daszlig Ironie und Ernsthaftigkeit einander nicht ausschlieszligen In fruumlheren Texten hatte Conant raquoClimacuslaquo mit raquoLeiterlaquo uumlbersetzt (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 291)

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denen Wittgenstein seine Leser warnen will eine zweite mit Auffas-sungen die Wittgenstein in der Abhandlung natuumlrlich klar und unkontro-vers erschienen die aber dennoch Ausdruck philosophischer Ansichten sind die er selbst spaumlter als problematisch ansah (S 83)

Damit ist fuumlr eine Differenz zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein ein Spielraum gewonnen der dann durch eine dritte Liste wieder in einen ironischen Schwebezustand gebracht wird indem Conant Saumltze praumlsentiert die man gleichermaszligen dem fruumlhen wie dem spaumlten Wittgenstein zuordnen kann bisweilen indem leichte Variationen des Wortlauts mitgefuumlhrt werden wie raquoDie Logik (Grammatik) muszlig fuumlr sich selber sorgenlaquo (S 106) Conant spricht von raquoAugenblicken atemberau-bender Kontinuitaumltlaquo (S 108) gerade dort wo Wittgenstein die Konzeption der Abhandlung kritisiert (PhU 97ndash133) Als Ergebnis der Untersuchung bleibt so der Eindruck von gleichzeitig auszligerordentlicher Kontinuitaumlt und deutlicher Diskontinuitaumlt in Wittgensteins philosophischer Entwicklung Auch daszlig eine resolute Lesart eher raquoein Programm um das Buch zu lesenlaquo (111 Anm 4) ist als tatsaumlchlich eine durchgehende Lektuumlre ist deutlich ausgesprochen59

Der philosophische Ansatz und Stil Conants ist dem von Diamond in vie-ler Hinsicht entgegengesetzt Waumlhrend Diamond von konkreten Einzelfaumll-len ausgeht und diese im Hin- und Hergehen aufzuklaumlren versucht geht Conant ganz von auszligen mit einem umfassenden Blick in Beziehung zur gesamten Philosophiegeschichte an die Fragen heran Ein bevorzugter Vergleich ist derjenige Wittgensteins mit Kierkegaard insbesondere in der Frage des Verhaumlltnisses des Autors zu seinen Buumlchern60 Man koumlnnte gera-

59 In der gemeinsam verfaszligten Arbeit On Reading The Tractatus Resolutely Reply to Me-redith Williams and Peter Sullivan in M KoumllbelB Weiss Wittgensteinrsquos Lasting Signifi cance London 2004 S 46ndash99 erlaumlutern Diamond und Conant einige Punkte ihres Ansatzes ge-genuumlber Versuchen das Buch als System von Behauptungen zu lesen (Williams) und gegen die Kritik ihre Lesart sei unvollstaumlndig letzteres mit dem Hinweis es handle sich bislang lediglich um ein Forschungsprogramm aber gerade nicht um ein Rezept das eine leichte und zusammenhaumlngende Lektuumlre ermoumlgliche (S 68) Peter Sullivan wird als der produk-tivste Kritiker bezeichnet weil er auf spezifi sche Inkonsistenzen hinweise (vgl die in Anm 64 genannte Arbeit) Sullivans eigene Deutungsvorschlaumlge bleiben jedoch eher tra-ditionellen ontologisch orientierten Ansaumltzen verhaftet (vgl What is the Tractatus About ebenfalls in KoumllbelWeiszlig S 32ndash45) Diese gemeinsame Arbeit verbleibt jedoch insge-samt auf einer sehr allgemeinen und wenig spezifi schen Ebene

60 So etwa Conant Putting Two and Two together Kierkegaard Wittgenstein and the Point of View for Their Work as Authors in T TessinM von der Ruhr (Hg) Philosophy and the Grammar of Religious Belief London 1995 S 248ndash331 Als Zusammenfassung schreibt Co-nant dort daszlig der fruumlhe Wittgenstein aumlhnlich wie Kierkegaard raquoden Leser in die Wahr-heit hineintaumluschen willlaquo zu welchem Zweck er raquoeine ausgefeilte Struktur scheinbarer Behauptungenlaquo verwendet (S 302) Fuumlr ein solches Verstaumlndnis gibt es bei Kierkegaard zahlreiche Hinweise bei Wittgenstein streng genommen keine er will alles raquoklar sagenlaquo

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dezu sagen daszlig sich Conant mehr fuumlr die Frage der Autorschaft als fuumlr das Werk selbst interessiert61 Es geht ihm darum den richtigen Blickwinkel auf das Werk zu gewinnen und den entwickelt er durch weitgespannte Ver-gleiche durch die Analyse der Selbstkommentare und zusaumltzlichen Erlaumlute-rungen Dabei scheint das Ziel vorrangig die Einordnung vorhandener Zu-gangsmoumlglichkeiten zu sein die er dann in eine systematische Ordnung bringt62 Diese Systematik verweist dann gewissermaszligen teleologisch auf eine einzige offene Moumlglichkeit als den richtigen Zugang zu einem Problem oder einem Text Waumlhrend Diamond also einzelne Miszligverstaumlndnisse auf-klaumlrt zieht Conant die groszligen orientierenden Linien63 Damit aber ergaumln-zen beide Ansaumltze einander wiederum in einem Maszlige daszlig sie von auszligen in aller Regel als eine Einheit angesehen werden Erst durch Conants Ord-nungsvorschlaumlge hat Diamonds Ansatz diejenige Uumlbersichtlichkeit und Handhabbarkeit gewonnen die eine breitere Wirksamkeit ermoumlglichen

Einmal schreibt er kritisch raquoDer Verkehr mit Autoren wie Hamann Kierkegaard macht ihre Herausgeber anmaszligend Diese Versuchung wuumlrde der Herausgeber des Cherubi-nischen Wandersmannes nie fuumlhlen noch auch der Confessionen des Augustin oder einer Schrift Luthers Es ist wohl das daszlig die Ironie eines Autors den Leser anmaszligend zu ma-chen geneigt istlaquo (Denkbewegungen [1931] FrankfurtM S 41)

61 In einem fruumlheren Aufsatz The Search for Logically Alien Thought Descartes Kant Frege and the Tractatus in Philosophical Topics 20 (1991) S 115ndash180 vergleicht Conant Witt-gensteins Vorgehen mit einem langen Witz bzw einer Parabel die ein absurdes Gespraumlch wiedergibt in dem ein Pole von einem Juden wissen will worin raquodas Geheimnis der Ju-denlaquo besteht und das nach allerhand Umwegen mit der Einsicht endet daszlig da raquokein Ge-heimnis istlaquo ndash aber so erfahren wir eben das raquoist das Geheimnislaquo (S 160)

62 Conants umfassende Perspektive geht mit einigen Zurechtstellungen bei der Inter-pretation einher die das Material entsprechend dem umfassenden Entwurf leicht umfor-men In seinem langen Aufsatz spricht er Wittgenstein eine besondere Konzeption von Klarheit zu die darin liegen soll daszlig man am Ende das Buch als unsinnig erkennt (374) er uumlbergeht dabei aber daszlig Wittgenstein gegenuumlber Russell unmittelbar auf den voumlllig neu-artigen Inhalt der logischen Konzeption verweist und dabei sogar das Wort raquoTheorielaquo ver-wendet als Ziel formuliert Wittgenstein auch nicht daszlig man bestimmte Konzeptionen als nur scheinbar konsistent erkennen soll (377) sondern daszlig man die Logik der Sprache ein-sehen lernt ohne ein Verstaumlndnis von 654 ist nach Conant kein Verstaumlndnis des Buches moumlglich (378) dies gilt aber angesichts der konzentrierten Form fuumlr jeden Satz des Buches wobei die Schluszligbemerkung eher selbstrefl exiv auf das Buch und die Darstellungsform Bezug nimmt als auf die bis dahin entwickelte Einsicht der gegenuumlber der bloszligen Selbstre-fl exion die Prioritaumlt einzuraumlumen waumlre die Woumlrter raquoUnsinnlaquo und raquoErlaumluternlaquo (378) sind entschieden nicht die Kernbegriffe des Buches zum einen kommen eher die Formen raquoun-sinniglaquo oder raquoes ist ein Unsinnlaquo vor nicht das Substantiv zum anderen sind viel eher raquoKlar-heitlaquo und raquoklarlaquo die zentralen Ausdruumlcke Carnap wird als derjenige hingestellt der nichts verstanden habe aber Wittgenstein hat gerade Carnap 1932 des Plagiats bezichtigt und Conant verkehrt Wittgensteins Aumluszligerung er koumlnne sich raquonicht denkenlaquo daszlig Carnap den Sinn des Buches raquoso ganz und gar miszligverstandenlaquo haben koumlnnte ins gerade Gegenteil und zitiert sie mehrfach (378 Anm 9 Anm 99 als Motto in Two Conceptions wie Anm 54)

63 Relativ haumlufi g verwendet Conant auch ganz traditionelle Ordnungsinstrumente wie raquoArtlaquo und raquoGattunglaquo (vgl Conant Method (Anm 53) S 435 Anm 43 436 Anm 48)

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Ein Punkt hat Kritiker besonders irritiert naumlmlich Diamonds und Co-nants Bestehen darauf daszlig der Text streng und konsequent stuumlckweise (piecemeal) gelesen werden soll Dies scheint mit der radikalen Grundten-denz nicht recht vereinbar oder die Radikalitaumlt doch stark abzuschwaumlchen ndash es koumlnnte aber dazu fuumlhren daszlig man das Gewicht der bisweilen daran angeknuumlpften allgemeineren Betrachtungen als wesentlich geringer anse-hen koumlnnte als es derzeit in aller Regel geschieht Tatsaumlchlich ist der stuumlckweise Zugang sehr charakteristisch fuumlr Diamonds Methode und die allgemein gehaltenen radikalen Thesen wirken in ihren Texten eher wie Fremdkoumlrper Die raquoTheselaquo von der notwendig stuumlckweisen Interpretation reduziert sich daher im Kern auf die wichtige aber unspektakulaumlre me-thodische Beobachtung daszlig es ohne Zweifel richtig ist daszlig man die Ab-handlung sorgfaumlltig langsam und schrittweise entschluumlsseln muszlig gerade damit man die einheitliche und uumlbergreifende Konzeption (und daran ist nichts stuumlckweise und zusammengebastelt) genau richtig auffassen kann

6 Tatsaumlchlich sind die Vertreter der resoluten Lesart insgesamt weit erfolgreicher in der Kritik konkurrierender Ansaumltze als in der Interpreta-tion des Textes selbst Ein groszliger Teil der Debatte wird in der Gestalt von Auseinandersetzungen um das richtige Verstaumlndnis bzw den Maszligstab fuumlr eine angemessene Interpretation gefuumlhrt Dies ist in gewissem Sinne fol-gerichtig denn ein Textverstaumlndnis im gewoumlhnlichen Sinn des Wortes kann es von einem im strengen Sinn unsinnigen Text ja kaum geben Die Debatte behandelt deshalb vorrangig Fragen wie die welches denn der raquoZweck des Unsinnslaquo sei64 Dazu hat Michael Kremer Vorschlaumlge entwi-ckelt die die ethische Dimension des Buches herausarbeiten65 Er zieht Vergleiche zu Wittgensteins Beschaumlftigung mit ethischen und religioumlsen Fragen etwa dem Neuen Testament und dem Gedanken daszlig wir einse-hen muumlssen daszlig wir die raquoSuche nach einer Rechtfertigung unseres Lebens aufgeben muumlssenlaquo (S 56) weil der Versuch einer solchen Selbstrechtferti-gung ein Akt des Hochmutes waumlre Als Ergebnis glaubt er festhalten zu muumlssen daszlig das Buch ein raquoknow-howlaquo kein raquoWissen-daszliglaquo vermittelt raquoDieses Buch und seinen Autor zu verstehen bedeutet zu lernen wie man lebtlaquo66 (S 62) In aumlhnlicher Weise deutet Kremer die Frage nach der

64 Michael Kremer The Purpose of Tractarian Nonsense in Nous 35 2001 S 39ndash73 Darauf reagiert Sullivan mit detaillierter Einzelkritik On Trying to be Resolute A Response to Kremer on the Tractatus in European Journal of Philosophy 10 (2002) S 43ndash78 (vor allem S 66ndash68 mit Hinweisen auf die spaumlrlichen Textbelege)

65 Fragen der Ethik spielen uumlberhaupt in den Arbeiten von Diamond Conant und an-deren resoluten Lesern eine groszlige Rolle was aber hier nicht im einzelnen verfolgt werden kann

66 Schon Diamond Ethics (Anm 37) S 169 spricht als Ziel an daszlig wir raquokeine falschen Anforderungen an die Welt stellenlaquo sollen

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raquoWahrheit des Solipsismuslaquo dahingehend daszlig es darum geht den eigenen Stolz zu uumlberwinden67 Selbst die Frage nach dem raquoHauptproblem der Phi-losophielaquo naumlmlich der Unterscheidung von Sagen und Zeigen versucht Kremer so zu beantworten daszlig Wittgenstein vor allem vor der unberech-tigten und zu vorschnellen Anwendung dieser Unterscheidung warnt (und er will zeigen daszlig insofern diese Unterscheidung als Hauptproblem ange-sprochen wird Wittgenstein dieses Problem raquoloumlsenlaquo will)68 All diese Vor-schlaumlge lenken jedoch systematisch von einer tatsaumlchlichen Lektuumlre von Wittgensteins Buch eher ab

Innerhalb der resoluten Stroumlmung ist Juliet Floyd als radikale raquoJakobine-rinlaquo bezeichnet worden weil sie schon fuumlr den fruumlhen Wittgenstein gene-rell die Existenz einer einheitlichen Auffassung von Logik Bedeutung Sagen und Zeigen aber auch eines eindeutigen Ideals der Klarheit leug-net69 Sie nennt Wittgensteins Vorgehen dialektisch bzw refl ektierend (S 188) so daszlig Wittgenstein nicht auf eine einzelne Stoszligrichtung hin festzulegen ist Dadurch wird zum einen erneut die Moumlglichkeit in Frage gestellt den Text uumlberhaupt einigermaszligen einheitlich zu interpretieren zum anderen eroumlffnen sich Moumlglichkeiten relativ frei auch wieder kon-struktivere (S 187) Zuumlge festzustellen Wenn Floyd als Grundgegensatz der Deutungen die Frage betont ob man Wittgenstein so versteht als wolle er raquodie Endlichkeit oder expressive Begrenztheit der Sprache beto-nenlaquo oder ob er die raquooffene Entwicklung und Vielfalt menschlicher Aus-drucksmoumlglichkeitenlaquo (S 177) herausarbeiten will dann steht auch dies nur in einem eher lockeren Bezug zum Text Genau an dieser Stelle setzen die wichtigsten Kritiker an

7 Als prominentester und heftigster Kritiker ist Peter Hacker hervor-getreten70 Hacker kritisiert und polemisiert aus einer Position der exten-

67 Michael Kremer To What Extent is Solipsism a Truth in Stocker Post-Analytic Tractatus S 59ndash84 Das ist eine sehr ungewoumlhnliche Lesart dieser sonst erkenntnistheore-tisch aufgefaszligten Passage

68 Michael Kremer The Cardinal Problem of Philosophy in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 143ndash176 Kremers Deutung beruht vor allem darauf daszlig Wittgenstein in seinem Brief an Russell (15 8 1919) diese Unterscheidung einmal als raquoHauptpunktlaquo und dann auch als raquoHauptproblemlaquo anspricht Kremer deutet dies so daszlig die Unterscheidung als zu loumlsendes raquoProblemlaquo aufgefaszligt wird

69 Juliet Floyd Wittgenstein and the Inexpressible in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 177ndash234 hier S 185 und 196

70 Hackers Schriften dienen zugleich umgekehrt Diamond und Conant als Illustrati-onen fuumlr die raquoStandardlesartlaquo und dafuumlr wie man Wittgenstein nicht interpretieren sollte so schon 1985 in Diamond Throwing Away the Ladder (Anm 30) S 194 als Beispiel fuumlr raquochickening outlaquo Hacker ist auch als einziger Kritiker im Sammelband New Wittgenstein vertreten Was he Trying to Whistle It in New Wittgenstein S 353ndash388 Sein Sammelband Connections and Controversies Oxford 2001 enthaumllt neben dem Nachdruck auf S 98ndash140 noch eine Fortsetzung When the Whistling Had to Stop S 141ndash169

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siven Kommentieung des spaumlten Wittgenstein und zugleich des philo-sophischen Common Sense heraus Er sieht in der Abhandlung raquoeine ver-bluumlffende Lehre auf verbluumlffende Weise dargebotenlaquo (S 353) ndash diese Charakterisierung entnimmt er jedoch nicht erst seinen neuen Gegnern sondern einer eher traditionellen realistisch-metaphysischen Deutung von David Pears Hacker versteht das Buch als einen gescheiterten Versuch wesentliche Wahrheiten die nicht gesagt werden koumlnnen dennoch zu zeigen Dies sieht er als gesichertes Faktum an dessen Vorhandensein er mit Energie gegen Versuche es zu leugnen untermauert Dazu zaumlhlt er zehn Beispiele solcher Versuche auf von logischen Beziehungen zwischen Saumltzen bis zur Harmonie zwischen Gedanke Sprache und Wirklichkeit (S 353ndash355) und stellt sich ganz auf die Seite schon der fruumlhen Kritiker besonders des Wiener Kreises die den Schluszlig des Buches raquoganz unglaub-wuumlrdig fandenlaquo (S 355)71 Er nennt den Ansatz von Diamond und Conant raquopostmodernlaquo offenbar darauf berechnet zu provozieren jedoch frei von ernsthaften Absichten nicht aber das Buch richtig einschaumltzen zu wollen (S 356)72

Hacker sieht das Buch als offensichtlich inkonsistent an und beruft sich dabei auf Wittgensteins spaumltere Meinung zur Bestaumltigung dieses Faktums (S 370) Von daher fallen alle Versuche das Buch insgesamt nachzuvoll-ziehen zwangslaumlufi g ebenfalls der Inkonsistenz anheim Als Maszligstab der Inkonsistenz dient ihm dabei die Unvereinbarkeit und Widerspruumlchlich-keit der im Buch vorgetragenen (raquogesagtenlaquo oder raquogezeigtenlaquo) Lehren Da-mit aber stellt sich Hacker explizit auf einen Standpunkt den Wittgenstein fuumlr sein eigenes Werk ablehnt das ja explizit raquokein Lehrbuchlaquo (Vorwort) sein will Hacker reduziert das Buch auf einen Lehrinhalt den er unzurei-chend fi ndet ndash der Gegensatz zu Diamond und Conant liegt bereits hier denn beide Seiten differieren vor allem darin was das Buch eigentlich

71 In dieser Hinsicht stimmt seine Einschaumltzung mit derjenigen Conants uumlberein der seinerseits Hacker in die Naumlhe Carnaps plaziert (Two Conceptions of Die Uumlberwindung S 14 ff) Ohne Hacker sofort zu nennen schreibt Conant Carnap (wie spaumlter Hacker) eine substantielle Auffassung von Unsinn zu

72 Hacker lehnt sowohl die Abhandlung als auch Freges philosophische Grundkonzepti-on ab und setzt sie als verfehlten Versuch in scharfen Kontrast zum Denken des spaumlten Wittgenstein Diese Haltung wird in seinem Kommentar zu den Philosophischen Untersu-chungen deutlich besonders eklatant jedoch in dem (gemeinsam mit Gordon Baker ver-faszligten) gegen Dummetts Fregedeutung geschriebenen Frege Logical Excavations (Oxford 1984) Das Auftreten der resoluten Lesart gibt Hacker daher nicht den Grund zu seiner Ablehnung des fruumlhen Wittgenstein sondern vor allem den Anlaszlig seine Gruumlnde zu buumln-deln und erneut vorzubringen (Der verstorbene Gordon Baker der zunaumlchst gemeinsam mit Hacker mehrere Baumlnde zum spaumlten Wittgenstein verfaszligte dann aber seinen Ansatz weiterentwickelte und dabei in einigen Punkten der resoluten Lesart nahekam sei hier noch erwaumlhnt vgl Baker Wittgensteinrsquos Method Neglected Aspects Oxford 2004)

117Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

leisten will Hacker sieht einen eklatanten Gegensatz zwischen Wittgen-steins Erklaumlrung nichts lehren zu wollen und seinem tatsaumlchlichen Vor-gehen seine Gegner versuchen gerade diese Aumluszligerungen Wittgensteins zu verstehen und ihnen entsprechend den Text so zu lesen daszlig er keine raquoLehrenlaquo enthaumllt sondern auf andere Art und Weise arbeitet

Hacker versucht entsprechend auch nicht Diamond und Conant ge-recht zu werden sondern listet vor allem eine Reihe von Kritikpunkten auf Zum einen weist er auf eine gewisse hermeneutische Willkuumlr hin mit der nur relativ wenige insgesamt unzusammenhaumlngende Partien herange-zogen werden wobei einige Passagen doch wieder als ganz gewoumlhnlich und sinnvoll gelesen werden ohne daszlig eine klare Abgrenzung nach Kri-terien gegeben wuumlrde Die haumlufi g verwendete Rede vom raquoRahmenlaquo des Buches im Unterschied zum raquoHauptteillaquo bleibt ihm zufolge unklar abge-grenzt da zum Rahmen auch Bemerkungen wie 4112 aus der Mitte des Textes gezaumlhlt werden73 Im Zusammenhang damit weist er darauf hin daszlig zwischen den Arten von Unsinn doch ein Unterschied gemacht wer-de wenigstens nach der Wirkung auf den Leser74 Und schlieszliglich ver-sucht er nachzuweisen daszlig Wittgenstein selbst weder in seiner fruumlheren noch in seiner spaumlteren Zeit eine solche radikale Lesart seiner eigenen Ar-beit vorgetragen oder unterstuumltzt habe

Eine spezielle Streitfrage liegt darin ob es nach Wittgenstein raquoUumlbertre-tungen der logischen Syntaxlaquo geben koumlnne Diamond und Conant be-haupten nein Hacker versucht an Beispielen aufzuzeigen daszlig Wittgen-stein dies wiederholt anspricht (S 365ndash367)75 Der grundlegende Dissens betrifft hier die Frage ob Wittgenstein sich vorrangig um den Begriff und die Festlegung einer logischen Syntax als Einfuumlhrung sinnvoller Rede be-muumlht denn wenn es um die Festlegung und ggf die Erweiterung und Ver-aumlnderung von Sinn geht dann gibt es nichts was uumlbertreten oder verfehlt werden koumlnnte ndash oder aber ob Wittgenstein wie Hacker ihn liest jemand ist der vor allem schon bestehende syntaktische Systeme betrachtet und dabei die Moumlglichkeiten behandelt sich gegenuumlber den Vorschriften be-

73 Conants Auskunft daszlig nicht der Ort im Text sondern die Funktion der Bemerkung daruumlber entscheide ob es zu Rahmen oder Hauptteil gehoumlre vermag als Gegenargument nicht wirklich zu uumlberzeugen

74 Dies leugnen Conant und Diamond keineswegs nur kommt es ihnen gerade auf den Unterschied zwischen logischen und anderen Einteilungsgruumlnden an

75 Dieser Punkt ist auch deswegen zentral weil fuumlr Hacker Unsinn genau dadurch ent-steht daszlig man die logische Syntax verletzt (Was he Trying S 367) waumlhrend fuumlr Conant und Diamond Unsinn dann vorliegt wenn wir mit einer Zeichenreihe schlicht nichts anfangen koumlnnen also kein Symbol darin erkennen Dieser Frage widmet Hacker den Aufsatz Wittgenstein Carnap and the New American Wittgensteinians in Philosophical Quar-terly 53 (2003) S 1ndash23 und Diamond die Entgegnung Logical Syntax in Wittgensteinrsquos Tractatus in Philosophical Quartely 55 (2005) S 78ndash88

118 Wolfgang Kienzler PhR

stimmter Systeme abweichend zu verhalten und ihre Regeln zu verletzen Die Frage ist ob Wittgenstein die Syntax mit einem bestehenden Spiel analog setzt oder nicht76 Fuumlr beide Aspekte gibt es Belege im Text77

Eine gewisse Uumlbereinstimmung zwischen Hacker und seinen Gegnern liegt ironischerweise darin daszlig keine der beiden Seiten eine durchge-hende Interpretation der Abhandlung anstrebt Hacker haumllt dies aufgrund der Inkonsistenz fuumlr uninteressant (wenn auch theoretisch moumlglich) Dia-mond ist vorrangig an Einzelfragen und am methodischen Standard des spaumlten Wittgenstein interessiert (wozu sie in der Abhandlung letztlich doch nur eine Vorstufe fi ndet) und Conant ist hauptsaumlchlich damit beschaumlftigt vorgaumlngige Kriterien fuumlr eine uumlberzeugende Lektuumlre zu entwickeln78

Als zentrale unbeantwortete Frage bleibt daruumlber hinaus das Problem bestehen wie man Wittgensteins Sprache und die Art seiner Behaup-tungen im Text konsequent aufzufassen hat denn hier weist Hacker auf deutliche Inkonsistenzen der resoluten Leser hin Zum einen wird von raquobloszligem Unsinnlaquo gesprochen dann wieder werden Passagen so gelesen wie gewoumlhnliche behauptende Prosa zum einen ist von Ironie die Rede dann wieder scheint alles ganz woumlrtlich aufzufassen zu sein79

8 Marie McGinn hat den bisher ehrgeizigsten Versuch unternommen die Staumlrken beider konkurrierender Ansaumltze zu verbinden und die jewei-

76 Vgl Diamond (wie die vorige Anm) S 86 Hacker vertritt hier einen eher kantischen Ansatz der die Grenzen der Vernunft bereits abgesteckt vorfi ndet (ein fuumlr Hacker wichtiges Buch ist P Strawsons Kantdeutung in The Bounds of Sense) Diamond und Conant sehen Wittgenstein als radikaleren Denker nach dem diese Grenzen immer wieder neu bestimmt werden muumlssen bzw nach dem es genau genommen keine Grenzen gibt da das Entschei-dende die Moumlglichkeit neuer Begriffsbildungen ist ohne daszlig man sich an irgendeiner Vorgabe (oder Grenze) orientieren kann die man entweder trifft oder verfehlt

77 Zum einen schreibt Wittgenstein raquoWir koumlnnen einem Zeichen nicht den unrechten Sinn gebenlaquo (54733) also bei der Bedeutungsfestsetzung nichts verfehlen zum anderen erklaumlrt er schlicht Saumltze wie raquo1 ist eine Zahllaquo (41272) die sich auf unsere bestehende Spra-che beziehen fuumlr unsinnig weil darin das Wort raquoZahllaquo als gewoumlhnliches Begriffswort statt als raquoformaler Begrifflaquo und also falsch verwendet wird Daszlig 1 eine Zahl ist ist schon da-durch klar daszlig wir das Zahlzeichen 1 verwenden und gerade deshalb koumlnnen wir dies nicht noch zusaumltzlich behaupten Es ist allerdings richtig daszlig Wittgenstein im letzteren Fall strenggenommen nicht von der raquoVerletzung der logischen Syntaxlaquo spricht sondern das Gebilde einfach raquounsinniglaquo nennt da fuumlr solche Faumllle gar keine logische Syntax im exakten Sinn verfuumlgbar ist Die gesamte Abhandlung ist in dieser Hinsicht nirgends der Versuch eine vorliegende Syntax zu treffen aber auch nicht eine neue Syntax festzulegen sondern sie befaszligt sich vielmehr mit den Bedingungen der Moumlglichkeit von Syntax uumlberhaupt Insofern verfehlen sowohl Hacker auch Diamond und Conant diesen Kernpunkt des Buches

78 So etwa im Abschnitt What makes a Reading resolute in Mono-Wittgensteinianism S 42ndash47

79 Vgl dazu W Kienzler Die Sprache des Tractatus Klar oder deutlich Karl Kraus Witt-genstein und die Frage der Terminologie in F GoumlppelsriederJ Volbers (Ed) Philosophie als Lebensform Muumlnchen 2008 (im Erscheinen)

119Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

ligen Schwaumlchen zu vermeiden80 Sie will Wittgenstein keine metaphy-sischen Lehren zuschreiben81 aber doch sicherstellen daszlig wir aus dem Buch etwas Konstruktives lernen koumlnnen Dazu nimmt sie den Begriff der Klaumlrung als Orientierungspunkt Die Aufgabe des Buches ist es demnach die Logik der Sprache aufzuklaumlren Wenn dies aber ohne die Verwendung positiver Lehren geschehen soll muszlig es indirekt geschehen naumlmlich da-durch daszlig die Sprache sich indirekt selbst klaumlrt das heiszligt daszlig eine solche Klaumlrung nicht auf etwas auszligerhalb der Sprache Bezug nimmt denn das waumlre Kennzeichen einer metaphysischen Auffassung McGinn schreibt et-was kryptisch raquoEs ist ein Werk in dem die Natur des Satzes die schon klar ist obwohl wir sie noch nicht klar sehen sich selbst fuumlr uns klaumlrtlaquo82

Sie betont jedoch sehr zu Recht daszlig Wittgenstein in seiner Abhandlung die eine groszlige Frage loumlsen wollte raquoDas Wesen des Satzes angeben heiszligt das Wesen aller Beschreibung angeben also das Wesen der Weltlaquo (54711)83

Damit aber waumlren alle (oder raquodielaquo) philosophischen Probleme geloumlst Ohne eine solche Voraussetzung die Wittgenstein offenbar als grundle-gende Einsicht erschien ist seine Handlungsweise gar nicht nachvollzieh-bar naumlmlich ein uumlberaus kurzes Buch zu verfassen in dem alle philoso-phischen Fragen im Prinzip jedenfalls beantwortet sind Dies ist nur moumlglich wenn diese Fragen so eng zusammenhaumlngen daszlig die Loumlsung der einen zugleich die Loumlsung der anderen bedeutet Dieser Grundgedanke strukturiert McGinns Buch und gibt ihm eine klare Linie84 Sie untersucht die besonders von Conant behandelten Fragen nach den Bedingungen einer angemessenen Lektuumlre fast gar nicht und antwortet insofern nicht durch Gegenargumente sondern durch die Tat durch einen Gang durch das Buch Es uumlberrascht dabei daszlig sie den Anfang zunaumlchst weglaumlszligt und nach Einleitungskapiteln zur Abgrenzung gegen Frege und Russell gleich mit dem Begriff des Bildes und dann des Satzes beginnt Tatsaumlchlich zeigt McGinn uumlberzeugend auf daszlig die Eingangspassagen am besten als Hin-fuumlhrungen zur raquoTheorie des Satzeslaquo aufgefaszligt werden und nicht als eigen-staumlndiges Theoriestuumlck einer vorangestellten Ontologie (sei diese nur scheinbar als Illusion aufgebaut oder ernst gemeint vgl etwa Diamond

80 Marie McGinn Elucidating the Tractatus81 Marie McGinn Between Metaphysics and Nonsense Elucidation in Wittgensteinrsquos Tracta-

tus In Philosophical Quarterly 49 (1999) S 491ndash513 hier S 107)82 Damit bleibt McGinn nahe an Aumluszligerungen von Diamond und Conant (etwa Method

S 424)83 Zit in McGinn Elucidating S 24084 Das erste Kapitel The Single Great Problem behandelt diese Frage zeigt aber bereits

daszlig sich McGinn nicht vollstaumlndig auf den Text einlaumlszligt sondern ihn von Anfang an stark aus der Perspektive der Philosophischen Untersuchungen her deutet (die im letzen Kapitel er-neut den Maszligstab der Betrachtung bilden)

120 Wolfgang Kienzler PhR

Ethics S 160) Vor dem Hintergrund der Auffassung des sinnvollen Satzes wird der Anfang dann relativ leicht verstaumlndlich In der Darstellung von McGinn wird die Abhandlung wieder zu einer Abhandlung einer nuumlch-ternen Darlegung uumlber die Voraussetzungen sinnvollen Sprechens und Ausdruumlckens uumlber die Unterschiede der Satzarten und die allgemeine Form des Satzes Allerdings ruumlcken so die Einzelheiten der Sprachlogik ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit und die Fragen nach der Natur der Philosophie aber auch die nach der Einheit des Buches treten ganz in den Hintergrund Das Buch enthaumllt kein Kapitel zum Philosophiebegriff des fruumlhen Wittgenstein und kaum Erlaumluterungen zur spezifi schen Form der Darstellung oder zur Strategie der Praumlsentation Einige Themen wie die Ethik Arithmetik oder die Naturgesetze werden ganz uumlbergangen dabei waumlre an diesen Beispielen die angestrebte Einheitlichkeit erst richtig aufzuzeigen gewesen In dieser Hinsicht erklaumlrt McGinn die Abhandlung in der Form die sie 1916 noch hatte bevor Wittgenstein die Schluszligpassa-gen einarbeitete und als sie noch staumlrker eine Abhandlung in raquophiloso-phischer Logiklaquo war85 Gegen Diamond und Conant stellt sie klar heraus daszlig das Ziel der Klaumlrung raquodurch Einsicht in das Funktionieren der Spra-chelaquo erreicht werden soll und nicht indirekt dadurch daszlig raquodie Versuche philosophische Saumltze zu bilden als Unsinn erkannt werdenlaquo (S 254 Anm 6) Die sehr nuumlchterne Art McGinns zeigt einen Wittgenstein der ganz unironisch seine logisch-philosophische Konzeption Schritt fuumlr Schritt entwickelt86

85 Vgl Brian McGuinness Wittgensteinrsquos 1916 Abhandlung in R HallerK Puhl (Hg) Wittgenstein and the Future of Philosophy Wien 2002 S 272ndash282 Die grundlegenden philologischen Arbeiten von McGuinness werden in der gegenwaumlrtigen Debatte leider wenig fruchtbar gemacht

86 Das stark gestiegene Interesse am fruumlhen Wittgenstein hat eine ganze Reihe von Monographien hervorgebracht die jedoch nur selten das gelassene exegetische Niveau McGinns erreichen sondern in der Regel mehr oder weniger exzentrische Deutungen in den Mittelpunkt stellen

M Ostrow Wittgenstein and the Liberating Word CambridgeMass 2002 (eine Zusam-menfassung in Reck From Frege to Wittgenstein) versucht eine an Floyd orientierte raquodialek-tische Interpretationlaquo die sich am Leitmotiv des raquoerloumlsenden Worteslaquo orientiert aber ins-gesamt zu vage bleibt zumal sich die Differenz zum spaumlteren Wittgenstein ganz aufzuloumlsen scheint und wichtige Passagen unberuumlcksichtigt bleiben

E Friedlander Signs of Sense Reading Wittgensteinrsquos Tractatus Cambridge Mass 2001 scheint das Raumltselhafte geradezu zu genieszligen und nennt als sein Ziel raquonicht das Raumltsel des Buches zu loumlsen sondern seinen raumltselhaften Charakter auf eine wahrhaft zum Denken herausfordernde Art aufzuzeigenlaquo (S XV) und will geradezu raquoseinen raumltselhaften Charak-ter rechtfertigenlaquo (16)

U Nordmann Wittgensteinrsquos Tractatus An Introduction Cambridge 2005 faszligt das Buch als ein Gedankenexperiment und eine groszlige Reductio ad Absurdum auf zu der er einige Praumlmissen ergaumlnzt Er deutet das Buch als im Konjunktiv geaumluszligert wodurch der Behaup-

121Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Ausblick

Die Arbeiten von Diamond und Conant haben zu einer neuen Welle des Interesses an Wittgensteins Fruumlhwerk gefuumlhrt und die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten vor allem aber auch das Potential seiner Abhandlung gelenkt Im Zentrum steht dabei die Natur der Philosophie als Erlaumlute-rung die selbst nicht in die Gestalt einer Lehre gebracht werden kann oder anders ausgedruumlckt der entscheidende Unterschied zwischen einer philosophischen und einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Untersu-chung

Gerade dadurch daszlig sie die Abhandlung stellenweise sehr nah an den spaumlten Wittgenstein heranruumlcken eroumlffnen Conant und Diamond Moumlg-lichkeiten die Souveraumlnitaumlt und Subtilitaumlt des Buches erst richtig zu wuumlr-digen Dies geschieht jedoch um den Preis daszlig einige Teile des Buches herausgegriffen andere dagegen kaum beruumlcksichtigt werden

Nicht hinreichend geklaumlrt scheint auch die Frage nach dem sprachlichen Grundton des Buches Diamond geht immer wieder von einem nahe an der Alltagssprache stehenden Redegestus aus (aumlhnlich wie der spaumlte Wittgen-stein) waumlhrend Conant aus der weiteren Perspektive ironische Zuumlge be-schreibt87 Gemeinsam ist den resoluten Lesern daszlig sie Wittgensteins Saumltze in der Abhandlung auf doppelte Weise auffassen Sie unterscheiden an vielen Stellen einen buchstaumlblichen naheliegenden Sinn der sich bei naumlherer Be-trachtung als inkohaumlrent erweist und der so zerfaumlllt88 Daher wird in ihrer

tungscharakter eingeklammert die Klaumlrungsfunktion jedoch trotzdem ermoumlglicht wird Er gewinnt so eine Kategorie von Saumltzen die raquounsinnig aber bedeutungsvolllaquo (176) sind

L Gunnarsson Wittgensteins Leiter Bodenheim 2002 greift einen Gedanken Conants auf daszlig wir naumlmlich den Hauptteil des Buches wegwerfen und den Rahmen behalten sollen (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 286) und entwickelt daraus die Fik-tion es waumlre tatsaumlchlich nur das Vorwort und der Schluszlig der Abhandlung erhalten ndash und will daraus den Gehalt des Buches ohne Verlust rekonstruieren Diese Veranschaulichung zeigt besonders klar auf wie verfehlt dieser Ansatz ist wenn man ihn auf die konkrete Interpretationspraxis bezieht

87 Die Parallele zwischen Wittgenstein und Kierkegaard scheint in zentralen Punkten gerade nicht zu bestehen denn Wittgenstein distanziert sich gerade nicht von seinem Buch sondern erklaumlrt seine Auffassungen fuumlr defi nitiv richtig und alternativlos ganz ent-gegen dem verwirrenden Spiel Kierkegaards mit unterschiedlichen Pseudonymen und Perspektiven Ein passenderer Vergleich waumlre etwa mit Hume moumlglich der am Ende seiner Untersuchung uumlber die Prinzipien der Moral (Abschnitt 9 Teil 1) seine Ergebnisse fuumlr derart einfach klar kohaumlrent und uumlberzeugend haumllt daszlig dem nichts hinzuzufuumlgen ist so daszlig er selbst geradezu in Versuchung kommen koumlnnte dogmatisch davon uumlberzeugt zu sein

88 So fuumlhrt Diamond (in Ethics wie Anm 37) folgende Beispiele dafuumlr an 1 das woruuml-ber man schweigen muszlig (aber das kann es doch nicht geben weil es kein raquodaruumlberlaquo ist S 149) 2 die Saumltze der Abhandlung die zu verstehen seien (oder doch raquoer selbstlaquo wie Witt-genstein dann uumlberraschenderweise sagt S 149) 3 die Anfangssaumltze uumlber die Welt (aber daruumlber kann es doch keine Saumltze geben S 160) 4 der Schein daszlig ab 64 Saumltze uumlber Ethik

122 Wolfgang Kienzler PhR

Perspektive das Buch durchgehend doppelboumldig und loumlst sich schlieszliglich in Nichts auf wobei in der Aufl oumlsung gerade die Absicht des Buches bestehen soll89 Demgegenuumlber kann festgehalten werden daszlig Wittgenstein nir-gends von Ironie spricht wohl aber davon daszlig er das Wesentliche in Kuumlr-ze klar ausdruumlcken will Eine wichtige Differenz innerhalb der resoluten Lesart liegt weiter darin welche Wichtigkeit man den eher technischen Aspekten der Abhandlung zuschreibt Ricketts und Goldfarb sehen viele Zuumlge des Buches von technischen Erwaumlgungen motiviert und gepraumlgt waumlhrend Diamond und Conant den Sinn der symbolischen Notation vor allem darin sehen wesentliche Unterschiede klarzustellen90

Das Motto erklaumlrt daszlig man raquoalles was man weiszliglaquo schlieszliglich raquoin drei Worten sagenlaquo kann Viele der scheinbaren Widerspruumlche und Doppelt-heiten die resolute Leser beobachten koumlnnten sich von daher moumlglicher-weise der Absicht verdanken im Buch logisch praumlzise Saumltze zu erwarten eine Absicht die bestaumlndig getaumluscht wird91 Wuumlrde man die Saumltze eher als Instrumente verstehen die allmaumlhlich entsprechend den Stufen der Lei-ter zur Klarheit anleiten ohne daszlig der Leser in die selbstrefl exive Geste verwickelt werden soll dann koumlnnte eine einfachere und klarere Lesart entstehen die auch mehr Sinn fuumlr den Zusammenhang und die spezi-fi schen Darstellungsmittel des Buches entwickeln wuumlrde ndash wenn denn eine solche zusammenhaumlngende Erlaumluterung als gemeinsames Ziel fest-staumlnde92 Auch Fragen der Textkritik die derzeit nur sehr sporadisch ge-streift werden koumlnnten dann eine groumlszligere Rolle spielen

Wolfgang Kienzler (ChemnitzJena)

vorkommen (die es doch gar nicht geben kann S 164) 5 der Schein daszlig im Buch Saumltze raquouumlber Logiklaquo vorkommen (die es ebenfalls nicht geben kann S 164) In allen Beispielen kann man die Situation natuumlrlicher so darstellen daszlig man die Saumltze der Abhandlung von vornherein zwar woumlrtlich aber nicht buchstaumlblich nimmt sondern sich von ihren zur Klarheit die sich erst allmaumlhlich einstellen kann fuumlhren laumlszligt

89 Diese Doppeltheit der Lesart ist den resoluten Lesern und ihren Kritikern gemein-sam sie ist aber keineswegs selbstverstaumlndlich und widerspricht dem Grundgedanken der Klarheit

90 Dies ist das Thema von Diamond What Does a Concept-Script Do in The Realistic Spirit S 115ndash144 Sie sieht darin ein raquoWerkzeug geistiger Befreiunglaquo (143) deutet damit aber tendenziell wieder einen Gedanken der Abhandlung in Frege hinein der zunaumlchst die Umgangssprache ganz zugunsten der exakteren Begriffsschrift verbannen wollte

91 In weiten Teilen der resoluten Beitraumlge kann man auch eine gewisse Vergegenstaumlnd-lichung mancher von Wittgenstein verwendeter Woumlrter wahrnehmen die dazu fuumlhren daszlig die Rede von raquoUnsinnlaquo raquoErlaumluterunglaquo u a zunaumlchst gegenstaumlndlich miszligverstanden und anschlieszligend als Gegenstaumlndlichkeit leugnend gedeutet wird Eine Beachtung von Wittgensteins ungezwungenem und unterminologischem Sprachgebrauch koumlnnte viele dieser Schleifen uumlberfl uumlssig machen

92 Das Buch von McGinn kann dazu als erster wichtiger konstruktiver Schritt angese-hen werden auch wenn es insgesamt etwas zu additiv verfaumlhrt

Page 8: Neue Lektüren von Wittgensteins Logisch-Philosophischer ... · 10 E. Stenius : Wittgensteins Traktat [1960], Frankfurt/M. 1969, nennt den Schluß »keine echte Verdammung [. . .]

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Klaumlrung der Gedanken und der Klarstellung der grundlegenden Funk-tionsweise des sprachlichen und symbolischen Ausdrucks29

Nach Geach muszlig man Wittgensteins Buch so verstehen daszlig darin zum einen etwas gesagt wird daszlig aber wichtige Zuumlge der Realitaumlt ( features of reality) entsprechend Wittgensteins Analysen nicht gesagt wohl aber ge-zeigt werden koumlnnen Die Schluszligbemerkung waumlre dann so aufzufassen daszlig man einsehen muszlig daszlig die philosophisch wichtigen Einsichten nur gezeigt werden koumlnnen sie damit aber in Saumltzen enthalten sind die streng genommen unsinnig sind weil sie nicht etwas raquosagenlaquo so naumlmlich wie der Terminus raquosagenlaquo in der Abhandlung verwendet wird Geach sieht in dieser Unterscheidung eine Einsicht die Wittgenstein von Frege uumlbernimmt und erweitert

In ihrem Aufsatz Throwing Away the Ladder (1985)30 setzt sich Diamond intensiv mit Geach auseinander und entwickelt daraus wesentliche Ele-mente die die Diskussion bis heute praumlgen Dazu gehoumlrt der Bezug auf Frege In seinen raquoErlaumluterungenlaquo31 logischer Grundbegriffe also dessen was er das raquoLogischeinfachelaquo nennt und was entsprechend durch keine Defi nition weiter zergliedert werden kann spricht Frege deutlich aus daszlig er sich bildlich und unexakt ja teilweise sogar streng genommen falsch ausdruumlcken muszlig um das Gemeinte zu vermitteln32 Das wichtigste Bei-spiel Freges ist die grundlegende Unterscheidung von Gegenstand und Begriff die er so erlaumlutert daszlig Gegenstaumlnde abgeschlossen Begriffe dage-

29 Die Saumltze der Philosophie waumlren nach Wittgenstein daher in Abgrenzung zu den beiden ersten Gruppen als raquounsinniglaquo einzustufen Diese relativ harmlose Deutung die 654 zu einer letztlich terminologischen Bemerkung macht wird von Diamond und Conant jedoch nicht geteilt Es ist eine Staumlrke des Ansatzes von DiamondConant daszlig sie die Abhandlung nicht nach einem terminologischen Schema zu entschluumlsseln versuchen im besonderen Fall von 654 ist ihr Ergebnis dennoch zweifelhaft denn man kann die Bemer-kung als raquoabschlieszligende selbstrefl exive Schluszligbemerkunglaquo verstehen die einfach ein letz-tes zusaumltzliches Licht auf das Ganze werfen und die Klarheit damit abrunden nicht aber diese erst herstellen soll Der Vergleich des Schlusses mit der Pointe eines Witzes die alles in ein voumlllig neues Licht taucht und die Spannung zusammenbrechen laumlszligt (vgl unten Anm 62) wirkt etwas gezwungen In seinen Anweisungen an Ogden (Letters to Ogden Oxford 1973 S 19) fuumlr die Uumlbersetzung des Buches besteht Wittgenstein darauf daszlig der raquoSinn nicht die Woumlrterlaquo uumlbersetzt werden und nennt dann wieder das Ganze raquoUnsinnlaquo dies weist darauf hin daszlig fuumlr ihn das Ganze nicht einfach durch und durch als Unsinn zu bezeichnen ist

30 Throwing Away the Ladder How to Read the Tractatus auch in The Realistic Spirit S 179ndash204

31 Auch dieser Terminus stammt von Frege obwohl er nicht auf den Bereich analy-tischer Philosophie beschraumlnkt ist (vgl M Heideggers Erlaumluterungen zu Houmllderlins Dichtung und das zugehoumlrige Vorwort)

32 Vgl dazu auch Gottfried Gabriel Der Logiker als Metaphoriker Freges philosophische Rhetorik in Gabriel Zwischen Logik und Literatur Stuttgart 1991 S 65ndash88 Auch Gabriel sieht bei Wittgenstein die konsequente Durchfuumlhrung Fregescher Einsichten

103Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

gen ungesaumlttigt sind und eine Leerstelle aufweisen die nur durch einen Gegenstand gesaumlttigt werden kann Dies gilt fuumlr Frege sowohl fuumlr die Be-griffe und Gegenstaumlnde selbst als auch fuumlr die Ausdruumlcke mit denen wir sprachlich Begriffe bzw Gegenstaumlnde bezeichnen Daher ist jedoch fuumlr ihn jeder Ausdruck ohne Leerstelle zwangslaumlufi g ein Gegenstandsname kein Begriffswort Sprachlich gesehen sind alle Ausdruumlcke mit dem be-stimmten Artikel (raquoder Nlaquo) Eigennamen solche mit dem unbestimmten Artikel (raquo ist ein Pferdlaquo) Begriffswoumlrter Damit aber ist ein Ausdruck wie raquoder Begriff Pferdlaquo schon aus syntaktischen Gruumlnden ein Gegenstandsna-me und kein Begriffswort Entsprechend erklaumlrt Frege den Satz raquoDer Be-griff Pferd ist kein Begrifflaquo allein aufgrund der syntaktischen Form fuumlr wahr weil die Worte raquoder Nlaquo und damit auch raquoDer Begriff Nlaquo nur einen Gegenstand bezeichnen koumlnnen Daruumlber hinaus erklaumlrt er daszlig es voumlllig unmoumlglich ist einen wahren Satz der Form raquoDer Begriff F ist ein Begrifflaquo zu bilden da wir an der Subjektstelle immer im logischen Sinn einen Ei-gennamen und kein Begriffswort vorfi nden Wir koumlnnen also nach Frege in gewoumlhnlichen Saumltzen gar keine korrekten Aussagen uumlber Begriffe ma-chen Gegen Geach deutet Diamond diesen Fall nun so daszlig Frege mit dem paradox klingenden Satz seine Leser zur richtigen Einsicht in das Wesen des Begriffs anleiten moumlchte und zwar indem er absichtsvoll etwas Unsinniges sagt in Gestalt einer vorlaumlufi gen Ausdrucksweise (transitional remark) die spaumlter ganz wegfallen kann wenn die Unterscheidung ver-standen worden ist33 Dieses Verstaumlndnis aber zeigt sich so Diamond nicht darin daszlig man einen raquoZug der Wirklichkeitlaquo erfaszligt hat sondern darin daszlig man Freges Notation zu beherrschen gelernt hat Ihr zufolge druumlckt sich in der Notation also in der Schreibweise nicht in einzelnen Behaup-tungssaumltzen34 Freges Unterscheidung von Gegenstand und Begriff am klarsten und eindeutigsten aus und der Sinn der Uumlbergangsbemerkungen liegt demnach einzig darin in den korrekten Gebrauch der Notation und damit des logischen Systems mit seinen eingearbeiteten Unterscheidungen einzufuumlhren Vor diesem Hintergrund gibt es keinen raquoInhaltlaquo der nach der Einfuumlhrung uumlbrig bliebe und damit auch keinen Inhalt den man raquozeigenlaquo muumlszligte oder koumlnnte und daher kann man die Leiter dann wegwerfen (und einfach den Symbolismus richtig anwenden) Eine Deutung wie diejenige

33 Als Fregedeutung kann diese Interpretation nicht uumlberzeugen weil Frege seinen pa-radox klingenden Satz ohne Zoumlgern fuumlr wahr haumllt Aus der Perspektive Wittgensteins je-doch der den Gedanken einer notwendigen strukturellen Parallelitaumlt zwischen raquoZeichen und Bezeichnetemlaquo uumlberwunden hat waumlre diese Deutung uumlberzeugend Man kann Dia-mond in diesem Punkt eine Uumlberinterpretation des fruumlhen Wittgenstein vorwerfen die sie auch noch auf Frege ausdehnt

34 Das heiszligt daszlig Freges Grundunterscheidung sich praktisch an jedem symbolisch no-tierten Satz zeigen laumlszligt

104 Wolfgang Kienzler PhR

Geachs erscheint vor diesem Hintergrund als halbherzig Zum einen meint man daszlig manche wichtigen Saumltze nichts sagen sondern nur etwas zeigen zum anderen aber haumllt man doch daran fest daszlig diese Saumltze einen Inhalt haben und indirekt etwas uumlber die Realitaumlt ausdruumlcken Fuumlr Diamond ist das ein Sich-druumlcken (chickening out)35 Diesem halbherzigen Versuch setzt sie ein konsequentes Ernstnehmen der Unsinnigkeit der Abhandlungssaumltze und des Wegwerfens der Leiter entgegen Der Versuch mit dem raquoUnsinnlaquo Ernst zu machen hat als raquoresolute Lesartlaquo (resolute reading) dem neuen An-satz spaumlter den Namen gegeben36 Diamond stellt die Frage wie ernst man 654 tatsaumlchlich nehmen sollte und weiter ob der Redeweise von raquoZuumlgen der Realitaumlt die nicht in Worten ausgedruumlckt werden koumlnnenlaquo ein Sinn abzugewinnen ist37 Diamonds Antwort ist ebenso einfach wie provokativ Ja die Bemerkung 654 muszlig sehr ernst genommen werden und gerade deshalb kann es keine unausdruumlckbaren Zuumlge der Realitaumlt geben sondern wir muumlssen akzeptieren daszlig die Saumltze der Abhandlung im strengen und gewoumlhnlichen Sinne unsinnig sind sie sind um das Vorwort zu zitieren raquoeinfach Unsinnlaquo Damit aber verliert die Unterscheidung von Sagen und Zeigen ihren quasi-metaphysischen Charakter38

Bemerkung 654 deutet Diamond nun so daszlig Wittgenstein darin einen bewuszligten und wesentlichen Unterschied mache zwischen dem Verstehen seiner Saumltze und dem Verstehen seiner Person (raquower mich verstehtlaquo)39 Man solle naumlmlich verstehen daszlig seine Saumltze nicht zu verstehen sind Wir sol-len genauer gesagt mit unserer Einbildungskraft uns in die Position je-mandes versetzen der glaubt die Saumltze des Buches zu verstehen damit aber sollen wir so Diamond zugleich verstehen daszlig es hier nichts zu verstehen gibt daszlig es sich nur um eine Illusion von Verstehen handelt

35 Systematisch betrachtet kann man darin ein noch zu weitgehendes Festhalten an der grundsaumltzlichen Aumlhnlichkeit der Funktionsweise (oder raquoBezeichnungsweiselaquo) saumlmtlicher Satzarten nach dem Vorbild Freges sehen der die Grundunterscheidung von ZeichenSinn des ZeichensBedeutung des Zeichens uumlberall durchfuumlhren will waumlhrend nach Wittgenstein schon fuumlr logische Saumltze weder von Sinn noch von Bedeutung die Rede sein kann

36 Ricketts spricht in seinem Beitrag zum Cambridge Companion (Anm 19) S 93 von einer raquoresolut und konsistent angewendeten Konzeption der Wahrheitlaquo nach der es raquokeine unausdruumlckbaren Wahrheiten geben kannlaquo In Anschluszlig daran hat sich dann auf eine Anregung Goldfarbs hin die Rede einer raquoresoluten Lesartlaquo eingebuumlrgert

37 Diamond Ethics Imagination and the Method of Wittgensteinrsquos Tractatus (1991) auch in New Wittgenstein S 149ndash173 hier S 181

38 Daszlig die Unterscheidung auf andere Weise logisch zentral ist fuumlhrt Diamond an an-derer Stelle aus (vgl Anm 12)

39 Diamond greift dabei (S 160) indirekt auch den Gedanken Cavells auf daszlig es in Wittgensteins Philosophie immer auch um Selbsterkenntnis geht also um die eigene Per-son Dieses Element spielt vor allem bei anderen Vertretern der resoluten Lesart eine be-traumlchtliche Rolle und traumlgt einiges zu ihrer Attraktivitaumlt bei

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(150) Die Saumltze und damit das Buch sollen als vollstaumlndig unsinnig er-kannt werden ndash davon ausgenommen sind allerdings die Bemerkungen die den Rahmen bilden und in denen Wittgenstein einige Hinweise dar-uumlber gibt wie das Buch aufzufassen ist (S 149)40 Es gibt dabei keine lo-gische wesentliche Unterscheidung zwischen zwei Arten von Unsinn sol-chem der etwas Richtiges zeigt und solchem der schlicht Ausdruck einer Verwirrung ist (wie die Saumltze der traditionellen Metaphysik)41 Daszlig man-che unsinnigen Saumltze als Erlaumluterungen dienen koumlnnen ist diesen Saumltzen ganz aumluszligerlich (S 159) sozusagen eine Zufaumllligkeit hat aber nichts mit einem moumlglichen Gehalt dieser Saumltze zu tun Dies wendet sich gegen eine entsprechende Unterscheidung bei Anscombe zwischen raquoden Dingen die wahr waumlren wenn sie gesagt werden koumlnnten und denen die falsch wauml-ren wenn sie gesagt werden koumlnntenlaquo42 Man kann nach Diamond von solchen Unsinnsarten nicht sprechen Eine Konsequenz dieser Radikalitaumlt liegt nun darin daszlig die gesamte innere Struktur der Abhandlung verloren-zugehen scheint Wenn alles Unsinn ist was kann dann noch Unterschiede der einzelnen Passagen ausmachen Genau dies entspricht gerade einem zentralen Motiv von Diamonds Ansatz So verweist sie etwas darauf daszlig im Buch zwar Bemerkungen mit ethischer Thematik vorkommen daszlig aber in einem tieferen Sinne jeder Satz (oder das gesamte Buch) einen ethischen Charakter hat indem es darin eine bestimmte Haltung aus-druumlckt ganz unabhaumlngig vom gerade verwendeten Vokabular Diese Auf-fassung daszlig zentrale philosophische Einsichten vom jeweils verwendeten Vokabular und den aufgestellten Behauptungen weitgehend unabhaumlngig sind weil es nicht auf das Vokabular sondern auf den Gebrauch ankommt ist ein Kernstuumlck in Diamonds Ansatz43 Ihr geht es vor allem anderen darum Wittgensteins philosophische Haltung aufzuklaumlren indem sie spe-zifi sche Passagen die Miszligverstaumlndnisse verursachen erklaumlrt Die Absicht

40 Diese radikal klingende Behauptung ist insofern miszligverstaumlndlich als Diamond nicht alle Saumltze der Abhandlung sozusagen per defi nitionem fuumlr unsinnig erklaumlren will ihr geht es vielmehr vor allem darum klarzustellen daszlig wenn ein spezifi scher Satz unsinnig ist er es auch wirklich ist und daszlig es inkonsequent ist sozusagen einen raquoSinn zweiter Ordnunglaquo einzufuumlhren

41 Die starke Konzentration der Diskussion auf Fragen von raquoUnsinnlaquo uumlbersieht haumlufi g daszlig Wittgenstein Unsinn ausgesprochen liebte Einer seiner Lieblingsautoren war Lewis Carroll auf den er haumlufi ger in seinen Schriften anspielt oder verweist und er selbst sam-melte uumlber Jahrzehnte Beispiele besonders absurder Zeitungsartikel Vgl dazu jetzt Brian McGuinness (Hg) Wittgenstein in Cambridge Letters and Documents Oxford 2008 S 192 und 468 auszligerdem Brian McGuinness In Praise of Nonsense (unveroumlffentlicht)

42 Anscombe Introduction (Anm 9) S 162 zit von Diamond Ethics S 15843 Sie fuumlhrt dies an Beispielen des spaumlten Wittgenstein aus der Mathematik (u a den

erwaumlhnten Vorlesungen) und der Ethik in ihrem Beitrag zum Cambridge Companion naumlher aus und erkennt ein solches Vorgehen auch in der Abhandlung und bei Frege wieder

106 Wolfgang Kienzler PhR

Wittgensteins Schriften als Ganze zu interpretieren tritt demgegenuumlber ganz in den Hintergrund Insofern ist 654 auch wieder nicht uumlberzube-werten sondern dient nur als ein besonders markanter Ausgangspunkt um verfehlte Auffassungen abzuwehren44 So ist die Abhandlung fuumlr Dia-mond kein Buch uumlber Logik denn ein solches kann es streng genommen ebenfalls nicht geben Die Logik ist vielmehr raquodem was Saumltze sind bereits intern eingeschriebenlaquo (S 151) Anders gesagt Wir koumlnnen an jedem be-liebigen Satz wenn wir nur richtig hinsehen alle Elemente der richtigen logischen Auffassung aufweisen und daher ist jeder Versuch diese vor-gaumlngige Struktur explizit zu machen immer etwas Nachtraumlgliches das schon raquozu spaumlt kommtlaquo und dadurch stets etwas Schiefes eben Unsinniges an sich hat Der eigentliche Ausdruck von Wittgensteins philosophischen Auffassungen sind daher nicht irgendwelche Inhalte seines Buches son-dern die Art wie sie ausgedruumlckt sind (S 170)

Eine besondere Eigenheit fast aller Arbeiten Diamonds ist ihre sehr spe-zifi sche Ausrichtung auf eine je besondere Fragestellung In vielen Faumlllen greift sie charakteristische Fehleinschaumltzungen oder auch nur miszliggluumlckte Formulierungen anderer Autoren auf und erlaumlutert geduldig sorgfaumlltig und oft in wiederholten bisweilen kreisenden Gedankengaumlngen welche Art von Fehleinschaumltzung vorliegt aus der die verungluumlckte Formulierung hervorgegangen ist Ihre Klaumlrungsarbeit bezieht sich fast immer auf einen konkreten Fall nicht auf eine allgemeine These Dadurch sperren sich ihre Texte gegen Lesegewohnheiten die auf Thesen und Argumente oder auf systematische Darlegungen und einen hohen Allgemeinheitsgrad hin ori-entiert sind Besonders instruktiv ist ihre Aufklaumlrung eines Beispiels von Anscombe (raquorsaquoJemandlsaquo ist nicht der Name von jemandemlaquo) in dem sie einen Versuch beleuchtet mit dem Anscombe ihrerseits im Sinne des fruumlhen Wittgenstein eine ganz elementare sprachlogische Klarstellung zu treffen versucht die den Unterschied zwischen Sagen und Zeigen nicht in allge-meiner (raquometaphysischerlaquo) sondern in ganz spezifi scher logischer Absicht betrifft45 Ihr Ergebnis lautet daszlig die Logik und damit die Gebrauchswei-sen von Ausdruumlcken wie raquojemandlaquo im einzelnen sorgfaumlltig beschrieben werden muumlssen daszlig man dies nicht mit einem Satz allein klarstellen kann

44 Die Erfolgsgeschichte der resoluten Lesart haumlngt eng damit zusammen daszlig man das ganze Buch als raquobloszligen Unsinnlaquo auffassen will bei Diamond liegt jedoch genau besehen keine Interpretation des gesamten Buches vor Sie will vielmehr nur einige Kernpunkte klarstellen verknuumlpft diese Klarstellungen allerdings mit einigen allgemeiner klingenden Zusatzbemerkungen

45 Diamond Saying and Showing (wie Anm 12) In diesem Beispiel bleibt jedoch An-scombe die die Frage in einem Streich entscheiden und klaumlren will dem Geist des fruumlhen Wittgenstein naumlher als Diamond mit ihrer sorgfaumlltigen Beschreibung der Sprachspiele mit raquojemandlaquo

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Damit will Diamond einen Beitrag dazu leisten die raquophilosophi sche Klauml-rung zu klaumlrenlaquo (to clarify philosophical clarifi cation)46

Das Ziel ihrer Arbeit ist jeweils die Klaumlrung unuumlbersichtlicher begriff-licher Verhaumlltnisse um so zu einer natuumlrlichen raquorealistischenlaquo Sicht zu kommen47 An Paradoxien ist sie grundsaumltzlich nicht interessiert auszliger insofern es darum geht deren Quellen aufzudecken sie als Symptome von begriffl ichen Unklarheiten zu sehen

Charakteristisch fuumlr Diamonds Vorgehensweise ist auch eine Uumlberle-gung die von einer Bemerkung Kripkes ihren Ausgang nimmt Einmal schreibt Wittgenstein raquoMan kann von einem Ding nicht aussagen es sei 1 m lang noch es sei nicht 1 m lang und das ist das Urmeter in Parislaquo (PhU 50) Kripke nennt diese Behauptung die aus dem Zusammenhang gerissen etwas entschieden Paradoxes hat offensichtlich falsch ohne je-doch den genauen Zusammenhang zu beachten48 Genau darauf kommt es Diamond aber an und sie erlaumlutert detailliert hartnaumlckig und zielstrebig

46 Ebd S 15347 Diamonds Grundanliegen kann man auch so formulieren daszlig sie an die Stelle von

philosophischen raquoPhantasienlaquo die aufs Allgemeine eines zurechtgestellten Sprachgebrauchs gehen eine realistische Einstellung die sich vor allem um Einzelheiten kuumlmmert setzt (The Realistic Spirit in der gleichnamigen Sammlung S 39ndash72)

48 Tatsaumlchlich ist die Bemerkung Kripkes weitaus weniger beilaumlufi g als Diamond sugge-riert Er schreibt raquoWittgenstein sagt etwas sehr Verwirrendes hieruumlber Er sagt raquoMan kann von einem Ding nicht sagen es sei 1 m lang noch es sei nicht 1 m lang und das ist das Urmeter in Paris ndash Damit haben wir aber diesem natuumlrlich nicht irgendeine merkwuumlrdige Eigenschaft zugeschrieben sondern nur seine eigenartige Rolle im Spiel des Messens mit dem Metermaszlig gekennzeichnetlaquo (PhU 50) Das scheint aber in der Tat eine sehr raquomerk-wuumlrdige Eigenschaftlaquo fuumlr einen Stab zu sein Ich denke Wittgenstein muszlig sich hier irren Wenn der Stock 3937 Inches lang ist (ich nehme an daszlig wir einen anderen Standard fuumlr Inches haben) warum ist er nicht 1 m lang Wir wollen jedenfalls annehmen daszlig Witt-genstein sich irrt und daszlig der Stab 1 m lang istlaquo (Kripke Naming and Necessity 1980 Name und Notwendigkeit FrankfurtM 1981 S 65 f) Diamond weist zwar zu Recht darauf hin daszlig Kripkes theoretisches Vokabular nur uumlber Eigenschaften (er diskutiert Fragen von Referenz und sprachlicher Bedeutung separat) nicht aber uumlber raquoStellungen im Sprachspiellaquo verfuumlgt und daszlig er deshalb zur tatsaumlchlich merkwuumlrdigen Deutung des Satzes als raquokontin-gente Wahrheit a priorilaquo (S 68) kommt (Dies entspricht wiederum in einigem der ja auch raquoeigenartigenlaquo Rolle im Sprachspiel) Beim Ausfuumlhren des Beispiels gegen Wittgenstein argumentiert Kripke jedoch intern vollkommen konsistent und faktisch auch an einem Sprachspiel orientiert wenn er (in Klammern) annimmt daszlig wir uumlber einen eigenen unabhaumlngigen Maszligstab fuumlr englische Zoll verfuumlgen Dann naumlmlich kann man das Urmeter ohne weiteres wie jeden anderen Gegenstand auch (auszliger in diesem Spiel dem raquoUr-Yardlaquo das Kripke jedoch nicht erwaumlhnt ndash und insofern hat Kripke die Problematik nur geschickt verschoben) abmessen und das Ergebnis anschlieszligend umrechnen Damit nimmt Kripke Wittgensteins Bemerkung das Paradoxe fuumlhrt dabei allerdings (unkommentiert) einen raquoDoppelstandardlaquo der Messung ein der nicht weiter geklaumlrt wird Die Sorgfalt in Kripkes Ausfuumlhrungen legen daher nahe die Rede davon daszlig Wittgenstein raquoirrelaquo nicht als Hin-weis auf einen einzelnen zufaumllligen Fehler sondern auf eine insgesamt verfehlte Auffas-sung zu verstehen

108 Wolfgang Kienzler PhR

wie Wittgenstein zu seiner Aumluszligerung kommt und inwiefern die Institution des Messens davon abhaumlngt daszlig man Maszligstaumlbe einfuumlhrt mit denen dann andere Objekte gemessen werden49 Da Laumlngenangaben entsprechend im-mer auf den Vergleich zu einem Maszligstab bezogen sind entsteht die kuriose Situation daszlig die Laumlnge des Urmeters durch Anlegen an sich selbst be-stimmt werden muumlszligte Nach Kripke ist dies ein Fall von Identitaumlt d h im Fall der Identitaumlt kann man auch ohne jede Messung sagen daszlig das betref-fende Objekt 1 m lang ist (oder eben raquoso lang wie es istlaquo ndash denn wie lang sollte es sonst sein) Damit aber gleicht er den Fall der Messung an den Fall der bloszligen Festsetzung in dem gar keine Messung erfolgt und genau genommen auch keine Messung moumlglich ist (denn man kann keinen Maszlig-stab an sich selbst anlegen weil dazu mindestens zwei Objekte benoumltigt werden) an und uumlbersieht die begriffl iche Verschiedenheit beider Faumllle Durch dieses Beispiel beleuchtet Diamond vor allem den Begriff der Gleichheit bzw Identitaumlt der von Kripke und weiten Teilen der philoso-phischen Tradition als unproblematischer absoluter Fixpunkt in Anspruch genommen wird den Wittgenstein aber einer fruumlhen Kritik (553 ff) und einer spaumlteren genauen Beschreibung (PhU 251 ff) unterzogen hat Zur Aufklaumlrung ist es noumltig den Ort den die Rede von raquogleichlaquo und raquoiden-tischlaquo in der Sprache hat genauer zu beleuchten und zu beschreiben an-statt ihn als quasi sprachunabhaumlngig gegeben einfach vorauszusetzen50

Diamonds Arbeit zielt so durchgehend auf die Klaumlrung scheinbar para-doxer oder merkwuumlrdiger Behauptungen ab und sie sieht ihr Ziel erst dann erreicht wenn aufgezeigt ist daszlig im Sprachspiel alles mit ganz ge-woumlhnlichen Dingen zugeht Paradoxe Behauptungen haben darin keinen Ort Auch ihre Anmerkungen zum Schluszlig von Wittgensteins Abhandlung sind daher systematisch als solche Aufklaumlrungen (etwa der paradoxen Re-deweise von Saumltzen die raquowahr waumlren wenn sie gesagt werden koumlnntenlaquo) zu verstehen auch wenn sie stellenweise selbst sehr uumlberraschend klingen Ihr Grundgedanke lautet jedoch Auch raquounsinniglaquo ist ein ganz gewoumlhn-liches Wort welches Wittgenstein verwendet und wenn er es verwendet dann meint er es auch so wie er es sagt51

49 Diamond betont mit (dem spaumlten) Wittgenstein die grundlegende Bedeutung von sprachlichen Institutionen waumlhrend Kripke konsequent davon absieht und alles als Fakten (unterschiedlicher Art) interpretiert

50 Kripkes Auffassung der Identitaumlt ist sprachunabhaumlngig und sozusagen raquorein objektivlaquo angelegt Fuumlr ihn ist jeder Gegenstand notwendigerweise mit sich selbst identisch und weist eine bestimmte raquoobjektivelaquo Laumlnge auf Wittgenstein dagegen weist darauf hin daszlig auch zum Wort raquoidentischlaquo ein Sprachspiel gehoumlrt das diesem Wort erst seine klare Ver-wendung gibt

51 Einiges spricht jedoch auch dafuumlr daszlig diese Auffassung eher dem spaumlten Wittgen-stein entspricht und daszlig in 654 raquounsinniglaquo gerade nicht im alltaumlglichen Sinn verwendet wird

109Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

5 Es ist bei dieser sehr punktuellen Methodik um so bemerkenswerter und selbst geradezu paradox daszlig Diamonds Ansatz der Ausgangspunkt einer ganzen Richtung der Wittgensteininterpretation und noch dazu der Abhandlung geworden ist Diese Entwicklung hat viel mit der Arbeit von James Conant zu tun der dem Ansatz eine allgemeinere und leichter ein-zuordnende Form gegeben und das Zentrum der Aufmerksamkeit noch viel staumlrker als Diamond auf die Abhandlung und ihren Schluszlig gelenkt hat Conant stellt Wittgensteins Text in einen weiteren Rahmen indem er etwa Wittgenstein mit Kierkegaard Carnap und anderen Autoren ver-gleicht und indem er sich um die Historiographie der Tractatusdeutungen und insbesondere der impliziten Voraussetzungen dieser Deutungen in einer Weise bemuumlht daszlig die resolute Lesart als natuumlrlicher Abschluszlig einer Stufenfolge erscheint Dadurch entsteht der Eindruck daszlig die raquoresolutelaquo Deutung auf uumlberlegene Weise alle vorangegangenen Deutungsversuche in sich aufnimmt und ihnen den gehoumlrigen Platz anweist so daszlig kein sys-tematischer Raum mehr fuumlr Gegenvorschlaumlge bleibt52

In seiner bisher umfangreichsten Darstellung53 gibt Conant zunaumlchst eine Rekonstruktion der rationalen Genese der bisherigen Lesarten die er die raquopositivistischelaquo und die raquoUnsagbarkeitslesartlaquo (ineffability reading) nennt Als deren gemeinsame Grundvoraussetzung arbeitet er die Annahme her-aus daszlig es etwas wie raquogehaltvollen Unsinnlaquo (substantial nonsense) in der Abhandlung geben muumlsse Er zeigt dann auf daszlig und wie sich beide Auf-fassungen gegenseitig bedingen und inwiefern keine von beiden zu einer stabilen und konsequenten (eben raquoresolutlaquo durchhaltbaren) Position fuumlhrt Tatsaumlchlich setzt sich Conant fast ausschlieszliglich mit der von ihm als Stan-dardinterpretation (S 394) angesehenen Lesart und ihrem Hauptvertreter Peter Hacker auseinander54 Die Kernthematik des Aufsatzes der die Me-

52 Der Gestus erinnert stellenweise an Hegels Vorgehen Conant ist auch an anderer Stelle mit weitreichenden Sortiervorschlaumlgen hervorgetreten so etwa in bezug auf Spiel-arten des Skeptizismus wo er eine Cartesische und eine Kantische Spielart des Skeptizis-mus und damit der Philosophie uumlberhaupt unterscheidet (Varieties of Skepticism in D McManus (Hg) Wittgenstein and Skepticism London 2004)

53 James Conant The Method of the Tractatus in Reck From Frege to Wittgenstein daran orientiert sich das Folgende Mehrere Aufsaumltze Conants ergaumlnzen diesen Beitrag noch ndash Durch haumlufi ge Verweise auf einander einen gemeinsamen Aufsatz sowie an beide gerich-tete Kritik ist aumlhnlich wie in der Kopenhagener Deutung der Quantenphysik der Ein-druck entstanden als handele es sich um ein und dieselbe Auffassung Dieser Eindruck taumluscht jedoch in einigen wichtigen Punkten ebenso wie im Fall der Kopenhagener Deu-tung wie aus dem Folgenden klar werden wird

54 Tatsaumlchlich liegt der systematische Schwerpunkt der Kontroverse zwischen ConantDiamond und Hacker auf der Interpretation der Philosophie des spaumlten Wittgenstein die von beiden Parteien als der eindeutig uumlberlegene und bis heute unuumlberbotene philoso-phische Ansatz angesehen wird Diese grundsaumltzliche Debatte um die Deutung von Witt-gensteins Spaumltphilosophie hat erst in Ansaumltzen besonders in einigen Aufsaumltzen von Dia-

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thode der Abhandlung zu klaumlren beansprucht kreist um die Leitbegriffe raquoErlaumluterunglaquo und raquoUnsinnlaquo (S 378) Wie Diamond fi ndet Conant dies bei Frege vorgebildet wobei er dessen Verfahren so zusammenfaszligt daszlig nach Frege raquodie Erlaumluterung logisch einfacher Ausdruumlcke wie Begriff und Gegenstand unvermeidlicherweise mit (dem geschickten Einsatz von) Unsinn arbeiten muszliglaquo (S 387) In der Deutung dieses Verfahrens durch Frege sieht Conant jedoch eine Spannung denn Frege glaubt raquodaszlig er in solchen Faumlllen etwas sagen will was im strengen Sinn nicht gesagt werden kann und druumlckt sich dann so aus daszlig seine Woumlrter einen Gedanken auszudruumlk ken versuchen damit aber notwendigerweise scheiternlaquo (S 391) Damit vertritt Frege aumlhnlich wie Geach und Hacker selbst eine substan-tielle Auffassung von Unsinn55 Nach Conant liegt die Hauptabsicht von Wittensteins Abhandlung nun genau darin eine solche substantielle Auffas-sung von Unsinn nicht zu vertreten sondern zu uumlberwinden Die Unter-scheidung zwischen sinnvollen und nicht sinnvollen Saumltzen liegt nach Conants Deutung nun praumlziser gefaszligt darin raquoEinen Satz als sinnvoll wahr-nehmen bedeutet daszlig man im Satzzeichen das Satzsymbol wahrnimmt Einen Satz als Unsinn wahrzunehmen bedeutet daszlig man im Zeichen kein Symbol erkennen kannlaquo (S 404) Ein Satz ist also dann raquobloszliger Unsinnlaquo wenn eine Zeichenreihe raquokeine erkennbare logische Syntax hatlaquo (S 400) Damit gibt es aber streng genommen keine raquounsinnigen Saumltzelaquo sondern nur Zeichenreihen die auf den ersten Blick wie Saumltze aussehen bei denen aber der Versuch in ihnen eine logische Form aufzufi nden scheitert Die Rede von raquoUnsinnlaquo bezieht sich also nicht auf die Saumltze oder Zeichenrei-hen selbst sondern allein auf unser Scheitern Zentral wird dadurch der Begriff des raquoSymbolslaquo Ein Symbol ist ein Zeichen zusammen mit einer logisch durchsichtigen Verwendungsweise (S 414) Die bekannte Sprach-kritik der Abhandlung (40031) erweist sich so nicht als Versuch die sinn-vollen von den unsinnigen Zeichen(reihen) durch ein Sinnkriterium zu trennen sondern raquodie Quelle des scheinbaren Unsinns liegt in unserer Beziehung zum sprachlichen Zeichen nicht im sprachlichen Zeichen selbstlaquo (S 419) Die Philosophie ist entsprechend Wittgensteins Diktum

mond begonnen Als zentralen Gegensatz zwischen der eigenen Position und derjenigen Hackers formuliert Conant daszlig nach Hacker der fruumlhe Wittgenstein an unausdruumlckbare Wahrheiten glaubte waumlhrend der spaumlte dies als Irrtum durchschaute waumlhrend Wittgen-stein tatsaumlchlich schon in der Abhandlung die darin vorausgesetzte substantielle Auffassung von Unsinn ablehnte Weiter glaubt er in Hackers Deutung des spaumlten Wittgenstein raquoeine verkleidete Fassung der Auffassung die er dem fruumlhen Wittgenstein zuschreibtlaquo zu erken-nen was der wahren Radikalitaumlt dieses Denkens nicht gerecht werde (Conant Two Con-ceptions of Die Uumlberwindung der Metaphysik in Wittgenstein in America (Anm 17) S 13ndash62 hier S 38 Anm 42)

55 In diesem Punkt ist Conant exegetisch weitaus vorsichtiger als Diamond die weniger Scheu hat Frege eine systematisch uumlberzeugende Konzeption zuzuschreiben

111Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

raquokeine Lehre sondern eine Taumltigkeitlaquo Diese Taumltigkeit besteht nach Con-ant darin daszlig eine Illusion von Sinn aufgebaut und am Ende zerstoumlrt wird Das Ziel des Buches ist daher raquonicht eine Einsicht in metaphysische Zuumlge der Wirklichkeit sondern in die Quellen der Metaphysiklaquo (S 421) Nach Conant gibt es im Text nur raquo(scheinbar) eine Lehre uumlber raquodie Gren-zen des Denkenslaquolaquo (S 424) tatsaumlchlich aber sind raquodie Erlaumluterungen des Autors nur dann erfolgreich wenn wir den Haupttext als Unsinn erken-nenlaquo (S 424) Conants Darstellung verleiht der resoluten Lesart dadurch daszlig er aufzeigt wie die grundlegenden Spannungen in den fruumlheren Deu-tungsansaumltzen aufgeloumlst werden koumlnnen den Anschein einer teleologischen Zwangslaumlufi gkeit Nicht zufaumlllig spielt daher die fortgesetzte Auseinan-dersetzung mit der raquoUnsagbarkeitslesartlaquo eine zentrale Rolle in seinen Ausfuumlhrungen Ein nicht zu unterschaumltzender Teil der Anziehungskraft der resoluten Lesart liegt genau darin daszlig sie den einzigen konsistenten wenn auch zunaumlchst uumlberspitzt aber damit zugleich auch brillant wirken-den Ausweg aus den Bemuumlhungen um ein Verstaumlndnis der Logisch-Philoso-phischen Abhandlung zu bieten scheint56

Conants umfangreicher Beitrag zur Festschrift fuumlr Cora Diamond57 verstaumlrkt die genannten Tendenzen noch Dies zeigt sich bereits an der Form Unter dem Titel raquoA Recently Discovered Manuscriptlaquo wird ein gewisser raquoJohannes Climacuslaquo58 als Herausgeber eines Aufsatzes von Con-ant eingefuumlhrt der in Gestalt einer fi ktiven theologischen Auseinanderset-zung um die richtige Wittgensteinorthodoxie eigene (ziemlich dogma-tisch-uneinsichtsvolle) Kommentare zu den einzelnen Teilen von Conants Text abgibt Dieser Text selbst greift schon im Titel und uumlber weite Stre-cken ironisch den Ton theologischer Kontroversen auf Thema der Arbeit ist die umstrittene raquometa-wittgensteinschelaquo Frage ob Anhaumlnger der reso-luten Lesart (die noch einmal zusammenfassend vorgestellt wird) uumlber-haupt uumlber den Spielraum verfuumlgen um einen wesentlichen Unterschied zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein herauszuarbeiten (S 32) Diese Frage geht Conant dialektisch an indem er drei verschie-dene Listen praumlsentiert eine erste (S 49) die scheinbare Lehren der Ab-handlung enthaumllt die aber tatsaumlchlich so Conant Auffassungen sind vor

56 Diese Zwangslaumlufi gkeit tritt in Diamonds Arbeiten weitaus weniger hervor Fuumlr sie ist die Abhandlung ein reiches Buch das zahlreiche ausgesprochen weiterfuumlhrende und faszinierende Passagen enthaumllt die philosophisch weiterhelfen nicht ein Werk das sozu-sagen unter einer Drohung lebt und dessen Leser nach einem Ausweg suchen

57 James Conant Mild-Mono-Wittgensteinianism in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 29ndash142

58 Dieses von Kierkegaard entlehnte Pseudonym verwendet Conant seinerseits in einem Zitat aus der Abschlieszligenden unwissenschaftlichen Nachschrift (31) mit der Bemerkung daszlig Ironie und Ernsthaftigkeit einander nicht ausschlieszligen In fruumlheren Texten hatte Conant raquoClimacuslaquo mit raquoLeiterlaquo uumlbersetzt (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 291)

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denen Wittgenstein seine Leser warnen will eine zweite mit Auffas-sungen die Wittgenstein in der Abhandlung natuumlrlich klar und unkontro-vers erschienen die aber dennoch Ausdruck philosophischer Ansichten sind die er selbst spaumlter als problematisch ansah (S 83)

Damit ist fuumlr eine Differenz zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein ein Spielraum gewonnen der dann durch eine dritte Liste wieder in einen ironischen Schwebezustand gebracht wird indem Conant Saumltze praumlsentiert die man gleichermaszligen dem fruumlhen wie dem spaumlten Wittgenstein zuordnen kann bisweilen indem leichte Variationen des Wortlauts mitgefuumlhrt werden wie raquoDie Logik (Grammatik) muszlig fuumlr sich selber sorgenlaquo (S 106) Conant spricht von raquoAugenblicken atemberau-bender Kontinuitaumltlaquo (S 108) gerade dort wo Wittgenstein die Konzeption der Abhandlung kritisiert (PhU 97ndash133) Als Ergebnis der Untersuchung bleibt so der Eindruck von gleichzeitig auszligerordentlicher Kontinuitaumlt und deutlicher Diskontinuitaumlt in Wittgensteins philosophischer Entwicklung Auch daszlig eine resolute Lesart eher raquoein Programm um das Buch zu lesenlaquo (111 Anm 4) ist als tatsaumlchlich eine durchgehende Lektuumlre ist deutlich ausgesprochen59

Der philosophische Ansatz und Stil Conants ist dem von Diamond in vie-ler Hinsicht entgegengesetzt Waumlhrend Diamond von konkreten Einzelfaumll-len ausgeht und diese im Hin- und Hergehen aufzuklaumlren versucht geht Conant ganz von auszligen mit einem umfassenden Blick in Beziehung zur gesamten Philosophiegeschichte an die Fragen heran Ein bevorzugter Vergleich ist derjenige Wittgensteins mit Kierkegaard insbesondere in der Frage des Verhaumlltnisses des Autors zu seinen Buumlchern60 Man koumlnnte gera-

59 In der gemeinsam verfaszligten Arbeit On Reading The Tractatus Resolutely Reply to Me-redith Williams and Peter Sullivan in M KoumllbelB Weiss Wittgensteinrsquos Lasting Signifi cance London 2004 S 46ndash99 erlaumlutern Diamond und Conant einige Punkte ihres Ansatzes ge-genuumlber Versuchen das Buch als System von Behauptungen zu lesen (Williams) und gegen die Kritik ihre Lesart sei unvollstaumlndig letzteres mit dem Hinweis es handle sich bislang lediglich um ein Forschungsprogramm aber gerade nicht um ein Rezept das eine leichte und zusammenhaumlngende Lektuumlre ermoumlgliche (S 68) Peter Sullivan wird als der produk-tivste Kritiker bezeichnet weil er auf spezifi sche Inkonsistenzen hinweise (vgl die in Anm 64 genannte Arbeit) Sullivans eigene Deutungsvorschlaumlge bleiben jedoch eher tra-ditionellen ontologisch orientierten Ansaumltzen verhaftet (vgl What is the Tractatus About ebenfalls in KoumllbelWeiszlig S 32ndash45) Diese gemeinsame Arbeit verbleibt jedoch insge-samt auf einer sehr allgemeinen und wenig spezifi schen Ebene

60 So etwa Conant Putting Two and Two together Kierkegaard Wittgenstein and the Point of View for Their Work as Authors in T TessinM von der Ruhr (Hg) Philosophy and the Grammar of Religious Belief London 1995 S 248ndash331 Als Zusammenfassung schreibt Co-nant dort daszlig der fruumlhe Wittgenstein aumlhnlich wie Kierkegaard raquoden Leser in die Wahr-heit hineintaumluschen willlaquo zu welchem Zweck er raquoeine ausgefeilte Struktur scheinbarer Behauptungenlaquo verwendet (S 302) Fuumlr ein solches Verstaumlndnis gibt es bei Kierkegaard zahlreiche Hinweise bei Wittgenstein streng genommen keine er will alles raquoklar sagenlaquo

113Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

dezu sagen daszlig sich Conant mehr fuumlr die Frage der Autorschaft als fuumlr das Werk selbst interessiert61 Es geht ihm darum den richtigen Blickwinkel auf das Werk zu gewinnen und den entwickelt er durch weitgespannte Ver-gleiche durch die Analyse der Selbstkommentare und zusaumltzlichen Erlaumlute-rungen Dabei scheint das Ziel vorrangig die Einordnung vorhandener Zu-gangsmoumlglichkeiten zu sein die er dann in eine systematische Ordnung bringt62 Diese Systematik verweist dann gewissermaszligen teleologisch auf eine einzige offene Moumlglichkeit als den richtigen Zugang zu einem Problem oder einem Text Waumlhrend Diamond also einzelne Miszligverstaumlndnisse auf-klaumlrt zieht Conant die groszligen orientierenden Linien63 Damit aber ergaumln-zen beide Ansaumltze einander wiederum in einem Maszlige daszlig sie von auszligen in aller Regel als eine Einheit angesehen werden Erst durch Conants Ord-nungsvorschlaumlge hat Diamonds Ansatz diejenige Uumlbersichtlichkeit und Handhabbarkeit gewonnen die eine breitere Wirksamkeit ermoumlglichen

Einmal schreibt er kritisch raquoDer Verkehr mit Autoren wie Hamann Kierkegaard macht ihre Herausgeber anmaszligend Diese Versuchung wuumlrde der Herausgeber des Cherubi-nischen Wandersmannes nie fuumlhlen noch auch der Confessionen des Augustin oder einer Schrift Luthers Es ist wohl das daszlig die Ironie eines Autors den Leser anmaszligend zu ma-chen geneigt istlaquo (Denkbewegungen [1931] FrankfurtM S 41)

61 In einem fruumlheren Aufsatz The Search for Logically Alien Thought Descartes Kant Frege and the Tractatus in Philosophical Topics 20 (1991) S 115ndash180 vergleicht Conant Witt-gensteins Vorgehen mit einem langen Witz bzw einer Parabel die ein absurdes Gespraumlch wiedergibt in dem ein Pole von einem Juden wissen will worin raquodas Geheimnis der Ju-denlaquo besteht und das nach allerhand Umwegen mit der Einsicht endet daszlig da raquokein Ge-heimnis istlaquo ndash aber so erfahren wir eben das raquoist das Geheimnislaquo (S 160)

62 Conants umfassende Perspektive geht mit einigen Zurechtstellungen bei der Inter-pretation einher die das Material entsprechend dem umfassenden Entwurf leicht umfor-men In seinem langen Aufsatz spricht er Wittgenstein eine besondere Konzeption von Klarheit zu die darin liegen soll daszlig man am Ende das Buch als unsinnig erkennt (374) er uumlbergeht dabei aber daszlig Wittgenstein gegenuumlber Russell unmittelbar auf den voumlllig neu-artigen Inhalt der logischen Konzeption verweist und dabei sogar das Wort raquoTheorielaquo ver-wendet als Ziel formuliert Wittgenstein auch nicht daszlig man bestimmte Konzeptionen als nur scheinbar konsistent erkennen soll (377) sondern daszlig man die Logik der Sprache ein-sehen lernt ohne ein Verstaumlndnis von 654 ist nach Conant kein Verstaumlndnis des Buches moumlglich (378) dies gilt aber angesichts der konzentrierten Form fuumlr jeden Satz des Buches wobei die Schluszligbemerkung eher selbstrefl exiv auf das Buch und die Darstellungsform Bezug nimmt als auf die bis dahin entwickelte Einsicht der gegenuumlber der bloszligen Selbstre-fl exion die Prioritaumlt einzuraumlumen waumlre die Woumlrter raquoUnsinnlaquo und raquoErlaumluternlaquo (378) sind entschieden nicht die Kernbegriffe des Buches zum einen kommen eher die Formen raquoun-sinniglaquo oder raquoes ist ein Unsinnlaquo vor nicht das Substantiv zum anderen sind viel eher raquoKlar-heitlaquo und raquoklarlaquo die zentralen Ausdruumlcke Carnap wird als derjenige hingestellt der nichts verstanden habe aber Wittgenstein hat gerade Carnap 1932 des Plagiats bezichtigt und Conant verkehrt Wittgensteins Aumluszligerung er koumlnne sich raquonicht denkenlaquo daszlig Carnap den Sinn des Buches raquoso ganz und gar miszligverstandenlaquo haben koumlnnte ins gerade Gegenteil und zitiert sie mehrfach (378 Anm 9 Anm 99 als Motto in Two Conceptions wie Anm 54)

63 Relativ haumlufi g verwendet Conant auch ganz traditionelle Ordnungsinstrumente wie raquoArtlaquo und raquoGattunglaquo (vgl Conant Method (Anm 53) S 435 Anm 43 436 Anm 48)

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Ein Punkt hat Kritiker besonders irritiert naumlmlich Diamonds und Co-nants Bestehen darauf daszlig der Text streng und konsequent stuumlckweise (piecemeal) gelesen werden soll Dies scheint mit der radikalen Grundten-denz nicht recht vereinbar oder die Radikalitaumlt doch stark abzuschwaumlchen ndash es koumlnnte aber dazu fuumlhren daszlig man das Gewicht der bisweilen daran angeknuumlpften allgemeineren Betrachtungen als wesentlich geringer anse-hen koumlnnte als es derzeit in aller Regel geschieht Tatsaumlchlich ist der stuumlckweise Zugang sehr charakteristisch fuumlr Diamonds Methode und die allgemein gehaltenen radikalen Thesen wirken in ihren Texten eher wie Fremdkoumlrper Die raquoTheselaquo von der notwendig stuumlckweisen Interpretation reduziert sich daher im Kern auf die wichtige aber unspektakulaumlre me-thodische Beobachtung daszlig es ohne Zweifel richtig ist daszlig man die Ab-handlung sorgfaumlltig langsam und schrittweise entschluumlsseln muszlig gerade damit man die einheitliche und uumlbergreifende Konzeption (und daran ist nichts stuumlckweise und zusammengebastelt) genau richtig auffassen kann

6 Tatsaumlchlich sind die Vertreter der resoluten Lesart insgesamt weit erfolgreicher in der Kritik konkurrierender Ansaumltze als in der Interpreta-tion des Textes selbst Ein groszliger Teil der Debatte wird in der Gestalt von Auseinandersetzungen um das richtige Verstaumlndnis bzw den Maszligstab fuumlr eine angemessene Interpretation gefuumlhrt Dies ist in gewissem Sinne fol-gerichtig denn ein Textverstaumlndnis im gewoumlhnlichen Sinn des Wortes kann es von einem im strengen Sinn unsinnigen Text ja kaum geben Die Debatte behandelt deshalb vorrangig Fragen wie die welches denn der raquoZweck des Unsinnslaquo sei64 Dazu hat Michael Kremer Vorschlaumlge entwi-ckelt die die ethische Dimension des Buches herausarbeiten65 Er zieht Vergleiche zu Wittgensteins Beschaumlftigung mit ethischen und religioumlsen Fragen etwa dem Neuen Testament und dem Gedanken daszlig wir einse-hen muumlssen daszlig wir die raquoSuche nach einer Rechtfertigung unseres Lebens aufgeben muumlssenlaquo (S 56) weil der Versuch einer solchen Selbstrechtferti-gung ein Akt des Hochmutes waumlre Als Ergebnis glaubt er festhalten zu muumlssen daszlig das Buch ein raquoknow-howlaquo kein raquoWissen-daszliglaquo vermittelt raquoDieses Buch und seinen Autor zu verstehen bedeutet zu lernen wie man lebtlaquo66 (S 62) In aumlhnlicher Weise deutet Kremer die Frage nach der

64 Michael Kremer The Purpose of Tractarian Nonsense in Nous 35 2001 S 39ndash73 Darauf reagiert Sullivan mit detaillierter Einzelkritik On Trying to be Resolute A Response to Kremer on the Tractatus in European Journal of Philosophy 10 (2002) S 43ndash78 (vor allem S 66ndash68 mit Hinweisen auf die spaumlrlichen Textbelege)

65 Fragen der Ethik spielen uumlberhaupt in den Arbeiten von Diamond Conant und an-deren resoluten Lesern eine groszlige Rolle was aber hier nicht im einzelnen verfolgt werden kann

66 Schon Diamond Ethics (Anm 37) S 169 spricht als Ziel an daszlig wir raquokeine falschen Anforderungen an die Welt stellenlaquo sollen

115Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

raquoWahrheit des Solipsismuslaquo dahingehend daszlig es darum geht den eigenen Stolz zu uumlberwinden67 Selbst die Frage nach dem raquoHauptproblem der Phi-losophielaquo naumlmlich der Unterscheidung von Sagen und Zeigen versucht Kremer so zu beantworten daszlig Wittgenstein vor allem vor der unberech-tigten und zu vorschnellen Anwendung dieser Unterscheidung warnt (und er will zeigen daszlig insofern diese Unterscheidung als Hauptproblem ange-sprochen wird Wittgenstein dieses Problem raquoloumlsenlaquo will)68 All diese Vor-schlaumlge lenken jedoch systematisch von einer tatsaumlchlichen Lektuumlre von Wittgensteins Buch eher ab

Innerhalb der resoluten Stroumlmung ist Juliet Floyd als radikale raquoJakobine-rinlaquo bezeichnet worden weil sie schon fuumlr den fruumlhen Wittgenstein gene-rell die Existenz einer einheitlichen Auffassung von Logik Bedeutung Sagen und Zeigen aber auch eines eindeutigen Ideals der Klarheit leug-net69 Sie nennt Wittgensteins Vorgehen dialektisch bzw refl ektierend (S 188) so daszlig Wittgenstein nicht auf eine einzelne Stoszligrichtung hin festzulegen ist Dadurch wird zum einen erneut die Moumlglichkeit in Frage gestellt den Text uumlberhaupt einigermaszligen einheitlich zu interpretieren zum anderen eroumlffnen sich Moumlglichkeiten relativ frei auch wieder kon-struktivere (S 187) Zuumlge festzustellen Wenn Floyd als Grundgegensatz der Deutungen die Frage betont ob man Wittgenstein so versteht als wolle er raquodie Endlichkeit oder expressive Begrenztheit der Sprache beto-nenlaquo oder ob er die raquooffene Entwicklung und Vielfalt menschlicher Aus-drucksmoumlglichkeitenlaquo (S 177) herausarbeiten will dann steht auch dies nur in einem eher lockeren Bezug zum Text Genau an dieser Stelle setzen die wichtigsten Kritiker an

7 Als prominentester und heftigster Kritiker ist Peter Hacker hervor-getreten70 Hacker kritisiert und polemisiert aus einer Position der exten-

67 Michael Kremer To What Extent is Solipsism a Truth in Stocker Post-Analytic Tractatus S 59ndash84 Das ist eine sehr ungewoumlhnliche Lesart dieser sonst erkenntnistheore-tisch aufgefaszligten Passage

68 Michael Kremer The Cardinal Problem of Philosophy in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 143ndash176 Kremers Deutung beruht vor allem darauf daszlig Wittgenstein in seinem Brief an Russell (15 8 1919) diese Unterscheidung einmal als raquoHauptpunktlaquo und dann auch als raquoHauptproblemlaquo anspricht Kremer deutet dies so daszlig die Unterscheidung als zu loumlsendes raquoProblemlaquo aufgefaszligt wird

69 Juliet Floyd Wittgenstein and the Inexpressible in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 177ndash234 hier S 185 und 196

70 Hackers Schriften dienen zugleich umgekehrt Diamond und Conant als Illustrati-onen fuumlr die raquoStandardlesartlaquo und dafuumlr wie man Wittgenstein nicht interpretieren sollte so schon 1985 in Diamond Throwing Away the Ladder (Anm 30) S 194 als Beispiel fuumlr raquochickening outlaquo Hacker ist auch als einziger Kritiker im Sammelband New Wittgenstein vertreten Was he Trying to Whistle It in New Wittgenstein S 353ndash388 Sein Sammelband Connections and Controversies Oxford 2001 enthaumllt neben dem Nachdruck auf S 98ndash140 noch eine Fortsetzung When the Whistling Had to Stop S 141ndash169

116 Wolfgang Kienzler PhR

siven Kommentieung des spaumlten Wittgenstein und zugleich des philo-sophischen Common Sense heraus Er sieht in der Abhandlung raquoeine ver-bluumlffende Lehre auf verbluumlffende Weise dargebotenlaquo (S 353) ndash diese Charakterisierung entnimmt er jedoch nicht erst seinen neuen Gegnern sondern einer eher traditionellen realistisch-metaphysischen Deutung von David Pears Hacker versteht das Buch als einen gescheiterten Versuch wesentliche Wahrheiten die nicht gesagt werden koumlnnen dennoch zu zeigen Dies sieht er als gesichertes Faktum an dessen Vorhandensein er mit Energie gegen Versuche es zu leugnen untermauert Dazu zaumlhlt er zehn Beispiele solcher Versuche auf von logischen Beziehungen zwischen Saumltzen bis zur Harmonie zwischen Gedanke Sprache und Wirklichkeit (S 353ndash355) und stellt sich ganz auf die Seite schon der fruumlhen Kritiker besonders des Wiener Kreises die den Schluszlig des Buches raquoganz unglaub-wuumlrdig fandenlaquo (S 355)71 Er nennt den Ansatz von Diamond und Conant raquopostmodernlaquo offenbar darauf berechnet zu provozieren jedoch frei von ernsthaften Absichten nicht aber das Buch richtig einschaumltzen zu wollen (S 356)72

Hacker sieht das Buch als offensichtlich inkonsistent an und beruft sich dabei auf Wittgensteins spaumltere Meinung zur Bestaumltigung dieses Faktums (S 370) Von daher fallen alle Versuche das Buch insgesamt nachzuvoll-ziehen zwangslaumlufi g ebenfalls der Inkonsistenz anheim Als Maszligstab der Inkonsistenz dient ihm dabei die Unvereinbarkeit und Widerspruumlchlich-keit der im Buch vorgetragenen (raquogesagtenlaquo oder raquogezeigtenlaquo) Lehren Da-mit aber stellt sich Hacker explizit auf einen Standpunkt den Wittgenstein fuumlr sein eigenes Werk ablehnt das ja explizit raquokein Lehrbuchlaquo (Vorwort) sein will Hacker reduziert das Buch auf einen Lehrinhalt den er unzurei-chend fi ndet ndash der Gegensatz zu Diamond und Conant liegt bereits hier denn beide Seiten differieren vor allem darin was das Buch eigentlich

71 In dieser Hinsicht stimmt seine Einschaumltzung mit derjenigen Conants uumlberein der seinerseits Hacker in die Naumlhe Carnaps plaziert (Two Conceptions of Die Uumlberwindung S 14 ff) Ohne Hacker sofort zu nennen schreibt Conant Carnap (wie spaumlter Hacker) eine substantielle Auffassung von Unsinn zu

72 Hacker lehnt sowohl die Abhandlung als auch Freges philosophische Grundkonzepti-on ab und setzt sie als verfehlten Versuch in scharfen Kontrast zum Denken des spaumlten Wittgenstein Diese Haltung wird in seinem Kommentar zu den Philosophischen Untersu-chungen deutlich besonders eklatant jedoch in dem (gemeinsam mit Gordon Baker ver-faszligten) gegen Dummetts Fregedeutung geschriebenen Frege Logical Excavations (Oxford 1984) Das Auftreten der resoluten Lesart gibt Hacker daher nicht den Grund zu seiner Ablehnung des fruumlhen Wittgenstein sondern vor allem den Anlaszlig seine Gruumlnde zu buumln-deln und erneut vorzubringen (Der verstorbene Gordon Baker der zunaumlchst gemeinsam mit Hacker mehrere Baumlnde zum spaumlten Wittgenstein verfaszligte dann aber seinen Ansatz weiterentwickelte und dabei in einigen Punkten der resoluten Lesart nahekam sei hier noch erwaumlhnt vgl Baker Wittgensteinrsquos Method Neglected Aspects Oxford 2004)

117Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

leisten will Hacker sieht einen eklatanten Gegensatz zwischen Wittgen-steins Erklaumlrung nichts lehren zu wollen und seinem tatsaumlchlichen Vor-gehen seine Gegner versuchen gerade diese Aumluszligerungen Wittgensteins zu verstehen und ihnen entsprechend den Text so zu lesen daszlig er keine raquoLehrenlaquo enthaumllt sondern auf andere Art und Weise arbeitet

Hacker versucht entsprechend auch nicht Diamond und Conant ge-recht zu werden sondern listet vor allem eine Reihe von Kritikpunkten auf Zum einen weist er auf eine gewisse hermeneutische Willkuumlr hin mit der nur relativ wenige insgesamt unzusammenhaumlngende Partien herange-zogen werden wobei einige Passagen doch wieder als ganz gewoumlhnlich und sinnvoll gelesen werden ohne daszlig eine klare Abgrenzung nach Kri-terien gegeben wuumlrde Die haumlufi g verwendete Rede vom raquoRahmenlaquo des Buches im Unterschied zum raquoHauptteillaquo bleibt ihm zufolge unklar abge-grenzt da zum Rahmen auch Bemerkungen wie 4112 aus der Mitte des Textes gezaumlhlt werden73 Im Zusammenhang damit weist er darauf hin daszlig zwischen den Arten von Unsinn doch ein Unterschied gemacht wer-de wenigstens nach der Wirkung auf den Leser74 Und schlieszliglich ver-sucht er nachzuweisen daszlig Wittgenstein selbst weder in seiner fruumlheren noch in seiner spaumlteren Zeit eine solche radikale Lesart seiner eigenen Ar-beit vorgetragen oder unterstuumltzt habe

Eine spezielle Streitfrage liegt darin ob es nach Wittgenstein raquoUumlbertre-tungen der logischen Syntaxlaquo geben koumlnne Diamond und Conant be-haupten nein Hacker versucht an Beispielen aufzuzeigen daszlig Wittgen-stein dies wiederholt anspricht (S 365ndash367)75 Der grundlegende Dissens betrifft hier die Frage ob Wittgenstein sich vorrangig um den Begriff und die Festlegung einer logischen Syntax als Einfuumlhrung sinnvoller Rede be-muumlht denn wenn es um die Festlegung und ggf die Erweiterung und Ver-aumlnderung von Sinn geht dann gibt es nichts was uumlbertreten oder verfehlt werden koumlnnte ndash oder aber ob Wittgenstein wie Hacker ihn liest jemand ist der vor allem schon bestehende syntaktische Systeme betrachtet und dabei die Moumlglichkeiten behandelt sich gegenuumlber den Vorschriften be-

73 Conants Auskunft daszlig nicht der Ort im Text sondern die Funktion der Bemerkung daruumlber entscheide ob es zu Rahmen oder Hauptteil gehoumlre vermag als Gegenargument nicht wirklich zu uumlberzeugen

74 Dies leugnen Conant und Diamond keineswegs nur kommt es ihnen gerade auf den Unterschied zwischen logischen und anderen Einteilungsgruumlnden an

75 Dieser Punkt ist auch deswegen zentral weil fuumlr Hacker Unsinn genau dadurch ent-steht daszlig man die logische Syntax verletzt (Was he Trying S 367) waumlhrend fuumlr Conant und Diamond Unsinn dann vorliegt wenn wir mit einer Zeichenreihe schlicht nichts anfangen koumlnnen also kein Symbol darin erkennen Dieser Frage widmet Hacker den Aufsatz Wittgenstein Carnap and the New American Wittgensteinians in Philosophical Quar-terly 53 (2003) S 1ndash23 und Diamond die Entgegnung Logical Syntax in Wittgensteinrsquos Tractatus in Philosophical Quartely 55 (2005) S 78ndash88

118 Wolfgang Kienzler PhR

stimmter Systeme abweichend zu verhalten und ihre Regeln zu verletzen Die Frage ist ob Wittgenstein die Syntax mit einem bestehenden Spiel analog setzt oder nicht76 Fuumlr beide Aspekte gibt es Belege im Text77

Eine gewisse Uumlbereinstimmung zwischen Hacker und seinen Gegnern liegt ironischerweise darin daszlig keine der beiden Seiten eine durchge-hende Interpretation der Abhandlung anstrebt Hacker haumllt dies aufgrund der Inkonsistenz fuumlr uninteressant (wenn auch theoretisch moumlglich) Dia-mond ist vorrangig an Einzelfragen und am methodischen Standard des spaumlten Wittgenstein interessiert (wozu sie in der Abhandlung letztlich doch nur eine Vorstufe fi ndet) und Conant ist hauptsaumlchlich damit beschaumlftigt vorgaumlngige Kriterien fuumlr eine uumlberzeugende Lektuumlre zu entwickeln78

Als zentrale unbeantwortete Frage bleibt daruumlber hinaus das Problem bestehen wie man Wittgensteins Sprache und die Art seiner Behaup-tungen im Text konsequent aufzufassen hat denn hier weist Hacker auf deutliche Inkonsistenzen der resoluten Leser hin Zum einen wird von raquobloszligem Unsinnlaquo gesprochen dann wieder werden Passagen so gelesen wie gewoumlhnliche behauptende Prosa zum einen ist von Ironie die Rede dann wieder scheint alles ganz woumlrtlich aufzufassen zu sein79

8 Marie McGinn hat den bisher ehrgeizigsten Versuch unternommen die Staumlrken beider konkurrierender Ansaumltze zu verbinden und die jewei-

76 Vgl Diamond (wie die vorige Anm) S 86 Hacker vertritt hier einen eher kantischen Ansatz der die Grenzen der Vernunft bereits abgesteckt vorfi ndet (ein fuumlr Hacker wichtiges Buch ist P Strawsons Kantdeutung in The Bounds of Sense) Diamond und Conant sehen Wittgenstein als radikaleren Denker nach dem diese Grenzen immer wieder neu bestimmt werden muumlssen bzw nach dem es genau genommen keine Grenzen gibt da das Entschei-dende die Moumlglichkeit neuer Begriffsbildungen ist ohne daszlig man sich an irgendeiner Vorgabe (oder Grenze) orientieren kann die man entweder trifft oder verfehlt

77 Zum einen schreibt Wittgenstein raquoWir koumlnnen einem Zeichen nicht den unrechten Sinn gebenlaquo (54733) also bei der Bedeutungsfestsetzung nichts verfehlen zum anderen erklaumlrt er schlicht Saumltze wie raquo1 ist eine Zahllaquo (41272) die sich auf unsere bestehende Spra-che beziehen fuumlr unsinnig weil darin das Wort raquoZahllaquo als gewoumlhnliches Begriffswort statt als raquoformaler Begrifflaquo und also falsch verwendet wird Daszlig 1 eine Zahl ist ist schon da-durch klar daszlig wir das Zahlzeichen 1 verwenden und gerade deshalb koumlnnen wir dies nicht noch zusaumltzlich behaupten Es ist allerdings richtig daszlig Wittgenstein im letzteren Fall strenggenommen nicht von der raquoVerletzung der logischen Syntaxlaquo spricht sondern das Gebilde einfach raquounsinniglaquo nennt da fuumlr solche Faumllle gar keine logische Syntax im exakten Sinn verfuumlgbar ist Die gesamte Abhandlung ist in dieser Hinsicht nirgends der Versuch eine vorliegende Syntax zu treffen aber auch nicht eine neue Syntax festzulegen sondern sie befaszligt sich vielmehr mit den Bedingungen der Moumlglichkeit von Syntax uumlberhaupt Insofern verfehlen sowohl Hacker auch Diamond und Conant diesen Kernpunkt des Buches

78 So etwa im Abschnitt What makes a Reading resolute in Mono-Wittgensteinianism S 42ndash47

79 Vgl dazu W Kienzler Die Sprache des Tractatus Klar oder deutlich Karl Kraus Witt-genstein und die Frage der Terminologie in F GoumlppelsriederJ Volbers (Ed) Philosophie als Lebensform Muumlnchen 2008 (im Erscheinen)

119Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

ligen Schwaumlchen zu vermeiden80 Sie will Wittgenstein keine metaphy-sischen Lehren zuschreiben81 aber doch sicherstellen daszlig wir aus dem Buch etwas Konstruktives lernen koumlnnen Dazu nimmt sie den Begriff der Klaumlrung als Orientierungspunkt Die Aufgabe des Buches ist es demnach die Logik der Sprache aufzuklaumlren Wenn dies aber ohne die Verwendung positiver Lehren geschehen soll muszlig es indirekt geschehen naumlmlich da-durch daszlig die Sprache sich indirekt selbst klaumlrt das heiszligt daszlig eine solche Klaumlrung nicht auf etwas auszligerhalb der Sprache Bezug nimmt denn das waumlre Kennzeichen einer metaphysischen Auffassung McGinn schreibt et-was kryptisch raquoEs ist ein Werk in dem die Natur des Satzes die schon klar ist obwohl wir sie noch nicht klar sehen sich selbst fuumlr uns klaumlrtlaquo82

Sie betont jedoch sehr zu Recht daszlig Wittgenstein in seiner Abhandlung die eine groszlige Frage loumlsen wollte raquoDas Wesen des Satzes angeben heiszligt das Wesen aller Beschreibung angeben also das Wesen der Weltlaquo (54711)83

Damit aber waumlren alle (oder raquodielaquo) philosophischen Probleme geloumlst Ohne eine solche Voraussetzung die Wittgenstein offenbar als grundle-gende Einsicht erschien ist seine Handlungsweise gar nicht nachvollzieh-bar naumlmlich ein uumlberaus kurzes Buch zu verfassen in dem alle philoso-phischen Fragen im Prinzip jedenfalls beantwortet sind Dies ist nur moumlglich wenn diese Fragen so eng zusammenhaumlngen daszlig die Loumlsung der einen zugleich die Loumlsung der anderen bedeutet Dieser Grundgedanke strukturiert McGinns Buch und gibt ihm eine klare Linie84 Sie untersucht die besonders von Conant behandelten Fragen nach den Bedingungen einer angemessenen Lektuumlre fast gar nicht und antwortet insofern nicht durch Gegenargumente sondern durch die Tat durch einen Gang durch das Buch Es uumlberrascht dabei daszlig sie den Anfang zunaumlchst weglaumlszligt und nach Einleitungskapiteln zur Abgrenzung gegen Frege und Russell gleich mit dem Begriff des Bildes und dann des Satzes beginnt Tatsaumlchlich zeigt McGinn uumlberzeugend auf daszlig die Eingangspassagen am besten als Hin-fuumlhrungen zur raquoTheorie des Satzeslaquo aufgefaszligt werden und nicht als eigen-staumlndiges Theoriestuumlck einer vorangestellten Ontologie (sei diese nur scheinbar als Illusion aufgebaut oder ernst gemeint vgl etwa Diamond

80 Marie McGinn Elucidating the Tractatus81 Marie McGinn Between Metaphysics and Nonsense Elucidation in Wittgensteinrsquos Tracta-

tus In Philosophical Quarterly 49 (1999) S 491ndash513 hier S 107)82 Damit bleibt McGinn nahe an Aumluszligerungen von Diamond und Conant (etwa Method

S 424)83 Zit in McGinn Elucidating S 24084 Das erste Kapitel The Single Great Problem behandelt diese Frage zeigt aber bereits

daszlig sich McGinn nicht vollstaumlndig auf den Text einlaumlszligt sondern ihn von Anfang an stark aus der Perspektive der Philosophischen Untersuchungen her deutet (die im letzen Kapitel er-neut den Maszligstab der Betrachtung bilden)

120 Wolfgang Kienzler PhR

Ethics S 160) Vor dem Hintergrund der Auffassung des sinnvollen Satzes wird der Anfang dann relativ leicht verstaumlndlich In der Darstellung von McGinn wird die Abhandlung wieder zu einer Abhandlung einer nuumlch-ternen Darlegung uumlber die Voraussetzungen sinnvollen Sprechens und Ausdruumlckens uumlber die Unterschiede der Satzarten und die allgemeine Form des Satzes Allerdings ruumlcken so die Einzelheiten der Sprachlogik ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit und die Fragen nach der Natur der Philosophie aber auch die nach der Einheit des Buches treten ganz in den Hintergrund Das Buch enthaumllt kein Kapitel zum Philosophiebegriff des fruumlhen Wittgenstein und kaum Erlaumluterungen zur spezifi schen Form der Darstellung oder zur Strategie der Praumlsentation Einige Themen wie die Ethik Arithmetik oder die Naturgesetze werden ganz uumlbergangen dabei waumlre an diesen Beispielen die angestrebte Einheitlichkeit erst richtig aufzuzeigen gewesen In dieser Hinsicht erklaumlrt McGinn die Abhandlung in der Form die sie 1916 noch hatte bevor Wittgenstein die Schluszligpassa-gen einarbeitete und als sie noch staumlrker eine Abhandlung in raquophiloso-phischer Logiklaquo war85 Gegen Diamond und Conant stellt sie klar heraus daszlig das Ziel der Klaumlrung raquodurch Einsicht in das Funktionieren der Spra-chelaquo erreicht werden soll und nicht indirekt dadurch daszlig raquodie Versuche philosophische Saumltze zu bilden als Unsinn erkannt werdenlaquo (S 254 Anm 6) Die sehr nuumlchterne Art McGinns zeigt einen Wittgenstein der ganz unironisch seine logisch-philosophische Konzeption Schritt fuumlr Schritt entwickelt86

85 Vgl Brian McGuinness Wittgensteinrsquos 1916 Abhandlung in R HallerK Puhl (Hg) Wittgenstein and the Future of Philosophy Wien 2002 S 272ndash282 Die grundlegenden philologischen Arbeiten von McGuinness werden in der gegenwaumlrtigen Debatte leider wenig fruchtbar gemacht

86 Das stark gestiegene Interesse am fruumlhen Wittgenstein hat eine ganze Reihe von Monographien hervorgebracht die jedoch nur selten das gelassene exegetische Niveau McGinns erreichen sondern in der Regel mehr oder weniger exzentrische Deutungen in den Mittelpunkt stellen

M Ostrow Wittgenstein and the Liberating Word CambridgeMass 2002 (eine Zusam-menfassung in Reck From Frege to Wittgenstein) versucht eine an Floyd orientierte raquodialek-tische Interpretationlaquo die sich am Leitmotiv des raquoerloumlsenden Worteslaquo orientiert aber ins-gesamt zu vage bleibt zumal sich die Differenz zum spaumlteren Wittgenstein ganz aufzuloumlsen scheint und wichtige Passagen unberuumlcksichtigt bleiben

E Friedlander Signs of Sense Reading Wittgensteinrsquos Tractatus Cambridge Mass 2001 scheint das Raumltselhafte geradezu zu genieszligen und nennt als sein Ziel raquonicht das Raumltsel des Buches zu loumlsen sondern seinen raumltselhaften Charakter auf eine wahrhaft zum Denken herausfordernde Art aufzuzeigenlaquo (S XV) und will geradezu raquoseinen raumltselhaften Charak-ter rechtfertigenlaquo (16)

U Nordmann Wittgensteinrsquos Tractatus An Introduction Cambridge 2005 faszligt das Buch als ein Gedankenexperiment und eine groszlige Reductio ad Absurdum auf zu der er einige Praumlmissen ergaumlnzt Er deutet das Buch als im Konjunktiv geaumluszligert wodurch der Behaup-

121Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Ausblick

Die Arbeiten von Diamond und Conant haben zu einer neuen Welle des Interesses an Wittgensteins Fruumlhwerk gefuumlhrt und die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten vor allem aber auch das Potential seiner Abhandlung gelenkt Im Zentrum steht dabei die Natur der Philosophie als Erlaumlute-rung die selbst nicht in die Gestalt einer Lehre gebracht werden kann oder anders ausgedruumlckt der entscheidende Unterschied zwischen einer philosophischen und einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Untersu-chung

Gerade dadurch daszlig sie die Abhandlung stellenweise sehr nah an den spaumlten Wittgenstein heranruumlcken eroumlffnen Conant und Diamond Moumlg-lichkeiten die Souveraumlnitaumlt und Subtilitaumlt des Buches erst richtig zu wuumlr-digen Dies geschieht jedoch um den Preis daszlig einige Teile des Buches herausgegriffen andere dagegen kaum beruumlcksichtigt werden

Nicht hinreichend geklaumlrt scheint auch die Frage nach dem sprachlichen Grundton des Buches Diamond geht immer wieder von einem nahe an der Alltagssprache stehenden Redegestus aus (aumlhnlich wie der spaumlte Wittgen-stein) waumlhrend Conant aus der weiteren Perspektive ironische Zuumlge be-schreibt87 Gemeinsam ist den resoluten Lesern daszlig sie Wittgensteins Saumltze in der Abhandlung auf doppelte Weise auffassen Sie unterscheiden an vielen Stellen einen buchstaumlblichen naheliegenden Sinn der sich bei naumlherer Be-trachtung als inkohaumlrent erweist und der so zerfaumlllt88 Daher wird in ihrer

tungscharakter eingeklammert die Klaumlrungsfunktion jedoch trotzdem ermoumlglicht wird Er gewinnt so eine Kategorie von Saumltzen die raquounsinnig aber bedeutungsvolllaquo (176) sind

L Gunnarsson Wittgensteins Leiter Bodenheim 2002 greift einen Gedanken Conants auf daszlig wir naumlmlich den Hauptteil des Buches wegwerfen und den Rahmen behalten sollen (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 286) und entwickelt daraus die Fik-tion es waumlre tatsaumlchlich nur das Vorwort und der Schluszlig der Abhandlung erhalten ndash und will daraus den Gehalt des Buches ohne Verlust rekonstruieren Diese Veranschaulichung zeigt besonders klar auf wie verfehlt dieser Ansatz ist wenn man ihn auf die konkrete Interpretationspraxis bezieht

87 Die Parallele zwischen Wittgenstein und Kierkegaard scheint in zentralen Punkten gerade nicht zu bestehen denn Wittgenstein distanziert sich gerade nicht von seinem Buch sondern erklaumlrt seine Auffassungen fuumlr defi nitiv richtig und alternativlos ganz ent-gegen dem verwirrenden Spiel Kierkegaards mit unterschiedlichen Pseudonymen und Perspektiven Ein passenderer Vergleich waumlre etwa mit Hume moumlglich der am Ende seiner Untersuchung uumlber die Prinzipien der Moral (Abschnitt 9 Teil 1) seine Ergebnisse fuumlr derart einfach klar kohaumlrent und uumlberzeugend haumllt daszlig dem nichts hinzuzufuumlgen ist so daszlig er selbst geradezu in Versuchung kommen koumlnnte dogmatisch davon uumlberzeugt zu sein

88 So fuumlhrt Diamond (in Ethics wie Anm 37) folgende Beispiele dafuumlr an 1 das woruuml-ber man schweigen muszlig (aber das kann es doch nicht geben weil es kein raquodaruumlberlaquo ist S 149) 2 die Saumltze der Abhandlung die zu verstehen seien (oder doch raquoer selbstlaquo wie Witt-genstein dann uumlberraschenderweise sagt S 149) 3 die Anfangssaumltze uumlber die Welt (aber daruumlber kann es doch keine Saumltze geben S 160) 4 der Schein daszlig ab 64 Saumltze uumlber Ethik

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Perspektive das Buch durchgehend doppelboumldig und loumlst sich schlieszliglich in Nichts auf wobei in der Aufl oumlsung gerade die Absicht des Buches bestehen soll89 Demgegenuumlber kann festgehalten werden daszlig Wittgenstein nir-gends von Ironie spricht wohl aber davon daszlig er das Wesentliche in Kuumlr-ze klar ausdruumlcken will Eine wichtige Differenz innerhalb der resoluten Lesart liegt weiter darin welche Wichtigkeit man den eher technischen Aspekten der Abhandlung zuschreibt Ricketts und Goldfarb sehen viele Zuumlge des Buches von technischen Erwaumlgungen motiviert und gepraumlgt waumlhrend Diamond und Conant den Sinn der symbolischen Notation vor allem darin sehen wesentliche Unterschiede klarzustellen90

Das Motto erklaumlrt daszlig man raquoalles was man weiszliglaquo schlieszliglich raquoin drei Worten sagenlaquo kann Viele der scheinbaren Widerspruumlche und Doppelt-heiten die resolute Leser beobachten koumlnnten sich von daher moumlglicher-weise der Absicht verdanken im Buch logisch praumlzise Saumltze zu erwarten eine Absicht die bestaumlndig getaumluscht wird91 Wuumlrde man die Saumltze eher als Instrumente verstehen die allmaumlhlich entsprechend den Stufen der Lei-ter zur Klarheit anleiten ohne daszlig der Leser in die selbstrefl exive Geste verwickelt werden soll dann koumlnnte eine einfachere und klarere Lesart entstehen die auch mehr Sinn fuumlr den Zusammenhang und die spezi-fi schen Darstellungsmittel des Buches entwickeln wuumlrde ndash wenn denn eine solche zusammenhaumlngende Erlaumluterung als gemeinsames Ziel fest-staumlnde92 Auch Fragen der Textkritik die derzeit nur sehr sporadisch ge-streift werden koumlnnten dann eine groumlszligere Rolle spielen

Wolfgang Kienzler (ChemnitzJena)

vorkommen (die es doch gar nicht geben kann S 164) 5 der Schein daszlig im Buch Saumltze raquouumlber Logiklaquo vorkommen (die es ebenfalls nicht geben kann S 164) In allen Beispielen kann man die Situation natuumlrlicher so darstellen daszlig man die Saumltze der Abhandlung von vornherein zwar woumlrtlich aber nicht buchstaumlblich nimmt sondern sich von ihren zur Klarheit die sich erst allmaumlhlich einstellen kann fuumlhren laumlszligt

89 Diese Doppeltheit der Lesart ist den resoluten Lesern und ihren Kritikern gemein-sam sie ist aber keineswegs selbstverstaumlndlich und widerspricht dem Grundgedanken der Klarheit

90 Dies ist das Thema von Diamond What Does a Concept-Script Do in The Realistic Spirit S 115ndash144 Sie sieht darin ein raquoWerkzeug geistiger Befreiunglaquo (143) deutet damit aber tendenziell wieder einen Gedanken der Abhandlung in Frege hinein der zunaumlchst die Umgangssprache ganz zugunsten der exakteren Begriffsschrift verbannen wollte

91 In weiten Teilen der resoluten Beitraumlge kann man auch eine gewisse Vergegenstaumlnd-lichung mancher von Wittgenstein verwendeter Woumlrter wahrnehmen die dazu fuumlhren daszlig die Rede von raquoUnsinnlaquo raquoErlaumluterunglaquo u a zunaumlchst gegenstaumlndlich miszligverstanden und anschlieszligend als Gegenstaumlndlichkeit leugnend gedeutet wird Eine Beachtung von Wittgensteins ungezwungenem und unterminologischem Sprachgebrauch koumlnnte viele dieser Schleifen uumlberfl uumlssig machen

92 Das Buch von McGinn kann dazu als erster wichtiger konstruktiver Schritt angese-hen werden auch wenn es insgesamt etwas zu additiv verfaumlhrt

Page 9: Neue Lektüren von Wittgensteins Logisch-Philosophischer ... · 10 E. Stenius : Wittgensteins Traktat [1960], Frankfurt/M. 1969, nennt den Schluß »keine echte Verdammung [. . .]

103Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

gen ungesaumlttigt sind und eine Leerstelle aufweisen die nur durch einen Gegenstand gesaumlttigt werden kann Dies gilt fuumlr Frege sowohl fuumlr die Be-griffe und Gegenstaumlnde selbst als auch fuumlr die Ausdruumlcke mit denen wir sprachlich Begriffe bzw Gegenstaumlnde bezeichnen Daher ist jedoch fuumlr ihn jeder Ausdruck ohne Leerstelle zwangslaumlufi g ein Gegenstandsname kein Begriffswort Sprachlich gesehen sind alle Ausdruumlcke mit dem be-stimmten Artikel (raquoder Nlaquo) Eigennamen solche mit dem unbestimmten Artikel (raquo ist ein Pferdlaquo) Begriffswoumlrter Damit aber ist ein Ausdruck wie raquoder Begriff Pferdlaquo schon aus syntaktischen Gruumlnden ein Gegenstandsna-me und kein Begriffswort Entsprechend erklaumlrt Frege den Satz raquoDer Be-griff Pferd ist kein Begrifflaquo allein aufgrund der syntaktischen Form fuumlr wahr weil die Worte raquoder Nlaquo und damit auch raquoDer Begriff Nlaquo nur einen Gegenstand bezeichnen koumlnnen Daruumlber hinaus erklaumlrt er daszlig es voumlllig unmoumlglich ist einen wahren Satz der Form raquoDer Begriff F ist ein Begrifflaquo zu bilden da wir an der Subjektstelle immer im logischen Sinn einen Ei-gennamen und kein Begriffswort vorfi nden Wir koumlnnen also nach Frege in gewoumlhnlichen Saumltzen gar keine korrekten Aussagen uumlber Begriffe ma-chen Gegen Geach deutet Diamond diesen Fall nun so daszlig Frege mit dem paradox klingenden Satz seine Leser zur richtigen Einsicht in das Wesen des Begriffs anleiten moumlchte und zwar indem er absichtsvoll etwas Unsinniges sagt in Gestalt einer vorlaumlufi gen Ausdrucksweise (transitional remark) die spaumlter ganz wegfallen kann wenn die Unterscheidung ver-standen worden ist33 Dieses Verstaumlndnis aber zeigt sich so Diamond nicht darin daszlig man einen raquoZug der Wirklichkeitlaquo erfaszligt hat sondern darin daszlig man Freges Notation zu beherrschen gelernt hat Ihr zufolge druumlckt sich in der Notation also in der Schreibweise nicht in einzelnen Behaup-tungssaumltzen34 Freges Unterscheidung von Gegenstand und Begriff am klarsten und eindeutigsten aus und der Sinn der Uumlbergangsbemerkungen liegt demnach einzig darin in den korrekten Gebrauch der Notation und damit des logischen Systems mit seinen eingearbeiteten Unterscheidungen einzufuumlhren Vor diesem Hintergrund gibt es keinen raquoInhaltlaquo der nach der Einfuumlhrung uumlbrig bliebe und damit auch keinen Inhalt den man raquozeigenlaquo muumlszligte oder koumlnnte und daher kann man die Leiter dann wegwerfen (und einfach den Symbolismus richtig anwenden) Eine Deutung wie diejenige

33 Als Fregedeutung kann diese Interpretation nicht uumlberzeugen weil Frege seinen pa-radox klingenden Satz ohne Zoumlgern fuumlr wahr haumllt Aus der Perspektive Wittgensteins je-doch der den Gedanken einer notwendigen strukturellen Parallelitaumlt zwischen raquoZeichen und Bezeichnetemlaquo uumlberwunden hat waumlre diese Deutung uumlberzeugend Man kann Dia-mond in diesem Punkt eine Uumlberinterpretation des fruumlhen Wittgenstein vorwerfen die sie auch noch auf Frege ausdehnt

34 Das heiszligt daszlig Freges Grundunterscheidung sich praktisch an jedem symbolisch no-tierten Satz zeigen laumlszligt

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Geachs erscheint vor diesem Hintergrund als halbherzig Zum einen meint man daszlig manche wichtigen Saumltze nichts sagen sondern nur etwas zeigen zum anderen aber haumllt man doch daran fest daszlig diese Saumltze einen Inhalt haben und indirekt etwas uumlber die Realitaumlt ausdruumlcken Fuumlr Diamond ist das ein Sich-druumlcken (chickening out)35 Diesem halbherzigen Versuch setzt sie ein konsequentes Ernstnehmen der Unsinnigkeit der Abhandlungssaumltze und des Wegwerfens der Leiter entgegen Der Versuch mit dem raquoUnsinnlaquo Ernst zu machen hat als raquoresolute Lesartlaquo (resolute reading) dem neuen An-satz spaumlter den Namen gegeben36 Diamond stellt die Frage wie ernst man 654 tatsaumlchlich nehmen sollte und weiter ob der Redeweise von raquoZuumlgen der Realitaumlt die nicht in Worten ausgedruumlckt werden koumlnnenlaquo ein Sinn abzugewinnen ist37 Diamonds Antwort ist ebenso einfach wie provokativ Ja die Bemerkung 654 muszlig sehr ernst genommen werden und gerade deshalb kann es keine unausdruumlckbaren Zuumlge der Realitaumlt geben sondern wir muumlssen akzeptieren daszlig die Saumltze der Abhandlung im strengen und gewoumlhnlichen Sinne unsinnig sind sie sind um das Vorwort zu zitieren raquoeinfach Unsinnlaquo Damit aber verliert die Unterscheidung von Sagen und Zeigen ihren quasi-metaphysischen Charakter38

Bemerkung 654 deutet Diamond nun so daszlig Wittgenstein darin einen bewuszligten und wesentlichen Unterschied mache zwischen dem Verstehen seiner Saumltze und dem Verstehen seiner Person (raquower mich verstehtlaquo)39 Man solle naumlmlich verstehen daszlig seine Saumltze nicht zu verstehen sind Wir sol-len genauer gesagt mit unserer Einbildungskraft uns in die Position je-mandes versetzen der glaubt die Saumltze des Buches zu verstehen damit aber sollen wir so Diamond zugleich verstehen daszlig es hier nichts zu verstehen gibt daszlig es sich nur um eine Illusion von Verstehen handelt

35 Systematisch betrachtet kann man darin ein noch zu weitgehendes Festhalten an der grundsaumltzlichen Aumlhnlichkeit der Funktionsweise (oder raquoBezeichnungsweiselaquo) saumlmtlicher Satzarten nach dem Vorbild Freges sehen der die Grundunterscheidung von ZeichenSinn des ZeichensBedeutung des Zeichens uumlberall durchfuumlhren will waumlhrend nach Wittgenstein schon fuumlr logische Saumltze weder von Sinn noch von Bedeutung die Rede sein kann

36 Ricketts spricht in seinem Beitrag zum Cambridge Companion (Anm 19) S 93 von einer raquoresolut und konsistent angewendeten Konzeption der Wahrheitlaquo nach der es raquokeine unausdruumlckbaren Wahrheiten geben kannlaquo In Anschluszlig daran hat sich dann auf eine Anregung Goldfarbs hin die Rede einer raquoresoluten Lesartlaquo eingebuumlrgert

37 Diamond Ethics Imagination and the Method of Wittgensteinrsquos Tractatus (1991) auch in New Wittgenstein S 149ndash173 hier S 181

38 Daszlig die Unterscheidung auf andere Weise logisch zentral ist fuumlhrt Diamond an an-derer Stelle aus (vgl Anm 12)

39 Diamond greift dabei (S 160) indirekt auch den Gedanken Cavells auf daszlig es in Wittgensteins Philosophie immer auch um Selbsterkenntnis geht also um die eigene Per-son Dieses Element spielt vor allem bei anderen Vertretern der resoluten Lesart eine be-traumlchtliche Rolle und traumlgt einiges zu ihrer Attraktivitaumlt bei

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(150) Die Saumltze und damit das Buch sollen als vollstaumlndig unsinnig er-kannt werden ndash davon ausgenommen sind allerdings die Bemerkungen die den Rahmen bilden und in denen Wittgenstein einige Hinweise dar-uumlber gibt wie das Buch aufzufassen ist (S 149)40 Es gibt dabei keine lo-gische wesentliche Unterscheidung zwischen zwei Arten von Unsinn sol-chem der etwas Richtiges zeigt und solchem der schlicht Ausdruck einer Verwirrung ist (wie die Saumltze der traditionellen Metaphysik)41 Daszlig man-che unsinnigen Saumltze als Erlaumluterungen dienen koumlnnen ist diesen Saumltzen ganz aumluszligerlich (S 159) sozusagen eine Zufaumllligkeit hat aber nichts mit einem moumlglichen Gehalt dieser Saumltze zu tun Dies wendet sich gegen eine entsprechende Unterscheidung bei Anscombe zwischen raquoden Dingen die wahr waumlren wenn sie gesagt werden koumlnnten und denen die falsch wauml-ren wenn sie gesagt werden koumlnntenlaquo42 Man kann nach Diamond von solchen Unsinnsarten nicht sprechen Eine Konsequenz dieser Radikalitaumlt liegt nun darin daszlig die gesamte innere Struktur der Abhandlung verloren-zugehen scheint Wenn alles Unsinn ist was kann dann noch Unterschiede der einzelnen Passagen ausmachen Genau dies entspricht gerade einem zentralen Motiv von Diamonds Ansatz So verweist sie etwas darauf daszlig im Buch zwar Bemerkungen mit ethischer Thematik vorkommen daszlig aber in einem tieferen Sinne jeder Satz (oder das gesamte Buch) einen ethischen Charakter hat indem es darin eine bestimmte Haltung aus-druumlckt ganz unabhaumlngig vom gerade verwendeten Vokabular Diese Auf-fassung daszlig zentrale philosophische Einsichten vom jeweils verwendeten Vokabular und den aufgestellten Behauptungen weitgehend unabhaumlngig sind weil es nicht auf das Vokabular sondern auf den Gebrauch ankommt ist ein Kernstuumlck in Diamonds Ansatz43 Ihr geht es vor allem anderen darum Wittgensteins philosophische Haltung aufzuklaumlren indem sie spe-zifi sche Passagen die Miszligverstaumlndnisse verursachen erklaumlrt Die Absicht

40 Diese radikal klingende Behauptung ist insofern miszligverstaumlndlich als Diamond nicht alle Saumltze der Abhandlung sozusagen per defi nitionem fuumlr unsinnig erklaumlren will ihr geht es vielmehr vor allem darum klarzustellen daszlig wenn ein spezifi scher Satz unsinnig ist er es auch wirklich ist und daszlig es inkonsequent ist sozusagen einen raquoSinn zweiter Ordnunglaquo einzufuumlhren

41 Die starke Konzentration der Diskussion auf Fragen von raquoUnsinnlaquo uumlbersieht haumlufi g daszlig Wittgenstein Unsinn ausgesprochen liebte Einer seiner Lieblingsautoren war Lewis Carroll auf den er haumlufi ger in seinen Schriften anspielt oder verweist und er selbst sam-melte uumlber Jahrzehnte Beispiele besonders absurder Zeitungsartikel Vgl dazu jetzt Brian McGuinness (Hg) Wittgenstein in Cambridge Letters and Documents Oxford 2008 S 192 und 468 auszligerdem Brian McGuinness In Praise of Nonsense (unveroumlffentlicht)

42 Anscombe Introduction (Anm 9) S 162 zit von Diamond Ethics S 15843 Sie fuumlhrt dies an Beispielen des spaumlten Wittgenstein aus der Mathematik (u a den

erwaumlhnten Vorlesungen) und der Ethik in ihrem Beitrag zum Cambridge Companion naumlher aus und erkennt ein solches Vorgehen auch in der Abhandlung und bei Frege wieder

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Wittgensteins Schriften als Ganze zu interpretieren tritt demgegenuumlber ganz in den Hintergrund Insofern ist 654 auch wieder nicht uumlberzube-werten sondern dient nur als ein besonders markanter Ausgangspunkt um verfehlte Auffassungen abzuwehren44 So ist die Abhandlung fuumlr Dia-mond kein Buch uumlber Logik denn ein solches kann es streng genommen ebenfalls nicht geben Die Logik ist vielmehr raquodem was Saumltze sind bereits intern eingeschriebenlaquo (S 151) Anders gesagt Wir koumlnnen an jedem be-liebigen Satz wenn wir nur richtig hinsehen alle Elemente der richtigen logischen Auffassung aufweisen und daher ist jeder Versuch diese vor-gaumlngige Struktur explizit zu machen immer etwas Nachtraumlgliches das schon raquozu spaumlt kommtlaquo und dadurch stets etwas Schiefes eben Unsinniges an sich hat Der eigentliche Ausdruck von Wittgensteins philosophischen Auffassungen sind daher nicht irgendwelche Inhalte seines Buches son-dern die Art wie sie ausgedruumlckt sind (S 170)

Eine besondere Eigenheit fast aller Arbeiten Diamonds ist ihre sehr spe-zifi sche Ausrichtung auf eine je besondere Fragestellung In vielen Faumlllen greift sie charakteristische Fehleinschaumltzungen oder auch nur miszliggluumlckte Formulierungen anderer Autoren auf und erlaumlutert geduldig sorgfaumlltig und oft in wiederholten bisweilen kreisenden Gedankengaumlngen welche Art von Fehleinschaumltzung vorliegt aus der die verungluumlckte Formulierung hervorgegangen ist Ihre Klaumlrungsarbeit bezieht sich fast immer auf einen konkreten Fall nicht auf eine allgemeine These Dadurch sperren sich ihre Texte gegen Lesegewohnheiten die auf Thesen und Argumente oder auf systematische Darlegungen und einen hohen Allgemeinheitsgrad hin ori-entiert sind Besonders instruktiv ist ihre Aufklaumlrung eines Beispiels von Anscombe (raquorsaquoJemandlsaquo ist nicht der Name von jemandemlaquo) in dem sie einen Versuch beleuchtet mit dem Anscombe ihrerseits im Sinne des fruumlhen Wittgenstein eine ganz elementare sprachlogische Klarstellung zu treffen versucht die den Unterschied zwischen Sagen und Zeigen nicht in allge-meiner (raquometaphysischerlaquo) sondern in ganz spezifi scher logischer Absicht betrifft45 Ihr Ergebnis lautet daszlig die Logik und damit die Gebrauchswei-sen von Ausdruumlcken wie raquojemandlaquo im einzelnen sorgfaumlltig beschrieben werden muumlssen daszlig man dies nicht mit einem Satz allein klarstellen kann

44 Die Erfolgsgeschichte der resoluten Lesart haumlngt eng damit zusammen daszlig man das ganze Buch als raquobloszligen Unsinnlaquo auffassen will bei Diamond liegt jedoch genau besehen keine Interpretation des gesamten Buches vor Sie will vielmehr nur einige Kernpunkte klarstellen verknuumlpft diese Klarstellungen allerdings mit einigen allgemeiner klingenden Zusatzbemerkungen

45 Diamond Saying and Showing (wie Anm 12) In diesem Beispiel bleibt jedoch An-scombe die die Frage in einem Streich entscheiden und klaumlren will dem Geist des fruumlhen Wittgenstein naumlher als Diamond mit ihrer sorgfaumlltigen Beschreibung der Sprachspiele mit raquojemandlaquo

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Damit will Diamond einen Beitrag dazu leisten die raquophilosophi sche Klauml-rung zu klaumlrenlaquo (to clarify philosophical clarifi cation)46

Das Ziel ihrer Arbeit ist jeweils die Klaumlrung unuumlbersichtlicher begriff-licher Verhaumlltnisse um so zu einer natuumlrlichen raquorealistischenlaquo Sicht zu kommen47 An Paradoxien ist sie grundsaumltzlich nicht interessiert auszliger insofern es darum geht deren Quellen aufzudecken sie als Symptome von begriffl ichen Unklarheiten zu sehen

Charakteristisch fuumlr Diamonds Vorgehensweise ist auch eine Uumlberle-gung die von einer Bemerkung Kripkes ihren Ausgang nimmt Einmal schreibt Wittgenstein raquoMan kann von einem Ding nicht aussagen es sei 1 m lang noch es sei nicht 1 m lang und das ist das Urmeter in Parislaquo (PhU 50) Kripke nennt diese Behauptung die aus dem Zusammenhang gerissen etwas entschieden Paradoxes hat offensichtlich falsch ohne je-doch den genauen Zusammenhang zu beachten48 Genau darauf kommt es Diamond aber an und sie erlaumlutert detailliert hartnaumlckig und zielstrebig

46 Ebd S 15347 Diamonds Grundanliegen kann man auch so formulieren daszlig sie an die Stelle von

philosophischen raquoPhantasienlaquo die aufs Allgemeine eines zurechtgestellten Sprachgebrauchs gehen eine realistische Einstellung die sich vor allem um Einzelheiten kuumlmmert setzt (The Realistic Spirit in der gleichnamigen Sammlung S 39ndash72)

48 Tatsaumlchlich ist die Bemerkung Kripkes weitaus weniger beilaumlufi g als Diamond sugge-riert Er schreibt raquoWittgenstein sagt etwas sehr Verwirrendes hieruumlber Er sagt raquoMan kann von einem Ding nicht sagen es sei 1 m lang noch es sei nicht 1 m lang und das ist das Urmeter in Paris ndash Damit haben wir aber diesem natuumlrlich nicht irgendeine merkwuumlrdige Eigenschaft zugeschrieben sondern nur seine eigenartige Rolle im Spiel des Messens mit dem Metermaszlig gekennzeichnetlaquo (PhU 50) Das scheint aber in der Tat eine sehr raquomerk-wuumlrdige Eigenschaftlaquo fuumlr einen Stab zu sein Ich denke Wittgenstein muszlig sich hier irren Wenn der Stock 3937 Inches lang ist (ich nehme an daszlig wir einen anderen Standard fuumlr Inches haben) warum ist er nicht 1 m lang Wir wollen jedenfalls annehmen daszlig Witt-genstein sich irrt und daszlig der Stab 1 m lang istlaquo (Kripke Naming and Necessity 1980 Name und Notwendigkeit FrankfurtM 1981 S 65 f) Diamond weist zwar zu Recht darauf hin daszlig Kripkes theoretisches Vokabular nur uumlber Eigenschaften (er diskutiert Fragen von Referenz und sprachlicher Bedeutung separat) nicht aber uumlber raquoStellungen im Sprachspiellaquo verfuumlgt und daszlig er deshalb zur tatsaumlchlich merkwuumlrdigen Deutung des Satzes als raquokontin-gente Wahrheit a priorilaquo (S 68) kommt (Dies entspricht wiederum in einigem der ja auch raquoeigenartigenlaquo Rolle im Sprachspiel) Beim Ausfuumlhren des Beispiels gegen Wittgenstein argumentiert Kripke jedoch intern vollkommen konsistent und faktisch auch an einem Sprachspiel orientiert wenn er (in Klammern) annimmt daszlig wir uumlber einen eigenen unabhaumlngigen Maszligstab fuumlr englische Zoll verfuumlgen Dann naumlmlich kann man das Urmeter ohne weiteres wie jeden anderen Gegenstand auch (auszliger in diesem Spiel dem raquoUr-Yardlaquo das Kripke jedoch nicht erwaumlhnt ndash und insofern hat Kripke die Problematik nur geschickt verschoben) abmessen und das Ergebnis anschlieszligend umrechnen Damit nimmt Kripke Wittgensteins Bemerkung das Paradoxe fuumlhrt dabei allerdings (unkommentiert) einen raquoDoppelstandardlaquo der Messung ein der nicht weiter geklaumlrt wird Die Sorgfalt in Kripkes Ausfuumlhrungen legen daher nahe die Rede davon daszlig Wittgenstein raquoirrelaquo nicht als Hin-weis auf einen einzelnen zufaumllligen Fehler sondern auf eine insgesamt verfehlte Auffas-sung zu verstehen

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wie Wittgenstein zu seiner Aumluszligerung kommt und inwiefern die Institution des Messens davon abhaumlngt daszlig man Maszligstaumlbe einfuumlhrt mit denen dann andere Objekte gemessen werden49 Da Laumlngenangaben entsprechend im-mer auf den Vergleich zu einem Maszligstab bezogen sind entsteht die kuriose Situation daszlig die Laumlnge des Urmeters durch Anlegen an sich selbst be-stimmt werden muumlszligte Nach Kripke ist dies ein Fall von Identitaumlt d h im Fall der Identitaumlt kann man auch ohne jede Messung sagen daszlig das betref-fende Objekt 1 m lang ist (oder eben raquoso lang wie es istlaquo ndash denn wie lang sollte es sonst sein) Damit aber gleicht er den Fall der Messung an den Fall der bloszligen Festsetzung in dem gar keine Messung erfolgt und genau genommen auch keine Messung moumlglich ist (denn man kann keinen Maszlig-stab an sich selbst anlegen weil dazu mindestens zwei Objekte benoumltigt werden) an und uumlbersieht die begriffl iche Verschiedenheit beider Faumllle Durch dieses Beispiel beleuchtet Diamond vor allem den Begriff der Gleichheit bzw Identitaumlt der von Kripke und weiten Teilen der philoso-phischen Tradition als unproblematischer absoluter Fixpunkt in Anspruch genommen wird den Wittgenstein aber einer fruumlhen Kritik (553 ff) und einer spaumlteren genauen Beschreibung (PhU 251 ff) unterzogen hat Zur Aufklaumlrung ist es noumltig den Ort den die Rede von raquogleichlaquo und raquoiden-tischlaquo in der Sprache hat genauer zu beleuchten und zu beschreiben an-statt ihn als quasi sprachunabhaumlngig gegeben einfach vorauszusetzen50

Diamonds Arbeit zielt so durchgehend auf die Klaumlrung scheinbar para-doxer oder merkwuumlrdiger Behauptungen ab und sie sieht ihr Ziel erst dann erreicht wenn aufgezeigt ist daszlig im Sprachspiel alles mit ganz ge-woumlhnlichen Dingen zugeht Paradoxe Behauptungen haben darin keinen Ort Auch ihre Anmerkungen zum Schluszlig von Wittgensteins Abhandlung sind daher systematisch als solche Aufklaumlrungen (etwa der paradoxen Re-deweise von Saumltzen die raquowahr waumlren wenn sie gesagt werden koumlnntenlaquo) zu verstehen auch wenn sie stellenweise selbst sehr uumlberraschend klingen Ihr Grundgedanke lautet jedoch Auch raquounsinniglaquo ist ein ganz gewoumlhn-liches Wort welches Wittgenstein verwendet und wenn er es verwendet dann meint er es auch so wie er es sagt51

49 Diamond betont mit (dem spaumlten) Wittgenstein die grundlegende Bedeutung von sprachlichen Institutionen waumlhrend Kripke konsequent davon absieht und alles als Fakten (unterschiedlicher Art) interpretiert

50 Kripkes Auffassung der Identitaumlt ist sprachunabhaumlngig und sozusagen raquorein objektivlaquo angelegt Fuumlr ihn ist jeder Gegenstand notwendigerweise mit sich selbst identisch und weist eine bestimmte raquoobjektivelaquo Laumlnge auf Wittgenstein dagegen weist darauf hin daszlig auch zum Wort raquoidentischlaquo ein Sprachspiel gehoumlrt das diesem Wort erst seine klare Ver-wendung gibt

51 Einiges spricht jedoch auch dafuumlr daszlig diese Auffassung eher dem spaumlten Wittgen-stein entspricht und daszlig in 654 raquounsinniglaquo gerade nicht im alltaumlglichen Sinn verwendet wird

109Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

5 Es ist bei dieser sehr punktuellen Methodik um so bemerkenswerter und selbst geradezu paradox daszlig Diamonds Ansatz der Ausgangspunkt einer ganzen Richtung der Wittgensteininterpretation und noch dazu der Abhandlung geworden ist Diese Entwicklung hat viel mit der Arbeit von James Conant zu tun der dem Ansatz eine allgemeinere und leichter ein-zuordnende Form gegeben und das Zentrum der Aufmerksamkeit noch viel staumlrker als Diamond auf die Abhandlung und ihren Schluszlig gelenkt hat Conant stellt Wittgensteins Text in einen weiteren Rahmen indem er etwa Wittgenstein mit Kierkegaard Carnap und anderen Autoren ver-gleicht und indem er sich um die Historiographie der Tractatusdeutungen und insbesondere der impliziten Voraussetzungen dieser Deutungen in einer Weise bemuumlht daszlig die resolute Lesart als natuumlrlicher Abschluszlig einer Stufenfolge erscheint Dadurch entsteht der Eindruck daszlig die raquoresolutelaquo Deutung auf uumlberlegene Weise alle vorangegangenen Deutungsversuche in sich aufnimmt und ihnen den gehoumlrigen Platz anweist so daszlig kein sys-tematischer Raum mehr fuumlr Gegenvorschlaumlge bleibt52

In seiner bisher umfangreichsten Darstellung53 gibt Conant zunaumlchst eine Rekonstruktion der rationalen Genese der bisherigen Lesarten die er die raquopositivistischelaquo und die raquoUnsagbarkeitslesartlaquo (ineffability reading) nennt Als deren gemeinsame Grundvoraussetzung arbeitet er die Annahme her-aus daszlig es etwas wie raquogehaltvollen Unsinnlaquo (substantial nonsense) in der Abhandlung geben muumlsse Er zeigt dann auf daszlig und wie sich beide Auf-fassungen gegenseitig bedingen und inwiefern keine von beiden zu einer stabilen und konsequenten (eben raquoresolutlaquo durchhaltbaren) Position fuumlhrt Tatsaumlchlich setzt sich Conant fast ausschlieszliglich mit der von ihm als Stan-dardinterpretation (S 394) angesehenen Lesart und ihrem Hauptvertreter Peter Hacker auseinander54 Die Kernthematik des Aufsatzes der die Me-

52 Der Gestus erinnert stellenweise an Hegels Vorgehen Conant ist auch an anderer Stelle mit weitreichenden Sortiervorschlaumlgen hervorgetreten so etwa in bezug auf Spiel-arten des Skeptizismus wo er eine Cartesische und eine Kantische Spielart des Skeptizis-mus und damit der Philosophie uumlberhaupt unterscheidet (Varieties of Skepticism in D McManus (Hg) Wittgenstein and Skepticism London 2004)

53 James Conant The Method of the Tractatus in Reck From Frege to Wittgenstein daran orientiert sich das Folgende Mehrere Aufsaumltze Conants ergaumlnzen diesen Beitrag noch ndash Durch haumlufi ge Verweise auf einander einen gemeinsamen Aufsatz sowie an beide gerich-tete Kritik ist aumlhnlich wie in der Kopenhagener Deutung der Quantenphysik der Ein-druck entstanden als handele es sich um ein und dieselbe Auffassung Dieser Eindruck taumluscht jedoch in einigen wichtigen Punkten ebenso wie im Fall der Kopenhagener Deu-tung wie aus dem Folgenden klar werden wird

54 Tatsaumlchlich liegt der systematische Schwerpunkt der Kontroverse zwischen ConantDiamond und Hacker auf der Interpretation der Philosophie des spaumlten Wittgenstein die von beiden Parteien als der eindeutig uumlberlegene und bis heute unuumlberbotene philoso-phische Ansatz angesehen wird Diese grundsaumltzliche Debatte um die Deutung von Witt-gensteins Spaumltphilosophie hat erst in Ansaumltzen besonders in einigen Aufsaumltzen von Dia-

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thode der Abhandlung zu klaumlren beansprucht kreist um die Leitbegriffe raquoErlaumluterunglaquo und raquoUnsinnlaquo (S 378) Wie Diamond fi ndet Conant dies bei Frege vorgebildet wobei er dessen Verfahren so zusammenfaszligt daszlig nach Frege raquodie Erlaumluterung logisch einfacher Ausdruumlcke wie Begriff und Gegenstand unvermeidlicherweise mit (dem geschickten Einsatz von) Unsinn arbeiten muszliglaquo (S 387) In der Deutung dieses Verfahrens durch Frege sieht Conant jedoch eine Spannung denn Frege glaubt raquodaszlig er in solchen Faumlllen etwas sagen will was im strengen Sinn nicht gesagt werden kann und druumlckt sich dann so aus daszlig seine Woumlrter einen Gedanken auszudruumlk ken versuchen damit aber notwendigerweise scheiternlaquo (S 391) Damit vertritt Frege aumlhnlich wie Geach und Hacker selbst eine substan-tielle Auffassung von Unsinn55 Nach Conant liegt die Hauptabsicht von Wittensteins Abhandlung nun genau darin eine solche substantielle Auffas-sung von Unsinn nicht zu vertreten sondern zu uumlberwinden Die Unter-scheidung zwischen sinnvollen und nicht sinnvollen Saumltzen liegt nach Conants Deutung nun praumlziser gefaszligt darin raquoEinen Satz als sinnvoll wahr-nehmen bedeutet daszlig man im Satzzeichen das Satzsymbol wahrnimmt Einen Satz als Unsinn wahrzunehmen bedeutet daszlig man im Zeichen kein Symbol erkennen kannlaquo (S 404) Ein Satz ist also dann raquobloszliger Unsinnlaquo wenn eine Zeichenreihe raquokeine erkennbare logische Syntax hatlaquo (S 400) Damit gibt es aber streng genommen keine raquounsinnigen Saumltzelaquo sondern nur Zeichenreihen die auf den ersten Blick wie Saumltze aussehen bei denen aber der Versuch in ihnen eine logische Form aufzufi nden scheitert Die Rede von raquoUnsinnlaquo bezieht sich also nicht auf die Saumltze oder Zeichenrei-hen selbst sondern allein auf unser Scheitern Zentral wird dadurch der Begriff des raquoSymbolslaquo Ein Symbol ist ein Zeichen zusammen mit einer logisch durchsichtigen Verwendungsweise (S 414) Die bekannte Sprach-kritik der Abhandlung (40031) erweist sich so nicht als Versuch die sinn-vollen von den unsinnigen Zeichen(reihen) durch ein Sinnkriterium zu trennen sondern raquodie Quelle des scheinbaren Unsinns liegt in unserer Beziehung zum sprachlichen Zeichen nicht im sprachlichen Zeichen selbstlaquo (S 419) Die Philosophie ist entsprechend Wittgensteins Diktum

mond begonnen Als zentralen Gegensatz zwischen der eigenen Position und derjenigen Hackers formuliert Conant daszlig nach Hacker der fruumlhe Wittgenstein an unausdruumlckbare Wahrheiten glaubte waumlhrend der spaumlte dies als Irrtum durchschaute waumlhrend Wittgen-stein tatsaumlchlich schon in der Abhandlung die darin vorausgesetzte substantielle Auffassung von Unsinn ablehnte Weiter glaubt er in Hackers Deutung des spaumlten Wittgenstein raquoeine verkleidete Fassung der Auffassung die er dem fruumlhen Wittgenstein zuschreibtlaquo zu erken-nen was der wahren Radikalitaumlt dieses Denkens nicht gerecht werde (Conant Two Con-ceptions of Die Uumlberwindung der Metaphysik in Wittgenstein in America (Anm 17) S 13ndash62 hier S 38 Anm 42)

55 In diesem Punkt ist Conant exegetisch weitaus vorsichtiger als Diamond die weniger Scheu hat Frege eine systematisch uumlberzeugende Konzeption zuzuschreiben

111Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

raquokeine Lehre sondern eine Taumltigkeitlaquo Diese Taumltigkeit besteht nach Con-ant darin daszlig eine Illusion von Sinn aufgebaut und am Ende zerstoumlrt wird Das Ziel des Buches ist daher raquonicht eine Einsicht in metaphysische Zuumlge der Wirklichkeit sondern in die Quellen der Metaphysiklaquo (S 421) Nach Conant gibt es im Text nur raquo(scheinbar) eine Lehre uumlber raquodie Gren-zen des Denkenslaquolaquo (S 424) tatsaumlchlich aber sind raquodie Erlaumluterungen des Autors nur dann erfolgreich wenn wir den Haupttext als Unsinn erken-nenlaquo (S 424) Conants Darstellung verleiht der resoluten Lesart dadurch daszlig er aufzeigt wie die grundlegenden Spannungen in den fruumlheren Deu-tungsansaumltzen aufgeloumlst werden koumlnnen den Anschein einer teleologischen Zwangslaumlufi gkeit Nicht zufaumlllig spielt daher die fortgesetzte Auseinan-dersetzung mit der raquoUnsagbarkeitslesartlaquo eine zentrale Rolle in seinen Ausfuumlhrungen Ein nicht zu unterschaumltzender Teil der Anziehungskraft der resoluten Lesart liegt genau darin daszlig sie den einzigen konsistenten wenn auch zunaumlchst uumlberspitzt aber damit zugleich auch brillant wirken-den Ausweg aus den Bemuumlhungen um ein Verstaumlndnis der Logisch-Philoso-phischen Abhandlung zu bieten scheint56

Conants umfangreicher Beitrag zur Festschrift fuumlr Cora Diamond57 verstaumlrkt die genannten Tendenzen noch Dies zeigt sich bereits an der Form Unter dem Titel raquoA Recently Discovered Manuscriptlaquo wird ein gewisser raquoJohannes Climacuslaquo58 als Herausgeber eines Aufsatzes von Con-ant eingefuumlhrt der in Gestalt einer fi ktiven theologischen Auseinanderset-zung um die richtige Wittgensteinorthodoxie eigene (ziemlich dogma-tisch-uneinsichtsvolle) Kommentare zu den einzelnen Teilen von Conants Text abgibt Dieser Text selbst greift schon im Titel und uumlber weite Stre-cken ironisch den Ton theologischer Kontroversen auf Thema der Arbeit ist die umstrittene raquometa-wittgensteinschelaquo Frage ob Anhaumlnger der reso-luten Lesart (die noch einmal zusammenfassend vorgestellt wird) uumlber-haupt uumlber den Spielraum verfuumlgen um einen wesentlichen Unterschied zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein herauszuarbeiten (S 32) Diese Frage geht Conant dialektisch an indem er drei verschie-dene Listen praumlsentiert eine erste (S 49) die scheinbare Lehren der Ab-handlung enthaumllt die aber tatsaumlchlich so Conant Auffassungen sind vor

56 Diese Zwangslaumlufi gkeit tritt in Diamonds Arbeiten weitaus weniger hervor Fuumlr sie ist die Abhandlung ein reiches Buch das zahlreiche ausgesprochen weiterfuumlhrende und faszinierende Passagen enthaumllt die philosophisch weiterhelfen nicht ein Werk das sozu-sagen unter einer Drohung lebt und dessen Leser nach einem Ausweg suchen

57 James Conant Mild-Mono-Wittgensteinianism in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 29ndash142

58 Dieses von Kierkegaard entlehnte Pseudonym verwendet Conant seinerseits in einem Zitat aus der Abschlieszligenden unwissenschaftlichen Nachschrift (31) mit der Bemerkung daszlig Ironie und Ernsthaftigkeit einander nicht ausschlieszligen In fruumlheren Texten hatte Conant raquoClimacuslaquo mit raquoLeiterlaquo uumlbersetzt (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 291)

112 Wolfgang Kienzler PhR

denen Wittgenstein seine Leser warnen will eine zweite mit Auffas-sungen die Wittgenstein in der Abhandlung natuumlrlich klar und unkontro-vers erschienen die aber dennoch Ausdruck philosophischer Ansichten sind die er selbst spaumlter als problematisch ansah (S 83)

Damit ist fuumlr eine Differenz zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein ein Spielraum gewonnen der dann durch eine dritte Liste wieder in einen ironischen Schwebezustand gebracht wird indem Conant Saumltze praumlsentiert die man gleichermaszligen dem fruumlhen wie dem spaumlten Wittgenstein zuordnen kann bisweilen indem leichte Variationen des Wortlauts mitgefuumlhrt werden wie raquoDie Logik (Grammatik) muszlig fuumlr sich selber sorgenlaquo (S 106) Conant spricht von raquoAugenblicken atemberau-bender Kontinuitaumltlaquo (S 108) gerade dort wo Wittgenstein die Konzeption der Abhandlung kritisiert (PhU 97ndash133) Als Ergebnis der Untersuchung bleibt so der Eindruck von gleichzeitig auszligerordentlicher Kontinuitaumlt und deutlicher Diskontinuitaumlt in Wittgensteins philosophischer Entwicklung Auch daszlig eine resolute Lesart eher raquoein Programm um das Buch zu lesenlaquo (111 Anm 4) ist als tatsaumlchlich eine durchgehende Lektuumlre ist deutlich ausgesprochen59

Der philosophische Ansatz und Stil Conants ist dem von Diamond in vie-ler Hinsicht entgegengesetzt Waumlhrend Diamond von konkreten Einzelfaumll-len ausgeht und diese im Hin- und Hergehen aufzuklaumlren versucht geht Conant ganz von auszligen mit einem umfassenden Blick in Beziehung zur gesamten Philosophiegeschichte an die Fragen heran Ein bevorzugter Vergleich ist derjenige Wittgensteins mit Kierkegaard insbesondere in der Frage des Verhaumlltnisses des Autors zu seinen Buumlchern60 Man koumlnnte gera-

59 In der gemeinsam verfaszligten Arbeit On Reading The Tractatus Resolutely Reply to Me-redith Williams and Peter Sullivan in M KoumllbelB Weiss Wittgensteinrsquos Lasting Signifi cance London 2004 S 46ndash99 erlaumlutern Diamond und Conant einige Punkte ihres Ansatzes ge-genuumlber Versuchen das Buch als System von Behauptungen zu lesen (Williams) und gegen die Kritik ihre Lesart sei unvollstaumlndig letzteres mit dem Hinweis es handle sich bislang lediglich um ein Forschungsprogramm aber gerade nicht um ein Rezept das eine leichte und zusammenhaumlngende Lektuumlre ermoumlgliche (S 68) Peter Sullivan wird als der produk-tivste Kritiker bezeichnet weil er auf spezifi sche Inkonsistenzen hinweise (vgl die in Anm 64 genannte Arbeit) Sullivans eigene Deutungsvorschlaumlge bleiben jedoch eher tra-ditionellen ontologisch orientierten Ansaumltzen verhaftet (vgl What is the Tractatus About ebenfalls in KoumllbelWeiszlig S 32ndash45) Diese gemeinsame Arbeit verbleibt jedoch insge-samt auf einer sehr allgemeinen und wenig spezifi schen Ebene

60 So etwa Conant Putting Two and Two together Kierkegaard Wittgenstein and the Point of View for Their Work as Authors in T TessinM von der Ruhr (Hg) Philosophy and the Grammar of Religious Belief London 1995 S 248ndash331 Als Zusammenfassung schreibt Co-nant dort daszlig der fruumlhe Wittgenstein aumlhnlich wie Kierkegaard raquoden Leser in die Wahr-heit hineintaumluschen willlaquo zu welchem Zweck er raquoeine ausgefeilte Struktur scheinbarer Behauptungenlaquo verwendet (S 302) Fuumlr ein solches Verstaumlndnis gibt es bei Kierkegaard zahlreiche Hinweise bei Wittgenstein streng genommen keine er will alles raquoklar sagenlaquo

113Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

dezu sagen daszlig sich Conant mehr fuumlr die Frage der Autorschaft als fuumlr das Werk selbst interessiert61 Es geht ihm darum den richtigen Blickwinkel auf das Werk zu gewinnen und den entwickelt er durch weitgespannte Ver-gleiche durch die Analyse der Selbstkommentare und zusaumltzlichen Erlaumlute-rungen Dabei scheint das Ziel vorrangig die Einordnung vorhandener Zu-gangsmoumlglichkeiten zu sein die er dann in eine systematische Ordnung bringt62 Diese Systematik verweist dann gewissermaszligen teleologisch auf eine einzige offene Moumlglichkeit als den richtigen Zugang zu einem Problem oder einem Text Waumlhrend Diamond also einzelne Miszligverstaumlndnisse auf-klaumlrt zieht Conant die groszligen orientierenden Linien63 Damit aber ergaumln-zen beide Ansaumltze einander wiederum in einem Maszlige daszlig sie von auszligen in aller Regel als eine Einheit angesehen werden Erst durch Conants Ord-nungsvorschlaumlge hat Diamonds Ansatz diejenige Uumlbersichtlichkeit und Handhabbarkeit gewonnen die eine breitere Wirksamkeit ermoumlglichen

Einmal schreibt er kritisch raquoDer Verkehr mit Autoren wie Hamann Kierkegaard macht ihre Herausgeber anmaszligend Diese Versuchung wuumlrde der Herausgeber des Cherubi-nischen Wandersmannes nie fuumlhlen noch auch der Confessionen des Augustin oder einer Schrift Luthers Es ist wohl das daszlig die Ironie eines Autors den Leser anmaszligend zu ma-chen geneigt istlaquo (Denkbewegungen [1931] FrankfurtM S 41)

61 In einem fruumlheren Aufsatz The Search for Logically Alien Thought Descartes Kant Frege and the Tractatus in Philosophical Topics 20 (1991) S 115ndash180 vergleicht Conant Witt-gensteins Vorgehen mit einem langen Witz bzw einer Parabel die ein absurdes Gespraumlch wiedergibt in dem ein Pole von einem Juden wissen will worin raquodas Geheimnis der Ju-denlaquo besteht und das nach allerhand Umwegen mit der Einsicht endet daszlig da raquokein Ge-heimnis istlaquo ndash aber so erfahren wir eben das raquoist das Geheimnislaquo (S 160)

62 Conants umfassende Perspektive geht mit einigen Zurechtstellungen bei der Inter-pretation einher die das Material entsprechend dem umfassenden Entwurf leicht umfor-men In seinem langen Aufsatz spricht er Wittgenstein eine besondere Konzeption von Klarheit zu die darin liegen soll daszlig man am Ende das Buch als unsinnig erkennt (374) er uumlbergeht dabei aber daszlig Wittgenstein gegenuumlber Russell unmittelbar auf den voumlllig neu-artigen Inhalt der logischen Konzeption verweist und dabei sogar das Wort raquoTheorielaquo ver-wendet als Ziel formuliert Wittgenstein auch nicht daszlig man bestimmte Konzeptionen als nur scheinbar konsistent erkennen soll (377) sondern daszlig man die Logik der Sprache ein-sehen lernt ohne ein Verstaumlndnis von 654 ist nach Conant kein Verstaumlndnis des Buches moumlglich (378) dies gilt aber angesichts der konzentrierten Form fuumlr jeden Satz des Buches wobei die Schluszligbemerkung eher selbstrefl exiv auf das Buch und die Darstellungsform Bezug nimmt als auf die bis dahin entwickelte Einsicht der gegenuumlber der bloszligen Selbstre-fl exion die Prioritaumlt einzuraumlumen waumlre die Woumlrter raquoUnsinnlaquo und raquoErlaumluternlaquo (378) sind entschieden nicht die Kernbegriffe des Buches zum einen kommen eher die Formen raquoun-sinniglaquo oder raquoes ist ein Unsinnlaquo vor nicht das Substantiv zum anderen sind viel eher raquoKlar-heitlaquo und raquoklarlaquo die zentralen Ausdruumlcke Carnap wird als derjenige hingestellt der nichts verstanden habe aber Wittgenstein hat gerade Carnap 1932 des Plagiats bezichtigt und Conant verkehrt Wittgensteins Aumluszligerung er koumlnne sich raquonicht denkenlaquo daszlig Carnap den Sinn des Buches raquoso ganz und gar miszligverstandenlaquo haben koumlnnte ins gerade Gegenteil und zitiert sie mehrfach (378 Anm 9 Anm 99 als Motto in Two Conceptions wie Anm 54)

63 Relativ haumlufi g verwendet Conant auch ganz traditionelle Ordnungsinstrumente wie raquoArtlaquo und raquoGattunglaquo (vgl Conant Method (Anm 53) S 435 Anm 43 436 Anm 48)

114 Wolfgang Kienzler PhR

Ein Punkt hat Kritiker besonders irritiert naumlmlich Diamonds und Co-nants Bestehen darauf daszlig der Text streng und konsequent stuumlckweise (piecemeal) gelesen werden soll Dies scheint mit der radikalen Grundten-denz nicht recht vereinbar oder die Radikalitaumlt doch stark abzuschwaumlchen ndash es koumlnnte aber dazu fuumlhren daszlig man das Gewicht der bisweilen daran angeknuumlpften allgemeineren Betrachtungen als wesentlich geringer anse-hen koumlnnte als es derzeit in aller Regel geschieht Tatsaumlchlich ist der stuumlckweise Zugang sehr charakteristisch fuumlr Diamonds Methode und die allgemein gehaltenen radikalen Thesen wirken in ihren Texten eher wie Fremdkoumlrper Die raquoTheselaquo von der notwendig stuumlckweisen Interpretation reduziert sich daher im Kern auf die wichtige aber unspektakulaumlre me-thodische Beobachtung daszlig es ohne Zweifel richtig ist daszlig man die Ab-handlung sorgfaumlltig langsam und schrittweise entschluumlsseln muszlig gerade damit man die einheitliche und uumlbergreifende Konzeption (und daran ist nichts stuumlckweise und zusammengebastelt) genau richtig auffassen kann

6 Tatsaumlchlich sind die Vertreter der resoluten Lesart insgesamt weit erfolgreicher in der Kritik konkurrierender Ansaumltze als in der Interpreta-tion des Textes selbst Ein groszliger Teil der Debatte wird in der Gestalt von Auseinandersetzungen um das richtige Verstaumlndnis bzw den Maszligstab fuumlr eine angemessene Interpretation gefuumlhrt Dies ist in gewissem Sinne fol-gerichtig denn ein Textverstaumlndnis im gewoumlhnlichen Sinn des Wortes kann es von einem im strengen Sinn unsinnigen Text ja kaum geben Die Debatte behandelt deshalb vorrangig Fragen wie die welches denn der raquoZweck des Unsinnslaquo sei64 Dazu hat Michael Kremer Vorschlaumlge entwi-ckelt die die ethische Dimension des Buches herausarbeiten65 Er zieht Vergleiche zu Wittgensteins Beschaumlftigung mit ethischen und religioumlsen Fragen etwa dem Neuen Testament und dem Gedanken daszlig wir einse-hen muumlssen daszlig wir die raquoSuche nach einer Rechtfertigung unseres Lebens aufgeben muumlssenlaquo (S 56) weil der Versuch einer solchen Selbstrechtferti-gung ein Akt des Hochmutes waumlre Als Ergebnis glaubt er festhalten zu muumlssen daszlig das Buch ein raquoknow-howlaquo kein raquoWissen-daszliglaquo vermittelt raquoDieses Buch und seinen Autor zu verstehen bedeutet zu lernen wie man lebtlaquo66 (S 62) In aumlhnlicher Weise deutet Kremer die Frage nach der

64 Michael Kremer The Purpose of Tractarian Nonsense in Nous 35 2001 S 39ndash73 Darauf reagiert Sullivan mit detaillierter Einzelkritik On Trying to be Resolute A Response to Kremer on the Tractatus in European Journal of Philosophy 10 (2002) S 43ndash78 (vor allem S 66ndash68 mit Hinweisen auf die spaumlrlichen Textbelege)

65 Fragen der Ethik spielen uumlberhaupt in den Arbeiten von Diamond Conant und an-deren resoluten Lesern eine groszlige Rolle was aber hier nicht im einzelnen verfolgt werden kann

66 Schon Diamond Ethics (Anm 37) S 169 spricht als Ziel an daszlig wir raquokeine falschen Anforderungen an die Welt stellenlaquo sollen

115Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

raquoWahrheit des Solipsismuslaquo dahingehend daszlig es darum geht den eigenen Stolz zu uumlberwinden67 Selbst die Frage nach dem raquoHauptproblem der Phi-losophielaquo naumlmlich der Unterscheidung von Sagen und Zeigen versucht Kremer so zu beantworten daszlig Wittgenstein vor allem vor der unberech-tigten und zu vorschnellen Anwendung dieser Unterscheidung warnt (und er will zeigen daszlig insofern diese Unterscheidung als Hauptproblem ange-sprochen wird Wittgenstein dieses Problem raquoloumlsenlaquo will)68 All diese Vor-schlaumlge lenken jedoch systematisch von einer tatsaumlchlichen Lektuumlre von Wittgensteins Buch eher ab

Innerhalb der resoluten Stroumlmung ist Juliet Floyd als radikale raquoJakobine-rinlaquo bezeichnet worden weil sie schon fuumlr den fruumlhen Wittgenstein gene-rell die Existenz einer einheitlichen Auffassung von Logik Bedeutung Sagen und Zeigen aber auch eines eindeutigen Ideals der Klarheit leug-net69 Sie nennt Wittgensteins Vorgehen dialektisch bzw refl ektierend (S 188) so daszlig Wittgenstein nicht auf eine einzelne Stoszligrichtung hin festzulegen ist Dadurch wird zum einen erneut die Moumlglichkeit in Frage gestellt den Text uumlberhaupt einigermaszligen einheitlich zu interpretieren zum anderen eroumlffnen sich Moumlglichkeiten relativ frei auch wieder kon-struktivere (S 187) Zuumlge festzustellen Wenn Floyd als Grundgegensatz der Deutungen die Frage betont ob man Wittgenstein so versteht als wolle er raquodie Endlichkeit oder expressive Begrenztheit der Sprache beto-nenlaquo oder ob er die raquooffene Entwicklung und Vielfalt menschlicher Aus-drucksmoumlglichkeitenlaquo (S 177) herausarbeiten will dann steht auch dies nur in einem eher lockeren Bezug zum Text Genau an dieser Stelle setzen die wichtigsten Kritiker an

7 Als prominentester und heftigster Kritiker ist Peter Hacker hervor-getreten70 Hacker kritisiert und polemisiert aus einer Position der exten-

67 Michael Kremer To What Extent is Solipsism a Truth in Stocker Post-Analytic Tractatus S 59ndash84 Das ist eine sehr ungewoumlhnliche Lesart dieser sonst erkenntnistheore-tisch aufgefaszligten Passage

68 Michael Kremer The Cardinal Problem of Philosophy in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 143ndash176 Kremers Deutung beruht vor allem darauf daszlig Wittgenstein in seinem Brief an Russell (15 8 1919) diese Unterscheidung einmal als raquoHauptpunktlaquo und dann auch als raquoHauptproblemlaquo anspricht Kremer deutet dies so daszlig die Unterscheidung als zu loumlsendes raquoProblemlaquo aufgefaszligt wird

69 Juliet Floyd Wittgenstein and the Inexpressible in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 177ndash234 hier S 185 und 196

70 Hackers Schriften dienen zugleich umgekehrt Diamond und Conant als Illustrati-onen fuumlr die raquoStandardlesartlaquo und dafuumlr wie man Wittgenstein nicht interpretieren sollte so schon 1985 in Diamond Throwing Away the Ladder (Anm 30) S 194 als Beispiel fuumlr raquochickening outlaquo Hacker ist auch als einziger Kritiker im Sammelband New Wittgenstein vertreten Was he Trying to Whistle It in New Wittgenstein S 353ndash388 Sein Sammelband Connections and Controversies Oxford 2001 enthaumllt neben dem Nachdruck auf S 98ndash140 noch eine Fortsetzung When the Whistling Had to Stop S 141ndash169

116 Wolfgang Kienzler PhR

siven Kommentieung des spaumlten Wittgenstein und zugleich des philo-sophischen Common Sense heraus Er sieht in der Abhandlung raquoeine ver-bluumlffende Lehre auf verbluumlffende Weise dargebotenlaquo (S 353) ndash diese Charakterisierung entnimmt er jedoch nicht erst seinen neuen Gegnern sondern einer eher traditionellen realistisch-metaphysischen Deutung von David Pears Hacker versteht das Buch als einen gescheiterten Versuch wesentliche Wahrheiten die nicht gesagt werden koumlnnen dennoch zu zeigen Dies sieht er als gesichertes Faktum an dessen Vorhandensein er mit Energie gegen Versuche es zu leugnen untermauert Dazu zaumlhlt er zehn Beispiele solcher Versuche auf von logischen Beziehungen zwischen Saumltzen bis zur Harmonie zwischen Gedanke Sprache und Wirklichkeit (S 353ndash355) und stellt sich ganz auf die Seite schon der fruumlhen Kritiker besonders des Wiener Kreises die den Schluszlig des Buches raquoganz unglaub-wuumlrdig fandenlaquo (S 355)71 Er nennt den Ansatz von Diamond und Conant raquopostmodernlaquo offenbar darauf berechnet zu provozieren jedoch frei von ernsthaften Absichten nicht aber das Buch richtig einschaumltzen zu wollen (S 356)72

Hacker sieht das Buch als offensichtlich inkonsistent an und beruft sich dabei auf Wittgensteins spaumltere Meinung zur Bestaumltigung dieses Faktums (S 370) Von daher fallen alle Versuche das Buch insgesamt nachzuvoll-ziehen zwangslaumlufi g ebenfalls der Inkonsistenz anheim Als Maszligstab der Inkonsistenz dient ihm dabei die Unvereinbarkeit und Widerspruumlchlich-keit der im Buch vorgetragenen (raquogesagtenlaquo oder raquogezeigtenlaquo) Lehren Da-mit aber stellt sich Hacker explizit auf einen Standpunkt den Wittgenstein fuumlr sein eigenes Werk ablehnt das ja explizit raquokein Lehrbuchlaquo (Vorwort) sein will Hacker reduziert das Buch auf einen Lehrinhalt den er unzurei-chend fi ndet ndash der Gegensatz zu Diamond und Conant liegt bereits hier denn beide Seiten differieren vor allem darin was das Buch eigentlich

71 In dieser Hinsicht stimmt seine Einschaumltzung mit derjenigen Conants uumlberein der seinerseits Hacker in die Naumlhe Carnaps plaziert (Two Conceptions of Die Uumlberwindung S 14 ff) Ohne Hacker sofort zu nennen schreibt Conant Carnap (wie spaumlter Hacker) eine substantielle Auffassung von Unsinn zu

72 Hacker lehnt sowohl die Abhandlung als auch Freges philosophische Grundkonzepti-on ab und setzt sie als verfehlten Versuch in scharfen Kontrast zum Denken des spaumlten Wittgenstein Diese Haltung wird in seinem Kommentar zu den Philosophischen Untersu-chungen deutlich besonders eklatant jedoch in dem (gemeinsam mit Gordon Baker ver-faszligten) gegen Dummetts Fregedeutung geschriebenen Frege Logical Excavations (Oxford 1984) Das Auftreten der resoluten Lesart gibt Hacker daher nicht den Grund zu seiner Ablehnung des fruumlhen Wittgenstein sondern vor allem den Anlaszlig seine Gruumlnde zu buumln-deln und erneut vorzubringen (Der verstorbene Gordon Baker der zunaumlchst gemeinsam mit Hacker mehrere Baumlnde zum spaumlten Wittgenstein verfaszligte dann aber seinen Ansatz weiterentwickelte und dabei in einigen Punkten der resoluten Lesart nahekam sei hier noch erwaumlhnt vgl Baker Wittgensteinrsquos Method Neglected Aspects Oxford 2004)

117Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

leisten will Hacker sieht einen eklatanten Gegensatz zwischen Wittgen-steins Erklaumlrung nichts lehren zu wollen und seinem tatsaumlchlichen Vor-gehen seine Gegner versuchen gerade diese Aumluszligerungen Wittgensteins zu verstehen und ihnen entsprechend den Text so zu lesen daszlig er keine raquoLehrenlaquo enthaumllt sondern auf andere Art und Weise arbeitet

Hacker versucht entsprechend auch nicht Diamond und Conant ge-recht zu werden sondern listet vor allem eine Reihe von Kritikpunkten auf Zum einen weist er auf eine gewisse hermeneutische Willkuumlr hin mit der nur relativ wenige insgesamt unzusammenhaumlngende Partien herange-zogen werden wobei einige Passagen doch wieder als ganz gewoumlhnlich und sinnvoll gelesen werden ohne daszlig eine klare Abgrenzung nach Kri-terien gegeben wuumlrde Die haumlufi g verwendete Rede vom raquoRahmenlaquo des Buches im Unterschied zum raquoHauptteillaquo bleibt ihm zufolge unklar abge-grenzt da zum Rahmen auch Bemerkungen wie 4112 aus der Mitte des Textes gezaumlhlt werden73 Im Zusammenhang damit weist er darauf hin daszlig zwischen den Arten von Unsinn doch ein Unterschied gemacht wer-de wenigstens nach der Wirkung auf den Leser74 Und schlieszliglich ver-sucht er nachzuweisen daszlig Wittgenstein selbst weder in seiner fruumlheren noch in seiner spaumlteren Zeit eine solche radikale Lesart seiner eigenen Ar-beit vorgetragen oder unterstuumltzt habe

Eine spezielle Streitfrage liegt darin ob es nach Wittgenstein raquoUumlbertre-tungen der logischen Syntaxlaquo geben koumlnne Diamond und Conant be-haupten nein Hacker versucht an Beispielen aufzuzeigen daszlig Wittgen-stein dies wiederholt anspricht (S 365ndash367)75 Der grundlegende Dissens betrifft hier die Frage ob Wittgenstein sich vorrangig um den Begriff und die Festlegung einer logischen Syntax als Einfuumlhrung sinnvoller Rede be-muumlht denn wenn es um die Festlegung und ggf die Erweiterung und Ver-aumlnderung von Sinn geht dann gibt es nichts was uumlbertreten oder verfehlt werden koumlnnte ndash oder aber ob Wittgenstein wie Hacker ihn liest jemand ist der vor allem schon bestehende syntaktische Systeme betrachtet und dabei die Moumlglichkeiten behandelt sich gegenuumlber den Vorschriften be-

73 Conants Auskunft daszlig nicht der Ort im Text sondern die Funktion der Bemerkung daruumlber entscheide ob es zu Rahmen oder Hauptteil gehoumlre vermag als Gegenargument nicht wirklich zu uumlberzeugen

74 Dies leugnen Conant und Diamond keineswegs nur kommt es ihnen gerade auf den Unterschied zwischen logischen und anderen Einteilungsgruumlnden an

75 Dieser Punkt ist auch deswegen zentral weil fuumlr Hacker Unsinn genau dadurch ent-steht daszlig man die logische Syntax verletzt (Was he Trying S 367) waumlhrend fuumlr Conant und Diamond Unsinn dann vorliegt wenn wir mit einer Zeichenreihe schlicht nichts anfangen koumlnnen also kein Symbol darin erkennen Dieser Frage widmet Hacker den Aufsatz Wittgenstein Carnap and the New American Wittgensteinians in Philosophical Quar-terly 53 (2003) S 1ndash23 und Diamond die Entgegnung Logical Syntax in Wittgensteinrsquos Tractatus in Philosophical Quartely 55 (2005) S 78ndash88

118 Wolfgang Kienzler PhR

stimmter Systeme abweichend zu verhalten und ihre Regeln zu verletzen Die Frage ist ob Wittgenstein die Syntax mit einem bestehenden Spiel analog setzt oder nicht76 Fuumlr beide Aspekte gibt es Belege im Text77

Eine gewisse Uumlbereinstimmung zwischen Hacker und seinen Gegnern liegt ironischerweise darin daszlig keine der beiden Seiten eine durchge-hende Interpretation der Abhandlung anstrebt Hacker haumllt dies aufgrund der Inkonsistenz fuumlr uninteressant (wenn auch theoretisch moumlglich) Dia-mond ist vorrangig an Einzelfragen und am methodischen Standard des spaumlten Wittgenstein interessiert (wozu sie in der Abhandlung letztlich doch nur eine Vorstufe fi ndet) und Conant ist hauptsaumlchlich damit beschaumlftigt vorgaumlngige Kriterien fuumlr eine uumlberzeugende Lektuumlre zu entwickeln78

Als zentrale unbeantwortete Frage bleibt daruumlber hinaus das Problem bestehen wie man Wittgensteins Sprache und die Art seiner Behaup-tungen im Text konsequent aufzufassen hat denn hier weist Hacker auf deutliche Inkonsistenzen der resoluten Leser hin Zum einen wird von raquobloszligem Unsinnlaquo gesprochen dann wieder werden Passagen so gelesen wie gewoumlhnliche behauptende Prosa zum einen ist von Ironie die Rede dann wieder scheint alles ganz woumlrtlich aufzufassen zu sein79

8 Marie McGinn hat den bisher ehrgeizigsten Versuch unternommen die Staumlrken beider konkurrierender Ansaumltze zu verbinden und die jewei-

76 Vgl Diamond (wie die vorige Anm) S 86 Hacker vertritt hier einen eher kantischen Ansatz der die Grenzen der Vernunft bereits abgesteckt vorfi ndet (ein fuumlr Hacker wichtiges Buch ist P Strawsons Kantdeutung in The Bounds of Sense) Diamond und Conant sehen Wittgenstein als radikaleren Denker nach dem diese Grenzen immer wieder neu bestimmt werden muumlssen bzw nach dem es genau genommen keine Grenzen gibt da das Entschei-dende die Moumlglichkeit neuer Begriffsbildungen ist ohne daszlig man sich an irgendeiner Vorgabe (oder Grenze) orientieren kann die man entweder trifft oder verfehlt

77 Zum einen schreibt Wittgenstein raquoWir koumlnnen einem Zeichen nicht den unrechten Sinn gebenlaquo (54733) also bei der Bedeutungsfestsetzung nichts verfehlen zum anderen erklaumlrt er schlicht Saumltze wie raquo1 ist eine Zahllaquo (41272) die sich auf unsere bestehende Spra-che beziehen fuumlr unsinnig weil darin das Wort raquoZahllaquo als gewoumlhnliches Begriffswort statt als raquoformaler Begrifflaquo und also falsch verwendet wird Daszlig 1 eine Zahl ist ist schon da-durch klar daszlig wir das Zahlzeichen 1 verwenden und gerade deshalb koumlnnen wir dies nicht noch zusaumltzlich behaupten Es ist allerdings richtig daszlig Wittgenstein im letzteren Fall strenggenommen nicht von der raquoVerletzung der logischen Syntaxlaquo spricht sondern das Gebilde einfach raquounsinniglaquo nennt da fuumlr solche Faumllle gar keine logische Syntax im exakten Sinn verfuumlgbar ist Die gesamte Abhandlung ist in dieser Hinsicht nirgends der Versuch eine vorliegende Syntax zu treffen aber auch nicht eine neue Syntax festzulegen sondern sie befaszligt sich vielmehr mit den Bedingungen der Moumlglichkeit von Syntax uumlberhaupt Insofern verfehlen sowohl Hacker auch Diamond und Conant diesen Kernpunkt des Buches

78 So etwa im Abschnitt What makes a Reading resolute in Mono-Wittgensteinianism S 42ndash47

79 Vgl dazu W Kienzler Die Sprache des Tractatus Klar oder deutlich Karl Kraus Witt-genstein und die Frage der Terminologie in F GoumlppelsriederJ Volbers (Ed) Philosophie als Lebensform Muumlnchen 2008 (im Erscheinen)

119Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

ligen Schwaumlchen zu vermeiden80 Sie will Wittgenstein keine metaphy-sischen Lehren zuschreiben81 aber doch sicherstellen daszlig wir aus dem Buch etwas Konstruktives lernen koumlnnen Dazu nimmt sie den Begriff der Klaumlrung als Orientierungspunkt Die Aufgabe des Buches ist es demnach die Logik der Sprache aufzuklaumlren Wenn dies aber ohne die Verwendung positiver Lehren geschehen soll muszlig es indirekt geschehen naumlmlich da-durch daszlig die Sprache sich indirekt selbst klaumlrt das heiszligt daszlig eine solche Klaumlrung nicht auf etwas auszligerhalb der Sprache Bezug nimmt denn das waumlre Kennzeichen einer metaphysischen Auffassung McGinn schreibt et-was kryptisch raquoEs ist ein Werk in dem die Natur des Satzes die schon klar ist obwohl wir sie noch nicht klar sehen sich selbst fuumlr uns klaumlrtlaquo82

Sie betont jedoch sehr zu Recht daszlig Wittgenstein in seiner Abhandlung die eine groszlige Frage loumlsen wollte raquoDas Wesen des Satzes angeben heiszligt das Wesen aller Beschreibung angeben also das Wesen der Weltlaquo (54711)83

Damit aber waumlren alle (oder raquodielaquo) philosophischen Probleme geloumlst Ohne eine solche Voraussetzung die Wittgenstein offenbar als grundle-gende Einsicht erschien ist seine Handlungsweise gar nicht nachvollzieh-bar naumlmlich ein uumlberaus kurzes Buch zu verfassen in dem alle philoso-phischen Fragen im Prinzip jedenfalls beantwortet sind Dies ist nur moumlglich wenn diese Fragen so eng zusammenhaumlngen daszlig die Loumlsung der einen zugleich die Loumlsung der anderen bedeutet Dieser Grundgedanke strukturiert McGinns Buch und gibt ihm eine klare Linie84 Sie untersucht die besonders von Conant behandelten Fragen nach den Bedingungen einer angemessenen Lektuumlre fast gar nicht und antwortet insofern nicht durch Gegenargumente sondern durch die Tat durch einen Gang durch das Buch Es uumlberrascht dabei daszlig sie den Anfang zunaumlchst weglaumlszligt und nach Einleitungskapiteln zur Abgrenzung gegen Frege und Russell gleich mit dem Begriff des Bildes und dann des Satzes beginnt Tatsaumlchlich zeigt McGinn uumlberzeugend auf daszlig die Eingangspassagen am besten als Hin-fuumlhrungen zur raquoTheorie des Satzeslaquo aufgefaszligt werden und nicht als eigen-staumlndiges Theoriestuumlck einer vorangestellten Ontologie (sei diese nur scheinbar als Illusion aufgebaut oder ernst gemeint vgl etwa Diamond

80 Marie McGinn Elucidating the Tractatus81 Marie McGinn Between Metaphysics and Nonsense Elucidation in Wittgensteinrsquos Tracta-

tus In Philosophical Quarterly 49 (1999) S 491ndash513 hier S 107)82 Damit bleibt McGinn nahe an Aumluszligerungen von Diamond und Conant (etwa Method

S 424)83 Zit in McGinn Elucidating S 24084 Das erste Kapitel The Single Great Problem behandelt diese Frage zeigt aber bereits

daszlig sich McGinn nicht vollstaumlndig auf den Text einlaumlszligt sondern ihn von Anfang an stark aus der Perspektive der Philosophischen Untersuchungen her deutet (die im letzen Kapitel er-neut den Maszligstab der Betrachtung bilden)

120 Wolfgang Kienzler PhR

Ethics S 160) Vor dem Hintergrund der Auffassung des sinnvollen Satzes wird der Anfang dann relativ leicht verstaumlndlich In der Darstellung von McGinn wird die Abhandlung wieder zu einer Abhandlung einer nuumlch-ternen Darlegung uumlber die Voraussetzungen sinnvollen Sprechens und Ausdruumlckens uumlber die Unterschiede der Satzarten und die allgemeine Form des Satzes Allerdings ruumlcken so die Einzelheiten der Sprachlogik ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit und die Fragen nach der Natur der Philosophie aber auch die nach der Einheit des Buches treten ganz in den Hintergrund Das Buch enthaumllt kein Kapitel zum Philosophiebegriff des fruumlhen Wittgenstein und kaum Erlaumluterungen zur spezifi schen Form der Darstellung oder zur Strategie der Praumlsentation Einige Themen wie die Ethik Arithmetik oder die Naturgesetze werden ganz uumlbergangen dabei waumlre an diesen Beispielen die angestrebte Einheitlichkeit erst richtig aufzuzeigen gewesen In dieser Hinsicht erklaumlrt McGinn die Abhandlung in der Form die sie 1916 noch hatte bevor Wittgenstein die Schluszligpassa-gen einarbeitete und als sie noch staumlrker eine Abhandlung in raquophiloso-phischer Logiklaquo war85 Gegen Diamond und Conant stellt sie klar heraus daszlig das Ziel der Klaumlrung raquodurch Einsicht in das Funktionieren der Spra-chelaquo erreicht werden soll und nicht indirekt dadurch daszlig raquodie Versuche philosophische Saumltze zu bilden als Unsinn erkannt werdenlaquo (S 254 Anm 6) Die sehr nuumlchterne Art McGinns zeigt einen Wittgenstein der ganz unironisch seine logisch-philosophische Konzeption Schritt fuumlr Schritt entwickelt86

85 Vgl Brian McGuinness Wittgensteinrsquos 1916 Abhandlung in R HallerK Puhl (Hg) Wittgenstein and the Future of Philosophy Wien 2002 S 272ndash282 Die grundlegenden philologischen Arbeiten von McGuinness werden in der gegenwaumlrtigen Debatte leider wenig fruchtbar gemacht

86 Das stark gestiegene Interesse am fruumlhen Wittgenstein hat eine ganze Reihe von Monographien hervorgebracht die jedoch nur selten das gelassene exegetische Niveau McGinns erreichen sondern in der Regel mehr oder weniger exzentrische Deutungen in den Mittelpunkt stellen

M Ostrow Wittgenstein and the Liberating Word CambridgeMass 2002 (eine Zusam-menfassung in Reck From Frege to Wittgenstein) versucht eine an Floyd orientierte raquodialek-tische Interpretationlaquo die sich am Leitmotiv des raquoerloumlsenden Worteslaquo orientiert aber ins-gesamt zu vage bleibt zumal sich die Differenz zum spaumlteren Wittgenstein ganz aufzuloumlsen scheint und wichtige Passagen unberuumlcksichtigt bleiben

E Friedlander Signs of Sense Reading Wittgensteinrsquos Tractatus Cambridge Mass 2001 scheint das Raumltselhafte geradezu zu genieszligen und nennt als sein Ziel raquonicht das Raumltsel des Buches zu loumlsen sondern seinen raumltselhaften Charakter auf eine wahrhaft zum Denken herausfordernde Art aufzuzeigenlaquo (S XV) und will geradezu raquoseinen raumltselhaften Charak-ter rechtfertigenlaquo (16)

U Nordmann Wittgensteinrsquos Tractatus An Introduction Cambridge 2005 faszligt das Buch als ein Gedankenexperiment und eine groszlige Reductio ad Absurdum auf zu der er einige Praumlmissen ergaumlnzt Er deutet das Buch als im Konjunktiv geaumluszligert wodurch der Behaup-

121Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Ausblick

Die Arbeiten von Diamond und Conant haben zu einer neuen Welle des Interesses an Wittgensteins Fruumlhwerk gefuumlhrt und die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten vor allem aber auch das Potential seiner Abhandlung gelenkt Im Zentrum steht dabei die Natur der Philosophie als Erlaumlute-rung die selbst nicht in die Gestalt einer Lehre gebracht werden kann oder anders ausgedruumlckt der entscheidende Unterschied zwischen einer philosophischen und einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Untersu-chung

Gerade dadurch daszlig sie die Abhandlung stellenweise sehr nah an den spaumlten Wittgenstein heranruumlcken eroumlffnen Conant und Diamond Moumlg-lichkeiten die Souveraumlnitaumlt und Subtilitaumlt des Buches erst richtig zu wuumlr-digen Dies geschieht jedoch um den Preis daszlig einige Teile des Buches herausgegriffen andere dagegen kaum beruumlcksichtigt werden

Nicht hinreichend geklaumlrt scheint auch die Frage nach dem sprachlichen Grundton des Buches Diamond geht immer wieder von einem nahe an der Alltagssprache stehenden Redegestus aus (aumlhnlich wie der spaumlte Wittgen-stein) waumlhrend Conant aus der weiteren Perspektive ironische Zuumlge be-schreibt87 Gemeinsam ist den resoluten Lesern daszlig sie Wittgensteins Saumltze in der Abhandlung auf doppelte Weise auffassen Sie unterscheiden an vielen Stellen einen buchstaumlblichen naheliegenden Sinn der sich bei naumlherer Be-trachtung als inkohaumlrent erweist und der so zerfaumlllt88 Daher wird in ihrer

tungscharakter eingeklammert die Klaumlrungsfunktion jedoch trotzdem ermoumlglicht wird Er gewinnt so eine Kategorie von Saumltzen die raquounsinnig aber bedeutungsvolllaquo (176) sind

L Gunnarsson Wittgensteins Leiter Bodenheim 2002 greift einen Gedanken Conants auf daszlig wir naumlmlich den Hauptteil des Buches wegwerfen und den Rahmen behalten sollen (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 286) und entwickelt daraus die Fik-tion es waumlre tatsaumlchlich nur das Vorwort und der Schluszlig der Abhandlung erhalten ndash und will daraus den Gehalt des Buches ohne Verlust rekonstruieren Diese Veranschaulichung zeigt besonders klar auf wie verfehlt dieser Ansatz ist wenn man ihn auf die konkrete Interpretationspraxis bezieht

87 Die Parallele zwischen Wittgenstein und Kierkegaard scheint in zentralen Punkten gerade nicht zu bestehen denn Wittgenstein distanziert sich gerade nicht von seinem Buch sondern erklaumlrt seine Auffassungen fuumlr defi nitiv richtig und alternativlos ganz ent-gegen dem verwirrenden Spiel Kierkegaards mit unterschiedlichen Pseudonymen und Perspektiven Ein passenderer Vergleich waumlre etwa mit Hume moumlglich der am Ende seiner Untersuchung uumlber die Prinzipien der Moral (Abschnitt 9 Teil 1) seine Ergebnisse fuumlr derart einfach klar kohaumlrent und uumlberzeugend haumllt daszlig dem nichts hinzuzufuumlgen ist so daszlig er selbst geradezu in Versuchung kommen koumlnnte dogmatisch davon uumlberzeugt zu sein

88 So fuumlhrt Diamond (in Ethics wie Anm 37) folgende Beispiele dafuumlr an 1 das woruuml-ber man schweigen muszlig (aber das kann es doch nicht geben weil es kein raquodaruumlberlaquo ist S 149) 2 die Saumltze der Abhandlung die zu verstehen seien (oder doch raquoer selbstlaquo wie Witt-genstein dann uumlberraschenderweise sagt S 149) 3 die Anfangssaumltze uumlber die Welt (aber daruumlber kann es doch keine Saumltze geben S 160) 4 der Schein daszlig ab 64 Saumltze uumlber Ethik

122 Wolfgang Kienzler PhR

Perspektive das Buch durchgehend doppelboumldig und loumlst sich schlieszliglich in Nichts auf wobei in der Aufl oumlsung gerade die Absicht des Buches bestehen soll89 Demgegenuumlber kann festgehalten werden daszlig Wittgenstein nir-gends von Ironie spricht wohl aber davon daszlig er das Wesentliche in Kuumlr-ze klar ausdruumlcken will Eine wichtige Differenz innerhalb der resoluten Lesart liegt weiter darin welche Wichtigkeit man den eher technischen Aspekten der Abhandlung zuschreibt Ricketts und Goldfarb sehen viele Zuumlge des Buches von technischen Erwaumlgungen motiviert und gepraumlgt waumlhrend Diamond und Conant den Sinn der symbolischen Notation vor allem darin sehen wesentliche Unterschiede klarzustellen90

Das Motto erklaumlrt daszlig man raquoalles was man weiszliglaquo schlieszliglich raquoin drei Worten sagenlaquo kann Viele der scheinbaren Widerspruumlche und Doppelt-heiten die resolute Leser beobachten koumlnnten sich von daher moumlglicher-weise der Absicht verdanken im Buch logisch praumlzise Saumltze zu erwarten eine Absicht die bestaumlndig getaumluscht wird91 Wuumlrde man die Saumltze eher als Instrumente verstehen die allmaumlhlich entsprechend den Stufen der Lei-ter zur Klarheit anleiten ohne daszlig der Leser in die selbstrefl exive Geste verwickelt werden soll dann koumlnnte eine einfachere und klarere Lesart entstehen die auch mehr Sinn fuumlr den Zusammenhang und die spezi-fi schen Darstellungsmittel des Buches entwickeln wuumlrde ndash wenn denn eine solche zusammenhaumlngende Erlaumluterung als gemeinsames Ziel fest-staumlnde92 Auch Fragen der Textkritik die derzeit nur sehr sporadisch ge-streift werden koumlnnten dann eine groumlszligere Rolle spielen

Wolfgang Kienzler (ChemnitzJena)

vorkommen (die es doch gar nicht geben kann S 164) 5 der Schein daszlig im Buch Saumltze raquouumlber Logiklaquo vorkommen (die es ebenfalls nicht geben kann S 164) In allen Beispielen kann man die Situation natuumlrlicher so darstellen daszlig man die Saumltze der Abhandlung von vornherein zwar woumlrtlich aber nicht buchstaumlblich nimmt sondern sich von ihren zur Klarheit die sich erst allmaumlhlich einstellen kann fuumlhren laumlszligt

89 Diese Doppeltheit der Lesart ist den resoluten Lesern und ihren Kritikern gemein-sam sie ist aber keineswegs selbstverstaumlndlich und widerspricht dem Grundgedanken der Klarheit

90 Dies ist das Thema von Diamond What Does a Concept-Script Do in The Realistic Spirit S 115ndash144 Sie sieht darin ein raquoWerkzeug geistiger Befreiunglaquo (143) deutet damit aber tendenziell wieder einen Gedanken der Abhandlung in Frege hinein der zunaumlchst die Umgangssprache ganz zugunsten der exakteren Begriffsschrift verbannen wollte

91 In weiten Teilen der resoluten Beitraumlge kann man auch eine gewisse Vergegenstaumlnd-lichung mancher von Wittgenstein verwendeter Woumlrter wahrnehmen die dazu fuumlhren daszlig die Rede von raquoUnsinnlaquo raquoErlaumluterunglaquo u a zunaumlchst gegenstaumlndlich miszligverstanden und anschlieszligend als Gegenstaumlndlichkeit leugnend gedeutet wird Eine Beachtung von Wittgensteins ungezwungenem und unterminologischem Sprachgebrauch koumlnnte viele dieser Schleifen uumlberfl uumlssig machen

92 Das Buch von McGinn kann dazu als erster wichtiger konstruktiver Schritt angese-hen werden auch wenn es insgesamt etwas zu additiv verfaumlhrt

Page 10: Neue Lektüren von Wittgensteins Logisch-Philosophischer ... · 10 E. Stenius : Wittgensteins Traktat [1960], Frankfurt/M. 1969, nennt den Schluß »keine echte Verdammung [. . .]

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Geachs erscheint vor diesem Hintergrund als halbherzig Zum einen meint man daszlig manche wichtigen Saumltze nichts sagen sondern nur etwas zeigen zum anderen aber haumllt man doch daran fest daszlig diese Saumltze einen Inhalt haben und indirekt etwas uumlber die Realitaumlt ausdruumlcken Fuumlr Diamond ist das ein Sich-druumlcken (chickening out)35 Diesem halbherzigen Versuch setzt sie ein konsequentes Ernstnehmen der Unsinnigkeit der Abhandlungssaumltze und des Wegwerfens der Leiter entgegen Der Versuch mit dem raquoUnsinnlaquo Ernst zu machen hat als raquoresolute Lesartlaquo (resolute reading) dem neuen An-satz spaumlter den Namen gegeben36 Diamond stellt die Frage wie ernst man 654 tatsaumlchlich nehmen sollte und weiter ob der Redeweise von raquoZuumlgen der Realitaumlt die nicht in Worten ausgedruumlckt werden koumlnnenlaquo ein Sinn abzugewinnen ist37 Diamonds Antwort ist ebenso einfach wie provokativ Ja die Bemerkung 654 muszlig sehr ernst genommen werden und gerade deshalb kann es keine unausdruumlckbaren Zuumlge der Realitaumlt geben sondern wir muumlssen akzeptieren daszlig die Saumltze der Abhandlung im strengen und gewoumlhnlichen Sinne unsinnig sind sie sind um das Vorwort zu zitieren raquoeinfach Unsinnlaquo Damit aber verliert die Unterscheidung von Sagen und Zeigen ihren quasi-metaphysischen Charakter38

Bemerkung 654 deutet Diamond nun so daszlig Wittgenstein darin einen bewuszligten und wesentlichen Unterschied mache zwischen dem Verstehen seiner Saumltze und dem Verstehen seiner Person (raquower mich verstehtlaquo)39 Man solle naumlmlich verstehen daszlig seine Saumltze nicht zu verstehen sind Wir sol-len genauer gesagt mit unserer Einbildungskraft uns in die Position je-mandes versetzen der glaubt die Saumltze des Buches zu verstehen damit aber sollen wir so Diamond zugleich verstehen daszlig es hier nichts zu verstehen gibt daszlig es sich nur um eine Illusion von Verstehen handelt

35 Systematisch betrachtet kann man darin ein noch zu weitgehendes Festhalten an der grundsaumltzlichen Aumlhnlichkeit der Funktionsweise (oder raquoBezeichnungsweiselaquo) saumlmtlicher Satzarten nach dem Vorbild Freges sehen der die Grundunterscheidung von ZeichenSinn des ZeichensBedeutung des Zeichens uumlberall durchfuumlhren will waumlhrend nach Wittgenstein schon fuumlr logische Saumltze weder von Sinn noch von Bedeutung die Rede sein kann

36 Ricketts spricht in seinem Beitrag zum Cambridge Companion (Anm 19) S 93 von einer raquoresolut und konsistent angewendeten Konzeption der Wahrheitlaquo nach der es raquokeine unausdruumlckbaren Wahrheiten geben kannlaquo In Anschluszlig daran hat sich dann auf eine Anregung Goldfarbs hin die Rede einer raquoresoluten Lesartlaquo eingebuumlrgert

37 Diamond Ethics Imagination and the Method of Wittgensteinrsquos Tractatus (1991) auch in New Wittgenstein S 149ndash173 hier S 181

38 Daszlig die Unterscheidung auf andere Weise logisch zentral ist fuumlhrt Diamond an an-derer Stelle aus (vgl Anm 12)

39 Diamond greift dabei (S 160) indirekt auch den Gedanken Cavells auf daszlig es in Wittgensteins Philosophie immer auch um Selbsterkenntnis geht also um die eigene Per-son Dieses Element spielt vor allem bei anderen Vertretern der resoluten Lesart eine be-traumlchtliche Rolle und traumlgt einiges zu ihrer Attraktivitaumlt bei

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(150) Die Saumltze und damit das Buch sollen als vollstaumlndig unsinnig er-kannt werden ndash davon ausgenommen sind allerdings die Bemerkungen die den Rahmen bilden und in denen Wittgenstein einige Hinweise dar-uumlber gibt wie das Buch aufzufassen ist (S 149)40 Es gibt dabei keine lo-gische wesentliche Unterscheidung zwischen zwei Arten von Unsinn sol-chem der etwas Richtiges zeigt und solchem der schlicht Ausdruck einer Verwirrung ist (wie die Saumltze der traditionellen Metaphysik)41 Daszlig man-che unsinnigen Saumltze als Erlaumluterungen dienen koumlnnen ist diesen Saumltzen ganz aumluszligerlich (S 159) sozusagen eine Zufaumllligkeit hat aber nichts mit einem moumlglichen Gehalt dieser Saumltze zu tun Dies wendet sich gegen eine entsprechende Unterscheidung bei Anscombe zwischen raquoden Dingen die wahr waumlren wenn sie gesagt werden koumlnnten und denen die falsch wauml-ren wenn sie gesagt werden koumlnntenlaquo42 Man kann nach Diamond von solchen Unsinnsarten nicht sprechen Eine Konsequenz dieser Radikalitaumlt liegt nun darin daszlig die gesamte innere Struktur der Abhandlung verloren-zugehen scheint Wenn alles Unsinn ist was kann dann noch Unterschiede der einzelnen Passagen ausmachen Genau dies entspricht gerade einem zentralen Motiv von Diamonds Ansatz So verweist sie etwas darauf daszlig im Buch zwar Bemerkungen mit ethischer Thematik vorkommen daszlig aber in einem tieferen Sinne jeder Satz (oder das gesamte Buch) einen ethischen Charakter hat indem es darin eine bestimmte Haltung aus-druumlckt ganz unabhaumlngig vom gerade verwendeten Vokabular Diese Auf-fassung daszlig zentrale philosophische Einsichten vom jeweils verwendeten Vokabular und den aufgestellten Behauptungen weitgehend unabhaumlngig sind weil es nicht auf das Vokabular sondern auf den Gebrauch ankommt ist ein Kernstuumlck in Diamonds Ansatz43 Ihr geht es vor allem anderen darum Wittgensteins philosophische Haltung aufzuklaumlren indem sie spe-zifi sche Passagen die Miszligverstaumlndnisse verursachen erklaumlrt Die Absicht

40 Diese radikal klingende Behauptung ist insofern miszligverstaumlndlich als Diamond nicht alle Saumltze der Abhandlung sozusagen per defi nitionem fuumlr unsinnig erklaumlren will ihr geht es vielmehr vor allem darum klarzustellen daszlig wenn ein spezifi scher Satz unsinnig ist er es auch wirklich ist und daszlig es inkonsequent ist sozusagen einen raquoSinn zweiter Ordnunglaquo einzufuumlhren

41 Die starke Konzentration der Diskussion auf Fragen von raquoUnsinnlaquo uumlbersieht haumlufi g daszlig Wittgenstein Unsinn ausgesprochen liebte Einer seiner Lieblingsautoren war Lewis Carroll auf den er haumlufi ger in seinen Schriften anspielt oder verweist und er selbst sam-melte uumlber Jahrzehnte Beispiele besonders absurder Zeitungsartikel Vgl dazu jetzt Brian McGuinness (Hg) Wittgenstein in Cambridge Letters and Documents Oxford 2008 S 192 und 468 auszligerdem Brian McGuinness In Praise of Nonsense (unveroumlffentlicht)

42 Anscombe Introduction (Anm 9) S 162 zit von Diamond Ethics S 15843 Sie fuumlhrt dies an Beispielen des spaumlten Wittgenstein aus der Mathematik (u a den

erwaumlhnten Vorlesungen) und der Ethik in ihrem Beitrag zum Cambridge Companion naumlher aus und erkennt ein solches Vorgehen auch in der Abhandlung und bei Frege wieder

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Wittgensteins Schriften als Ganze zu interpretieren tritt demgegenuumlber ganz in den Hintergrund Insofern ist 654 auch wieder nicht uumlberzube-werten sondern dient nur als ein besonders markanter Ausgangspunkt um verfehlte Auffassungen abzuwehren44 So ist die Abhandlung fuumlr Dia-mond kein Buch uumlber Logik denn ein solches kann es streng genommen ebenfalls nicht geben Die Logik ist vielmehr raquodem was Saumltze sind bereits intern eingeschriebenlaquo (S 151) Anders gesagt Wir koumlnnen an jedem be-liebigen Satz wenn wir nur richtig hinsehen alle Elemente der richtigen logischen Auffassung aufweisen und daher ist jeder Versuch diese vor-gaumlngige Struktur explizit zu machen immer etwas Nachtraumlgliches das schon raquozu spaumlt kommtlaquo und dadurch stets etwas Schiefes eben Unsinniges an sich hat Der eigentliche Ausdruck von Wittgensteins philosophischen Auffassungen sind daher nicht irgendwelche Inhalte seines Buches son-dern die Art wie sie ausgedruumlckt sind (S 170)

Eine besondere Eigenheit fast aller Arbeiten Diamonds ist ihre sehr spe-zifi sche Ausrichtung auf eine je besondere Fragestellung In vielen Faumlllen greift sie charakteristische Fehleinschaumltzungen oder auch nur miszliggluumlckte Formulierungen anderer Autoren auf und erlaumlutert geduldig sorgfaumlltig und oft in wiederholten bisweilen kreisenden Gedankengaumlngen welche Art von Fehleinschaumltzung vorliegt aus der die verungluumlckte Formulierung hervorgegangen ist Ihre Klaumlrungsarbeit bezieht sich fast immer auf einen konkreten Fall nicht auf eine allgemeine These Dadurch sperren sich ihre Texte gegen Lesegewohnheiten die auf Thesen und Argumente oder auf systematische Darlegungen und einen hohen Allgemeinheitsgrad hin ori-entiert sind Besonders instruktiv ist ihre Aufklaumlrung eines Beispiels von Anscombe (raquorsaquoJemandlsaquo ist nicht der Name von jemandemlaquo) in dem sie einen Versuch beleuchtet mit dem Anscombe ihrerseits im Sinne des fruumlhen Wittgenstein eine ganz elementare sprachlogische Klarstellung zu treffen versucht die den Unterschied zwischen Sagen und Zeigen nicht in allge-meiner (raquometaphysischerlaquo) sondern in ganz spezifi scher logischer Absicht betrifft45 Ihr Ergebnis lautet daszlig die Logik und damit die Gebrauchswei-sen von Ausdruumlcken wie raquojemandlaquo im einzelnen sorgfaumlltig beschrieben werden muumlssen daszlig man dies nicht mit einem Satz allein klarstellen kann

44 Die Erfolgsgeschichte der resoluten Lesart haumlngt eng damit zusammen daszlig man das ganze Buch als raquobloszligen Unsinnlaquo auffassen will bei Diamond liegt jedoch genau besehen keine Interpretation des gesamten Buches vor Sie will vielmehr nur einige Kernpunkte klarstellen verknuumlpft diese Klarstellungen allerdings mit einigen allgemeiner klingenden Zusatzbemerkungen

45 Diamond Saying and Showing (wie Anm 12) In diesem Beispiel bleibt jedoch An-scombe die die Frage in einem Streich entscheiden und klaumlren will dem Geist des fruumlhen Wittgenstein naumlher als Diamond mit ihrer sorgfaumlltigen Beschreibung der Sprachspiele mit raquojemandlaquo

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Damit will Diamond einen Beitrag dazu leisten die raquophilosophi sche Klauml-rung zu klaumlrenlaquo (to clarify philosophical clarifi cation)46

Das Ziel ihrer Arbeit ist jeweils die Klaumlrung unuumlbersichtlicher begriff-licher Verhaumlltnisse um so zu einer natuumlrlichen raquorealistischenlaquo Sicht zu kommen47 An Paradoxien ist sie grundsaumltzlich nicht interessiert auszliger insofern es darum geht deren Quellen aufzudecken sie als Symptome von begriffl ichen Unklarheiten zu sehen

Charakteristisch fuumlr Diamonds Vorgehensweise ist auch eine Uumlberle-gung die von einer Bemerkung Kripkes ihren Ausgang nimmt Einmal schreibt Wittgenstein raquoMan kann von einem Ding nicht aussagen es sei 1 m lang noch es sei nicht 1 m lang und das ist das Urmeter in Parislaquo (PhU 50) Kripke nennt diese Behauptung die aus dem Zusammenhang gerissen etwas entschieden Paradoxes hat offensichtlich falsch ohne je-doch den genauen Zusammenhang zu beachten48 Genau darauf kommt es Diamond aber an und sie erlaumlutert detailliert hartnaumlckig und zielstrebig

46 Ebd S 15347 Diamonds Grundanliegen kann man auch so formulieren daszlig sie an die Stelle von

philosophischen raquoPhantasienlaquo die aufs Allgemeine eines zurechtgestellten Sprachgebrauchs gehen eine realistische Einstellung die sich vor allem um Einzelheiten kuumlmmert setzt (The Realistic Spirit in der gleichnamigen Sammlung S 39ndash72)

48 Tatsaumlchlich ist die Bemerkung Kripkes weitaus weniger beilaumlufi g als Diamond sugge-riert Er schreibt raquoWittgenstein sagt etwas sehr Verwirrendes hieruumlber Er sagt raquoMan kann von einem Ding nicht sagen es sei 1 m lang noch es sei nicht 1 m lang und das ist das Urmeter in Paris ndash Damit haben wir aber diesem natuumlrlich nicht irgendeine merkwuumlrdige Eigenschaft zugeschrieben sondern nur seine eigenartige Rolle im Spiel des Messens mit dem Metermaszlig gekennzeichnetlaquo (PhU 50) Das scheint aber in der Tat eine sehr raquomerk-wuumlrdige Eigenschaftlaquo fuumlr einen Stab zu sein Ich denke Wittgenstein muszlig sich hier irren Wenn der Stock 3937 Inches lang ist (ich nehme an daszlig wir einen anderen Standard fuumlr Inches haben) warum ist er nicht 1 m lang Wir wollen jedenfalls annehmen daszlig Witt-genstein sich irrt und daszlig der Stab 1 m lang istlaquo (Kripke Naming and Necessity 1980 Name und Notwendigkeit FrankfurtM 1981 S 65 f) Diamond weist zwar zu Recht darauf hin daszlig Kripkes theoretisches Vokabular nur uumlber Eigenschaften (er diskutiert Fragen von Referenz und sprachlicher Bedeutung separat) nicht aber uumlber raquoStellungen im Sprachspiellaquo verfuumlgt und daszlig er deshalb zur tatsaumlchlich merkwuumlrdigen Deutung des Satzes als raquokontin-gente Wahrheit a priorilaquo (S 68) kommt (Dies entspricht wiederum in einigem der ja auch raquoeigenartigenlaquo Rolle im Sprachspiel) Beim Ausfuumlhren des Beispiels gegen Wittgenstein argumentiert Kripke jedoch intern vollkommen konsistent und faktisch auch an einem Sprachspiel orientiert wenn er (in Klammern) annimmt daszlig wir uumlber einen eigenen unabhaumlngigen Maszligstab fuumlr englische Zoll verfuumlgen Dann naumlmlich kann man das Urmeter ohne weiteres wie jeden anderen Gegenstand auch (auszliger in diesem Spiel dem raquoUr-Yardlaquo das Kripke jedoch nicht erwaumlhnt ndash und insofern hat Kripke die Problematik nur geschickt verschoben) abmessen und das Ergebnis anschlieszligend umrechnen Damit nimmt Kripke Wittgensteins Bemerkung das Paradoxe fuumlhrt dabei allerdings (unkommentiert) einen raquoDoppelstandardlaquo der Messung ein der nicht weiter geklaumlrt wird Die Sorgfalt in Kripkes Ausfuumlhrungen legen daher nahe die Rede davon daszlig Wittgenstein raquoirrelaquo nicht als Hin-weis auf einen einzelnen zufaumllligen Fehler sondern auf eine insgesamt verfehlte Auffas-sung zu verstehen

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wie Wittgenstein zu seiner Aumluszligerung kommt und inwiefern die Institution des Messens davon abhaumlngt daszlig man Maszligstaumlbe einfuumlhrt mit denen dann andere Objekte gemessen werden49 Da Laumlngenangaben entsprechend im-mer auf den Vergleich zu einem Maszligstab bezogen sind entsteht die kuriose Situation daszlig die Laumlnge des Urmeters durch Anlegen an sich selbst be-stimmt werden muumlszligte Nach Kripke ist dies ein Fall von Identitaumlt d h im Fall der Identitaumlt kann man auch ohne jede Messung sagen daszlig das betref-fende Objekt 1 m lang ist (oder eben raquoso lang wie es istlaquo ndash denn wie lang sollte es sonst sein) Damit aber gleicht er den Fall der Messung an den Fall der bloszligen Festsetzung in dem gar keine Messung erfolgt und genau genommen auch keine Messung moumlglich ist (denn man kann keinen Maszlig-stab an sich selbst anlegen weil dazu mindestens zwei Objekte benoumltigt werden) an und uumlbersieht die begriffl iche Verschiedenheit beider Faumllle Durch dieses Beispiel beleuchtet Diamond vor allem den Begriff der Gleichheit bzw Identitaumlt der von Kripke und weiten Teilen der philoso-phischen Tradition als unproblematischer absoluter Fixpunkt in Anspruch genommen wird den Wittgenstein aber einer fruumlhen Kritik (553 ff) und einer spaumlteren genauen Beschreibung (PhU 251 ff) unterzogen hat Zur Aufklaumlrung ist es noumltig den Ort den die Rede von raquogleichlaquo und raquoiden-tischlaquo in der Sprache hat genauer zu beleuchten und zu beschreiben an-statt ihn als quasi sprachunabhaumlngig gegeben einfach vorauszusetzen50

Diamonds Arbeit zielt so durchgehend auf die Klaumlrung scheinbar para-doxer oder merkwuumlrdiger Behauptungen ab und sie sieht ihr Ziel erst dann erreicht wenn aufgezeigt ist daszlig im Sprachspiel alles mit ganz ge-woumlhnlichen Dingen zugeht Paradoxe Behauptungen haben darin keinen Ort Auch ihre Anmerkungen zum Schluszlig von Wittgensteins Abhandlung sind daher systematisch als solche Aufklaumlrungen (etwa der paradoxen Re-deweise von Saumltzen die raquowahr waumlren wenn sie gesagt werden koumlnntenlaquo) zu verstehen auch wenn sie stellenweise selbst sehr uumlberraschend klingen Ihr Grundgedanke lautet jedoch Auch raquounsinniglaquo ist ein ganz gewoumlhn-liches Wort welches Wittgenstein verwendet und wenn er es verwendet dann meint er es auch so wie er es sagt51

49 Diamond betont mit (dem spaumlten) Wittgenstein die grundlegende Bedeutung von sprachlichen Institutionen waumlhrend Kripke konsequent davon absieht und alles als Fakten (unterschiedlicher Art) interpretiert

50 Kripkes Auffassung der Identitaumlt ist sprachunabhaumlngig und sozusagen raquorein objektivlaquo angelegt Fuumlr ihn ist jeder Gegenstand notwendigerweise mit sich selbst identisch und weist eine bestimmte raquoobjektivelaquo Laumlnge auf Wittgenstein dagegen weist darauf hin daszlig auch zum Wort raquoidentischlaquo ein Sprachspiel gehoumlrt das diesem Wort erst seine klare Ver-wendung gibt

51 Einiges spricht jedoch auch dafuumlr daszlig diese Auffassung eher dem spaumlten Wittgen-stein entspricht und daszlig in 654 raquounsinniglaquo gerade nicht im alltaumlglichen Sinn verwendet wird

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5 Es ist bei dieser sehr punktuellen Methodik um so bemerkenswerter und selbst geradezu paradox daszlig Diamonds Ansatz der Ausgangspunkt einer ganzen Richtung der Wittgensteininterpretation und noch dazu der Abhandlung geworden ist Diese Entwicklung hat viel mit der Arbeit von James Conant zu tun der dem Ansatz eine allgemeinere und leichter ein-zuordnende Form gegeben und das Zentrum der Aufmerksamkeit noch viel staumlrker als Diamond auf die Abhandlung und ihren Schluszlig gelenkt hat Conant stellt Wittgensteins Text in einen weiteren Rahmen indem er etwa Wittgenstein mit Kierkegaard Carnap und anderen Autoren ver-gleicht und indem er sich um die Historiographie der Tractatusdeutungen und insbesondere der impliziten Voraussetzungen dieser Deutungen in einer Weise bemuumlht daszlig die resolute Lesart als natuumlrlicher Abschluszlig einer Stufenfolge erscheint Dadurch entsteht der Eindruck daszlig die raquoresolutelaquo Deutung auf uumlberlegene Weise alle vorangegangenen Deutungsversuche in sich aufnimmt und ihnen den gehoumlrigen Platz anweist so daszlig kein sys-tematischer Raum mehr fuumlr Gegenvorschlaumlge bleibt52

In seiner bisher umfangreichsten Darstellung53 gibt Conant zunaumlchst eine Rekonstruktion der rationalen Genese der bisherigen Lesarten die er die raquopositivistischelaquo und die raquoUnsagbarkeitslesartlaquo (ineffability reading) nennt Als deren gemeinsame Grundvoraussetzung arbeitet er die Annahme her-aus daszlig es etwas wie raquogehaltvollen Unsinnlaquo (substantial nonsense) in der Abhandlung geben muumlsse Er zeigt dann auf daszlig und wie sich beide Auf-fassungen gegenseitig bedingen und inwiefern keine von beiden zu einer stabilen und konsequenten (eben raquoresolutlaquo durchhaltbaren) Position fuumlhrt Tatsaumlchlich setzt sich Conant fast ausschlieszliglich mit der von ihm als Stan-dardinterpretation (S 394) angesehenen Lesart und ihrem Hauptvertreter Peter Hacker auseinander54 Die Kernthematik des Aufsatzes der die Me-

52 Der Gestus erinnert stellenweise an Hegels Vorgehen Conant ist auch an anderer Stelle mit weitreichenden Sortiervorschlaumlgen hervorgetreten so etwa in bezug auf Spiel-arten des Skeptizismus wo er eine Cartesische und eine Kantische Spielart des Skeptizis-mus und damit der Philosophie uumlberhaupt unterscheidet (Varieties of Skepticism in D McManus (Hg) Wittgenstein and Skepticism London 2004)

53 James Conant The Method of the Tractatus in Reck From Frege to Wittgenstein daran orientiert sich das Folgende Mehrere Aufsaumltze Conants ergaumlnzen diesen Beitrag noch ndash Durch haumlufi ge Verweise auf einander einen gemeinsamen Aufsatz sowie an beide gerich-tete Kritik ist aumlhnlich wie in der Kopenhagener Deutung der Quantenphysik der Ein-druck entstanden als handele es sich um ein und dieselbe Auffassung Dieser Eindruck taumluscht jedoch in einigen wichtigen Punkten ebenso wie im Fall der Kopenhagener Deu-tung wie aus dem Folgenden klar werden wird

54 Tatsaumlchlich liegt der systematische Schwerpunkt der Kontroverse zwischen ConantDiamond und Hacker auf der Interpretation der Philosophie des spaumlten Wittgenstein die von beiden Parteien als der eindeutig uumlberlegene und bis heute unuumlberbotene philoso-phische Ansatz angesehen wird Diese grundsaumltzliche Debatte um die Deutung von Witt-gensteins Spaumltphilosophie hat erst in Ansaumltzen besonders in einigen Aufsaumltzen von Dia-

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thode der Abhandlung zu klaumlren beansprucht kreist um die Leitbegriffe raquoErlaumluterunglaquo und raquoUnsinnlaquo (S 378) Wie Diamond fi ndet Conant dies bei Frege vorgebildet wobei er dessen Verfahren so zusammenfaszligt daszlig nach Frege raquodie Erlaumluterung logisch einfacher Ausdruumlcke wie Begriff und Gegenstand unvermeidlicherweise mit (dem geschickten Einsatz von) Unsinn arbeiten muszliglaquo (S 387) In der Deutung dieses Verfahrens durch Frege sieht Conant jedoch eine Spannung denn Frege glaubt raquodaszlig er in solchen Faumlllen etwas sagen will was im strengen Sinn nicht gesagt werden kann und druumlckt sich dann so aus daszlig seine Woumlrter einen Gedanken auszudruumlk ken versuchen damit aber notwendigerweise scheiternlaquo (S 391) Damit vertritt Frege aumlhnlich wie Geach und Hacker selbst eine substan-tielle Auffassung von Unsinn55 Nach Conant liegt die Hauptabsicht von Wittensteins Abhandlung nun genau darin eine solche substantielle Auffas-sung von Unsinn nicht zu vertreten sondern zu uumlberwinden Die Unter-scheidung zwischen sinnvollen und nicht sinnvollen Saumltzen liegt nach Conants Deutung nun praumlziser gefaszligt darin raquoEinen Satz als sinnvoll wahr-nehmen bedeutet daszlig man im Satzzeichen das Satzsymbol wahrnimmt Einen Satz als Unsinn wahrzunehmen bedeutet daszlig man im Zeichen kein Symbol erkennen kannlaquo (S 404) Ein Satz ist also dann raquobloszliger Unsinnlaquo wenn eine Zeichenreihe raquokeine erkennbare logische Syntax hatlaquo (S 400) Damit gibt es aber streng genommen keine raquounsinnigen Saumltzelaquo sondern nur Zeichenreihen die auf den ersten Blick wie Saumltze aussehen bei denen aber der Versuch in ihnen eine logische Form aufzufi nden scheitert Die Rede von raquoUnsinnlaquo bezieht sich also nicht auf die Saumltze oder Zeichenrei-hen selbst sondern allein auf unser Scheitern Zentral wird dadurch der Begriff des raquoSymbolslaquo Ein Symbol ist ein Zeichen zusammen mit einer logisch durchsichtigen Verwendungsweise (S 414) Die bekannte Sprach-kritik der Abhandlung (40031) erweist sich so nicht als Versuch die sinn-vollen von den unsinnigen Zeichen(reihen) durch ein Sinnkriterium zu trennen sondern raquodie Quelle des scheinbaren Unsinns liegt in unserer Beziehung zum sprachlichen Zeichen nicht im sprachlichen Zeichen selbstlaquo (S 419) Die Philosophie ist entsprechend Wittgensteins Diktum

mond begonnen Als zentralen Gegensatz zwischen der eigenen Position und derjenigen Hackers formuliert Conant daszlig nach Hacker der fruumlhe Wittgenstein an unausdruumlckbare Wahrheiten glaubte waumlhrend der spaumlte dies als Irrtum durchschaute waumlhrend Wittgen-stein tatsaumlchlich schon in der Abhandlung die darin vorausgesetzte substantielle Auffassung von Unsinn ablehnte Weiter glaubt er in Hackers Deutung des spaumlten Wittgenstein raquoeine verkleidete Fassung der Auffassung die er dem fruumlhen Wittgenstein zuschreibtlaquo zu erken-nen was der wahren Radikalitaumlt dieses Denkens nicht gerecht werde (Conant Two Con-ceptions of Die Uumlberwindung der Metaphysik in Wittgenstein in America (Anm 17) S 13ndash62 hier S 38 Anm 42)

55 In diesem Punkt ist Conant exegetisch weitaus vorsichtiger als Diamond die weniger Scheu hat Frege eine systematisch uumlberzeugende Konzeption zuzuschreiben

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raquokeine Lehre sondern eine Taumltigkeitlaquo Diese Taumltigkeit besteht nach Con-ant darin daszlig eine Illusion von Sinn aufgebaut und am Ende zerstoumlrt wird Das Ziel des Buches ist daher raquonicht eine Einsicht in metaphysische Zuumlge der Wirklichkeit sondern in die Quellen der Metaphysiklaquo (S 421) Nach Conant gibt es im Text nur raquo(scheinbar) eine Lehre uumlber raquodie Gren-zen des Denkenslaquolaquo (S 424) tatsaumlchlich aber sind raquodie Erlaumluterungen des Autors nur dann erfolgreich wenn wir den Haupttext als Unsinn erken-nenlaquo (S 424) Conants Darstellung verleiht der resoluten Lesart dadurch daszlig er aufzeigt wie die grundlegenden Spannungen in den fruumlheren Deu-tungsansaumltzen aufgeloumlst werden koumlnnen den Anschein einer teleologischen Zwangslaumlufi gkeit Nicht zufaumlllig spielt daher die fortgesetzte Auseinan-dersetzung mit der raquoUnsagbarkeitslesartlaquo eine zentrale Rolle in seinen Ausfuumlhrungen Ein nicht zu unterschaumltzender Teil der Anziehungskraft der resoluten Lesart liegt genau darin daszlig sie den einzigen konsistenten wenn auch zunaumlchst uumlberspitzt aber damit zugleich auch brillant wirken-den Ausweg aus den Bemuumlhungen um ein Verstaumlndnis der Logisch-Philoso-phischen Abhandlung zu bieten scheint56

Conants umfangreicher Beitrag zur Festschrift fuumlr Cora Diamond57 verstaumlrkt die genannten Tendenzen noch Dies zeigt sich bereits an der Form Unter dem Titel raquoA Recently Discovered Manuscriptlaquo wird ein gewisser raquoJohannes Climacuslaquo58 als Herausgeber eines Aufsatzes von Con-ant eingefuumlhrt der in Gestalt einer fi ktiven theologischen Auseinanderset-zung um die richtige Wittgensteinorthodoxie eigene (ziemlich dogma-tisch-uneinsichtsvolle) Kommentare zu den einzelnen Teilen von Conants Text abgibt Dieser Text selbst greift schon im Titel und uumlber weite Stre-cken ironisch den Ton theologischer Kontroversen auf Thema der Arbeit ist die umstrittene raquometa-wittgensteinschelaquo Frage ob Anhaumlnger der reso-luten Lesart (die noch einmal zusammenfassend vorgestellt wird) uumlber-haupt uumlber den Spielraum verfuumlgen um einen wesentlichen Unterschied zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein herauszuarbeiten (S 32) Diese Frage geht Conant dialektisch an indem er drei verschie-dene Listen praumlsentiert eine erste (S 49) die scheinbare Lehren der Ab-handlung enthaumllt die aber tatsaumlchlich so Conant Auffassungen sind vor

56 Diese Zwangslaumlufi gkeit tritt in Diamonds Arbeiten weitaus weniger hervor Fuumlr sie ist die Abhandlung ein reiches Buch das zahlreiche ausgesprochen weiterfuumlhrende und faszinierende Passagen enthaumllt die philosophisch weiterhelfen nicht ein Werk das sozu-sagen unter einer Drohung lebt und dessen Leser nach einem Ausweg suchen

57 James Conant Mild-Mono-Wittgensteinianism in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 29ndash142

58 Dieses von Kierkegaard entlehnte Pseudonym verwendet Conant seinerseits in einem Zitat aus der Abschlieszligenden unwissenschaftlichen Nachschrift (31) mit der Bemerkung daszlig Ironie und Ernsthaftigkeit einander nicht ausschlieszligen In fruumlheren Texten hatte Conant raquoClimacuslaquo mit raquoLeiterlaquo uumlbersetzt (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 291)

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denen Wittgenstein seine Leser warnen will eine zweite mit Auffas-sungen die Wittgenstein in der Abhandlung natuumlrlich klar und unkontro-vers erschienen die aber dennoch Ausdruck philosophischer Ansichten sind die er selbst spaumlter als problematisch ansah (S 83)

Damit ist fuumlr eine Differenz zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein ein Spielraum gewonnen der dann durch eine dritte Liste wieder in einen ironischen Schwebezustand gebracht wird indem Conant Saumltze praumlsentiert die man gleichermaszligen dem fruumlhen wie dem spaumlten Wittgenstein zuordnen kann bisweilen indem leichte Variationen des Wortlauts mitgefuumlhrt werden wie raquoDie Logik (Grammatik) muszlig fuumlr sich selber sorgenlaquo (S 106) Conant spricht von raquoAugenblicken atemberau-bender Kontinuitaumltlaquo (S 108) gerade dort wo Wittgenstein die Konzeption der Abhandlung kritisiert (PhU 97ndash133) Als Ergebnis der Untersuchung bleibt so der Eindruck von gleichzeitig auszligerordentlicher Kontinuitaumlt und deutlicher Diskontinuitaumlt in Wittgensteins philosophischer Entwicklung Auch daszlig eine resolute Lesart eher raquoein Programm um das Buch zu lesenlaquo (111 Anm 4) ist als tatsaumlchlich eine durchgehende Lektuumlre ist deutlich ausgesprochen59

Der philosophische Ansatz und Stil Conants ist dem von Diamond in vie-ler Hinsicht entgegengesetzt Waumlhrend Diamond von konkreten Einzelfaumll-len ausgeht und diese im Hin- und Hergehen aufzuklaumlren versucht geht Conant ganz von auszligen mit einem umfassenden Blick in Beziehung zur gesamten Philosophiegeschichte an die Fragen heran Ein bevorzugter Vergleich ist derjenige Wittgensteins mit Kierkegaard insbesondere in der Frage des Verhaumlltnisses des Autors zu seinen Buumlchern60 Man koumlnnte gera-

59 In der gemeinsam verfaszligten Arbeit On Reading The Tractatus Resolutely Reply to Me-redith Williams and Peter Sullivan in M KoumllbelB Weiss Wittgensteinrsquos Lasting Signifi cance London 2004 S 46ndash99 erlaumlutern Diamond und Conant einige Punkte ihres Ansatzes ge-genuumlber Versuchen das Buch als System von Behauptungen zu lesen (Williams) und gegen die Kritik ihre Lesart sei unvollstaumlndig letzteres mit dem Hinweis es handle sich bislang lediglich um ein Forschungsprogramm aber gerade nicht um ein Rezept das eine leichte und zusammenhaumlngende Lektuumlre ermoumlgliche (S 68) Peter Sullivan wird als der produk-tivste Kritiker bezeichnet weil er auf spezifi sche Inkonsistenzen hinweise (vgl die in Anm 64 genannte Arbeit) Sullivans eigene Deutungsvorschlaumlge bleiben jedoch eher tra-ditionellen ontologisch orientierten Ansaumltzen verhaftet (vgl What is the Tractatus About ebenfalls in KoumllbelWeiszlig S 32ndash45) Diese gemeinsame Arbeit verbleibt jedoch insge-samt auf einer sehr allgemeinen und wenig spezifi schen Ebene

60 So etwa Conant Putting Two and Two together Kierkegaard Wittgenstein and the Point of View for Their Work as Authors in T TessinM von der Ruhr (Hg) Philosophy and the Grammar of Religious Belief London 1995 S 248ndash331 Als Zusammenfassung schreibt Co-nant dort daszlig der fruumlhe Wittgenstein aumlhnlich wie Kierkegaard raquoden Leser in die Wahr-heit hineintaumluschen willlaquo zu welchem Zweck er raquoeine ausgefeilte Struktur scheinbarer Behauptungenlaquo verwendet (S 302) Fuumlr ein solches Verstaumlndnis gibt es bei Kierkegaard zahlreiche Hinweise bei Wittgenstein streng genommen keine er will alles raquoklar sagenlaquo

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dezu sagen daszlig sich Conant mehr fuumlr die Frage der Autorschaft als fuumlr das Werk selbst interessiert61 Es geht ihm darum den richtigen Blickwinkel auf das Werk zu gewinnen und den entwickelt er durch weitgespannte Ver-gleiche durch die Analyse der Selbstkommentare und zusaumltzlichen Erlaumlute-rungen Dabei scheint das Ziel vorrangig die Einordnung vorhandener Zu-gangsmoumlglichkeiten zu sein die er dann in eine systematische Ordnung bringt62 Diese Systematik verweist dann gewissermaszligen teleologisch auf eine einzige offene Moumlglichkeit als den richtigen Zugang zu einem Problem oder einem Text Waumlhrend Diamond also einzelne Miszligverstaumlndnisse auf-klaumlrt zieht Conant die groszligen orientierenden Linien63 Damit aber ergaumln-zen beide Ansaumltze einander wiederum in einem Maszlige daszlig sie von auszligen in aller Regel als eine Einheit angesehen werden Erst durch Conants Ord-nungsvorschlaumlge hat Diamonds Ansatz diejenige Uumlbersichtlichkeit und Handhabbarkeit gewonnen die eine breitere Wirksamkeit ermoumlglichen

Einmal schreibt er kritisch raquoDer Verkehr mit Autoren wie Hamann Kierkegaard macht ihre Herausgeber anmaszligend Diese Versuchung wuumlrde der Herausgeber des Cherubi-nischen Wandersmannes nie fuumlhlen noch auch der Confessionen des Augustin oder einer Schrift Luthers Es ist wohl das daszlig die Ironie eines Autors den Leser anmaszligend zu ma-chen geneigt istlaquo (Denkbewegungen [1931] FrankfurtM S 41)

61 In einem fruumlheren Aufsatz The Search for Logically Alien Thought Descartes Kant Frege and the Tractatus in Philosophical Topics 20 (1991) S 115ndash180 vergleicht Conant Witt-gensteins Vorgehen mit einem langen Witz bzw einer Parabel die ein absurdes Gespraumlch wiedergibt in dem ein Pole von einem Juden wissen will worin raquodas Geheimnis der Ju-denlaquo besteht und das nach allerhand Umwegen mit der Einsicht endet daszlig da raquokein Ge-heimnis istlaquo ndash aber so erfahren wir eben das raquoist das Geheimnislaquo (S 160)

62 Conants umfassende Perspektive geht mit einigen Zurechtstellungen bei der Inter-pretation einher die das Material entsprechend dem umfassenden Entwurf leicht umfor-men In seinem langen Aufsatz spricht er Wittgenstein eine besondere Konzeption von Klarheit zu die darin liegen soll daszlig man am Ende das Buch als unsinnig erkennt (374) er uumlbergeht dabei aber daszlig Wittgenstein gegenuumlber Russell unmittelbar auf den voumlllig neu-artigen Inhalt der logischen Konzeption verweist und dabei sogar das Wort raquoTheorielaquo ver-wendet als Ziel formuliert Wittgenstein auch nicht daszlig man bestimmte Konzeptionen als nur scheinbar konsistent erkennen soll (377) sondern daszlig man die Logik der Sprache ein-sehen lernt ohne ein Verstaumlndnis von 654 ist nach Conant kein Verstaumlndnis des Buches moumlglich (378) dies gilt aber angesichts der konzentrierten Form fuumlr jeden Satz des Buches wobei die Schluszligbemerkung eher selbstrefl exiv auf das Buch und die Darstellungsform Bezug nimmt als auf die bis dahin entwickelte Einsicht der gegenuumlber der bloszligen Selbstre-fl exion die Prioritaumlt einzuraumlumen waumlre die Woumlrter raquoUnsinnlaquo und raquoErlaumluternlaquo (378) sind entschieden nicht die Kernbegriffe des Buches zum einen kommen eher die Formen raquoun-sinniglaquo oder raquoes ist ein Unsinnlaquo vor nicht das Substantiv zum anderen sind viel eher raquoKlar-heitlaquo und raquoklarlaquo die zentralen Ausdruumlcke Carnap wird als derjenige hingestellt der nichts verstanden habe aber Wittgenstein hat gerade Carnap 1932 des Plagiats bezichtigt und Conant verkehrt Wittgensteins Aumluszligerung er koumlnne sich raquonicht denkenlaquo daszlig Carnap den Sinn des Buches raquoso ganz und gar miszligverstandenlaquo haben koumlnnte ins gerade Gegenteil und zitiert sie mehrfach (378 Anm 9 Anm 99 als Motto in Two Conceptions wie Anm 54)

63 Relativ haumlufi g verwendet Conant auch ganz traditionelle Ordnungsinstrumente wie raquoArtlaquo und raquoGattunglaquo (vgl Conant Method (Anm 53) S 435 Anm 43 436 Anm 48)

114 Wolfgang Kienzler PhR

Ein Punkt hat Kritiker besonders irritiert naumlmlich Diamonds und Co-nants Bestehen darauf daszlig der Text streng und konsequent stuumlckweise (piecemeal) gelesen werden soll Dies scheint mit der radikalen Grundten-denz nicht recht vereinbar oder die Radikalitaumlt doch stark abzuschwaumlchen ndash es koumlnnte aber dazu fuumlhren daszlig man das Gewicht der bisweilen daran angeknuumlpften allgemeineren Betrachtungen als wesentlich geringer anse-hen koumlnnte als es derzeit in aller Regel geschieht Tatsaumlchlich ist der stuumlckweise Zugang sehr charakteristisch fuumlr Diamonds Methode und die allgemein gehaltenen radikalen Thesen wirken in ihren Texten eher wie Fremdkoumlrper Die raquoTheselaquo von der notwendig stuumlckweisen Interpretation reduziert sich daher im Kern auf die wichtige aber unspektakulaumlre me-thodische Beobachtung daszlig es ohne Zweifel richtig ist daszlig man die Ab-handlung sorgfaumlltig langsam und schrittweise entschluumlsseln muszlig gerade damit man die einheitliche und uumlbergreifende Konzeption (und daran ist nichts stuumlckweise und zusammengebastelt) genau richtig auffassen kann

6 Tatsaumlchlich sind die Vertreter der resoluten Lesart insgesamt weit erfolgreicher in der Kritik konkurrierender Ansaumltze als in der Interpreta-tion des Textes selbst Ein groszliger Teil der Debatte wird in der Gestalt von Auseinandersetzungen um das richtige Verstaumlndnis bzw den Maszligstab fuumlr eine angemessene Interpretation gefuumlhrt Dies ist in gewissem Sinne fol-gerichtig denn ein Textverstaumlndnis im gewoumlhnlichen Sinn des Wortes kann es von einem im strengen Sinn unsinnigen Text ja kaum geben Die Debatte behandelt deshalb vorrangig Fragen wie die welches denn der raquoZweck des Unsinnslaquo sei64 Dazu hat Michael Kremer Vorschlaumlge entwi-ckelt die die ethische Dimension des Buches herausarbeiten65 Er zieht Vergleiche zu Wittgensteins Beschaumlftigung mit ethischen und religioumlsen Fragen etwa dem Neuen Testament und dem Gedanken daszlig wir einse-hen muumlssen daszlig wir die raquoSuche nach einer Rechtfertigung unseres Lebens aufgeben muumlssenlaquo (S 56) weil der Versuch einer solchen Selbstrechtferti-gung ein Akt des Hochmutes waumlre Als Ergebnis glaubt er festhalten zu muumlssen daszlig das Buch ein raquoknow-howlaquo kein raquoWissen-daszliglaquo vermittelt raquoDieses Buch und seinen Autor zu verstehen bedeutet zu lernen wie man lebtlaquo66 (S 62) In aumlhnlicher Weise deutet Kremer die Frage nach der

64 Michael Kremer The Purpose of Tractarian Nonsense in Nous 35 2001 S 39ndash73 Darauf reagiert Sullivan mit detaillierter Einzelkritik On Trying to be Resolute A Response to Kremer on the Tractatus in European Journal of Philosophy 10 (2002) S 43ndash78 (vor allem S 66ndash68 mit Hinweisen auf die spaumlrlichen Textbelege)

65 Fragen der Ethik spielen uumlberhaupt in den Arbeiten von Diamond Conant und an-deren resoluten Lesern eine groszlige Rolle was aber hier nicht im einzelnen verfolgt werden kann

66 Schon Diamond Ethics (Anm 37) S 169 spricht als Ziel an daszlig wir raquokeine falschen Anforderungen an die Welt stellenlaquo sollen

115Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

raquoWahrheit des Solipsismuslaquo dahingehend daszlig es darum geht den eigenen Stolz zu uumlberwinden67 Selbst die Frage nach dem raquoHauptproblem der Phi-losophielaquo naumlmlich der Unterscheidung von Sagen und Zeigen versucht Kremer so zu beantworten daszlig Wittgenstein vor allem vor der unberech-tigten und zu vorschnellen Anwendung dieser Unterscheidung warnt (und er will zeigen daszlig insofern diese Unterscheidung als Hauptproblem ange-sprochen wird Wittgenstein dieses Problem raquoloumlsenlaquo will)68 All diese Vor-schlaumlge lenken jedoch systematisch von einer tatsaumlchlichen Lektuumlre von Wittgensteins Buch eher ab

Innerhalb der resoluten Stroumlmung ist Juliet Floyd als radikale raquoJakobine-rinlaquo bezeichnet worden weil sie schon fuumlr den fruumlhen Wittgenstein gene-rell die Existenz einer einheitlichen Auffassung von Logik Bedeutung Sagen und Zeigen aber auch eines eindeutigen Ideals der Klarheit leug-net69 Sie nennt Wittgensteins Vorgehen dialektisch bzw refl ektierend (S 188) so daszlig Wittgenstein nicht auf eine einzelne Stoszligrichtung hin festzulegen ist Dadurch wird zum einen erneut die Moumlglichkeit in Frage gestellt den Text uumlberhaupt einigermaszligen einheitlich zu interpretieren zum anderen eroumlffnen sich Moumlglichkeiten relativ frei auch wieder kon-struktivere (S 187) Zuumlge festzustellen Wenn Floyd als Grundgegensatz der Deutungen die Frage betont ob man Wittgenstein so versteht als wolle er raquodie Endlichkeit oder expressive Begrenztheit der Sprache beto-nenlaquo oder ob er die raquooffene Entwicklung und Vielfalt menschlicher Aus-drucksmoumlglichkeitenlaquo (S 177) herausarbeiten will dann steht auch dies nur in einem eher lockeren Bezug zum Text Genau an dieser Stelle setzen die wichtigsten Kritiker an

7 Als prominentester und heftigster Kritiker ist Peter Hacker hervor-getreten70 Hacker kritisiert und polemisiert aus einer Position der exten-

67 Michael Kremer To What Extent is Solipsism a Truth in Stocker Post-Analytic Tractatus S 59ndash84 Das ist eine sehr ungewoumlhnliche Lesart dieser sonst erkenntnistheore-tisch aufgefaszligten Passage

68 Michael Kremer The Cardinal Problem of Philosophy in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 143ndash176 Kremers Deutung beruht vor allem darauf daszlig Wittgenstein in seinem Brief an Russell (15 8 1919) diese Unterscheidung einmal als raquoHauptpunktlaquo und dann auch als raquoHauptproblemlaquo anspricht Kremer deutet dies so daszlig die Unterscheidung als zu loumlsendes raquoProblemlaquo aufgefaszligt wird

69 Juliet Floyd Wittgenstein and the Inexpressible in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 177ndash234 hier S 185 und 196

70 Hackers Schriften dienen zugleich umgekehrt Diamond und Conant als Illustrati-onen fuumlr die raquoStandardlesartlaquo und dafuumlr wie man Wittgenstein nicht interpretieren sollte so schon 1985 in Diamond Throwing Away the Ladder (Anm 30) S 194 als Beispiel fuumlr raquochickening outlaquo Hacker ist auch als einziger Kritiker im Sammelband New Wittgenstein vertreten Was he Trying to Whistle It in New Wittgenstein S 353ndash388 Sein Sammelband Connections and Controversies Oxford 2001 enthaumllt neben dem Nachdruck auf S 98ndash140 noch eine Fortsetzung When the Whistling Had to Stop S 141ndash169

116 Wolfgang Kienzler PhR

siven Kommentieung des spaumlten Wittgenstein und zugleich des philo-sophischen Common Sense heraus Er sieht in der Abhandlung raquoeine ver-bluumlffende Lehre auf verbluumlffende Weise dargebotenlaquo (S 353) ndash diese Charakterisierung entnimmt er jedoch nicht erst seinen neuen Gegnern sondern einer eher traditionellen realistisch-metaphysischen Deutung von David Pears Hacker versteht das Buch als einen gescheiterten Versuch wesentliche Wahrheiten die nicht gesagt werden koumlnnen dennoch zu zeigen Dies sieht er als gesichertes Faktum an dessen Vorhandensein er mit Energie gegen Versuche es zu leugnen untermauert Dazu zaumlhlt er zehn Beispiele solcher Versuche auf von logischen Beziehungen zwischen Saumltzen bis zur Harmonie zwischen Gedanke Sprache und Wirklichkeit (S 353ndash355) und stellt sich ganz auf die Seite schon der fruumlhen Kritiker besonders des Wiener Kreises die den Schluszlig des Buches raquoganz unglaub-wuumlrdig fandenlaquo (S 355)71 Er nennt den Ansatz von Diamond und Conant raquopostmodernlaquo offenbar darauf berechnet zu provozieren jedoch frei von ernsthaften Absichten nicht aber das Buch richtig einschaumltzen zu wollen (S 356)72

Hacker sieht das Buch als offensichtlich inkonsistent an und beruft sich dabei auf Wittgensteins spaumltere Meinung zur Bestaumltigung dieses Faktums (S 370) Von daher fallen alle Versuche das Buch insgesamt nachzuvoll-ziehen zwangslaumlufi g ebenfalls der Inkonsistenz anheim Als Maszligstab der Inkonsistenz dient ihm dabei die Unvereinbarkeit und Widerspruumlchlich-keit der im Buch vorgetragenen (raquogesagtenlaquo oder raquogezeigtenlaquo) Lehren Da-mit aber stellt sich Hacker explizit auf einen Standpunkt den Wittgenstein fuumlr sein eigenes Werk ablehnt das ja explizit raquokein Lehrbuchlaquo (Vorwort) sein will Hacker reduziert das Buch auf einen Lehrinhalt den er unzurei-chend fi ndet ndash der Gegensatz zu Diamond und Conant liegt bereits hier denn beide Seiten differieren vor allem darin was das Buch eigentlich

71 In dieser Hinsicht stimmt seine Einschaumltzung mit derjenigen Conants uumlberein der seinerseits Hacker in die Naumlhe Carnaps plaziert (Two Conceptions of Die Uumlberwindung S 14 ff) Ohne Hacker sofort zu nennen schreibt Conant Carnap (wie spaumlter Hacker) eine substantielle Auffassung von Unsinn zu

72 Hacker lehnt sowohl die Abhandlung als auch Freges philosophische Grundkonzepti-on ab und setzt sie als verfehlten Versuch in scharfen Kontrast zum Denken des spaumlten Wittgenstein Diese Haltung wird in seinem Kommentar zu den Philosophischen Untersu-chungen deutlich besonders eklatant jedoch in dem (gemeinsam mit Gordon Baker ver-faszligten) gegen Dummetts Fregedeutung geschriebenen Frege Logical Excavations (Oxford 1984) Das Auftreten der resoluten Lesart gibt Hacker daher nicht den Grund zu seiner Ablehnung des fruumlhen Wittgenstein sondern vor allem den Anlaszlig seine Gruumlnde zu buumln-deln und erneut vorzubringen (Der verstorbene Gordon Baker der zunaumlchst gemeinsam mit Hacker mehrere Baumlnde zum spaumlten Wittgenstein verfaszligte dann aber seinen Ansatz weiterentwickelte und dabei in einigen Punkten der resoluten Lesart nahekam sei hier noch erwaumlhnt vgl Baker Wittgensteinrsquos Method Neglected Aspects Oxford 2004)

117Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

leisten will Hacker sieht einen eklatanten Gegensatz zwischen Wittgen-steins Erklaumlrung nichts lehren zu wollen und seinem tatsaumlchlichen Vor-gehen seine Gegner versuchen gerade diese Aumluszligerungen Wittgensteins zu verstehen und ihnen entsprechend den Text so zu lesen daszlig er keine raquoLehrenlaquo enthaumllt sondern auf andere Art und Weise arbeitet

Hacker versucht entsprechend auch nicht Diamond und Conant ge-recht zu werden sondern listet vor allem eine Reihe von Kritikpunkten auf Zum einen weist er auf eine gewisse hermeneutische Willkuumlr hin mit der nur relativ wenige insgesamt unzusammenhaumlngende Partien herange-zogen werden wobei einige Passagen doch wieder als ganz gewoumlhnlich und sinnvoll gelesen werden ohne daszlig eine klare Abgrenzung nach Kri-terien gegeben wuumlrde Die haumlufi g verwendete Rede vom raquoRahmenlaquo des Buches im Unterschied zum raquoHauptteillaquo bleibt ihm zufolge unklar abge-grenzt da zum Rahmen auch Bemerkungen wie 4112 aus der Mitte des Textes gezaumlhlt werden73 Im Zusammenhang damit weist er darauf hin daszlig zwischen den Arten von Unsinn doch ein Unterschied gemacht wer-de wenigstens nach der Wirkung auf den Leser74 Und schlieszliglich ver-sucht er nachzuweisen daszlig Wittgenstein selbst weder in seiner fruumlheren noch in seiner spaumlteren Zeit eine solche radikale Lesart seiner eigenen Ar-beit vorgetragen oder unterstuumltzt habe

Eine spezielle Streitfrage liegt darin ob es nach Wittgenstein raquoUumlbertre-tungen der logischen Syntaxlaquo geben koumlnne Diamond und Conant be-haupten nein Hacker versucht an Beispielen aufzuzeigen daszlig Wittgen-stein dies wiederholt anspricht (S 365ndash367)75 Der grundlegende Dissens betrifft hier die Frage ob Wittgenstein sich vorrangig um den Begriff und die Festlegung einer logischen Syntax als Einfuumlhrung sinnvoller Rede be-muumlht denn wenn es um die Festlegung und ggf die Erweiterung und Ver-aumlnderung von Sinn geht dann gibt es nichts was uumlbertreten oder verfehlt werden koumlnnte ndash oder aber ob Wittgenstein wie Hacker ihn liest jemand ist der vor allem schon bestehende syntaktische Systeme betrachtet und dabei die Moumlglichkeiten behandelt sich gegenuumlber den Vorschriften be-

73 Conants Auskunft daszlig nicht der Ort im Text sondern die Funktion der Bemerkung daruumlber entscheide ob es zu Rahmen oder Hauptteil gehoumlre vermag als Gegenargument nicht wirklich zu uumlberzeugen

74 Dies leugnen Conant und Diamond keineswegs nur kommt es ihnen gerade auf den Unterschied zwischen logischen und anderen Einteilungsgruumlnden an

75 Dieser Punkt ist auch deswegen zentral weil fuumlr Hacker Unsinn genau dadurch ent-steht daszlig man die logische Syntax verletzt (Was he Trying S 367) waumlhrend fuumlr Conant und Diamond Unsinn dann vorliegt wenn wir mit einer Zeichenreihe schlicht nichts anfangen koumlnnen also kein Symbol darin erkennen Dieser Frage widmet Hacker den Aufsatz Wittgenstein Carnap and the New American Wittgensteinians in Philosophical Quar-terly 53 (2003) S 1ndash23 und Diamond die Entgegnung Logical Syntax in Wittgensteinrsquos Tractatus in Philosophical Quartely 55 (2005) S 78ndash88

118 Wolfgang Kienzler PhR

stimmter Systeme abweichend zu verhalten und ihre Regeln zu verletzen Die Frage ist ob Wittgenstein die Syntax mit einem bestehenden Spiel analog setzt oder nicht76 Fuumlr beide Aspekte gibt es Belege im Text77

Eine gewisse Uumlbereinstimmung zwischen Hacker und seinen Gegnern liegt ironischerweise darin daszlig keine der beiden Seiten eine durchge-hende Interpretation der Abhandlung anstrebt Hacker haumllt dies aufgrund der Inkonsistenz fuumlr uninteressant (wenn auch theoretisch moumlglich) Dia-mond ist vorrangig an Einzelfragen und am methodischen Standard des spaumlten Wittgenstein interessiert (wozu sie in der Abhandlung letztlich doch nur eine Vorstufe fi ndet) und Conant ist hauptsaumlchlich damit beschaumlftigt vorgaumlngige Kriterien fuumlr eine uumlberzeugende Lektuumlre zu entwickeln78

Als zentrale unbeantwortete Frage bleibt daruumlber hinaus das Problem bestehen wie man Wittgensteins Sprache und die Art seiner Behaup-tungen im Text konsequent aufzufassen hat denn hier weist Hacker auf deutliche Inkonsistenzen der resoluten Leser hin Zum einen wird von raquobloszligem Unsinnlaquo gesprochen dann wieder werden Passagen so gelesen wie gewoumlhnliche behauptende Prosa zum einen ist von Ironie die Rede dann wieder scheint alles ganz woumlrtlich aufzufassen zu sein79

8 Marie McGinn hat den bisher ehrgeizigsten Versuch unternommen die Staumlrken beider konkurrierender Ansaumltze zu verbinden und die jewei-

76 Vgl Diamond (wie die vorige Anm) S 86 Hacker vertritt hier einen eher kantischen Ansatz der die Grenzen der Vernunft bereits abgesteckt vorfi ndet (ein fuumlr Hacker wichtiges Buch ist P Strawsons Kantdeutung in The Bounds of Sense) Diamond und Conant sehen Wittgenstein als radikaleren Denker nach dem diese Grenzen immer wieder neu bestimmt werden muumlssen bzw nach dem es genau genommen keine Grenzen gibt da das Entschei-dende die Moumlglichkeit neuer Begriffsbildungen ist ohne daszlig man sich an irgendeiner Vorgabe (oder Grenze) orientieren kann die man entweder trifft oder verfehlt

77 Zum einen schreibt Wittgenstein raquoWir koumlnnen einem Zeichen nicht den unrechten Sinn gebenlaquo (54733) also bei der Bedeutungsfestsetzung nichts verfehlen zum anderen erklaumlrt er schlicht Saumltze wie raquo1 ist eine Zahllaquo (41272) die sich auf unsere bestehende Spra-che beziehen fuumlr unsinnig weil darin das Wort raquoZahllaquo als gewoumlhnliches Begriffswort statt als raquoformaler Begrifflaquo und also falsch verwendet wird Daszlig 1 eine Zahl ist ist schon da-durch klar daszlig wir das Zahlzeichen 1 verwenden und gerade deshalb koumlnnen wir dies nicht noch zusaumltzlich behaupten Es ist allerdings richtig daszlig Wittgenstein im letzteren Fall strenggenommen nicht von der raquoVerletzung der logischen Syntaxlaquo spricht sondern das Gebilde einfach raquounsinniglaquo nennt da fuumlr solche Faumllle gar keine logische Syntax im exakten Sinn verfuumlgbar ist Die gesamte Abhandlung ist in dieser Hinsicht nirgends der Versuch eine vorliegende Syntax zu treffen aber auch nicht eine neue Syntax festzulegen sondern sie befaszligt sich vielmehr mit den Bedingungen der Moumlglichkeit von Syntax uumlberhaupt Insofern verfehlen sowohl Hacker auch Diamond und Conant diesen Kernpunkt des Buches

78 So etwa im Abschnitt What makes a Reading resolute in Mono-Wittgensteinianism S 42ndash47

79 Vgl dazu W Kienzler Die Sprache des Tractatus Klar oder deutlich Karl Kraus Witt-genstein und die Frage der Terminologie in F GoumlppelsriederJ Volbers (Ed) Philosophie als Lebensform Muumlnchen 2008 (im Erscheinen)

119Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

ligen Schwaumlchen zu vermeiden80 Sie will Wittgenstein keine metaphy-sischen Lehren zuschreiben81 aber doch sicherstellen daszlig wir aus dem Buch etwas Konstruktives lernen koumlnnen Dazu nimmt sie den Begriff der Klaumlrung als Orientierungspunkt Die Aufgabe des Buches ist es demnach die Logik der Sprache aufzuklaumlren Wenn dies aber ohne die Verwendung positiver Lehren geschehen soll muszlig es indirekt geschehen naumlmlich da-durch daszlig die Sprache sich indirekt selbst klaumlrt das heiszligt daszlig eine solche Klaumlrung nicht auf etwas auszligerhalb der Sprache Bezug nimmt denn das waumlre Kennzeichen einer metaphysischen Auffassung McGinn schreibt et-was kryptisch raquoEs ist ein Werk in dem die Natur des Satzes die schon klar ist obwohl wir sie noch nicht klar sehen sich selbst fuumlr uns klaumlrtlaquo82

Sie betont jedoch sehr zu Recht daszlig Wittgenstein in seiner Abhandlung die eine groszlige Frage loumlsen wollte raquoDas Wesen des Satzes angeben heiszligt das Wesen aller Beschreibung angeben also das Wesen der Weltlaquo (54711)83

Damit aber waumlren alle (oder raquodielaquo) philosophischen Probleme geloumlst Ohne eine solche Voraussetzung die Wittgenstein offenbar als grundle-gende Einsicht erschien ist seine Handlungsweise gar nicht nachvollzieh-bar naumlmlich ein uumlberaus kurzes Buch zu verfassen in dem alle philoso-phischen Fragen im Prinzip jedenfalls beantwortet sind Dies ist nur moumlglich wenn diese Fragen so eng zusammenhaumlngen daszlig die Loumlsung der einen zugleich die Loumlsung der anderen bedeutet Dieser Grundgedanke strukturiert McGinns Buch und gibt ihm eine klare Linie84 Sie untersucht die besonders von Conant behandelten Fragen nach den Bedingungen einer angemessenen Lektuumlre fast gar nicht und antwortet insofern nicht durch Gegenargumente sondern durch die Tat durch einen Gang durch das Buch Es uumlberrascht dabei daszlig sie den Anfang zunaumlchst weglaumlszligt und nach Einleitungskapiteln zur Abgrenzung gegen Frege und Russell gleich mit dem Begriff des Bildes und dann des Satzes beginnt Tatsaumlchlich zeigt McGinn uumlberzeugend auf daszlig die Eingangspassagen am besten als Hin-fuumlhrungen zur raquoTheorie des Satzeslaquo aufgefaszligt werden und nicht als eigen-staumlndiges Theoriestuumlck einer vorangestellten Ontologie (sei diese nur scheinbar als Illusion aufgebaut oder ernst gemeint vgl etwa Diamond

80 Marie McGinn Elucidating the Tractatus81 Marie McGinn Between Metaphysics and Nonsense Elucidation in Wittgensteinrsquos Tracta-

tus In Philosophical Quarterly 49 (1999) S 491ndash513 hier S 107)82 Damit bleibt McGinn nahe an Aumluszligerungen von Diamond und Conant (etwa Method

S 424)83 Zit in McGinn Elucidating S 24084 Das erste Kapitel The Single Great Problem behandelt diese Frage zeigt aber bereits

daszlig sich McGinn nicht vollstaumlndig auf den Text einlaumlszligt sondern ihn von Anfang an stark aus der Perspektive der Philosophischen Untersuchungen her deutet (die im letzen Kapitel er-neut den Maszligstab der Betrachtung bilden)

120 Wolfgang Kienzler PhR

Ethics S 160) Vor dem Hintergrund der Auffassung des sinnvollen Satzes wird der Anfang dann relativ leicht verstaumlndlich In der Darstellung von McGinn wird die Abhandlung wieder zu einer Abhandlung einer nuumlch-ternen Darlegung uumlber die Voraussetzungen sinnvollen Sprechens und Ausdruumlckens uumlber die Unterschiede der Satzarten und die allgemeine Form des Satzes Allerdings ruumlcken so die Einzelheiten der Sprachlogik ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit und die Fragen nach der Natur der Philosophie aber auch die nach der Einheit des Buches treten ganz in den Hintergrund Das Buch enthaumllt kein Kapitel zum Philosophiebegriff des fruumlhen Wittgenstein und kaum Erlaumluterungen zur spezifi schen Form der Darstellung oder zur Strategie der Praumlsentation Einige Themen wie die Ethik Arithmetik oder die Naturgesetze werden ganz uumlbergangen dabei waumlre an diesen Beispielen die angestrebte Einheitlichkeit erst richtig aufzuzeigen gewesen In dieser Hinsicht erklaumlrt McGinn die Abhandlung in der Form die sie 1916 noch hatte bevor Wittgenstein die Schluszligpassa-gen einarbeitete und als sie noch staumlrker eine Abhandlung in raquophiloso-phischer Logiklaquo war85 Gegen Diamond und Conant stellt sie klar heraus daszlig das Ziel der Klaumlrung raquodurch Einsicht in das Funktionieren der Spra-chelaquo erreicht werden soll und nicht indirekt dadurch daszlig raquodie Versuche philosophische Saumltze zu bilden als Unsinn erkannt werdenlaquo (S 254 Anm 6) Die sehr nuumlchterne Art McGinns zeigt einen Wittgenstein der ganz unironisch seine logisch-philosophische Konzeption Schritt fuumlr Schritt entwickelt86

85 Vgl Brian McGuinness Wittgensteinrsquos 1916 Abhandlung in R HallerK Puhl (Hg) Wittgenstein and the Future of Philosophy Wien 2002 S 272ndash282 Die grundlegenden philologischen Arbeiten von McGuinness werden in der gegenwaumlrtigen Debatte leider wenig fruchtbar gemacht

86 Das stark gestiegene Interesse am fruumlhen Wittgenstein hat eine ganze Reihe von Monographien hervorgebracht die jedoch nur selten das gelassene exegetische Niveau McGinns erreichen sondern in der Regel mehr oder weniger exzentrische Deutungen in den Mittelpunkt stellen

M Ostrow Wittgenstein and the Liberating Word CambridgeMass 2002 (eine Zusam-menfassung in Reck From Frege to Wittgenstein) versucht eine an Floyd orientierte raquodialek-tische Interpretationlaquo die sich am Leitmotiv des raquoerloumlsenden Worteslaquo orientiert aber ins-gesamt zu vage bleibt zumal sich die Differenz zum spaumlteren Wittgenstein ganz aufzuloumlsen scheint und wichtige Passagen unberuumlcksichtigt bleiben

E Friedlander Signs of Sense Reading Wittgensteinrsquos Tractatus Cambridge Mass 2001 scheint das Raumltselhafte geradezu zu genieszligen und nennt als sein Ziel raquonicht das Raumltsel des Buches zu loumlsen sondern seinen raumltselhaften Charakter auf eine wahrhaft zum Denken herausfordernde Art aufzuzeigenlaquo (S XV) und will geradezu raquoseinen raumltselhaften Charak-ter rechtfertigenlaquo (16)

U Nordmann Wittgensteinrsquos Tractatus An Introduction Cambridge 2005 faszligt das Buch als ein Gedankenexperiment und eine groszlige Reductio ad Absurdum auf zu der er einige Praumlmissen ergaumlnzt Er deutet das Buch als im Konjunktiv geaumluszligert wodurch der Behaup-

121Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Ausblick

Die Arbeiten von Diamond und Conant haben zu einer neuen Welle des Interesses an Wittgensteins Fruumlhwerk gefuumlhrt und die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten vor allem aber auch das Potential seiner Abhandlung gelenkt Im Zentrum steht dabei die Natur der Philosophie als Erlaumlute-rung die selbst nicht in die Gestalt einer Lehre gebracht werden kann oder anders ausgedruumlckt der entscheidende Unterschied zwischen einer philosophischen und einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Untersu-chung

Gerade dadurch daszlig sie die Abhandlung stellenweise sehr nah an den spaumlten Wittgenstein heranruumlcken eroumlffnen Conant und Diamond Moumlg-lichkeiten die Souveraumlnitaumlt und Subtilitaumlt des Buches erst richtig zu wuumlr-digen Dies geschieht jedoch um den Preis daszlig einige Teile des Buches herausgegriffen andere dagegen kaum beruumlcksichtigt werden

Nicht hinreichend geklaumlrt scheint auch die Frage nach dem sprachlichen Grundton des Buches Diamond geht immer wieder von einem nahe an der Alltagssprache stehenden Redegestus aus (aumlhnlich wie der spaumlte Wittgen-stein) waumlhrend Conant aus der weiteren Perspektive ironische Zuumlge be-schreibt87 Gemeinsam ist den resoluten Lesern daszlig sie Wittgensteins Saumltze in der Abhandlung auf doppelte Weise auffassen Sie unterscheiden an vielen Stellen einen buchstaumlblichen naheliegenden Sinn der sich bei naumlherer Be-trachtung als inkohaumlrent erweist und der so zerfaumlllt88 Daher wird in ihrer

tungscharakter eingeklammert die Klaumlrungsfunktion jedoch trotzdem ermoumlglicht wird Er gewinnt so eine Kategorie von Saumltzen die raquounsinnig aber bedeutungsvolllaquo (176) sind

L Gunnarsson Wittgensteins Leiter Bodenheim 2002 greift einen Gedanken Conants auf daszlig wir naumlmlich den Hauptteil des Buches wegwerfen und den Rahmen behalten sollen (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 286) und entwickelt daraus die Fik-tion es waumlre tatsaumlchlich nur das Vorwort und der Schluszlig der Abhandlung erhalten ndash und will daraus den Gehalt des Buches ohne Verlust rekonstruieren Diese Veranschaulichung zeigt besonders klar auf wie verfehlt dieser Ansatz ist wenn man ihn auf die konkrete Interpretationspraxis bezieht

87 Die Parallele zwischen Wittgenstein und Kierkegaard scheint in zentralen Punkten gerade nicht zu bestehen denn Wittgenstein distanziert sich gerade nicht von seinem Buch sondern erklaumlrt seine Auffassungen fuumlr defi nitiv richtig und alternativlos ganz ent-gegen dem verwirrenden Spiel Kierkegaards mit unterschiedlichen Pseudonymen und Perspektiven Ein passenderer Vergleich waumlre etwa mit Hume moumlglich der am Ende seiner Untersuchung uumlber die Prinzipien der Moral (Abschnitt 9 Teil 1) seine Ergebnisse fuumlr derart einfach klar kohaumlrent und uumlberzeugend haumllt daszlig dem nichts hinzuzufuumlgen ist so daszlig er selbst geradezu in Versuchung kommen koumlnnte dogmatisch davon uumlberzeugt zu sein

88 So fuumlhrt Diamond (in Ethics wie Anm 37) folgende Beispiele dafuumlr an 1 das woruuml-ber man schweigen muszlig (aber das kann es doch nicht geben weil es kein raquodaruumlberlaquo ist S 149) 2 die Saumltze der Abhandlung die zu verstehen seien (oder doch raquoer selbstlaquo wie Witt-genstein dann uumlberraschenderweise sagt S 149) 3 die Anfangssaumltze uumlber die Welt (aber daruumlber kann es doch keine Saumltze geben S 160) 4 der Schein daszlig ab 64 Saumltze uumlber Ethik

122 Wolfgang Kienzler PhR

Perspektive das Buch durchgehend doppelboumldig und loumlst sich schlieszliglich in Nichts auf wobei in der Aufl oumlsung gerade die Absicht des Buches bestehen soll89 Demgegenuumlber kann festgehalten werden daszlig Wittgenstein nir-gends von Ironie spricht wohl aber davon daszlig er das Wesentliche in Kuumlr-ze klar ausdruumlcken will Eine wichtige Differenz innerhalb der resoluten Lesart liegt weiter darin welche Wichtigkeit man den eher technischen Aspekten der Abhandlung zuschreibt Ricketts und Goldfarb sehen viele Zuumlge des Buches von technischen Erwaumlgungen motiviert und gepraumlgt waumlhrend Diamond und Conant den Sinn der symbolischen Notation vor allem darin sehen wesentliche Unterschiede klarzustellen90

Das Motto erklaumlrt daszlig man raquoalles was man weiszliglaquo schlieszliglich raquoin drei Worten sagenlaquo kann Viele der scheinbaren Widerspruumlche und Doppelt-heiten die resolute Leser beobachten koumlnnten sich von daher moumlglicher-weise der Absicht verdanken im Buch logisch praumlzise Saumltze zu erwarten eine Absicht die bestaumlndig getaumluscht wird91 Wuumlrde man die Saumltze eher als Instrumente verstehen die allmaumlhlich entsprechend den Stufen der Lei-ter zur Klarheit anleiten ohne daszlig der Leser in die selbstrefl exive Geste verwickelt werden soll dann koumlnnte eine einfachere und klarere Lesart entstehen die auch mehr Sinn fuumlr den Zusammenhang und die spezi-fi schen Darstellungsmittel des Buches entwickeln wuumlrde ndash wenn denn eine solche zusammenhaumlngende Erlaumluterung als gemeinsames Ziel fest-staumlnde92 Auch Fragen der Textkritik die derzeit nur sehr sporadisch ge-streift werden koumlnnten dann eine groumlszligere Rolle spielen

Wolfgang Kienzler (ChemnitzJena)

vorkommen (die es doch gar nicht geben kann S 164) 5 der Schein daszlig im Buch Saumltze raquouumlber Logiklaquo vorkommen (die es ebenfalls nicht geben kann S 164) In allen Beispielen kann man die Situation natuumlrlicher so darstellen daszlig man die Saumltze der Abhandlung von vornherein zwar woumlrtlich aber nicht buchstaumlblich nimmt sondern sich von ihren zur Klarheit die sich erst allmaumlhlich einstellen kann fuumlhren laumlszligt

89 Diese Doppeltheit der Lesart ist den resoluten Lesern und ihren Kritikern gemein-sam sie ist aber keineswegs selbstverstaumlndlich und widerspricht dem Grundgedanken der Klarheit

90 Dies ist das Thema von Diamond What Does a Concept-Script Do in The Realistic Spirit S 115ndash144 Sie sieht darin ein raquoWerkzeug geistiger Befreiunglaquo (143) deutet damit aber tendenziell wieder einen Gedanken der Abhandlung in Frege hinein der zunaumlchst die Umgangssprache ganz zugunsten der exakteren Begriffsschrift verbannen wollte

91 In weiten Teilen der resoluten Beitraumlge kann man auch eine gewisse Vergegenstaumlnd-lichung mancher von Wittgenstein verwendeter Woumlrter wahrnehmen die dazu fuumlhren daszlig die Rede von raquoUnsinnlaquo raquoErlaumluterunglaquo u a zunaumlchst gegenstaumlndlich miszligverstanden und anschlieszligend als Gegenstaumlndlichkeit leugnend gedeutet wird Eine Beachtung von Wittgensteins ungezwungenem und unterminologischem Sprachgebrauch koumlnnte viele dieser Schleifen uumlberfl uumlssig machen

92 Das Buch von McGinn kann dazu als erster wichtiger konstruktiver Schritt angese-hen werden auch wenn es insgesamt etwas zu additiv verfaumlhrt

Page 11: Neue Lektüren von Wittgensteins Logisch-Philosophischer ... · 10 E. Stenius : Wittgensteins Traktat [1960], Frankfurt/M. 1969, nennt den Schluß »keine echte Verdammung [. . .]

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(150) Die Saumltze und damit das Buch sollen als vollstaumlndig unsinnig er-kannt werden ndash davon ausgenommen sind allerdings die Bemerkungen die den Rahmen bilden und in denen Wittgenstein einige Hinweise dar-uumlber gibt wie das Buch aufzufassen ist (S 149)40 Es gibt dabei keine lo-gische wesentliche Unterscheidung zwischen zwei Arten von Unsinn sol-chem der etwas Richtiges zeigt und solchem der schlicht Ausdruck einer Verwirrung ist (wie die Saumltze der traditionellen Metaphysik)41 Daszlig man-che unsinnigen Saumltze als Erlaumluterungen dienen koumlnnen ist diesen Saumltzen ganz aumluszligerlich (S 159) sozusagen eine Zufaumllligkeit hat aber nichts mit einem moumlglichen Gehalt dieser Saumltze zu tun Dies wendet sich gegen eine entsprechende Unterscheidung bei Anscombe zwischen raquoden Dingen die wahr waumlren wenn sie gesagt werden koumlnnten und denen die falsch wauml-ren wenn sie gesagt werden koumlnntenlaquo42 Man kann nach Diamond von solchen Unsinnsarten nicht sprechen Eine Konsequenz dieser Radikalitaumlt liegt nun darin daszlig die gesamte innere Struktur der Abhandlung verloren-zugehen scheint Wenn alles Unsinn ist was kann dann noch Unterschiede der einzelnen Passagen ausmachen Genau dies entspricht gerade einem zentralen Motiv von Diamonds Ansatz So verweist sie etwas darauf daszlig im Buch zwar Bemerkungen mit ethischer Thematik vorkommen daszlig aber in einem tieferen Sinne jeder Satz (oder das gesamte Buch) einen ethischen Charakter hat indem es darin eine bestimmte Haltung aus-druumlckt ganz unabhaumlngig vom gerade verwendeten Vokabular Diese Auf-fassung daszlig zentrale philosophische Einsichten vom jeweils verwendeten Vokabular und den aufgestellten Behauptungen weitgehend unabhaumlngig sind weil es nicht auf das Vokabular sondern auf den Gebrauch ankommt ist ein Kernstuumlck in Diamonds Ansatz43 Ihr geht es vor allem anderen darum Wittgensteins philosophische Haltung aufzuklaumlren indem sie spe-zifi sche Passagen die Miszligverstaumlndnisse verursachen erklaumlrt Die Absicht

40 Diese radikal klingende Behauptung ist insofern miszligverstaumlndlich als Diamond nicht alle Saumltze der Abhandlung sozusagen per defi nitionem fuumlr unsinnig erklaumlren will ihr geht es vielmehr vor allem darum klarzustellen daszlig wenn ein spezifi scher Satz unsinnig ist er es auch wirklich ist und daszlig es inkonsequent ist sozusagen einen raquoSinn zweiter Ordnunglaquo einzufuumlhren

41 Die starke Konzentration der Diskussion auf Fragen von raquoUnsinnlaquo uumlbersieht haumlufi g daszlig Wittgenstein Unsinn ausgesprochen liebte Einer seiner Lieblingsautoren war Lewis Carroll auf den er haumlufi ger in seinen Schriften anspielt oder verweist und er selbst sam-melte uumlber Jahrzehnte Beispiele besonders absurder Zeitungsartikel Vgl dazu jetzt Brian McGuinness (Hg) Wittgenstein in Cambridge Letters and Documents Oxford 2008 S 192 und 468 auszligerdem Brian McGuinness In Praise of Nonsense (unveroumlffentlicht)

42 Anscombe Introduction (Anm 9) S 162 zit von Diamond Ethics S 15843 Sie fuumlhrt dies an Beispielen des spaumlten Wittgenstein aus der Mathematik (u a den

erwaumlhnten Vorlesungen) und der Ethik in ihrem Beitrag zum Cambridge Companion naumlher aus und erkennt ein solches Vorgehen auch in der Abhandlung und bei Frege wieder

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Wittgensteins Schriften als Ganze zu interpretieren tritt demgegenuumlber ganz in den Hintergrund Insofern ist 654 auch wieder nicht uumlberzube-werten sondern dient nur als ein besonders markanter Ausgangspunkt um verfehlte Auffassungen abzuwehren44 So ist die Abhandlung fuumlr Dia-mond kein Buch uumlber Logik denn ein solches kann es streng genommen ebenfalls nicht geben Die Logik ist vielmehr raquodem was Saumltze sind bereits intern eingeschriebenlaquo (S 151) Anders gesagt Wir koumlnnen an jedem be-liebigen Satz wenn wir nur richtig hinsehen alle Elemente der richtigen logischen Auffassung aufweisen und daher ist jeder Versuch diese vor-gaumlngige Struktur explizit zu machen immer etwas Nachtraumlgliches das schon raquozu spaumlt kommtlaquo und dadurch stets etwas Schiefes eben Unsinniges an sich hat Der eigentliche Ausdruck von Wittgensteins philosophischen Auffassungen sind daher nicht irgendwelche Inhalte seines Buches son-dern die Art wie sie ausgedruumlckt sind (S 170)

Eine besondere Eigenheit fast aller Arbeiten Diamonds ist ihre sehr spe-zifi sche Ausrichtung auf eine je besondere Fragestellung In vielen Faumlllen greift sie charakteristische Fehleinschaumltzungen oder auch nur miszliggluumlckte Formulierungen anderer Autoren auf und erlaumlutert geduldig sorgfaumlltig und oft in wiederholten bisweilen kreisenden Gedankengaumlngen welche Art von Fehleinschaumltzung vorliegt aus der die verungluumlckte Formulierung hervorgegangen ist Ihre Klaumlrungsarbeit bezieht sich fast immer auf einen konkreten Fall nicht auf eine allgemeine These Dadurch sperren sich ihre Texte gegen Lesegewohnheiten die auf Thesen und Argumente oder auf systematische Darlegungen und einen hohen Allgemeinheitsgrad hin ori-entiert sind Besonders instruktiv ist ihre Aufklaumlrung eines Beispiels von Anscombe (raquorsaquoJemandlsaquo ist nicht der Name von jemandemlaquo) in dem sie einen Versuch beleuchtet mit dem Anscombe ihrerseits im Sinne des fruumlhen Wittgenstein eine ganz elementare sprachlogische Klarstellung zu treffen versucht die den Unterschied zwischen Sagen und Zeigen nicht in allge-meiner (raquometaphysischerlaquo) sondern in ganz spezifi scher logischer Absicht betrifft45 Ihr Ergebnis lautet daszlig die Logik und damit die Gebrauchswei-sen von Ausdruumlcken wie raquojemandlaquo im einzelnen sorgfaumlltig beschrieben werden muumlssen daszlig man dies nicht mit einem Satz allein klarstellen kann

44 Die Erfolgsgeschichte der resoluten Lesart haumlngt eng damit zusammen daszlig man das ganze Buch als raquobloszligen Unsinnlaquo auffassen will bei Diamond liegt jedoch genau besehen keine Interpretation des gesamten Buches vor Sie will vielmehr nur einige Kernpunkte klarstellen verknuumlpft diese Klarstellungen allerdings mit einigen allgemeiner klingenden Zusatzbemerkungen

45 Diamond Saying and Showing (wie Anm 12) In diesem Beispiel bleibt jedoch An-scombe die die Frage in einem Streich entscheiden und klaumlren will dem Geist des fruumlhen Wittgenstein naumlher als Diamond mit ihrer sorgfaumlltigen Beschreibung der Sprachspiele mit raquojemandlaquo

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Damit will Diamond einen Beitrag dazu leisten die raquophilosophi sche Klauml-rung zu klaumlrenlaquo (to clarify philosophical clarifi cation)46

Das Ziel ihrer Arbeit ist jeweils die Klaumlrung unuumlbersichtlicher begriff-licher Verhaumlltnisse um so zu einer natuumlrlichen raquorealistischenlaquo Sicht zu kommen47 An Paradoxien ist sie grundsaumltzlich nicht interessiert auszliger insofern es darum geht deren Quellen aufzudecken sie als Symptome von begriffl ichen Unklarheiten zu sehen

Charakteristisch fuumlr Diamonds Vorgehensweise ist auch eine Uumlberle-gung die von einer Bemerkung Kripkes ihren Ausgang nimmt Einmal schreibt Wittgenstein raquoMan kann von einem Ding nicht aussagen es sei 1 m lang noch es sei nicht 1 m lang und das ist das Urmeter in Parislaquo (PhU 50) Kripke nennt diese Behauptung die aus dem Zusammenhang gerissen etwas entschieden Paradoxes hat offensichtlich falsch ohne je-doch den genauen Zusammenhang zu beachten48 Genau darauf kommt es Diamond aber an und sie erlaumlutert detailliert hartnaumlckig und zielstrebig

46 Ebd S 15347 Diamonds Grundanliegen kann man auch so formulieren daszlig sie an die Stelle von

philosophischen raquoPhantasienlaquo die aufs Allgemeine eines zurechtgestellten Sprachgebrauchs gehen eine realistische Einstellung die sich vor allem um Einzelheiten kuumlmmert setzt (The Realistic Spirit in der gleichnamigen Sammlung S 39ndash72)

48 Tatsaumlchlich ist die Bemerkung Kripkes weitaus weniger beilaumlufi g als Diamond sugge-riert Er schreibt raquoWittgenstein sagt etwas sehr Verwirrendes hieruumlber Er sagt raquoMan kann von einem Ding nicht sagen es sei 1 m lang noch es sei nicht 1 m lang und das ist das Urmeter in Paris ndash Damit haben wir aber diesem natuumlrlich nicht irgendeine merkwuumlrdige Eigenschaft zugeschrieben sondern nur seine eigenartige Rolle im Spiel des Messens mit dem Metermaszlig gekennzeichnetlaquo (PhU 50) Das scheint aber in der Tat eine sehr raquomerk-wuumlrdige Eigenschaftlaquo fuumlr einen Stab zu sein Ich denke Wittgenstein muszlig sich hier irren Wenn der Stock 3937 Inches lang ist (ich nehme an daszlig wir einen anderen Standard fuumlr Inches haben) warum ist er nicht 1 m lang Wir wollen jedenfalls annehmen daszlig Witt-genstein sich irrt und daszlig der Stab 1 m lang istlaquo (Kripke Naming and Necessity 1980 Name und Notwendigkeit FrankfurtM 1981 S 65 f) Diamond weist zwar zu Recht darauf hin daszlig Kripkes theoretisches Vokabular nur uumlber Eigenschaften (er diskutiert Fragen von Referenz und sprachlicher Bedeutung separat) nicht aber uumlber raquoStellungen im Sprachspiellaquo verfuumlgt und daszlig er deshalb zur tatsaumlchlich merkwuumlrdigen Deutung des Satzes als raquokontin-gente Wahrheit a priorilaquo (S 68) kommt (Dies entspricht wiederum in einigem der ja auch raquoeigenartigenlaquo Rolle im Sprachspiel) Beim Ausfuumlhren des Beispiels gegen Wittgenstein argumentiert Kripke jedoch intern vollkommen konsistent und faktisch auch an einem Sprachspiel orientiert wenn er (in Klammern) annimmt daszlig wir uumlber einen eigenen unabhaumlngigen Maszligstab fuumlr englische Zoll verfuumlgen Dann naumlmlich kann man das Urmeter ohne weiteres wie jeden anderen Gegenstand auch (auszliger in diesem Spiel dem raquoUr-Yardlaquo das Kripke jedoch nicht erwaumlhnt ndash und insofern hat Kripke die Problematik nur geschickt verschoben) abmessen und das Ergebnis anschlieszligend umrechnen Damit nimmt Kripke Wittgensteins Bemerkung das Paradoxe fuumlhrt dabei allerdings (unkommentiert) einen raquoDoppelstandardlaquo der Messung ein der nicht weiter geklaumlrt wird Die Sorgfalt in Kripkes Ausfuumlhrungen legen daher nahe die Rede davon daszlig Wittgenstein raquoirrelaquo nicht als Hin-weis auf einen einzelnen zufaumllligen Fehler sondern auf eine insgesamt verfehlte Auffas-sung zu verstehen

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wie Wittgenstein zu seiner Aumluszligerung kommt und inwiefern die Institution des Messens davon abhaumlngt daszlig man Maszligstaumlbe einfuumlhrt mit denen dann andere Objekte gemessen werden49 Da Laumlngenangaben entsprechend im-mer auf den Vergleich zu einem Maszligstab bezogen sind entsteht die kuriose Situation daszlig die Laumlnge des Urmeters durch Anlegen an sich selbst be-stimmt werden muumlszligte Nach Kripke ist dies ein Fall von Identitaumlt d h im Fall der Identitaumlt kann man auch ohne jede Messung sagen daszlig das betref-fende Objekt 1 m lang ist (oder eben raquoso lang wie es istlaquo ndash denn wie lang sollte es sonst sein) Damit aber gleicht er den Fall der Messung an den Fall der bloszligen Festsetzung in dem gar keine Messung erfolgt und genau genommen auch keine Messung moumlglich ist (denn man kann keinen Maszlig-stab an sich selbst anlegen weil dazu mindestens zwei Objekte benoumltigt werden) an und uumlbersieht die begriffl iche Verschiedenheit beider Faumllle Durch dieses Beispiel beleuchtet Diamond vor allem den Begriff der Gleichheit bzw Identitaumlt der von Kripke und weiten Teilen der philoso-phischen Tradition als unproblematischer absoluter Fixpunkt in Anspruch genommen wird den Wittgenstein aber einer fruumlhen Kritik (553 ff) und einer spaumlteren genauen Beschreibung (PhU 251 ff) unterzogen hat Zur Aufklaumlrung ist es noumltig den Ort den die Rede von raquogleichlaquo und raquoiden-tischlaquo in der Sprache hat genauer zu beleuchten und zu beschreiben an-statt ihn als quasi sprachunabhaumlngig gegeben einfach vorauszusetzen50

Diamonds Arbeit zielt so durchgehend auf die Klaumlrung scheinbar para-doxer oder merkwuumlrdiger Behauptungen ab und sie sieht ihr Ziel erst dann erreicht wenn aufgezeigt ist daszlig im Sprachspiel alles mit ganz ge-woumlhnlichen Dingen zugeht Paradoxe Behauptungen haben darin keinen Ort Auch ihre Anmerkungen zum Schluszlig von Wittgensteins Abhandlung sind daher systematisch als solche Aufklaumlrungen (etwa der paradoxen Re-deweise von Saumltzen die raquowahr waumlren wenn sie gesagt werden koumlnntenlaquo) zu verstehen auch wenn sie stellenweise selbst sehr uumlberraschend klingen Ihr Grundgedanke lautet jedoch Auch raquounsinniglaquo ist ein ganz gewoumlhn-liches Wort welches Wittgenstein verwendet und wenn er es verwendet dann meint er es auch so wie er es sagt51

49 Diamond betont mit (dem spaumlten) Wittgenstein die grundlegende Bedeutung von sprachlichen Institutionen waumlhrend Kripke konsequent davon absieht und alles als Fakten (unterschiedlicher Art) interpretiert

50 Kripkes Auffassung der Identitaumlt ist sprachunabhaumlngig und sozusagen raquorein objektivlaquo angelegt Fuumlr ihn ist jeder Gegenstand notwendigerweise mit sich selbst identisch und weist eine bestimmte raquoobjektivelaquo Laumlnge auf Wittgenstein dagegen weist darauf hin daszlig auch zum Wort raquoidentischlaquo ein Sprachspiel gehoumlrt das diesem Wort erst seine klare Ver-wendung gibt

51 Einiges spricht jedoch auch dafuumlr daszlig diese Auffassung eher dem spaumlten Wittgen-stein entspricht und daszlig in 654 raquounsinniglaquo gerade nicht im alltaumlglichen Sinn verwendet wird

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5 Es ist bei dieser sehr punktuellen Methodik um so bemerkenswerter und selbst geradezu paradox daszlig Diamonds Ansatz der Ausgangspunkt einer ganzen Richtung der Wittgensteininterpretation und noch dazu der Abhandlung geworden ist Diese Entwicklung hat viel mit der Arbeit von James Conant zu tun der dem Ansatz eine allgemeinere und leichter ein-zuordnende Form gegeben und das Zentrum der Aufmerksamkeit noch viel staumlrker als Diamond auf die Abhandlung und ihren Schluszlig gelenkt hat Conant stellt Wittgensteins Text in einen weiteren Rahmen indem er etwa Wittgenstein mit Kierkegaard Carnap und anderen Autoren ver-gleicht und indem er sich um die Historiographie der Tractatusdeutungen und insbesondere der impliziten Voraussetzungen dieser Deutungen in einer Weise bemuumlht daszlig die resolute Lesart als natuumlrlicher Abschluszlig einer Stufenfolge erscheint Dadurch entsteht der Eindruck daszlig die raquoresolutelaquo Deutung auf uumlberlegene Weise alle vorangegangenen Deutungsversuche in sich aufnimmt und ihnen den gehoumlrigen Platz anweist so daszlig kein sys-tematischer Raum mehr fuumlr Gegenvorschlaumlge bleibt52

In seiner bisher umfangreichsten Darstellung53 gibt Conant zunaumlchst eine Rekonstruktion der rationalen Genese der bisherigen Lesarten die er die raquopositivistischelaquo und die raquoUnsagbarkeitslesartlaquo (ineffability reading) nennt Als deren gemeinsame Grundvoraussetzung arbeitet er die Annahme her-aus daszlig es etwas wie raquogehaltvollen Unsinnlaquo (substantial nonsense) in der Abhandlung geben muumlsse Er zeigt dann auf daszlig und wie sich beide Auf-fassungen gegenseitig bedingen und inwiefern keine von beiden zu einer stabilen und konsequenten (eben raquoresolutlaquo durchhaltbaren) Position fuumlhrt Tatsaumlchlich setzt sich Conant fast ausschlieszliglich mit der von ihm als Stan-dardinterpretation (S 394) angesehenen Lesart und ihrem Hauptvertreter Peter Hacker auseinander54 Die Kernthematik des Aufsatzes der die Me-

52 Der Gestus erinnert stellenweise an Hegels Vorgehen Conant ist auch an anderer Stelle mit weitreichenden Sortiervorschlaumlgen hervorgetreten so etwa in bezug auf Spiel-arten des Skeptizismus wo er eine Cartesische und eine Kantische Spielart des Skeptizis-mus und damit der Philosophie uumlberhaupt unterscheidet (Varieties of Skepticism in D McManus (Hg) Wittgenstein and Skepticism London 2004)

53 James Conant The Method of the Tractatus in Reck From Frege to Wittgenstein daran orientiert sich das Folgende Mehrere Aufsaumltze Conants ergaumlnzen diesen Beitrag noch ndash Durch haumlufi ge Verweise auf einander einen gemeinsamen Aufsatz sowie an beide gerich-tete Kritik ist aumlhnlich wie in der Kopenhagener Deutung der Quantenphysik der Ein-druck entstanden als handele es sich um ein und dieselbe Auffassung Dieser Eindruck taumluscht jedoch in einigen wichtigen Punkten ebenso wie im Fall der Kopenhagener Deu-tung wie aus dem Folgenden klar werden wird

54 Tatsaumlchlich liegt der systematische Schwerpunkt der Kontroverse zwischen ConantDiamond und Hacker auf der Interpretation der Philosophie des spaumlten Wittgenstein die von beiden Parteien als der eindeutig uumlberlegene und bis heute unuumlberbotene philoso-phische Ansatz angesehen wird Diese grundsaumltzliche Debatte um die Deutung von Witt-gensteins Spaumltphilosophie hat erst in Ansaumltzen besonders in einigen Aufsaumltzen von Dia-

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thode der Abhandlung zu klaumlren beansprucht kreist um die Leitbegriffe raquoErlaumluterunglaquo und raquoUnsinnlaquo (S 378) Wie Diamond fi ndet Conant dies bei Frege vorgebildet wobei er dessen Verfahren so zusammenfaszligt daszlig nach Frege raquodie Erlaumluterung logisch einfacher Ausdruumlcke wie Begriff und Gegenstand unvermeidlicherweise mit (dem geschickten Einsatz von) Unsinn arbeiten muszliglaquo (S 387) In der Deutung dieses Verfahrens durch Frege sieht Conant jedoch eine Spannung denn Frege glaubt raquodaszlig er in solchen Faumlllen etwas sagen will was im strengen Sinn nicht gesagt werden kann und druumlckt sich dann so aus daszlig seine Woumlrter einen Gedanken auszudruumlk ken versuchen damit aber notwendigerweise scheiternlaquo (S 391) Damit vertritt Frege aumlhnlich wie Geach und Hacker selbst eine substan-tielle Auffassung von Unsinn55 Nach Conant liegt die Hauptabsicht von Wittensteins Abhandlung nun genau darin eine solche substantielle Auffas-sung von Unsinn nicht zu vertreten sondern zu uumlberwinden Die Unter-scheidung zwischen sinnvollen und nicht sinnvollen Saumltzen liegt nach Conants Deutung nun praumlziser gefaszligt darin raquoEinen Satz als sinnvoll wahr-nehmen bedeutet daszlig man im Satzzeichen das Satzsymbol wahrnimmt Einen Satz als Unsinn wahrzunehmen bedeutet daszlig man im Zeichen kein Symbol erkennen kannlaquo (S 404) Ein Satz ist also dann raquobloszliger Unsinnlaquo wenn eine Zeichenreihe raquokeine erkennbare logische Syntax hatlaquo (S 400) Damit gibt es aber streng genommen keine raquounsinnigen Saumltzelaquo sondern nur Zeichenreihen die auf den ersten Blick wie Saumltze aussehen bei denen aber der Versuch in ihnen eine logische Form aufzufi nden scheitert Die Rede von raquoUnsinnlaquo bezieht sich also nicht auf die Saumltze oder Zeichenrei-hen selbst sondern allein auf unser Scheitern Zentral wird dadurch der Begriff des raquoSymbolslaquo Ein Symbol ist ein Zeichen zusammen mit einer logisch durchsichtigen Verwendungsweise (S 414) Die bekannte Sprach-kritik der Abhandlung (40031) erweist sich so nicht als Versuch die sinn-vollen von den unsinnigen Zeichen(reihen) durch ein Sinnkriterium zu trennen sondern raquodie Quelle des scheinbaren Unsinns liegt in unserer Beziehung zum sprachlichen Zeichen nicht im sprachlichen Zeichen selbstlaquo (S 419) Die Philosophie ist entsprechend Wittgensteins Diktum

mond begonnen Als zentralen Gegensatz zwischen der eigenen Position und derjenigen Hackers formuliert Conant daszlig nach Hacker der fruumlhe Wittgenstein an unausdruumlckbare Wahrheiten glaubte waumlhrend der spaumlte dies als Irrtum durchschaute waumlhrend Wittgen-stein tatsaumlchlich schon in der Abhandlung die darin vorausgesetzte substantielle Auffassung von Unsinn ablehnte Weiter glaubt er in Hackers Deutung des spaumlten Wittgenstein raquoeine verkleidete Fassung der Auffassung die er dem fruumlhen Wittgenstein zuschreibtlaquo zu erken-nen was der wahren Radikalitaumlt dieses Denkens nicht gerecht werde (Conant Two Con-ceptions of Die Uumlberwindung der Metaphysik in Wittgenstein in America (Anm 17) S 13ndash62 hier S 38 Anm 42)

55 In diesem Punkt ist Conant exegetisch weitaus vorsichtiger als Diamond die weniger Scheu hat Frege eine systematisch uumlberzeugende Konzeption zuzuschreiben

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raquokeine Lehre sondern eine Taumltigkeitlaquo Diese Taumltigkeit besteht nach Con-ant darin daszlig eine Illusion von Sinn aufgebaut und am Ende zerstoumlrt wird Das Ziel des Buches ist daher raquonicht eine Einsicht in metaphysische Zuumlge der Wirklichkeit sondern in die Quellen der Metaphysiklaquo (S 421) Nach Conant gibt es im Text nur raquo(scheinbar) eine Lehre uumlber raquodie Gren-zen des Denkenslaquolaquo (S 424) tatsaumlchlich aber sind raquodie Erlaumluterungen des Autors nur dann erfolgreich wenn wir den Haupttext als Unsinn erken-nenlaquo (S 424) Conants Darstellung verleiht der resoluten Lesart dadurch daszlig er aufzeigt wie die grundlegenden Spannungen in den fruumlheren Deu-tungsansaumltzen aufgeloumlst werden koumlnnen den Anschein einer teleologischen Zwangslaumlufi gkeit Nicht zufaumlllig spielt daher die fortgesetzte Auseinan-dersetzung mit der raquoUnsagbarkeitslesartlaquo eine zentrale Rolle in seinen Ausfuumlhrungen Ein nicht zu unterschaumltzender Teil der Anziehungskraft der resoluten Lesart liegt genau darin daszlig sie den einzigen konsistenten wenn auch zunaumlchst uumlberspitzt aber damit zugleich auch brillant wirken-den Ausweg aus den Bemuumlhungen um ein Verstaumlndnis der Logisch-Philoso-phischen Abhandlung zu bieten scheint56

Conants umfangreicher Beitrag zur Festschrift fuumlr Cora Diamond57 verstaumlrkt die genannten Tendenzen noch Dies zeigt sich bereits an der Form Unter dem Titel raquoA Recently Discovered Manuscriptlaquo wird ein gewisser raquoJohannes Climacuslaquo58 als Herausgeber eines Aufsatzes von Con-ant eingefuumlhrt der in Gestalt einer fi ktiven theologischen Auseinanderset-zung um die richtige Wittgensteinorthodoxie eigene (ziemlich dogma-tisch-uneinsichtsvolle) Kommentare zu den einzelnen Teilen von Conants Text abgibt Dieser Text selbst greift schon im Titel und uumlber weite Stre-cken ironisch den Ton theologischer Kontroversen auf Thema der Arbeit ist die umstrittene raquometa-wittgensteinschelaquo Frage ob Anhaumlnger der reso-luten Lesart (die noch einmal zusammenfassend vorgestellt wird) uumlber-haupt uumlber den Spielraum verfuumlgen um einen wesentlichen Unterschied zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein herauszuarbeiten (S 32) Diese Frage geht Conant dialektisch an indem er drei verschie-dene Listen praumlsentiert eine erste (S 49) die scheinbare Lehren der Ab-handlung enthaumllt die aber tatsaumlchlich so Conant Auffassungen sind vor

56 Diese Zwangslaumlufi gkeit tritt in Diamonds Arbeiten weitaus weniger hervor Fuumlr sie ist die Abhandlung ein reiches Buch das zahlreiche ausgesprochen weiterfuumlhrende und faszinierende Passagen enthaumllt die philosophisch weiterhelfen nicht ein Werk das sozu-sagen unter einer Drohung lebt und dessen Leser nach einem Ausweg suchen

57 James Conant Mild-Mono-Wittgensteinianism in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 29ndash142

58 Dieses von Kierkegaard entlehnte Pseudonym verwendet Conant seinerseits in einem Zitat aus der Abschlieszligenden unwissenschaftlichen Nachschrift (31) mit der Bemerkung daszlig Ironie und Ernsthaftigkeit einander nicht ausschlieszligen In fruumlheren Texten hatte Conant raquoClimacuslaquo mit raquoLeiterlaquo uumlbersetzt (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 291)

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denen Wittgenstein seine Leser warnen will eine zweite mit Auffas-sungen die Wittgenstein in der Abhandlung natuumlrlich klar und unkontro-vers erschienen die aber dennoch Ausdruck philosophischer Ansichten sind die er selbst spaumlter als problematisch ansah (S 83)

Damit ist fuumlr eine Differenz zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein ein Spielraum gewonnen der dann durch eine dritte Liste wieder in einen ironischen Schwebezustand gebracht wird indem Conant Saumltze praumlsentiert die man gleichermaszligen dem fruumlhen wie dem spaumlten Wittgenstein zuordnen kann bisweilen indem leichte Variationen des Wortlauts mitgefuumlhrt werden wie raquoDie Logik (Grammatik) muszlig fuumlr sich selber sorgenlaquo (S 106) Conant spricht von raquoAugenblicken atemberau-bender Kontinuitaumltlaquo (S 108) gerade dort wo Wittgenstein die Konzeption der Abhandlung kritisiert (PhU 97ndash133) Als Ergebnis der Untersuchung bleibt so der Eindruck von gleichzeitig auszligerordentlicher Kontinuitaumlt und deutlicher Diskontinuitaumlt in Wittgensteins philosophischer Entwicklung Auch daszlig eine resolute Lesart eher raquoein Programm um das Buch zu lesenlaquo (111 Anm 4) ist als tatsaumlchlich eine durchgehende Lektuumlre ist deutlich ausgesprochen59

Der philosophische Ansatz und Stil Conants ist dem von Diamond in vie-ler Hinsicht entgegengesetzt Waumlhrend Diamond von konkreten Einzelfaumll-len ausgeht und diese im Hin- und Hergehen aufzuklaumlren versucht geht Conant ganz von auszligen mit einem umfassenden Blick in Beziehung zur gesamten Philosophiegeschichte an die Fragen heran Ein bevorzugter Vergleich ist derjenige Wittgensteins mit Kierkegaard insbesondere in der Frage des Verhaumlltnisses des Autors zu seinen Buumlchern60 Man koumlnnte gera-

59 In der gemeinsam verfaszligten Arbeit On Reading The Tractatus Resolutely Reply to Me-redith Williams and Peter Sullivan in M KoumllbelB Weiss Wittgensteinrsquos Lasting Signifi cance London 2004 S 46ndash99 erlaumlutern Diamond und Conant einige Punkte ihres Ansatzes ge-genuumlber Versuchen das Buch als System von Behauptungen zu lesen (Williams) und gegen die Kritik ihre Lesart sei unvollstaumlndig letzteres mit dem Hinweis es handle sich bislang lediglich um ein Forschungsprogramm aber gerade nicht um ein Rezept das eine leichte und zusammenhaumlngende Lektuumlre ermoumlgliche (S 68) Peter Sullivan wird als der produk-tivste Kritiker bezeichnet weil er auf spezifi sche Inkonsistenzen hinweise (vgl die in Anm 64 genannte Arbeit) Sullivans eigene Deutungsvorschlaumlge bleiben jedoch eher tra-ditionellen ontologisch orientierten Ansaumltzen verhaftet (vgl What is the Tractatus About ebenfalls in KoumllbelWeiszlig S 32ndash45) Diese gemeinsame Arbeit verbleibt jedoch insge-samt auf einer sehr allgemeinen und wenig spezifi schen Ebene

60 So etwa Conant Putting Two and Two together Kierkegaard Wittgenstein and the Point of View for Their Work as Authors in T TessinM von der Ruhr (Hg) Philosophy and the Grammar of Religious Belief London 1995 S 248ndash331 Als Zusammenfassung schreibt Co-nant dort daszlig der fruumlhe Wittgenstein aumlhnlich wie Kierkegaard raquoden Leser in die Wahr-heit hineintaumluschen willlaquo zu welchem Zweck er raquoeine ausgefeilte Struktur scheinbarer Behauptungenlaquo verwendet (S 302) Fuumlr ein solches Verstaumlndnis gibt es bei Kierkegaard zahlreiche Hinweise bei Wittgenstein streng genommen keine er will alles raquoklar sagenlaquo

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dezu sagen daszlig sich Conant mehr fuumlr die Frage der Autorschaft als fuumlr das Werk selbst interessiert61 Es geht ihm darum den richtigen Blickwinkel auf das Werk zu gewinnen und den entwickelt er durch weitgespannte Ver-gleiche durch die Analyse der Selbstkommentare und zusaumltzlichen Erlaumlute-rungen Dabei scheint das Ziel vorrangig die Einordnung vorhandener Zu-gangsmoumlglichkeiten zu sein die er dann in eine systematische Ordnung bringt62 Diese Systematik verweist dann gewissermaszligen teleologisch auf eine einzige offene Moumlglichkeit als den richtigen Zugang zu einem Problem oder einem Text Waumlhrend Diamond also einzelne Miszligverstaumlndnisse auf-klaumlrt zieht Conant die groszligen orientierenden Linien63 Damit aber ergaumln-zen beide Ansaumltze einander wiederum in einem Maszlige daszlig sie von auszligen in aller Regel als eine Einheit angesehen werden Erst durch Conants Ord-nungsvorschlaumlge hat Diamonds Ansatz diejenige Uumlbersichtlichkeit und Handhabbarkeit gewonnen die eine breitere Wirksamkeit ermoumlglichen

Einmal schreibt er kritisch raquoDer Verkehr mit Autoren wie Hamann Kierkegaard macht ihre Herausgeber anmaszligend Diese Versuchung wuumlrde der Herausgeber des Cherubi-nischen Wandersmannes nie fuumlhlen noch auch der Confessionen des Augustin oder einer Schrift Luthers Es ist wohl das daszlig die Ironie eines Autors den Leser anmaszligend zu ma-chen geneigt istlaquo (Denkbewegungen [1931] FrankfurtM S 41)

61 In einem fruumlheren Aufsatz The Search for Logically Alien Thought Descartes Kant Frege and the Tractatus in Philosophical Topics 20 (1991) S 115ndash180 vergleicht Conant Witt-gensteins Vorgehen mit einem langen Witz bzw einer Parabel die ein absurdes Gespraumlch wiedergibt in dem ein Pole von einem Juden wissen will worin raquodas Geheimnis der Ju-denlaquo besteht und das nach allerhand Umwegen mit der Einsicht endet daszlig da raquokein Ge-heimnis istlaquo ndash aber so erfahren wir eben das raquoist das Geheimnislaquo (S 160)

62 Conants umfassende Perspektive geht mit einigen Zurechtstellungen bei der Inter-pretation einher die das Material entsprechend dem umfassenden Entwurf leicht umfor-men In seinem langen Aufsatz spricht er Wittgenstein eine besondere Konzeption von Klarheit zu die darin liegen soll daszlig man am Ende das Buch als unsinnig erkennt (374) er uumlbergeht dabei aber daszlig Wittgenstein gegenuumlber Russell unmittelbar auf den voumlllig neu-artigen Inhalt der logischen Konzeption verweist und dabei sogar das Wort raquoTheorielaquo ver-wendet als Ziel formuliert Wittgenstein auch nicht daszlig man bestimmte Konzeptionen als nur scheinbar konsistent erkennen soll (377) sondern daszlig man die Logik der Sprache ein-sehen lernt ohne ein Verstaumlndnis von 654 ist nach Conant kein Verstaumlndnis des Buches moumlglich (378) dies gilt aber angesichts der konzentrierten Form fuumlr jeden Satz des Buches wobei die Schluszligbemerkung eher selbstrefl exiv auf das Buch und die Darstellungsform Bezug nimmt als auf die bis dahin entwickelte Einsicht der gegenuumlber der bloszligen Selbstre-fl exion die Prioritaumlt einzuraumlumen waumlre die Woumlrter raquoUnsinnlaquo und raquoErlaumluternlaquo (378) sind entschieden nicht die Kernbegriffe des Buches zum einen kommen eher die Formen raquoun-sinniglaquo oder raquoes ist ein Unsinnlaquo vor nicht das Substantiv zum anderen sind viel eher raquoKlar-heitlaquo und raquoklarlaquo die zentralen Ausdruumlcke Carnap wird als derjenige hingestellt der nichts verstanden habe aber Wittgenstein hat gerade Carnap 1932 des Plagiats bezichtigt und Conant verkehrt Wittgensteins Aumluszligerung er koumlnne sich raquonicht denkenlaquo daszlig Carnap den Sinn des Buches raquoso ganz und gar miszligverstandenlaquo haben koumlnnte ins gerade Gegenteil und zitiert sie mehrfach (378 Anm 9 Anm 99 als Motto in Two Conceptions wie Anm 54)

63 Relativ haumlufi g verwendet Conant auch ganz traditionelle Ordnungsinstrumente wie raquoArtlaquo und raquoGattunglaquo (vgl Conant Method (Anm 53) S 435 Anm 43 436 Anm 48)

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Ein Punkt hat Kritiker besonders irritiert naumlmlich Diamonds und Co-nants Bestehen darauf daszlig der Text streng und konsequent stuumlckweise (piecemeal) gelesen werden soll Dies scheint mit der radikalen Grundten-denz nicht recht vereinbar oder die Radikalitaumlt doch stark abzuschwaumlchen ndash es koumlnnte aber dazu fuumlhren daszlig man das Gewicht der bisweilen daran angeknuumlpften allgemeineren Betrachtungen als wesentlich geringer anse-hen koumlnnte als es derzeit in aller Regel geschieht Tatsaumlchlich ist der stuumlckweise Zugang sehr charakteristisch fuumlr Diamonds Methode und die allgemein gehaltenen radikalen Thesen wirken in ihren Texten eher wie Fremdkoumlrper Die raquoTheselaquo von der notwendig stuumlckweisen Interpretation reduziert sich daher im Kern auf die wichtige aber unspektakulaumlre me-thodische Beobachtung daszlig es ohne Zweifel richtig ist daszlig man die Ab-handlung sorgfaumlltig langsam und schrittweise entschluumlsseln muszlig gerade damit man die einheitliche und uumlbergreifende Konzeption (und daran ist nichts stuumlckweise und zusammengebastelt) genau richtig auffassen kann

6 Tatsaumlchlich sind die Vertreter der resoluten Lesart insgesamt weit erfolgreicher in der Kritik konkurrierender Ansaumltze als in der Interpreta-tion des Textes selbst Ein groszliger Teil der Debatte wird in der Gestalt von Auseinandersetzungen um das richtige Verstaumlndnis bzw den Maszligstab fuumlr eine angemessene Interpretation gefuumlhrt Dies ist in gewissem Sinne fol-gerichtig denn ein Textverstaumlndnis im gewoumlhnlichen Sinn des Wortes kann es von einem im strengen Sinn unsinnigen Text ja kaum geben Die Debatte behandelt deshalb vorrangig Fragen wie die welches denn der raquoZweck des Unsinnslaquo sei64 Dazu hat Michael Kremer Vorschlaumlge entwi-ckelt die die ethische Dimension des Buches herausarbeiten65 Er zieht Vergleiche zu Wittgensteins Beschaumlftigung mit ethischen und religioumlsen Fragen etwa dem Neuen Testament und dem Gedanken daszlig wir einse-hen muumlssen daszlig wir die raquoSuche nach einer Rechtfertigung unseres Lebens aufgeben muumlssenlaquo (S 56) weil der Versuch einer solchen Selbstrechtferti-gung ein Akt des Hochmutes waumlre Als Ergebnis glaubt er festhalten zu muumlssen daszlig das Buch ein raquoknow-howlaquo kein raquoWissen-daszliglaquo vermittelt raquoDieses Buch und seinen Autor zu verstehen bedeutet zu lernen wie man lebtlaquo66 (S 62) In aumlhnlicher Weise deutet Kremer die Frage nach der

64 Michael Kremer The Purpose of Tractarian Nonsense in Nous 35 2001 S 39ndash73 Darauf reagiert Sullivan mit detaillierter Einzelkritik On Trying to be Resolute A Response to Kremer on the Tractatus in European Journal of Philosophy 10 (2002) S 43ndash78 (vor allem S 66ndash68 mit Hinweisen auf die spaumlrlichen Textbelege)

65 Fragen der Ethik spielen uumlberhaupt in den Arbeiten von Diamond Conant und an-deren resoluten Lesern eine groszlige Rolle was aber hier nicht im einzelnen verfolgt werden kann

66 Schon Diamond Ethics (Anm 37) S 169 spricht als Ziel an daszlig wir raquokeine falschen Anforderungen an die Welt stellenlaquo sollen

115Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

raquoWahrheit des Solipsismuslaquo dahingehend daszlig es darum geht den eigenen Stolz zu uumlberwinden67 Selbst die Frage nach dem raquoHauptproblem der Phi-losophielaquo naumlmlich der Unterscheidung von Sagen und Zeigen versucht Kremer so zu beantworten daszlig Wittgenstein vor allem vor der unberech-tigten und zu vorschnellen Anwendung dieser Unterscheidung warnt (und er will zeigen daszlig insofern diese Unterscheidung als Hauptproblem ange-sprochen wird Wittgenstein dieses Problem raquoloumlsenlaquo will)68 All diese Vor-schlaumlge lenken jedoch systematisch von einer tatsaumlchlichen Lektuumlre von Wittgensteins Buch eher ab

Innerhalb der resoluten Stroumlmung ist Juliet Floyd als radikale raquoJakobine-rinlaquo bezeichnet worden weil sie schon fuumlr den fruumlhen Wittgenstein gene-rell die Existenz einer einheitlichen Auffassung von Logik Bedeutung Sagen und Zeigen aber auch eines eindeutigen Ideals der Klarheit leug-net69 Sie nennt Wittgensteins Vorgehen dialektisch bzw refl ektierend (S 188) so daszlig Wittgenstein nicht auf eine einzelne Stoszligrichtung hin festzulegen ist Dadurch wird zum einen erneut die Moumlglichkeit in Frage gestellt den Text uumlberhaupt einigermaszligen einheitlich zu interpretieren zum anderen eroumlffnen sich Moumlglichkeiten relativ frei auch wieder kon-struktivere (S 187) Zuumlge festzustellen Wenn Floyd als Grundgegensatz der Deutungen die Frage betont ob man Wittgenstein so versteht als wolle er raquodie Endlichkeit oder expressive Begrenztheit der Sprache beto-nenlaquo oder ob er die raquooffene Entwicklung und Vielfalt menschlicher Aus-drucksmoumlglichkeitenlaquo (S 177) herausarbeiten will dann steht auch dies nur in einem eher lockeren Bezug zum Text Genau an dieser Stelle setzen die wichtigsten Kritiker an

7 Als prominentester und heftigster Kritiker ist Peter Hacker hervor-getreten70 Hacker kritisiert und polemisiert aus einer Position der exten-

67 Michael Kremer To What Extent is Solipsism a Truth in Stocker Post-Analytic Tractatus S 59ndash84 Das ist eine sehr ungewoumlhnliche Lesart dieser sonst erkenntnistheore-tisch aufgefaszligten Passage

68 Michael Kremer The Cardinal Problem of Philosophy in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 143ndash176 Kremers Deutung beruht vor allem darauf daszlig Wittgenstein in seinem Brief an Russell (15 8 1919) diese Unterscheidung einmal als raquoHauptpunktlaquo und dann auch als raquoHauptproblemlaquo anspricht Kremer deutet dies so daszlig die Unterscheidung als zu loumlsendes raquoProblemlaquo aufgefaszligt wird

69 Juliet Floyd Wittgenstein and the Inexpressible in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 177ndash234 hier S 185 und 196

70 Hackers Schriften dienen zugleich umgekehrt Diamond und Conant als Illustrati-onen fuumlr die raquoStandardlesartlaquo und dafuumlr wie man Wittgenstein nicht interpretieren sollte so schon 1985 in Diamond Throwing Away the Ladder (Anm 30) S 194 als Beispiel fuumlr raquochickening outlaquo Hacker ist auch als einziger Kritiker im Sammelband New Wittgenstein vertreten Was he Trying to Whistle It in New Wittgenstein S 353ndash388 Sein Sammelband Connections and Controversies Oxford 2001 enthaumllt neben dem Nachdruck auf S 98ndash140 noch eine Fortsetzung When the Whistling Had to Stop S 141ndash169

116 Wolfgang Kienzler PhR

siven Kommentieung des spaumlten Wittgenstein und zugleich des philo-sophischen Common Sense heraus Er sieht in der Abhandlung raquoeine ver-bluumlffende Lehre auf verbluumlffende Weise dargebotenlaquo (S 353) ndash diese Charakterisierung entnimmt er jedoch nicht erst seinen neuen Gegnern sondern einer eher traditionellen realistisch-metaphysischen Deutung von David Pears Hacker versteht das Buch als einen gescheiterten Versuch wesentliche Wahrheiten die nicht gesagt werden koumlnnen dennoch zu zeigen Dies sieht er als gesichertes Faktum an dessen Vorhandensein er mit Energie gegen Versuche es zu leugnen untermauert Dazu zaumlhlt er zehn Beispiele solcher Versuche auf von logischen Beziehungen zwischen Saumltzen bis zur Harmonie zwischen Gedanke Sprache und Wirklichkeit (S 353ndash355) und stellt sich ganz auf die Seite schon der fruumlhen Kritiker besonders des Wiener Kreises die den Schluszlig des Buches raquoganz unglaub-wuumlrdig fandenlaquo (S 355)71 Er nennt den Ansatz von Diamond und Conant raquopostmodernlaquo offenbar darauf berechnet zu provozieren jedoch frei von ernsthaften Absichten nicht aber das Buch richtig einschaumltzen zu wollen (S 356)72

Hacker sieht das Buch als offensichtlich inkonsistent an und beruft sich dabei auf Wittgensteins spaumltere Meinung zur Bestaumltigung dieses Faktums (S 370) Von daher fallen alle Versuche das Buch insgesamt nachzuvoll-ziehen zwangslaumlufi g ebenfalls der Inkonsistenz anheim Als Maszligstab der Inkonsistenz dient ihm dabei die Unvereinbarkeit und Widerspruumlchlich-keit der im Buch vorgetragenen (raquogesagtenlaquo oder raquogezeigtenlaquo) Lehren Da-mit aber stellt sich Hacker explizit auf einen Standpunkt den Wittgenstein fuumlr sein eigenes Werk ablehnt das ja explizit raquokein Lehrbuchlaquo (Vorwort) sein will Hacker reduziert das Buch auf einen Lehrinhalt den er unzurei-chend fi ndet ndash der Gegensatz zu Diamond und Conant liegt bereits hier denn beide Seiten differieren vor allem darin was das Buch eigentlich

71 In dieser Hinsicht stimmt seine Einschaumltzung mit derjenigen Conants uumlberein der seinerseits Hacker in die Naumlhe Carnaps plaziert (Two Conceptions of Die Uumlberwindung S 14 ff) Ohne Hacker sofort zu nennen schreibt Conant Carnap (wie spaumlter Hacker) eine substantielle Auffassung von Unsinn zu

72 Hacker lehnt sowohl die Abhandlung als auch Freges philosophische Grundkonzepti-on ab und setzt sie als verfehlten Versuch in scharfen Kontrast zum Denken des spaumlten Wittgenstein Diese Haltung wird in seinem Kommentar zu den Philosophischen Untersu-chungen deutlich besonders eklatant jedoch in dem (gemeinsam mit Gordon Baker ver-faszligten) gegen Dummetts Fregedeutung geschriebenen Frege Logical Excavations (Oxford 1984) Das Auftreten der resoluten Lesart gibt Hacker daher nicht den Grund zu seiner Ablehnung des fruumlhen Wittgenstein sondern vor allem den Anlaszlig seine Gruumlnde zu buumln-deln und erneut vorzubringen (Der verstorbene Gordon Baker der zunaumlchst gemeinsam mit Hacker mehrere Baumlnde zum spaumlten Wittgenstein verfaszligte dann aber seinen Ansatz weiterentwickelte und dabei in einigen Punkten der resoluten Lesart nahekam sei hier noch erwaumlhnt vgl Baker Wittgensteinrsquos Method Neglected Aspects Oxford 2004)

117Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

leisten will Hacker sieht einen eklatanten Gegensatz zwischen Wittgen-steins Erklaumlrung nichts lehren zu wollen und seinem tatsaumlchlichen Vor-gehen seine Gegner versuchen gerade diese Aumluszligerungen Wittgensteins zu verstehen und ihnen entsprechend den Text so zu lesen daszlig er keine raquoLehrenlaquo enthaumllt sondern auf andere Art und Weise arbeitet

Hacker versucht entsprechend auch nicht Diamond und Conant ge-recht zu werden sondern listet vor allem eine Reihe von Kritikpunkten auf Zum einen weist er auf eine gewisse hermeneutische Willkuumlr hin mit der nur relativ wenige insgesamt unzusammenhaumlngende Partien herange-zogen werden wobei einige Passagen doch wieder als ganz gewoumlhnlich und sinnvoll gelesen werden ohne daszlig eine klare Abgrenzung nach Kri-terien gegeben wuumlrde Die haumlufi g verwendete Rede vom raquoRahmenlaquo des Buches im Unterschied zum raquoHauptteillaquo bleibt ihm zufolge unklar abge-grenzt da zum Rahmen auch Bemerkungen wie 4112 aus der Mitte des Textes gezaumlhlt werden73 Im Zusammenhang damit weist er darauf hin daszlig zwischen den Arten von Unsinn doch ein Unterschied gemacht wer-de wenigstens nach der Wirkung auf den Leser74 Und schlieszliglich ver-sucht er nachzuweisen daszlig Wittgenstein selbst weder in seiner fruumlheren noch in seiner spaumlteren Zeit eine solche radikale Lesart seiner eigenen Ar-beit vorgetragen oder unterstuumltzt habe

Eine spezielle Streitfrage liegt darin ob es nach Wittgenstein raquoUumlbertre-tungen der logischen Syntaxlaquo geben koumlnne Diamond und Conant be-haupten nein Hacker versucht an Beispielen aufzuzeigen daszlig Wittgen-stein dies wiederholt anspricht (S 365ndash367)75 Der grundlegende Dissens betrifft hier die Frage ob Wittgenstein sich vorrangig um den Begriff und die Festlegung einer logischen Syntax als Einfuumlhrung sinnvoller Rede be-muumlht denn wenn es um die Festlegung und ggf die Erweiterung und Ver-aumlnderung von Sinn geht dann gibt es nichts was uumlbertreten oder verfehlt werden koumlnnte ndash oder aber ob Wittgenstein wie Hacker ihn liest jemand ist der vor allem schon bestehende syntaktische Systeme betrachtet und dabei die Moumlglichkeiten behandelt sich gegenuumlber den Vorschriften be-

73 Conants Auskunft daszlig nicht der Ort im Text sondern die Funktion der Bemerkung daruumlber entscheide ob es zu Rahmen oder Hauptteil gehoumlre vermag als Gegenargument nicht wirklich zu uumlberzeugen

74 Dies leugnen Conant und Diamond keineswegs nur kommt es ihnen gerade auf den Unterschied zwischen logischen und anderen Einteilungsgruumlnden an

75 Dieser Punkt ist auch deswegen zentral weil fuumlr Hacker Unsinn genau dadurch ent-steht daszlig man die logische Syntax verletzt (Was he Trying S 367) waumlhrend fuumlr Conant und Diamond Unsinn dann vorliegt wenn wir mit einer Zeichenreihe schlicht nichts anfangen koumlnnen also kein Symbol darin erkennen Dieser Frage widmet Hacker den Aufsatz Wittgenstein Carnap and the New American Wittgensteinians in Philosophical Quar-terly 53 (2003) S 1ndash23 und Diamond die Entgegnung Logical Syntax in Wittgensteinrsquos Tractatus in Philosophical Quartely 55 (2005) S 78ndash88

118 Wolfgang Kienzler PhR

stimmter Systeme abweichend zu verhalten und ihre Regeln zu verletzen Die Frage ist ob Wittgenstein die Syntax mit einem bestehenden Spiel analog setzt oder nicht76 Fuumlr beide Aspekte gibt es Belege im Text77

Eine gewisse Uumlbereinstimmung zwischen Hacker und seinen Gegnern liegt ironischerweise darin daszlig keine der beiden Seiten eine durchge-hende Interpretation der Abhandlung anstrebt Hacker haumllt dies aufgrund der Inkonsistenz fuumlr uninteressant (wenn auch theoretisch moumlglich) Dia-mond ist vorrangig an Einzelfragen und am methodischen Standard des spaumlten Wittgenstein interessiert (wozu sie in der Abhandlung letztlich doch nur eine Vorstufe fi ndet) und Conant ist hauptsaumlchlich damit beschaumlftigt vorgaumlngige Kriterien fuumlr eine uumlberzeugende Lektuumlre zu entwickeln78

Als zentrale unbeantwortete Frage bleibt daruumlber hinaus das Problem bestehen wie man Wittgensteins Sprache und die Art seiner Behaup-tungen im Text konsequent aufzufassen hat denn hier weist Hacker auf deutliche Inkonsistenzen der resoluten Leser hin Zum einen wird von raquobloszligem Unsinnlaquo gesprochen dann wieder werden Passagen so gelesen wie gewoumlhnliche behauptende Prosa zum einen ist von Ironie die Rede dann wieder scheint alles ganz woumlrtlich aufzufassen zu sein79

8 Marie McGinn hat den bisher ehrgeizigsten Versuch unternommen die Staumlrken beider konkurrierender Ansaumltze zu verbinden und die jewei-

76 Vgl Diamond (wie die vorige Anm) S 86 Hacker vertritt hier einen eher kantischen Ansatz der die Grenzen der Vernunft bereits abgesteckt vorfi ndet (ein fuumlr Hacker wichtiges Buch ist P Strawsons Kantdeutung in The Bounds of Sense) Diamond und Conant sehen Wittgenstein als radikaleren Denker nach dem diese Grenzen immer wieder neu bestimmt werden muumlssen bzw nach dem es genau genommen keine Grenzen gibt da das Entschei-dende die Moumlglichkeit neuer Begriffsbildungen ist ohne daszlig man sich an irgendeiner Vorgabe (oder Grenze) orientieren kann die man entweder trifft oder verfehlt

77 Zum einen schreibt Wittgenstein raquoWir koumlnnen einem Zeichen nicht den unrechten Sinn gebenlaquo (54733) also bei der Bedeutungsfestsetzung nichts verfehlen zum anderen erklaumlrt er schlicht Saumltze wie raquo1 ist eine Zahllaquo (41272) die sich auf unsere bestehende Spra-che beziehen fuumlr unsinnig weil darin das Wort raquoZahllaquo als gewoumlhnliches Begriffswort statt als raquoformaler Begrifflaquo und also falsch verwendet wird Daszlig 1 eine Zahl ist ist schon da-durch klar daszlig wir das Zahlzeichen 1 verwenden und gerade deshalb koumlnnen wir dies nicht noch zusaumltzlich behaupten Es ist allerdings richtig daszlig Wittgenstein im letzteren Fall strenggenommen nicht von der raquoVerletzung der logischen Syntaxlaquo spricht sondern das Gebilde einfach raquounsinniglaquo nennt da fuumlr solche Faumllle gar keine logische Syntax im exakten Sinn verfuumlgbar ist Die gesamte Abhandlung ist in dieser Hinsicht nirgends der Versuch eine vorliegende Syntax zu treffen aber auch nicht eine neue Syntax festzulegen sondern sie befaszligt sich vielmehr mit den Bedingungen der Moumlglichkeit von Syntax uumlberhaupt Insofern verfehlen sowohl Hacker auch Diamond und Conant diesen Kernpunkt des Buches

78 So etwa im Abschnitt What makes a Reading resolute in Mono-Wittgensteinianism S 42ndash47

79 Vgl dazu W Kienzler Die Sprache des Tractatus Klar oder deutlich Karl Kraus Witt-genstein und die Frage der Terminologie in F GoumlppelsriederJ Volbers (Ed) Philosophie als Lebensform Muumlnchen 2008 (im Erscheinen)

119Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

ligen Schwaumlchen zu vermeiden80 Sie will Wittgenstein keine metaphy-sischen Lehren zuschreiben81 aber doch sicherstellen daszlig wir aus dem Buch etwas Konstruktives lernen koumlnnen Dazu nimmt sie den Begriff der Klaumlrung als Orientierungspunkt Die Aufgabe des Buches ist es demnach die Logik der Sprache aufzuklaumlren Wenn dies aber ohne die Verwendung positiver Lehren geschehen soll muszlig es indirekt geschehen naumlmlich da-durch daszlig die Sprache sich indirekt selbst klaumlrt das heiszligt daszlig eine solche Klaumlrung nicht auf etwas auszligerhalb der Sprache Bezug nimmt denn das waumlre Kennzeichen einer metaphysischen Auffassung McGinn schreibt et-was kryptisch raquoEs ist ein Werk in dem die Natur des Satzes die schon klar ist obwohl wir sie noch nicht klar sehen sich selbst fuumlr uns klaumlrtlaquo82

Sie betont jedoch sehr zu Recht daszlig Wittgenstein in seiner Abhandlung die eine groszlige Frage loumlsen wollte raquoDas Wesen des Satzes angeben heiszligt das Wesen aller Beschreibung angeben also das Wesen der Weltlaquo (54711)83

Damit aber waumlren alle (oder raquodielaquo) philosophischen Probleme geloumlst Ohne eine solche Voraussetzung die Wittgenstein offenbar als grundle-gende Einsicht erschien ist seine Handlungsweise gar nicht nachvollzieh-bar naumlmlich ein uumlberaus kurzes Buch zu verfassen in dem alle philoso-phischen Fragen im Prinzip jedenfalls beantwortet sind Dies ist nur moumlglich wenn diese Fragen so eng zusammenhaumlngen daszlig die Loumlsung der einen zugleich die Loumlsung der anderen bedeutet Dieser Grundgedanke strukturiert McGinns Buch und gibt ihm eine klare Linie84 Sie untersucht die besonders von Conant behandelten Fragen nach den Bedingungen einer angemessenen Lektuumlre fast gar nicht und antwortet insofern nicht durch Gegenargumente sondern durch die Tat durch einen Gang durch das Buch Es uumlberrascht dabei daszlig sie den Anfang zunaumlchst weglaumlszligt und nach Einleitungskapiteln zur Abgrenzung gegen Frege und Russell gleich mit dem Begriff des Bildes und dann des Satzes beginnt Tatsaumlchlich zeigt McGinn uumlberzeugend auf daszlig die Eingangspassagen am besten als Hin-fuumlhrungen zur raquoTheorie des Satzeslaquo aufgefaszligt werden und nicht als eigen-staumlndiges Theoriestuumlck einer vorangestellten Ontologie (sei diese nur scheinbar als Illusion aufgebaut oder ernst gemeint vgl etwa Diamond

80 Marie McGinn Elucidating the Tractatus81 Marie McGinn Between Metaphysics and Nonsense Elucidation in Wittgensteinrsquos Tracta-

tus In Philosophical Quarterly 49 (1999) S 491ndash513 hier S 107)82 Damit bleibt McGinn nahe an Aumluszligerungen von Diamond und Conant (etwa Method

S 424)83 Zit in McGinn Elucidating S 24084 Das erste Kapitel The Single Great Problem behandelt diese Frage zeigt aber bereits

daszlig sich McGinn nicht vollstaumlndig auf den Text einlaumlszligt sondern ihn von Anfang an stark aus der Perspektive der Philosophischen Untersuchungen her deutet (die im letzen Kapitel er-neut den Maszligstab der Betrachtung bilden)

120 Wolfgang Kienzler PhR

Ethics S 160) Vor dem Hintergrund der Auffassung des sinnvollen Satzes wird der Anfang dann relativ leicht verstaumlndlich In der Darstellung von McGinn wird die Abhandlung wieder zu einer Abhandlung einer nuumlch-ternen Darlegung uumlber die Voraussetzungen sinnvollen Sprechens und Ausdruumlckens uumlber die Unterschiede der Satzarten und die allgemeine Form des Satzes Allerdings ruumlcken so die Einzelheiten der Sprachlogik ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit und die Fragen nach der Natur der Philosophie aber auch die nach der Einheit des Buches treten ganz in den Hintergrund Das Buch enthaumllt kein Kapitel zum Philosophiebegriff des fruumlhen Wittgenstein und kaum Erlaumluterungen zur spezifi schen Form der Darstellung oder zur Strategie der Praumlsentation Einige Themen wie die Ethik Arithmetik oder die Naturgesetze werden ganz uumlbergangen dabei waumlre an diesen Beispielen die angestrebte Einheitlichkeit erst richtig aufzuzeigen gewesen In dieser Hinsicht erklaumlrt McGinn die Abhandlung in der Form die sie 1916 noch hatte bevor Wittgenstein die Schluszligpassa-gen einarbeitete und als sie noch staumlrker eine Abhandlung in raquophiloso-phischer Logiklaquo war85 Gegen Diamond und Conant stellt sie klar heraus daszlig das Ziel der Klaumlrung raquodurch Einsicht in das Funktionieren der Spra-chelaquo erreicht werden soll und nicht indirekt dadurch daszlig raquodie Versuche philosophische Saumltze zu bilden als Unsinn erkannt werdenlaquo (S 254 Anm 6) Die sehr nuumlchterne Art McGinns zeigt einen Wittgenstein der ganz unironisch seine logisch-philosophische Konzeption Schritt fuumlr Schritt entwickelt86

85 Vgl Brian McGuinness Wittgensteinrsquos 1916 Abhandlung in R HallerK Puhl (Hg) Wittgenstein and the Future of Philosophy Wien 2002 S 272ndash282 Die grundlegenden philologischen Arbeiten von McGuinness werden in der gegenwaumlrtigen Debatte leider wenig fruchtbar gemacht

86 Das stark gestiegene Interesse am fruumlhen Wittgenstein hat eine ganze Reihe von Monographien hervorgebracht die jedoch nur selten das gelassene exegetische Niveau McGinns erreichen sondern in der Regel mehr oder weniger exzentrische Deutungen in den Mittelpunkt stellen

M Ostrow Wittgenstein and the Liberating Word CambridgeMass 2002 (eine Zusam-menfassung in Reck From Frege to Wittgenstein) versucht eine an Floyd orientierte raquodialek-tische Interpretationlaquo die sich am Leitmotiv des raquoerloumlsenden Worteslaquo orientiert aber ins-gesamt zu vage bleibt zumal sich die Differenz zum spaumlteren Wittgenstein ganz aufzuloumlsen scheint und wichtige Passagen unberuumlcksichtigt bleiben

E Friedlander Signs of Sense Reading Wittgensteinrsquos Tractatus Cambridge Mass 2001 scheint das Raumltselhafte geradezu zu genieszligen und nennt als sein Ziel raquonicht das Raumltsel des Buches zu loumlsen sondern seinen raumltselhaften Charakter auf eine wahrhaft zum Denken herausfordernde Art aufzuzeigenlaquo (S XV) und will geradezu raquoseinen raumltselhaften Charak-ter rechtfertigenlaquo (16)

U Nordmann Wittgensteinrsquos Tractatus An Introduction Cambridge 2005 faszligt das Buch als ein Gedankenexperiment und eine groszlige Reductio ad Absurdum auf zu der er einige Praumlmissen ergaumlnzt Er deutet das Buch als im Konjunktiv geaumluszligert wodurch der Behaup-

121Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Ausblick

Die Arbeiten von Diamond und Conant haben zu einer neuen Welle des Interesses an Wittgensteins Fruumlhwerk gefuumlhrt und die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten vor allem aber auch das Potential seiner Abhandlung gelenkt Im Zentrum steht dabei die Natur der Philosophie als Erlaumlute-rung die selbst nicht in die Gestalt einer Lehre gebracht werden kann oder anders ausgedruumlckt der entscheidende Unterschied zwischen einer philosophischen und einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Untersu-chung

Gerade dadurch daszlig sie die Abhandlung stellenweise sehr nah an den spaumlten Wittgenstein heranruumlcken eroumlffnen Conant und Diamond Moumlg-lichkeiten die Souveraumlnitaumlt und Subtilitaumlt des Buches erst richtig zu wuumlr-digen Dies geschieht jedoch um den Preis daszlig einige Teile des Buches herausgegriffen andere dagegen kaum beruumlcksichtigt werden

Nicht hinreichend geklaumlrt scheint auch die Frage nach dem sprachlichen Grundton des Buches Diamond geht immer wieder von einem nahe an der Alltagssprache stehenden Redegestus aus (aumlhnlich wie der spaumlte Wittgen-stein) waumlhrend Conant aus der weiteren Perspektive ironische Zuumlge be-schreibt87 Gemeinsam ist den resoluten Lesern daszlig sie Wittgensteins Saumltze in der Abhandlung auf doppelte Weise auffassen Sie unterscheiden an vielen Stellen einen buchstaumlblichen naheliegenden Sinn der sich bei naumlherer Be-trachtung als inkohaumlrent erweist und der so zerfaumlllt88 Daher wird in ihrer

tungscharakter eingeklammert die Klaumlrungsfunktion jedoch trotzdem ermoumlglicht wird Er gewinnt so eine Kategorie von Saumltzen die raquounsinnig aber bedeutungsvolllaquo (176) sind

L Gunnarsson Wittgensteins Leiter Bodenheim 2002 greift einen Gedanken Conants auf daszlig wir naumlmlich den Hauptteil des Buches wegwerfen und den Rahmen behalten sollen (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 286) und entwickelt daraus die Fik-tion es waumlre tatsaumlchlich nur das Vorwort und der Schluszlig der Abhandlung erhalten ndash und will daraus den Gehalt des Buches ohne Verlust rekonstruieren Diese Veranschaulichung zeigt besonders klar auf wie verfehlt dieser Ansatz ist wenn man ihn auf die konkrete Interpretationspraxis bezieht

87 Die Parallele zwischen Wittgenstein und Kierkegaard scheint in zentralen Punkten gerade nicht zu bestehen denn Wittgenstein distanziert sich gerade nicht von seinem Buch sondern erklaumlrt seine Auffassungen fuumlr defi nitiv richtig und alternativlos ganz ent-gegen dem verwirrenden Spiel Kierkegaards mit unterschiedlichen Pseudonymen und Perspektiven Ein passenderer Vergleich waumlre etwa mit Hume moumlglich der am Ende seiner Untersuchung uumlber die Prinzipien der Moral (Abschnitt 9 Teil 1) seine Ergebnisse fuumlr derart einfach klar kohaumlrent und uumlberzeugend haumllt daszlig dem nichts hinzuzufuumlgen ist so daszlig er selbst geradezu in Versuchung kommen koumlnnte dogmatisch davon uumlberzeugt zu sein

88 So fuumlhrt Diamond (in Ethics wie Anm 37) folgende Beispiele dafuumlr an 1 das woruuml-ber man schweigen muszlig (aber das kann es doch nicht geben weil es kein raquodaruumlberlaquo ist S 149) 2 die Saumltze der Abhandlung die zu verstehen seien (oder doch raquoer selbstlaquo wie Witt-genstein dann uumlberraschenderweise sagt S 149) 3 die Anfangssaumltze uumlber die Welt (aber daruumlber kann es doch keine Saumltze geben S 160) 4 der Schein daszlig ab 64 Saumltze uumlber Ethik

122 Wolfgang Kienzler PhR

Perspektive das Buch durchgehend doppelboumldig und loumlst sich schlieszliglich in Nichts auf wobei in der Aufl oumlsung gerade die Absicht des Buches bestehen soll89 Demgegenuumlber kann festgehalten werden daszlig Wittgenstein nir-gends von Ironie spricht wohl aber davon daszlig er das Wesentliche in Kuumlr-ze klar ausdruumlcken will Eine wichtige Differenz innerhalb der resoluten Lesart liegt weiter darin welche Wichtigkeit man den eher technischen Aspekten der Abhandlung zuschreibt Ricketts und Goldfarb sehen viele Zuumlge des Buches von technischen Erwaumlgungen motiviert und gepraumlgt waumlhrend Diamond und Conant den Sinn der symbolischen Notation vor allem darin sehen wesentliche Unterschiede klarzustellen90

Das Motto erklaumlrt daszlig man raquoalles was man weiszliglaquo schlieszliglich raquoin drei Worten sagenlaquo kann Viele der scheinbaren Widerspruumlche und Doppelt-heiten die resolute Leser beobachten koumlnnten sich von daher moumlglicher-weise der Absicht verdanken im Buch logisch praumlzise Saumltze zu erwarten eine Absicht die bestaumlndig getaumluscht wird91 Wuumlrde man die Saumltze eher als Instrumente verstehen die allmaumlhlich entsprechend den Stufen der Lei-ter zur Klarheit anleiten ohne daszlig der Leser in die selbstrefl exive Geste verwickelt werden soll dann koumlnnte eine einfachere und klarere Lesart entstehen die auch mehr Sinn fuumlr den Zusammenhang und die spezi-fi schen Darstellungsmittel des Buches entwickeln wuumlrde ndash wenn denn eine solche zusammenhaumlngende Erlaumluterung als gemeinsames Ziel fest-staumlnde92 Auch Fragen der Textkritik die derzeit nur sehr sporadisch ge-streift werden koumlnnten dann eine groumlszligere Rolle spielen

Wolfgang Kienzler (ChemnitzJena)

vorkommen (die es doch gar nicht geben kann S 164) 5 der Schein daszlig im Buch Saumltze raquouumlber Logiklaquo vorkommen (die es ebenfalls nicht geben kann S 164) In allen Beispielen kann man die Situation natuumlrlicher so darstellen daszlig man die Saumltze der Abhandlung von vornherein zwar woumlrtlich aber nicht buchstaumlblich nimmt sondern sich von ihren zur Klarheit die sich erst allmaumlhlich einstellen kann fuumlhren laumlszligt

89 Diese Doppeltheit der Lesart ist den resoluten Lesern und ihren Kritikern gemein-sam sie ist aber keineswegs selbstverstaumlndlich und widerspricht dem Grundgedanken der Klarheit

90 Dies ist das Thema von Diamond What Does a Concept-Script Do in The Realistic Spirit S 115ndash144 Sie sieht darin ein raquoWerkzeug geistiger Befreiunglaquo (143) deutet damit aber tendenziell wieder einen Gedanken der Abhandlung in Frege hinein der zunaumlchst die Umgangssprache ganz zugunsten der exakteren Begriffsschrift verbannen wollte

91 In weiten Teilen der resoluten Beitraumlge kann man auch eine gewisse Vergegenstaumlnd-lichung mancher von Wittgenstein verwendeter Woumlrter wahrnehmen die dazu fuumlhren daszlig die Rede von raquoUnsinnlaquo raquoErlaumluterunglaquo u a zunaumlchst gegenstaumlndlich miszligverstanden und anschlieszligend als Gegenstaumlndlichkeit leugnend gedeutet wird Eine Beachtung von Wittgensteins ungezwungenem und unterminologischem Sprachgebrauch koumlnnte viele dieser Schleifen uumlberfl uumlssig machen

92 Das Buch von McGinn kann dazu als erster wichtiger konstruktiver Schritt angese-hen werden auch wenn es insgesamt etwas zu additiv verfaumlhrt

Page 12: Neue Lektüren von Wittgensteins Logisch-Philosophischer ... · 10 E. Stenius : Wittgensteins Traktat [1960], Frankfurt/M. 1969, nennt den Schluß »keine echte Verdammung [. . .]

106 Wolfgang Kienzler PhR

Wittgensteins Schriften als Ganze zu interpretieren tritt demgegenuumlber ganz in den Hintergrund Insofern ist 654 auch wieder nicht uumlberzube-werten sondern dient nur als ein besonders markanter Ausgangspunkt um verfehlte Auffassungen abzuwehren44 So ist die Abhandlung fuumlr Dia-mond kein Buch uumlber Logik denn ein solches kann es streng genommen ebenfalls nicht geben Die Logik ist vielmehr raquodem was Saumltze sind bereits intern eingeschriebenlaquo (S 151) Anders gesagt Wir koumlnnen an jedem be-liebigen Satz wenn wir nur richtig hinsehen alle Elemente der richtigen logischen Auffassung aufweisen und daher ist jeder Versuch diese vor-gaumlngige Struktur explizit zu machen immer etwas Nachtraumlgliches das schon raquozu spaumlt kommtlaquo und dadurch stets etwas Schiefes eben Unsinniges an sich hat Der eigentliche Ausdruck von Wittgensteins philosophischen Auffassungen sind daher nicht irgendwelche Inhalte seines Buches son-dern die Art wie sie ausgedruumlckt sind (S 170)

Eine besondere Eigenheit fast aller Arbeiten Diamonds ist ihre sehr spe-zifi sche Ausrichtung auf eine je besondere Fragestellung In vielen Faumlllen greift sie charakteristische Fehleinschaumltzungen oder auch nur miszliggluumlckte Formulierungen anderer Autoren auf und erlaumlutert geduldig sorgfaumlltig und oft in wiederholten bisweilen kreisenden Gedankengaumlngen welche Art von Fehleinschaumltzung vorliegt aus der die verungluumlckte Formulierung hervorgegangen ist Ihre Klaumlrungsarbeit bezieht sich fast immer auf einen konkreten Fall nicht auf eine allgemeine These Dadurch sperren sich ihre Texte gegen Lesegewohnheiten die auf Thesen und Argumente oder auf systematische Darlegungen und einen hohen Allgemeinheitsgrad hin ori-entiert sind Besonders instruktiv ist ihre Aufklaumlrung eines Beispiels von Anscombe (raquorsaquoJemandlsaquo ist nicht der Name von jemandemlaquo) in dem sie einen Versuch beleuchtet mit dem Anscombe ihrerseits im Sinne des fruumlhen Wittgenstein eine ganz elementare sprachlogische Klarstellung zu treffen versucht die den Unterschied zwischen Sagen und Zeigen nicht in allge-meiner (raquometaphysischerlaquo) sondern in ganz spezifi scher logischer Absicht betrifft45 Ihr Ergebnis lautet daszlig die Logik und damit die Gebrauchswei-sen von Ausdruumlcken wie raquojemandlaquo im einzelnen sorgfaumlltig beschrieben werden muumlssen daszlig man dies nicht mit einem Satz allein klarstellen kann

44 Die Erfolgsgeschichte der resoluten Lesart haumlngt eng damit zusammen daszlig man das ganze Buch als raquobloszligen Unsinnlaquo auffassen will bei Diamond liegt jedoch genau besehen keine Interpretation des gesamten Buches vor Sie will vielmehr nur einige Kernpunkte klarstellen verknuumlpft diese Klarstellungen allerdings mit einigen allgemeiner klingenden Zusatzbemerkungen

45 Diamond Saying and Showing (wie Anm 12) In diesem Beispiel bleibt jedoch An-scombe die die Frage in einem Streich entscheiden und klaumlren will dem Geist des fruumlhen Wittgenstein naumlher als Diamond mit ihrer sorgfaumlltigen Beschreibung der Sprachspiele mit raquojemandlaquo

107Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Damit will Diamond einen Beitrag dazu leisten die raquophilosophi sche Klauml-rung zu klaumlrenlaquo (to clarify philosophical clarifi cation)46

Das Ziel ihrer Arbeit ist jeweils die Klaumlrung unuumlbersichtlicher begriff-licher Verhaumlltnisse um so zu einer natuumlrlichen raquorealistischenlaquo Sicht zu kommen47 An Paradoxien ist sie grundsaumltzlich nicht interessiert auszliger insofern es darum geht deren Quellen aufzudecken sie als Symptome von begriffl ichen Unklarheiten zu sehen

Charakteristisch fuumlr Diamonds Vorgehensweise ist auch eine Uumlberle-gung die von einer Bemerkung Kripkes ihren Ausgang nimmt Einmal schreibt Wittgenstein raquoMan kann von einem Ding nicht aussagen es sei 1 m lang noch es sei nicht 1 m lang und das ist das Urmeter in Parislaquo (PhU 50) Kripke nennt diese Behauptung die aus dem Zusammenhang gerissen etwas entschieden Paradoxes hat offensichtlich falsch ohne je-doch den genauen Zusammenhang zu beachten48 Genau darauf kommt es Diamond aber an und sie erlaumlutert detailliert hartnaumlckig und zielstrebig

46 Ebd S 15347 Diamonds Grundanliegen kann man auch so formulieren daszlig sie an die Stelle von

philosophischen raquoPhantasienlaquo die aufs Allgemeine eines zurechtgestellten Sprachgebrauchs gehen eine realistische Einstellung die sich vor allem um Einzelheiten kuumlmmert setzt (The Realistic Spirit in der gleichnamigen Sammlung S 39ndash72)

48 Tatsaumlchlich ist die Bemerkung Kripkes weitaus weniger beilaumlufi g als Diamond sugge-riert Er schreibt raquoWittgenstein sagt etwas sehr Verwirrendes hieruumlber Er sagt raquoMan kann von einem Ding nicht sagen es sei 1 m lang noch es sei nicht 1 m lang und das ist das Urmeter in Paris ndash Damit haben wir aber diesem natuumlrlich nicht irgendeine merkwuumlrdige Eigenschaft zugeschrieben sondern nur seine eigenartige Rolle im Spiel des Messens mit dem Metermaszlig gekennzeichnetlaquo (PhU 50) Das scheint aber in der Tat eine sehr raquomerk-wuumlrdige Eigenschaftlaquo fuumlr einen Stab zu sein Ich denke Wittgenstein muszlig sich hier irren Wenn der Stock 3937 Inches lang ist (ich nehme an daszlig wir einen anderen Standard fuumlr Inches haben) warum ist er nicht 1 m lang Wir wollen jedenfalls annehmen daszlig Witt-genstein sich irrt und daszlig der Stab 1 m lang istlaquo (Kripke Naming and Necessity 1980 Name und Notwendigkeit FrankfurtM 1981 S 65 f) Diamond weist zwar zu Recht darauf hin daszlig Kripkes theoretisches Vokabular nur uumlber Eigenschaften (er diskutiert Fragen von Referenz und sprachlicher Bedeutung separat) nicht aber uumlber raquoStellungen im Sprachspiellaquo verfuumlgt und daszlig er deshalb zur tatsaumlchlich merkwuumlrdigen Deutung des Satzes als raquokontin-gente Wahrheit a priorilaquo (S 68) kommt (Dies entspricht wiederum in einigem der ja auch raquoeigenartigenlaquo Rolle im Sprachspiel) Beim Ausfuumlhren des Beispiels gegen Wittgenstein argumentiert Kripke jedoch intern vollkommen konsistent und faktisch auch an einem Sprachspiel orientiert wenn er (in Klammern) annimmt daszlig wir uumlber einen eigenen unabhaumlngigen Maszligstab fuumlr englische Zoll verfuumlgen Dann naumlmlich kann man das Urmeter ohne weiteres wie jeden anderen Gegenstand auch (auszliger in diesem Spiel dem raquoUr-Yardlaquo das Kripke jedoch nicht erwaumlhnt ndash und insofern hat Kripke die Problematik nur geschickt verschoben) abmessen und das Ergebnis anschlieszligend umrechnen Damit nimmt Kripke Wittgensteins Bemerkung das Paradoxe fuumlhrt dabei allerdings (unkommentiert) einen raquoDoppelstandardlaquo der Messung ein der nicht weiter geklaumlrt wird Die Sorgfalt in Kripkes Ausfuumlhrungen legen daher nahe die Rede davon daszlig Wittgenstein raquoirrelaquo nicht als Hin-weis auf einen einzelnen zufaumllligen Fehler sondern auf eine insgesamt verfehlte Auffas-sung zu verstehen

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wie Wittgenstein zu seiner Aumluszligerung kommt und inwiefern die Institution des Messens davon abhaumlngt daszlig man Maszligstaumlbe einfuumlhrt mit denen dann andere Objekte gemessen werden49 Da Laumlngenangaben entsprechend im-mer auf den Vergleich zu einem Maszligstab bezogen sind entsteht die kuriose Situation daszlig die Laumlnge des Urmeters durch Anlegen an sich selbst be-stimmt werden muumlszligte Nach Kripke ist dies ein Fall von Identitaumlt d h im Fall der Identitaumlt kann man auch ohne jede Messung sagen daszlig das betref-fende Objekt 1 m lang ist (oder eben raquoso lang wie es istlaquo ndash denn wie lang sollte es sonst sein) Damit aber gleicht er den Fall der Messung an den Fall der bloszligen Festsetzung in dem gar keine Messung erfolgt und genau genommen auch keine Messung moumlglich ist (denn man kann keinen Maszlig-stab an sich selbst anlegen weil dazu mindestens zwei Objekte benoumltigt werden) an und uumlbersieht die begriffl iche Verschiedenheit beider Faumllle Durch dieses Beispiel beleuchtet Diamond vor allem den Begriff der Gleichheit bzw Identitaumlt der von Kripke und weiten Teilen der philoso-phischen Tradition als unproblematischer absoluter Fixpunkt in Anspruch genommen wird den Wittgenstein aber einer fruumlhen Kritik (553 ff) und einer spaumlteren genauen Beschreibung (PhU 251 ff) unterzogen hat Zur Aufklaumlrung ist es noumltig den Ort den die Rede von raquogleichlaquo und raquoiden-tischlaquo in der Sprache hat genauer zu beleuchten und zu beschreiben an-statt ihn als quasi sprachunabhaumlngig gegeben einfach vorauszusetzen50

Diamonds Arbeit zielt so durchgehend auf die Klaumlrung scheinbar para-doxer oder merkwuumlrdiger Behauptungen ab und sie sieht ihr Ziel erst dann erreicht wenn aufgezeigt ist daszlig im Sprachspiel alles mit ganz ge-woumlhnlichen Dingen zugeht Paradoxe Behauptungen haben darin keinen Ort Auch ihre Anmerkungen zum Schluszlig von Wittgensteins Abhandlung sind daher systematisch als solche Aufklaumlrungen (etwa der paradoxen Re-deweise von Saumltzen die raquowahr waumlren wenn sie gesagt werden koumlnntenlaquo) zu verstehen auch wenn sie stellenweise selbst sehr uumlberraschend klingen Ihr Grundgedanke lautet jedoch Auch raquounsinniglaquo ist ein ganz gewoumlhn-liches Wort welches Wittgenstein verwendet und wenn er es verwendet dann meint er es auch so wie er es sagt51

49 Diamond betont mit (dem spaumlten) Wittgenstein die grundlegende Bedeutung von sprachlichen Institutionen waumlhrend Kripke konsequent davon absieht und alles als Fakten (unterschiedlicher Art) interpretiert

50 Kripkes Auffassung der Identitaumlt ist sprachunabhaumlngig und sozusagen raquorein objektivlaquo angelegt Fuumlr ihn ist jeder Gegenstand notwendigerweise mit sich selbst identisch und weist eine bestimmte raquoobjektivelaquo Laumlnge auf Wittgenstein dagegen weist darauf hin daszlig auch zum Wort raquoidentischlaquo ein Sprachspiel gehoumlrt das diesem Wort erst seine klare Ver-wendung gibt

51 Einiges spricht jedoch auch dafuumlr daszlig diese Auffassung eher dem spaumlten Wittgen-stein entspricht und daszlig in 654 raquounsinniglaquo gerade nicht im alltaumlglichen Sinn verwendet wird

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5 Es ist bei dieser sehr punktuellen Methodik um so bemerkenswerter und selbst geradezu paradox daszlig Diamonds Ansatz der Ausgangspunkt einer ganzen Richtung der Wittgensteininterpretation und noch dazu der Abhandlung geworden ist Diese Entwicklung hat viel mit der Arbeit von James Conant zu tun der dem Ansatz eine allgemeinere und leichter ein-zuordnende Form gegeben und das Zentrum der Aufmerksamkeit noch viel staumlrker als Diamond auf die Abhandlung und ihren Schluszlig gelenkt hat Conant stellt Wittgensteins Text in einen weiteren Rahmen indem er etwa Wittgenstein mit Kierkegaard Carnap und anderen Autoren ver-gleicht und indem er sich um die Historiographie der Tractatusdeutungen und insbesondere der impliziten Voraussetzungen dieser Deutungen in einer Weise bemuumlht daszlig die resolute Lesart als natuumlrlicher Abschluszlig einer Stufenfolge erscheint Dadurch entsteht der Eindruck daszlig die raquoresolutelaquo Deutung auf uumlberlegene Weise alle vorangegangenen Deutungsversuche in sich aufnimmt und ihnen den gehoumlrigen Platz anweist so daszlig kein sys-tematischer Raum mehr fuumlr Gegenvorschlaumlge bleibt52

In seiner bisher umfangreichsten Darstellung53 gibt Conant zunaumlchst eine Rekonstruktion der rationalen Genese der bisherigen Lesarten die er die raquopositivistischelaquo und die raquoUnsagbarkeitslesartlaquo (ineffability reading) nennt Als deren gemeinsame Grundvoraussetzung arbeitet er die Annahme her-aus daszlig es etwas wie raquogehaltvollen Unsinnlaquo (substantial nonsense) in der Abhandlung geben muumlsse Er zeigt dann auf daszlig und wie sich beide Auf-fassungen gegenseitig bedingen und inwiefern keine von beiden zu einer stabilen und konsequenten (eben raquoresolutlaquo durchhaltbaren) Position fuumlhrt Tatsaumlchlich setzt sich Conant fast ausschlieszliglich mit der von ihm als Stan-dardinterpretation (S 394) angesehenen Lesart und ihrem Hauptvertreter Peter Hacker auseinander54 Die Kernthematik des Aufsatzes der die Me-

52 Der Gestus erinnert stellenweise an Hegels Vorgehen Conant ist auch an anderer Stelle mit weitreichenden Sortiervorschlaumlgen hervorgetreten so etwa in bezug auf Spiel-arten des Skeptizismus wo er eine Cartesische und eine Kantische Spielart des Skeptizis-mus und damit der Philosophie uumlberhaupt unterscheidet (Varieties of Skepticism in D McManus (Hg) Wittgenstein and Skepticism London 2004)

53 James Conant The Method of the Tractatus in Reck From Frege to Wittgenstein daran orientiert sich das Folgende Mehrere Aufsaumltze Conants ergaumlnzen diesen Beitrag noch ndash Durch haumlufi ge Verweise auf einander einen gemeinsamen Aufsatz sowie an beide gerich-tete Kritik ist aumlhnlich wie in der Kopenhagener Deutung der Quantenphysik der Ein-druck entstanden als handele es sich um ein und dieselbe Auffassung Dieser Eindruck taumluscht jedoch in einigen wichtigen Punkten ebenso wie im Fall der Kopenhagener Deu-tung wie aus dem Folgenden klar werden wird

54 Tatsaumlchlich liegt der systematische Schwerpunkt der Kontroverse zwischen ConantDiamond und Hacker auf der Interpretation der Philosophie des spaumlten Wittgenstein die von beiden Parteien als der eindeutig uumlberlegene und bis heute unuumlberbotene philoso-phische Ansatz angesehen wird Diese grundsaumltzliche Debatte um die Deutung von Witt-gensteins Spaumltphilosophie hat erst in Ansaumltzen besonders in einigen Aufsaumltzen von Dia-

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thode der Abhandlung zu klaumlren beansprucht kreist um die Leitbegriffe raquoErlaumluterunglaquo und raquoUnsinnlaquo (S 378) Wie Diamond fi ndet Conant dies bei Frege vorgebildet wobei er dessen Verfahren so zusammenfaszligt daszlig nach Frege raquodie Erlaumluterung logisch einfacher Ausdruumlcke wie Begriff und Gegenstand unvermeidlicherweise mit (dem geschickten Einsatz von) Unsinn arbeiten muszliglaquo (S 387) In der Deutung dieses Verfahrens durch Frege sieht Conant jedoch eine Spannung denn Frege glaubt raquodaszlig er in solchen Faumlllen etwas sagen will was im strengen Sinn nicht gesagt werden kann und druumlckt sich dann so aus daszlig seine Woumlrter einen Gedanken auszudruumlk ken versuchen damit aber notwendigerweise scheiternlaquo (S 391) Damit vertritt Frege aumlhnlich wie Geach und Hacker selbst eine substan-tielle Auffassung von Unsinn55 Nach Conant liegt die Hauptabsicht von Wittensteins Abhandlung nun genau darin eine solche substantielle Auffas-sung von Unsinn nicht zu vertreten sondern zu uumlberwinden Die Unter-scheidung zwischen sinnvollen und nicht sinnvollen Saumltzen liegt nach Conants Deutung nun praumlziser gefaszligt darin raquoEinen Satz als sinnvoll wahr-nehmen bedeutet daszlig man im Satzzeichen das Satzsymbol wahrnimmt Einen Satz als Unsinn wahrzunehmen bedeutet daszlig man im Zeichen kein Symbol erkennen kannlaquo (S 404) Ein Satz ist also dann raquobloszliger Unsinnlaquo wenn eine Zeichenreihe raquokeine erkennbare logische Syntax hatlaquo (S 400) Damit gibt es aber streng genommen keine raquounsinnigen Saumltzelaquo sondern nur Zeichenreihen die auf den ersten Blick wie Saumltze aussehen bei denen aber der Versuch in ihnen eine logische Form aufzufi nden scheitert Die Rede von raquoUnsinnlaquo bezieht sich also nicht auf die Saumltze oder Zeichenrei-hen selbst sondern allein auf unser Scheitern Zentral wird dadurch der Begriff des raquoSymbolslaquo Ein Symbol ist ein Zeichen zusammen mit einer logisch durchsichtigen Verwendungsweise (S 414) Die bekannte Sprach-kritik der Abhandlung (40031) erweist sich so nicht als Versuch die sinn-vollen von den unsinnigen Zeichen(reihen) durch ein Sinnkriterium zu trennen sondern raquodie Quelle des scheinbaren Unsinns liegt in unserer Beziehung zum sprachlichen Zeichen nicht im sprachlichen Zeichen selbstlaquo (S 419) Die Philosophie ist entsprechend Wittgensteins Diktum

mond begonnen Als zentralen Gegensatz zwischen der eigenen Position und derjenigen Hackers formuliert Conant daszlig nach Hacker der fruumlhe Wittgenstein an unausdruumlckbare Wahrheiten glaubte waumlhrend der spaumlte dies als Irrtum durchschaute waumlhrend Wittgen-stein tatsaumlchlich schon in der Abhandlung die darin vorausgesetzte substantielle Auffassung von Unsinn ablehnte Weiter glaubt er in Hackers Deutung des spaumlten Wittgenstein raquoeine verkleidete Fassung der Auffassung die er dem fruumlhen Wittgenstein zuschreibtlaquo zu erken-nen was der wahren Radikalitaumlt dieses Denkens nicht gerecht werde (Conant Two Con-ceptions of Die Uumlberwindung der Metaphysik in Wittgenstein in America (Anm 17) S 13ndash62 hier S 38 Anm 42)

55 In diesem Punkt ist Conant exegetisch weitaus vorsichtiger als Diamond die weniger Scheu hat Frege eine systematisch uumlberzeugende Konzeption zuzuschreiben

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raquokeine Lehre sondern eine Taumltigkeitlaquo Diese Taumltigkeit besteht nach Con-ant darin daszlig eine Illusion von Sinn aufgebaut und am Ende zerstoumlrt wird Das Ziel des Buches ist daher raquonicht eine Einsicht in metaphysische Zuumlge der Wirklichkeit sondern in die Quellen der Metaphysiklaquo (S 421) Nach Conant gibt es im Text nur raquo(scheinbar) eine Lehre uumlber raquodie Gren-zen des Denkenslaquolaquo (S 424) tatsaumlchlich aber sind raquodie Erlaumluterungen des Autors nur dann erfolgreich wenn wir den Haupttext als Unsinn erken-nenlaquo (S 424) Conants Darstellung verleiht der resoluten Lesart dadurch daszlig er aufzeigt wie die grundlegenden Spannungen in den fruumlheren Deu-tungsansaumltzen aufgeloumlst werden koumlnnen den Anschein einer teleologischen Zwangslaumlufi gkeit Nicht zufaumlllig spielt daher die fortgesetzte Auseinan-dersetzung mit der raquoUnsagbarkeitslesartlaquo eine zentrale Rolle in seinen Ausfuumlhrungen Ein nicht zu unterschaumltzender Teil der Anziehungskraft der resoluten Lesart liegt genau darin daszlig sie den einzigen konsistenten wenn auch zunaumlchst uumlberspitzt aber damit zugleich auch brillant wirken-den Ausweg aus den Bemuumlhungen um ein Verstaumlndnis der Logisch-Philoso-phischen Abhandlung zu bieten scheint56

Conants umfangreicher Beitrag zur Festschrift fuumlr Cora Diamond57 verstaumlrkt die genannten Tendenzen noch Dies zeigt sich bereits an der Form Unter dem Titel raquoA Recently Discovered Manuscriptlaquo wird ein gewisser raquoJohannes Climacuslaquo58 als Herausgeber eines Aufsatzes von Con-ant eingefuumlhrt der in Gestalt einer fi ktiven theologischen Auseinanderset-zung um die richtige Wittgensteinorthodoxie eigene (ziemlich dogma-tisch-uneinsichtsvolle) Kommentare zu den einzelnen Teilen von Conants Text abgibt Dieser Text selbst greift schon im Titel und uumlber weite Stre-cken ironisch den Ton theologischer Kontroversen auf Thema der Arbeit ist die umstrittene raquometa-wittgensteinschelaquo Frage ob Anhaumlnger der reso-luten Lesart (die noch einmal zusammenfassend vorgestellt wird) uumlber-haupt uumlber den Spielraum verfuumlgen um einen wesentlichen Unterschied zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein herauszuarbeiten (S 32) Diese Frage geht Conant dialektisch an indem er drei verschie-dene Listen praumlsentiert eine erste (S 49) die scheinbare Lehren der Ab-handlung enthaumllt die aber tatsaumlchlich so Conant Auffassungen sind vor

56 Diese Zwangslaumlufi gkeit tritt in Diamonds Arbeiten weitaus weniger hervor Fuumlr sie ist die Abhandlung ein reiches Buch das zahlreiche ausgesprochen weiterfuumlhrende und faszinierende Passagen enthaumllt die philosophisch weiterhelfen nicht ein Werk das sozu-sagen unter einer Drohung lebt und dessen Leser nach einem Ausweg suchen

57 James Conant Mild-Mono-Wittgensteinianism in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 29ndash142

58 Dieses von Kierkegaard entlehnte Pseudonym verwendet Conant seinerseits in einem Zitat aus der Abschlieszligenden unwissenschaftlichen Nachschrift (31) mit der Bemerkung daszlig Ironie und Ernsthaftigkeit einander nicht ausschlieszligen In fruumlheren Texten hatte Conant raquoClimacuslaquo mit raquoLeiterlaquo uumlbersetzt (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 291)

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denen Wittgenstein seine Leser warnen will eine zweite mit Auffas-sungen die Wittgenstein in der Abhandlung natuumlrlich klar und unkontro-vers erschienen die aber dennoch Ausdruck philosophischer Ansichten sind die er selbst spaumlter als problematisch ansah (S 83)

Damit ist fuumlr eine Differenz zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein ein Spielraum gewonnen der dann durch eine dritte Liste wieder in einen ironischen Schwebezustand gebracht wird indem Conant Saumltze praumlsentiert die man gleichermaszligen dem fruumlhen wie dem spaumlten Wittgenstein zuordnen kann bisweilen indem leichte Variationen des Wortlauts mitgefuumlhrt werden wie raquoDie Logik (Grammatik) muszlig fuumlr sich selber sorgenlaquo (S 106) Conant spricht von raquoAugenblicken atemberau-bender Kontinuitaumltlaquo (S 108) gerade dort wo Wittgenstein die Konzeption der Abhandlung kritisiert (PhU 97ndash133) Als Ergebnis der Untersuchung bleibt so der Eindruck von gleichzeitig auszligerordentlicher Kontinuitaumlt und deutlicher Diskontinuitaumlt in Wittgensteins philosophischer Entwicklung Auch daszlig eine resolute Lesart eher raquoein Programm um das Buch zu lesenlaquo (111 Anm 4) ist als tatsaumlchlich eine durchgehende Lektuumlre ist deutlich ausgesprochen59

Der philosophische Ansatz und Stil Conants ist dem von Diamond in vie-ler Hinsicht entgegengesetzt Waumlhrend Diamond von konkreten Einzelfaumll-len ausgeht und diese im Hin- und Hergehen aufzuklaumlren versucht geht Conant ganz von auszligen mit einem umfassenden Blick in Beziehung zur gesamten Philosophiegeschichte an die Fragen heran Ein bevorzugter Vergleich ist derjenige Wittgensteins mit Kierkegaard insbesondere in der Frage des Verhaumlltnisses des Autors zu seinen Buumlchern60 Man koumlnnte gera-

59 In der gemeinsam verfaszligten Arbeit On Reading The Tractatus Resolutely Reply to Me-redith Williams and Peter Sullivan in M KoumllbelB Weiss Wittgensteinrsquos Lasting Signifi cance London 2004 S 46ndash99 erlaumlutern Diamond und Conant einige Punkte ihres Ansatzes ge-genuumlber Versuchen das Buch als System von Behauptungen zu lesen (Williams) und gegen die Kritik ihre Lesart sei unvollstaumlndig letzteres mit dem Hinweis es handle sich bislang lediglich um ein Forschungsprogramm aber gerade nicht um ein Rezept das eine leichte und zusammenhaumlngende Lektuumlre ermoumlgliche (S 68) Peter Sullivan wird als der produk-tivste Kritiker bezeichnet weil er auf spezifi sche Inkonsistenzen hinweise (vgl die in Anm 64 genannte Arbeit) Sullivans eigene Deutungsvorschlaumlge bleiben jedoch eher tra-ditionellen ontologisch orientierten Ansaumltzen verhaftet (vgl What is the Tractatus About ebenfalls in KoumllbelWeiszlig S 32ndash45) Diese gemeinsame Arbeit verbleibt jedoch insge-samt auf einer sehr allgemeinen und wenig spezifi schen Ebene

60 So etwa Conant Putting Two and Two together Kierkegaard Wittgenstein and the Point of View for Their Work as Authors in T TessinM von der Ruhr (Hg) Philosophy and the Grammar of Religious Belief London 1995 S 248ndash331 Als Zusammenfassung schreibt Co-nant dort daszlig der fruumlhe Wittgenstein aumlhnlich wie Kierkegaard raquoden Leser in die Wahr-heit hineintaumluschen willlaquo zu welchem Zweck er raquoeine ausgefeilte Struktur scheinbarer Behauptungenlaquo verwendet (S 302) Fuumlr ein solches Verstaumlndnis gibt es bei Kierkegaard zahlreiche Hinweise bei Wittgenstein streng genommen keine er will alles raquoklar sagenlaquo

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dezu sagen daszlig sich Conant mehr fuumlr die Frage der Autorschaft als fuumlr das Werk selbst interessiert61 Es geht ihm darum den richtigen Blickwinkel auf das Werk zu gewinnen und den entwickelt er durch weitgespannte Ver-gleiche durch die Analyse der Selbstkommentare und zusaumltzlichen Erlaumlute-rungen Dabei scheint das Ziel vorrangig die Einordnung vorhandener Zu-gangsmoumlglichkeiten zu sein die er dann in eine systematische Ordnung bringt62 Diese Systematik verweist dann gewissermaszligen teleologisch auf eine einzige offene Moumlglichkeit als den richtigen Zugang zu einem Problem oder einem Text Waumlhrend Diamond also einzelne Miszligverstaumlndnisse auf-klaumlrt zieht Conant die groszligen orientierenden Linien63 Damit aber ergaumln-zen beide Ansaumltze einander wiederum in einem Maszlige daszlig sie von auszligen in aller Regel als eine Einheit angesehen werden Erst durch Conants Ord-nungsvorschlaumlge hat Diamonds Ansatz diejenige Uumlbersichtlichkeit und Handhabbarkeit gewonnen die eine breitere Wirksamkeit ermoumlglichen

Einmal schreibt er kritisch raquoDer Verkehr mit Autoren wie Hamann Kierkegaard macht ihre Herausgeber anmaszligend Diese Versuchung wuumlrde der Herausgeber des Cherubi-nischen Wandersmannes nie fuumlhlen noch auch der Confessionen des Augustin oder einer Schrift Luthers Es ist wohl das daszlig die Ironie eines Autors den Leser anmaszligend zu ma-chen geneigt istlaquo (Denkbewegungen [1931] FrankfurtM S 41)

61 In einem fruumlheren Aufsatz The Search for Logically Alien Thought Descartes Kant Frege and the Tractatus in Philosophical Topics 20 (1991) S 115ndash180 vergleicht Conant Witt-gensteins Vorgehen mit einem langen Witz bzw einer Parabel die ein absurdes Gespraumlch wiedergibt in dem ein Pole von einem Juden wissen will worin raquodas Geheimnis der Ju-denlaquo besteht und das nach allerhand Umwegen mit der Einsicht endet daszlig da raquokein Ge-heimnis istlaquo ndash aber so erfahren wir eben das raquoist das Geheimnislaquo (S 160)

62 Conants umfassende Perspektive geht mit einigen Zurechtstellungen bei der Inter-pretation einher die das Material entsprechend dem umfassenden Entwurf leicht umfor-men In seinem langen Aufsatz spricht er Wittgenstein eine besondere Konzeption von Klarheit zu die darin liegen soll daszlig man am Ende das Buch als unsinnig erkennt (374) er uumlbergeht dabei aber daszlig Wittgenstein gegenuumlber Russell unmittelbar auf den voumlllig neu-artigen Inhalt der logischen Konzeption verweist und dabei sogar das Wort raquoTheorielaquo ver-wendet als Ziel formuliert Wittgenstein auch nicht daszlig man bestimmte Konzeptionen als nur scheinbar konsistent erkennen soll (377) sondern daszlig man die Logik der Sprache ein-sehen lernt ohne ein Verstaumlndnis von 654 ist nach Conant kein Verstaumlndnis des Buches moumlglich (378) dies gilt aber angesichts der konzentrierten Form fuumlr jeden Satz des Buches wobei die Schluszligbemerkung eher selbstrefl exiv auf das Buch und die Darstellungsform Bezug nimmt als auf die bis dahin entwickelte Einsicht der gegenuumlber der bloszligen Selbstre-fl exion die Prioritaumlt einzuraumlumen waumlre die Woumlrter raquoUnsinnlaquo und raquoErlaumluternlaquo (378) sind entschieden nicht die Kernbegriffe des Buches zum einen kommen eher die Formen raquoun-sinniglaquo oder raquoes ist ein Unsinnlaquo vor nicht das Substantiv zum anderen sind viel eher raquoKlar-heitlaquo und raquoklarlaquo die zentralen Ausdruumlcke Carnap wird als derjenige hingestellt der nichts verstanden habe aber Wittgenstein hat gerade Carnap 1932 des Plagiats bezichtigt und Conant verkehrt Wittgensteins Aumluszligerung er koumlnne sich raquonicht denkenlaquo daszlig Carnap den Sinn des Buches raquoso ganz und gar miszligverstandenlaquo haben koumlnnte ins gerade Gegenteil und zitiert sie mehrfach (378 Anm 9 Anm 99 als Motto in Two Conceptions wie Anm 54)

63 Relativ haumlufi g verwendet Conant auch ganz traditionelle Ordnungsinstrumente wie raquoArtlaquo und raquoGattunglaquo (vgl Conant Method (Anm 53) S 435 Anm 43 436 Anm 48)

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Ein Punkt hat Kritiker besonders irritiert naumlmlich Diamonds und Co-nants Bestehen darauf daszlig der Text streng und konsequent stuumlckweise (piecemeal) gelesen werden soll Dies scheint mit der radikalen Grundten-denz nicht recht vereinbar oder die Radikalitaumlt doch stark abzuschwaumlchen ndash es koumlnnte aber dazu fuumlhren daszlig man das Gewicht der bisweilen daran angeknuumlpften allgemeineren Betrachtungen als wesentlich geringer anse-hen koumlnnte als es derzeit in aller Regel geschieht Tatsaumlchlich ist der stuumlckweise Zugang sehr charakteristisch fuumlr Diamonds Methode und die allgemein gehaltenen radikalen Thesen wirken in ihren Texten eher wie Fremdkoumlrper Die raquoTheselaquo von der notwendig stuumlckweisen Interpretation reduziert sich daher im Kern auf die wichtige aber unspektakulaumlre me-thodische Beobachtung daszlig es ohne Zweifel richtig ist daszlig man die Ab-handlung sorgfaumlltig langsam und schrittweise entschluumlsseln muszlig gerade damit man die einheitliche und uumlbergreifende Konzeption (und daran ist nichts stuumlckweise und zusammengebastelt) genau richtig auffassen kann

6 Tatsaumlchlich sind die Vertreter der resoluten Lesart insgesamt weit erfolgreicher in der Kritik konkurrierender Ansaumltze als in der Interpreta-tion des Textes selbst Ein groszliger Teil der Debatte wird in der Gestalt von Auseinandersetzungen um das richtige Verstaumlndnis bzw den Maszligstab fuumlr eine angemessene Interpretation gefuumlhrt Dies ist in gewissem Sinne fol-gerichtig denn ein Textverstaumlndnis im gewoumlhnlichen Sinn des Wortes kann es von einem im strengen Sinn unsinnigen Text ja kaum geben Die Debatte behandelt deshalb vorrangig Fragen wie die welches denn der raquoZweck des Unsinnslaquo sei64 Dazu hat Michael Kremer Vorschlaumlge entwi-ckelt die die ethische Dimension des Buches herausarbeiten65 Er zieht Vergleiche zu Wittgensteins Beschaumlftigung mit ethischen und religioumlsen Fragen etwa dem Neuen Testament und dem Gedanken daszlig wir einse-hen muumlssen daszlig wir die raquoSuche nach einer Rechtfertigung unseres Lebens aufgeben muumlssenlaquo (S 56) weil der Versuch einer solchen Selbstrechtferti-gung ein Akt des Hochmutes waumlre Als Ergebnis glaubt er festhalten zu muumlssen daszlig das Buch ein raquoknow-howlaquo kein raquoWissen-daszliglaquo vermittelt raquoDieses Buch und seinen Autor zu verstehen bedeutet zu lernen wie man lebtlaquo66 (S 62) In aumlhnlicher Weise deutet Kremer die Frage nach der

64 Michael Kremer The Purpose of Tractarian Nonsense in Nous 35 2001 S 39ndash73 Darauf reagiert Sullivan mit detaillierter Einzelkritik On Trying to be Resolute A Response to Kremer on the Tractatus in European Journal of Philosophy 10 (2002) S 43ndash78 (vor allem S 66ndash68 mit Hinweisen auf die spaumlrlichen Textbelege)

65 Fragen der Ethik spielen uumlberhaupt in den Arbeiten von Diamond Conant und an-deren resoluten Lesern eine groszlige Rolle was aber hier nicht im einzelnen verfolgt werden kann

66 Schon Diamond Ethics (Anm 37) S 169 spricht als Ziel an daszlig wir raquokeine falschen Anforderungen an die Welt stellenlaquo sollen

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raquoWahrheit des Solipsismuslaquo dahingehend daszlig es darum geht den eigenen Stolz zu uumlberwinden67 Selbst die Frage nach dem raquoHauptproblem der Phi-losophielaquo naumlmlich der Unterscheidung von Sagen und Zeigen versucht Kremer so zu beantworten daszlig Wittgenstein vor allem vor der unberech-tigten und zu vorschnellen Anwendung dieser Unterscheidung warnt (und er will zeigen daszlig insofern diese Unterscheidung als Hauptproblem ange-sprochen wird Wittgenstein dieses Problem raquoloumlsenlaquo will)68 All diese Vor-schlaumlge lenken jedoch systematisch von einer tatsaumlchlichen Lektuumlre von Wittgensteins Buch eher ab

Innerhalb der resoluten Stroumlmung ist Juliet Floyd als radikale raquoJakobine-rinlaquo bezeichnet worden weil sie schon fuumlr den fruumlhen Wittgenstein gene-rell die Existenz einer einheitlichen Auffassung von Logik Bedeutung Sagen und Zeigen aber auch eines eindeutigen Ideals der Klarheit leug-net69 Sie nennt Wittgensteins Vorgehen dialektisch bzw refl ektierend (S 188) so daszlig Wittgenstein nicht auf eine einzelne Stoszligrichtung hin festzulegen ist Dadurch wird zum einen erneut die Moumlglichkeit in Frage gestellt den Text uumlberhaupt einigermaszligen einheitlich zu interpretieren zum anderen eroumlffnen sich Moumlglichkeiten relativ frei auch wieder kon-struktivere (S 187) Zuumlge festzustellen Wenn Floyd als Grundgegensatz der Deutungen die Frage betont ob man Wittgenstein so versteht als wolle er raquodie Endlichkeit oder expressive Begrenztheit der Sprache beto-nenlaquo oder ob er die raquooffene Entwicklung und Vielfalt menschlicher Aus-drucksmoumlglichkeitenlaquo (S 177) herausarbeiten will dann steht auch dies nur in einem eher lockeren Bezug zum Text Genau an dieser Stelle setzen die wichtigsten Kritiker an

7 Als prominentester und heftigster Kritiker ist Peter Hacker hervor-getreten70 Hacker kritisiert und polemisiert aus einer Position der exten-

67 Michael Kremer To What Extent is Solipsism a Truth in Stocker Post-Analytic Tractatus S 59ndash84 Das ist eine sehr ungewoumlhnliche Lesart dieser sonst erkenntnistheore-tisch aufgefaszligten Passage

68 Michael Kremer The Cardinal Problem of Philosophy in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 143ndash176 Kremers Deutung beruht vor allem darauf daszlig Wittgenstein in seinem Brief an Russell (15 8 1919) diese Unterscheidung einmal als raquoHauptpunktlaquo und dann auch als raquoHauptproblemlaquo anspricht Kremer deutet dies so daszlig die Unterscheidung als zu loumlsendes raquoProblemlaquo aufgefaszligt wird

69 Juliet Floyd Wittgenstein and the Inexpressible in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 177ndash234 hier S 185 und 196

70 Hackers Schriften dienen zugleich umgekehrt Diamond und Conant als Illustrati-onen fuumlr die raquoStandardlesartlaquo und dafuumlr wie man Wittgenstein nicht interpretieren sollte so schon 1985 in Diamond Throwing Away the Ladder (Anm 30) S 194 als Beispiel fuumlr raquochickening outlaquo Hacker ist auch als einziger Kritiker im Sammelband New Wittgenstein vertreten Was he Trying to Whistle It in New Wittgenstein S 353ndash388 Sein Sammelband Connections and Controversies Oxford 2001 enthaumllt neben dem Nachdruck auf S 98ndash140 noch eine Fortsetzung When the Whistling Had to Stop S 141ndash169

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siven Kommentieung des spaumlten Wittgenstein und zugleich des philo-sophischen Common Sense heraus Er sieht in der Abhandlung raquoeine ver-bluumlffende Lehre auf verbluumlffende Weise dargebotenlaquo (S 353) ndash diese Charakterisierung entnimmt er jedoch nicht erst seinen neuen Gegnern sondern einer eher traditionellen realistisch-metaphysischen Deutung von David Pears Hacker versteht das Buch als einen gescheiterten Versuch wesentliche Wahrheiten die nicht gesagt werden koumlnnen dennoch zu zeigen Dies sieht er als gesichertes Faktum an dessen Vorhandensein er mit Energie gegen Versuche es zu leugnen untermauert Dazu zaumlhlt er zehn Beispiele solcher Versuche auf von logischen Beziehungen zwischen Saumltzen bis zur Harmonie zwischen Gedanke Sprache und Wirklichkeit (S 353ndash355) und stellt sich ganz auf die Seite schon der fruumlhen Kritiker besonders des Wiener Kreises die den Schluszlig des Buches raquoganz unglaub-wuumlrdig fandenlaquo (S 355)71 Er nennt den Ansatz von Diamond und Conant raquopostmodernlaquo offenbar darauf berechnet zu provozieren jedoch frei von ernsthaften Absichten nicht aber das Buch richtig einschaumltzen zu wollen (S 356)72

Hacker sieht das Buch als offensichtlich inkonsistent an und beruft sich dabei auf Wittgensteins spaumltere Meinung zur Bestaumltigung dieses Faktums (S 370) Von daher fallen alle Versuche das Buch insgesamt nachzuvoll-ziehen zwangslaumlufi g ebenfalls der Inkonsistenz anheim Als Maszligstab der Inkonsistenz dient ihm dabei die Unvereinbarkeit und Widerspruumlchlich-keit der im Buch vorgetragenen (raquogesagtenlaquo oder raquogezeigtenlaquo) Lehren Da-mit aber stellt sich Hacker explizit auf einen Standpunkt den Wittgenstein fuumlr sein eigenes Werk ablehnt das ja explizit raquokein Lehrbuchlaquo (Vorwort) sein will Hacker reduziert das Buch auf einen Lehrinhalt den er unzurei-chend fi ndet ndash der Gegensatz zu Diamond und Conant liegt bereits hier denn beide Seiten differieren vor allem darin was das Buch eigentlich

71 In dieser Hinsicht stimmt seine Einschaumltzung mit derjenigen Conants uumlberein der seinerseits Hacker in die Naumlhe Carnaps plaziert (Two Conceptions of Die Uumlberwindung S 14 ff) Ohne Hacker sofort zu nennen schreibt Conant Carnap (wie spaumlter Hacker) eine substantielle Auffassung von Unsinn zu

72 Hacker lehnt sowohl die Abhandlung als auch Freges philosophische Grundkonzepti-on ab und setzt sie als verfehlten Versuch in scharfen Kontrast zum Denken des spaumlten Wittgenstein Diese Haltung wird in seinem Kommentar zu den Philosophischen Untersu-chungen deutlich besonders eklatant jedoch in dem (gemeinsam mit Gordon Baker ver-faszligten) gegen Dummetts Fregedeutung geschriebenen Frege Logical Excavations (Oxford 1984) Das Auftreten der resoluten Lesart gibt Hacker daher nicht den Grund zu seiner Ablehnung des fruumlhen Wittgenstein sondern vor allem den Anlaszlig seine Gruumlnde zu buumln-deln und erneut vorzubringen (Der verstorbene Gordon Baker der zunaumlchst gemeinsam mit Hacker mehrere Baumlnde zum spaumlten Wittgenstein verfaszligte dann aber seinen Ansatz weiterentwickelte und dabei in einigen Punkten der resoluten Lesart nahekam sei hier noch erwaumlhnt vgl Baker Wittgensteinrsquos Method Neglected Aspects Oxford 2004)

117Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

leisten will Hacker sieht einen eklatanten Gegensatz zwischen Wittgen-steins Erklaumlrung nichts lehren zu wollen und seinem tatsaumlchlichen Vor-gehen seine Gegner versuchen gerade diese Aumluszligerungen Wittgensteins zu verstehen und ihnen entsprechend den Text so zu lesen daszlig er keine raquoLehrenlaquo enthaumllt sondern auf andere Art und Weise arbeitet

Hacker versucht entsprechend auch nicht Diamond und Conant ge-recht zu werden sondern listet vor allem eine Reihe von Kritikpunkten auf Zum einen weist er auf eine gewisse hermeneutische Willkuumlr hin mit der nur relativ wenige insgesamt unzusammenhaumlngende Partien herange-zogen werden wobei einige Passagen doch wieder als ganz gewoumlhnlich und sinnvoll gelesen werden ohne daszlig eine klare Abgrenzung nach Kri-terien gegeben wuumlrde Die haumlufi g verwendete Rede vom raquoRahmenlaquo des Buches im Unterschied zum raquoHauptteillaquo bleibt ihm zufolge unklar abge-grenzt da zum Rahmen auch Bemerkungen wie 4112 aus der Mitte des Textes gezaumlhlt werden73 Im Zusammenhang damit weist er darauf hin daszlig zwischen den Arten von Unsinn doch ein Unterschied gemacht wer-de wenigstens nach der Wirkung auf den Leser74 Und schlieszliglich ver-sucht er nachzuweisen daszlig Wittgenstein selbst weder in seiner fruumlheren noch in seiner spaumlteren Zeit eine solche radikale Lesart seiner eigenen Ar-beit vorgetragen oder unterstuumltzt habe

Eine spezielle Streitfrage liegt darin ob es nach Wittgenstein raquoUumlbertre-tungen der logischen Syntaxlaquo geben koumlnne Diamond und Conant be-haupten nein Hacker versucht an Beispielen aufzuzeigen daszlig Wittgen-stein dies wiederholt anspricht (S 365ndash367)75 Der grundlegende Dissens betrifft hier die Frage ob Wittgenstein sich vorrangig um den Begriff und die Festlegung einer logischen Syntax als Einfuumlhrung sinnvoller Rede be-muumlht denn wenn es um die Festlegung und ggf die Erweiterung und Ver-aumlnderung von Sinn geht dann gibt es nichts was uumlbertreten oder verfehlt werden koumlnnte ndash oder aber ob Wittgenstein wie Hacker ihn liest jemand ist der vor allem schon bestehende syntaktische Systeme betrachtet und dabei die Moumlglichkeiten behandelt sich gegenuumlber den Vorschriften be-

73 Conants Auskunft daszlig nicht der Ort im Text sondern die Funktion der Bemerkung daruumlber entscheide ob es zu Rahmen oder Hauptteil gehoumlre vermag als Gegenargument nicht wirklich zu uumlberzeugen

74 Dies leugnen Conant und Diamond keineswegs nur kommt es ihnen gerade auf den Unterschied zwischen logischen und anderen Einteilungsgruumlnden an

75 Dieser Punkt ist auch deswegen zentral weil fuumlr Hacker Unsinn genau dadurch ent-steht daszlig man die logische Syntax verletzt (Was he Trying S 367) waumlhrend fuumlr Conant und Diamond Unsinn dann vorliegt wenn wir mit einer Zeichenreihe schlicht nichts anfangen koumlnnen also kein Symbol darin erkennen Dieser Frage widmet Hacker den Aufsatz Wittgenstein Carnap and the New American Wittgensteinians in Philosophical Quar-terly 53 (2003) S 1ndash23 und Diamond die Entgegnung Logical Syntax in Wittgensteinrsquos Tractatus in Philosophical Quartely 55 (2005) S 78ndash88

118 Wolfgang Kienzler PhR

stimmter Systeme abweichend zu verhalten und ihre Regeln zu verletzen Die Frage ist ob Wittgenstein die Syntax mit einem bestehenden Spiel analog setzt oder nicht76 Fuumlr beide Aspekte gibt es Belege im Text77

Eine gewisse Uumlbereinstimmung zwischen Hacker und seinen Gegnern liegt ironischerweise darin daszlig keine der beiden Seiten eine durchge-hende Interpretation der Abhandlung anstrebt Hacker haumllt dies aufgrund der Inkonsistenz fuumlr uninteressant (wenn auch theoretisch moumlglich) Dia-mond ist vorrangig an Einzelfragen und am methodischen Standard des spaumlten Wittgenstein interessiert (wozu sie in der Abhandlung letztlich doch nur eine Vorstufe fi ndet) und Conant ist hauptsaumlchlich damit beschaumlftigt vorgaumlngige Kriterien fuumlr eine uumlberzeugende Lektuumlre zu entwickeln78

Als zentrale unbeantwortete Frage bleibt daruumlber hinaus das Problem bestehen wie man Wittgensteins Sprache und die Art seiner Behaup-tungen im Text konsequent aufzufassen hat denn hier weist Hacker auf deutliche Inkonsistenzen der resoluten Leser hin Zum einen wird von raquobloszligem Unsinnlaquo gesprochen dann wieder werden Passagen so gelesen wie gewoumlhnliche behauptende Prosa zum einen ist von Ironie die Rede dann wieder scheint alles ganz woumlrtlich aufzufassen zu sein79

8 Marie McGinn hat den bisher ehrgeizigsten Versuch unternommen die Staumlrken beider konkurrierender Ansaumltze zu verbinden und die jewei-

76 Vgl Diamond (wie die vorige Anm) S 86 Hacker vertritt hier einen eher kantischen Ansatz der die Grenzen der Vernunft bereits abgesteckt vorfi ndet (ein fuumlr Hacker wichtiges Buch ist P Strawsons Kantdeutung in The Bounds of Sense) Diamond und Conant sehen Wittgenstein als radikaleren Denker nach dem diese Grenzen immer wieder neu bestimmt werden muumlssen bzw nach dem es genau genommen keine Grenzen gibt da das Entschei-dende die Moumlglichkeit neuer Begriffsbildungen ist ohne daszlig man sich an irgendeiner Vorgabe (oder Grenze) orientieren kann die man entweder trifft oder verfehlt

77 Zum einen schreibt Wittgenstein raquoWir koumlnnen einem Zeichen nicht den unrechten Sinn gebenlaquo (54733) also bei der Bedeutungsfestsetzung nichts verfehlen zum anderen erklaumlrt er schlicht Saumltze wie raquo1 ist eine Zahllaquo (41272) die sich auf unsere bestehende Spra-che beziehen fuumlr unsinnig weil darin das Wort raquoZahllaquo als gewoumlhnliches Begriffswort statt als raquoformaler Begrifflaquo und also falsch verwendet wird Daszlig 1 eine Zahl ist ist schon da-durch klar daszlig wir das Zahlzeichen 1 verwenden und gerade deshalb koumlnnen wir dies nicht noch zusaumltzlich behaupten Es ist allerdings richtig daszlig Wittgenstein im letzteren Fall strenggenommen nicht von der raquoVerletzung der logischen Syntaxlaquo spricht sondern das Gebilde einfach raquounsinniglaquo nennt da fuumlr solche Faumllle gar keine logische Syntax im exakten Sinn verfuumlgbar ist Die gesamte Abhandlung ist in dieser Hinsicht nirgends der Versuch eine vorliegende Syntax zu treffen aber auch nicht eine neue Syntax festzulegen sondern sie befaszligt sich vielmehr mit den Bedingungen der Moumlglichkeit von Syntax uumlberhaupt Insofern verfehlen sowohl Hacker auch Diamond und Conant diesen Kernpunkt des Buches

78 So etwa im Abschnitt What makes a Reading resolute in Mono-Wittgensteinianism S 42ndash47

79 Vgl dazu W Kienzler Die Sprache des Tractatus Klar oder deutlich Karl Kraus Witt-genstein und die Frage der Terminologie in F GoumlppelsriederJ Volbers (Ed) Philosophie als Lebensform Muumlnchen 2008 (im Erscheinen)

119Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

ligen Schwaumlchen zu vermeiden80 Sie will Wittgenstein keine metaphy-sischen Lehren zuschreiben81 aber doch sicherstellen daszlig wir aus dem Buch etwas Konstruktives lernen koumlnnen Dazu nimmt sie den Begriff der Klaumlrung als Orientierungspunkt Die Aufgabe des Buches ist es demnach die Logik der Sprache aufzuklaumlren Wenn dies aber ohne die Verwendung positiver Lehren geschehen soll muszlig es indirekt geschehen naumlmlich da-durch daszlig die Sprache sich indirekt selbst klaumlrt das heiszligt daszlig eine solche Klaumlrung nicht auf etwas auszligerhalb der Sprache Bezug nimmt denn das waumlre Kennzeichen einer metaphysischen Auffassung McGinn schreibt et-was kryptisch raquoEs ist ein Werk in dem die Natur des Satzes die schon klar ist obwohl wir sie noch nicht klar sehen sich selbst fuumlr uns klaumlrtlaquo82

Sie betont jedoch sehr zu Recht daszlig Wittgenstein in seiner Abhandlung die eine groszlige Frage loumlsen wollte raquoDas Wesen des Satzes angeben heiszligt das Wesen aller Beschreibung angeben also das Wesen der Weltlaquo (54711)83

Damit aber waumlren alle (oder raquodielaquo) philosophischen Probleme geloumlst Ohne eine solche Voraussetzung die Wittgenstein offenbar als grundle-gende Einsicht erschien ist seine Handlungsweise gar nicht nachvollzieh-bar naumlmlich ein uumlberaus kurzes Buch zu verfassen in dem alle philoso-phischen Fragen im Prinzip jedenfalls beantwortet sind Dies ist nur moumlglich wenn diese Fragen so eng zusammenhaumlngen daszlig die Loumlsung der einen zugleich die Loumlsung der anderen bedeutet Dieser Grundgedanke strukturiert McGinns Buch und gibt ihm eine klare Linie84 Sie untersucht die besonders von Conant behandelten Fragen nach den Bedingungen einer angemessenen Lektuumlre fast gar nicht und antwortet insofern nicht durch Gegenargumente sondern durch die Tat durch einen Gang durch das Buch Es uumlberrascht dabei daszlig sie den Anfang zunaumlchst weglaumlszligt und nach Einleitungskapiteln zur Abgrenzung gegen Frege und Russell gleich mit dem Begriff des Bildes und dann des Satzes beginnt Tatsaumlchlich zeigt McGinn uumlberzeugend auf daszlig die Eingangspassagen am besten als Hin-fuumlhrungen zur raquoTheorie des Satzeslaquo aufgefaszligt werden und nicht als eigen-staumlndiges Theoriestuumlck einer vorangestellten Ontologie (sei diese nur scheinbar als Illusion aufgebaut oder ernst gemeint vgl etwa Diamond

80 Marie McGinn Elucidating the Tractatus81 Marie McGinn Between Metaphysics and Nonsense Elucidation in Wittgensteinrsquos Tracta-

tus In Philosophical Quarterly 49 (1999) S 491ndash513 hier S 107)82 Damit bleibt McGinn nahe an Aumluszligerungen von Diamond und Conant (etwa Method

S 424)83 Zit in McGinn Elucidating S 24084 Das erste Kapitel The Single Great Problem behandelt diese Frage zeigt aber bereits

daszlig sich McGinn nicht vollstaumlndig auf den Text einlaumlszligt sondern ihn von Anfang an stark aus der Perspektive der Philosophischen Untersuchungen her deutet (die im letzen Kapitel er-neut den Maszligstab der Betrachtung bilden)

120 Wolfgang Kienzler PhR

Ethics S 160) Vor dem Hintergrund der Auffassung des sinnvollen Satzes wird der Anfang dann relativ leicht verstaumlndlich In der Darstellung von McGinn wird die Abhandlung wieder zu einer Abhandlung einer nuumlch-ternen Darlegung uumlber die Voraussetzungen sinnvollen Sprechens und Ausdruumlckens uumlber die Unterschiede der Satzarten und die allgemeine Form des Satzes Allerdings ruumlcken so die Einzelheiten der Sprachlogik ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit und die Fragen nach der Natur der Philosophie aber auch die nach der Einheit des Buches treten ganz in den Hintergrund Das Buch enthaumllt kein Kapitel zum Philosophiebegriff des fruumlhen Wittgenstein und kaum Erlaumluterungen zur spezifi schen Form der Darstellung oder zur Strategie der Praumlsentation Einige Themen wie die Ethik Arithmetik oder die Naturgesetze werden ganz uumlbergangen dabei waumlre an diesen Beispielen die angestrebte Einheitlichkeit erst richtig aufzuzeigen gewesen In dieser Hinsicht erklaumlrt McGinn die Abhandlung in der Form die sie 1916 noch hatte bevor Wittgenstein die Schluszligpassa-gen einarbeitete und als sie noch staumlrker eine Abhandlung in raquophiloso-phischer Logiklaquo war85 Gegen Diamond und Conant stellt sie klar heraus daszlig das Ziel der Klaumlrung raquodurch Einsicht in das Funktionieren der Spra-chelaquo erreicht werden soll und nicht indirekt dadurch daszlig raquodie Versuche philosophische Saumltze zu bilden als Unsinn erkannt werdenlaquo (S 254 Anm 6) Die sehr nuumlchterne Art McGinns zeigt einen Wittgenstein der ganz unironisch seine logisch-philosophische Konzeption Schritt fuumlr Schritt entwickelt86

85 Vgl Brian McGuinness Wittgensteinrsquos 1916 Abhandlung in R HallerK Puhl (Hg) Wittgenstein and the Future of Philosophy Wien 2002 S 272ndash282 Die grundlegenden philologischen Arbeiten von McGuinness werden in der gegenwaumlrtigen Debatte leider wenig fruchtbar gemacht

86 Das stark gestiegene Interesse am fruumlhen Wittgenstein hat eine ganze Reihe von Monographien hervorgebracht die jedoch nur selten das gelassene exegetische Niveau McGinns erreichen sondern in der Regel mehr oder weniger exzentrische Deutungen in den Mittelpunkt stellen

M Ostrow Wittgenstein and the Liberating Word CambridgeMass 2002 (eine Zusam-menfassung in Reck From Frege to Wittgenstein) versucht eine an Floyd orientierte raquodialek-tische Interpretationlaquo die sich am Leitmotiv des raquoerloumlsenden Worteslaquo orientiert aber ins-gesamt zu vage bleibt zumal sich die Differenz zum spaumlteren Wittgenstein ganz aufzuloumlsen scheint und wichtige Passagen unberuumlcksichtigt bleiben

E Friedlander Signs of Sense Reading Wittgensteinrsquos Tractatus Cambridge Mass 2001 scheint das Raumltselhafte geradezu zu genieszligen und nennt als sein Ziel raquonicht das Raumltsel des Buches zu loumlsen sondern seinen raumltselhaften Charakter auf eine wahrhaft zum Denken herausfordernde Art aufzuzeigenlaquo (S XV) und will geradezu raquoseinen raumltselhaften Charak-ter rechtfertigenlaquo (16)

U Nordmann Wittgensteinrsquos Tractatus An Introduction Cambridge 2005 faszligt das Buch als ein Gedankenexperiment und eine groszlige Reductio ad Absurdum auf zu der er einige Praumlmissen ergaumlnzt Er deutet das Buch als im Konjunktiv geaumluszligert wodurch der Behaup-

121Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Ausblick

Die Arbeiten von Diamond und Conant haben zu einer neuen Welle des Interesses an Wittgensteins Fruumlhwerk gefuumlhrt und die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten vor allem aber auch das Potential seiner Abhandlung gelenkt Im Zentrum steht dabei die Natur der Philosophie als Erlaumlute-rung die selbst nicht in die Gestalt einer Lehre gebracht werden kann oder anders ausgedruumlckt der entscheidende Unterschied zwischen einer philosophischen und einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Untersu-chung

Gerade dadurch daszlig sie die Abhandlung stellenweise sehr nah an den spaumlten Wittgenstein heranruumlcken eroumlffnen Conant und Diamond Moumlg-lichkeiten die Souveraumlnitaumlt und Subtilitaumlt des Buches erst richtig zu wuumlr-digen Dies geschieht jedoch um den Preis daszlig einige Teile des Buches herausgegriffen andere dagegen kaum beruumlcksichtigt werden

Nicht hinreichend geklaumlrt scheint auch die Frage nach dem sprachlichen Grundton des Buches Diamond geht immer wieder von einem nahe an der Alltagssprache stehenden Redegestus aus (aumlhnlich wie der spaumlte Wittgen-stein) waumlhrend Conant aus der weiteren Perspektive ironische Zuumlge be-schreibt87 Gemeinsam ist den resoluten Lesern daszlig sie Wittgensteins Saumltze in der Abhandlung auf doppelte Weise auffassen Sie unterscheiden an vielen Stellen einen buchstaumlblichen naheliegenden Sinn der sich bei naumlherer Be-trachtung als inkohaumlrent erweist und der so zerfaumlllt88 Daher wird in ihrer

tungscharakter eingeklammert die Klaumlrungsfunktion jedoch trotzdem ermoumlglicht wird Er gewinnt so eine Kategorie von Saumltzen die raquounsinnig aber bedeutungsvolllaquo (176) sind

L Gunnarsson Wittgensteins Leiter Bodenheim 2002 greift einen Gedanken Conants auf daszlig wir naumlmlich den Hauptteil des Buches wegwerfen und den Rahmen behalten sollen (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 286) und entwickelt daraus die Fik-tion es waumlre tatsaumlchlich nur das Vorwort und der Schluszlig der Abhandlung erhalten ndash und will daraus den Gehalt des Buches ohne Verlust rekonstruieren Diese Veranschaulichung zeigt besonders klar auf wie verfehlt dieser Ansatz ist wenn man ihn auf die konkrete Interpretationspraxis bezieht

87 Die Parallele zwischen Wittgenstein und Kierkegaard scheint in zentralen Punkten gerade nicht zu bestehen denn Wittgenstein distanziert sich gerade nicht von seinem Buch sondern erklaumlrt seine Auffassungen fuumlr defi nitiv richtig und alternativlos ganz ent-gegen dem verwirrenden Spiel Kierkegaards mit unterschiedlichen Pseudonymen und Perspektiven Ein passenderer Vergleich waumlre etwa mit Hume moumlglich der am Ende seiner Untersuchung uumlber die Prinzipien der Moral (Abschnitt 9 Teil 1) seine Ergebnisse fuumlr derart einfach klar kohaumlrent und uumlberzeugend haumllt daszlig dem nichts hinzuzufuumlgen ist so daszlig er selbst geradezu in Versuchung kommen koumlnnte dogmatisch davon uumlberzeugt zu sein

88 So fuumlhrt Diamond (in Ethics wie Anm 37) folgende Beispiele dafuumlr an 1 das woruuml-ber man schweigen muszlig (aber das kann es doch nicht geben weil es kein raquodaruumlberlaquo ist S 149) 2 die Saumltze der Abhandlung die zu verstehen seien (oder doch raquoer selbstlaquo wie Witt-genstein dann uumlberraschenderweise sagt S 149) 3 die Anfangssaumltze uumlber die Welt (aber daruumlber kann es doch keine Saumltze geben S 160) 4 der Schein daszlig ab 64 Saumltze uumlber Ethik

122 Wolfgang Kienzler PhR

Perspektive das Buch durchgehend doppelboumldig und loumlst sich schlieszliglich in Nichts auf wobei in der Aufl oumlsung gerade die Absicht des Buches bestehen soll89 Demgegenuumlber kann festgehalten werden daszlig Wittgenstein nir-gends von Ironie spricht wohl aber davon daszlig er das Wesentliche in Kuumlr-ze klar ausdruumlcken will Eine wichtige Differenz innerhalb der resoluten Lesart liegt weiter darin welche Wichtigkeit man den eher technischen Aspekten der Abhandlung zuschreibt Ricketts und Goldfarb sehen viele Zuumlge des Buches von technischen Erwaumlgungen motiviert und gepraumlgt waumlhrend Diamond und Conant den Sinn der symbolischen Notation vor allem darin sehen wesentliche Unterschiede klarzustellen90

Das Motto erklaumlrt daszlig man raquoalles was man weiszliglaquo schlieszliglich raquoin drei Worten sagenlaquo kann Viele der scheinbaren Widerspruumlche und Doppelt-heiten die resolute Leser beobachten koumlnnten sich von daher moumlglicher-weise der Absicht verdanken im Buch logisch praumlzise Saumltze zu erwarten eine Absicht die bestaumlndig getaumluscht wird91 Wuumlrde man die Saumltze eher als Instrumente verstehen die allmaumlhlich entsprechend den Stufen der Lei-ter zur Klarheit anleiten ohne daszlig der Leser in die selbstrefl exive Geste verwickelt werden soll dann koumlnnte eine einfachere und klarere Lesart entstehen die auch mehr Sinn fuumlr den Zusammenhang und die spezi-fi schen Darstellungsmittel des Buches entwickeln wuumlrde ndash wenn denn eine solche zusammenhaumlngende Erlaumluterung als gemeinsames Ziel fest-staumlnde92 Auch Fragen der Textkritik die derzeit nur sehr sporadisch ge-streift werden koumlnnten dann eine groumlszligere Rolle spielen

Wolfgang Kienzler (ChemnitzJena)

vorkommen (die es doch gar nicht geben kann S 164) 5 der Schein daszlig im Buch Saumltze raquouumlber Logiklaquo vorkommen (die es ebenfalls nicht geben kann S 164) In allen Beispielen kann man die Situation natuumlrlicher so darstellen daszlig man die Saumltze der Abhandlung von vornherein zwar woumlrtlich aber nicht buchstaumlblich nimmt sondern sich von ihren zur Klarheit die sich erst allmaumlhlich einstellen kann fuumlhren laumlszligt

89 Diese Doppeltheit der Lesart ist den resoluten Lesern und ihren Kritikern gemein-sam sie ist aber keineswegs selbstverstaumlndlich und widerspricht dem Grundgedanken der Klarheit

90 Dies ist das Thema von Diamond What Does a Concept-Script Do in The Realistic Spirit S 115ndash144 Sie sieht darin ein raquoWerkzeug geistiger Befreiunglaquo (143) deutet damit aber tendenziell wieder einen Gedanken der Abhandlung in Frege hinein der zunaumlchst die Umgangssprache ganz zugunsten der exakteren Begriffsschrift verbannen wollte

91 In weiten Teilen der resoluten Beitraumlge kann man auch eine gewisse Vergegenstaumlnd-lichung mancher von Wittgenstein verwendeter Woumlrter wahrnehmen die dazu fuumlhren daszlig die Rede von raquoUnsinnlaquo raquoErlaumluterunglaquo u a zunaumlchst gegenstaumlndlich miszligverstanden und anschlieszligend als Gegenstaumlndlichkeit leugnend gedeutet wird Eine Beachtung von Wittgensteins ungezwungenem und unterminologischem Sprachgebrauch koumlnnte viele dieser Schleifen uumlberfl uumlssig machen

92 Das Buch von McGinn kann dazu als erster wichtiger konstruktiver Schritt angese-hen werden auch wenn es insgesamt etwas zu additiv verfaumlhrt

Page 13: Neue Lektüren von Wittgensteins Logisch-Philosophischer ... · 10 E. Stenius : Wittgensteins Traktat [1960], Frankfurt/M. 1969, nennt den Schluß »keine echte Verdammung [. . .]

107Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Damit will Diamond einen Beitrag dazu leisten die raquophilosophi sche Klauml-rung zu klaumlrenlaquo (to clarify philosophical clarifi cation)46

Das Ziel ihrer Arbeit ist jeweils die Klaumlrung unuumlbersichtlicher begriff-licher Verhaumlltnisse um so zu einer natuumlrlichen raquorealistischenlaquo Sicht zu kommen47 An Paradoxien ist sie grundsaumltzlich nicht interessiert auszliger insofern es darum geht deren Quellen aufzudecken sie als Symptome von begriffl ichen Unklarheiten zu sehen

Charakteristisch fuumlr Diamonds Vorgehensweise ist auch eine Uumlberle-gung die von einer Bemerkung Kripkes ihren Ausgang nimmt Einmal schreibt Wittgenstein raquoMan kann von einem Ding nicht aussagen es sei 1 m lang noch es sei nicht 1 m lang und das ist das Urmeter in Parislaquo (PhU 50) Kripke nennt diese Behauptung die aus dem Zusammenhang gerissen etwas entschieden Paradoxes hat offensichtlich falsch ohne je-doch den genauen Zusammenhang zu beachten48 Genau darauf kommt es Diamond aber an und sie erlaumlutert detailliert hartnaumlckig und zielstrebig

46 Ebd S 15347 Diamonds Grundanliegen kann man auch so formulieren daszlig sie an die Stelle von

philosophischen raquoPhantasienlaquo die aufs Allgemeine eines zurechtgestellten Sprachgebrauchs gehen eine realistische Einstellung die sich vor allem um Einzelheiten kuumlmmert setzt (The Realistic Spirit in der gleichnamigen Sammlung S 39ndash72)

48 Tatsaumlchlich ist die Bemerkung Kripkes weitaus weniger beilaumlufi g als Diamond sugge-riert Er schreibt raquoWittgenstein sagt etwas sehr Verwirrendes hieruumlber Er sagt raquoMan kann von einem Ding nicht sagen es sei 1 m lang noch es sei nicht 1 m lang und das ist das Urmeter in Paris ndash Damit haben wir aber diesem natuumlrlich nicht irgendeine merkwuumlrdige Eigenschaft zugeschrieben sondern nur seine eigenartige Rolle im Spiel des Messens mit dem Metermaszlig gekennzeichnetlaquo (PhU 50) Das scheint aber in der Tat eine sehr raquomerk-wuumlrdige Eigenschaftlaquo fuumlr einen Stab zu sein Ich denke Wittgenstein muszlig sich hier irren Wenn der Stock 3937 Inches lang ist (ich nehme an daszlig wir einen anderen Standard fuumlr Inches haben) warum ist er nicht 1 m lang Wir wollen jedenfalls annehmen daszlig Witt-genstein sich irrt und daszlig der Stab 1 m lang istlaquo (Kripke Naming and Necessity 1980 Name und Notwendigkeit FrankfurtM 1981 S 65 f) Diamond weist zwar zu Recht darauf hin daszlig Kripkes theoretisches Vokabular nur uumlber Eigenschaften (er diskutiert Fragen von Referenz und sprachlicher Bedeutung separat) nicht aber uumlber raquoStellungen im Sprachspiellaquo verfuumlgt und daszlig er deshalb zur tatsaumlchlich merkwuumlrdigen Deutung des Satzes als raquokontin-gente Wahrheit a priorilaquo (S 68) kommt (Dies entspricht wiederum in einigem der ja auch raquoeigenartigenlaquo Rolle im Sprachspiel) Beim Ausfuumlhren des Beispiels gegen Wittgenstein argumentiert Kripke jedoch intern vollkommen konsistent und faktisch auch an einem Sprachspiel orientiert wenn er (in Klammern) annimmt daszlig wir uumlber einen eigenen unabhaumlngigen Maszligstab fuumlr englische Zoll verfuumlgen Dann naumlmlich kann man das Urmeter ohne weiteres wie jeden anderen Gegenstand auch (auszliger in diesem Spiel dem raquoUr-Yardlaquo das Kripke jedoch nicht erwaumlhnt ndash und insofern hat Kripke die Problematik nur geschickt verschoben) abmessen und das Ergebnis anschlieszligend umrechnen Damit nimmt Kripke Wittgensteins Bemerkung das Paradoxe fuumlhrt dabei allerdings (unkommentiert) einen raquoDoppelstandardlaquo der Messung ein der nicht weiter geklaumlrt wird Die Sorgfalt in Kripkes Ausfuumlhrungen legen daher nahe die Rede davon daszlig Wittgenstein raquoirrelaquo nicht als Hin-weis auf einen einzelnen zufaumllligen Fehler sondern auf eine insgesamt verfehlte Auffas-sung zu verstehen

108 Wolfgang Kienzler PhR

wie Wittgenstein zu seiner Aumluszligerung kommt und inwiefern die Institution des Messens davon abhaumlngt daszlig man Maszligstaumlbe einfuumlhrt mit denen dann andere Objekte gemessen werden49 Da Laumlngenangaben entsprechend im-mer auf den Vergleich zu einem Maszligstab bezogen sind entsteht die kuriose Situation daszlig die Laumlnge des Urmeters durch Anlegen an sich selbst be-stimmt werden muumlszligte Nach Kripke ist dies ein Fall von Identitaumlt d h im Fall der Identitaumlt kann man auch ohne jede Messung sagen daszlig das betref-fende Objekt 1 m lang ist (oder eben raquoso lang wie es istlaquo ndash denn wie lang sollte es sonst sein) Damit aber gleicht er den Fall der Messung an den Fall der bloszligen Festsetzung in dem gar keine Messung erfolgt und genau genommen auch keine Messung moumlglich ist (denn man kann keinen Maszlig-stab an sich selbst anlegen weil dazu mindestens zwei Objekte benoumltigt werden) an und uumlbersieht die begriffl iche Verschiedenheit beider Faumllle Durch dieses Beispiel beleuchtet Diamond vor allem den Begriff der Gleichheit bzw Identitaumlt der von Kripke und weiten Teilen der philoso-phischen Tradition als unproblematischer absoluter Fixpunkt in Anspruch genommen wird den Wittgenstein aber einer fruumlhen Kritik (553 ff) und einer spaumlteren genauen Beschreibung (PhU 251 ff) unterzogen hat Zur Aufklaumlrung ist es noumltig den Ort den die Rede von raquogleichlaquo und raquoiden-tischlaquo in der Sprache hat genauer zu beleuchten und zu beschreiben an-statt ihn als quasi sprachunabhaumlngig gegeben einfach vorauszusetzen50

Diamonds Arbeit zielt so durchgehend auf die Klaumlrung scheinbar para-doxer oder merkwuumlrdiger Behauptungen ab und sie sieht ihr Ziel erst dann erreicht wenn aufgezeigt ist daszlig im Sprachspiel alles mit ganz ge-woumlhnlichen Dingen zugeht Paradoxe Behauptungen haben darin keinen Ort Auch ihre Anmerkungen zum Schluszlig von Wittgensteins Abhandlung sind daher systematisch als solche Aufklaumlrungen (etwa der paradoxen Re-deweise von Saumltzen die raquowahr waumlren wenn sie gesagt werden koumlnntenlaquo) zu verstehen auch wenn sie stellenweise selbst sehr uumlberraschend klingen Ihr Grundgedanke lautet jedoch Auch raquounsinniglaquo ist ein ganz gewoumlhn-liches Wort welches Wittgenstein verwendet und wenn er es verwendet dann meint er es auch so wie er es sagt51

49 Diamond betont mit (dem spaumlten) Wittgenstein die grundlegende Bedeutung von sprachlichen Institutionen waumlhrend Kripke konsequent davon absieht und alles als Fakten (unterschiedlicher Art) interpretiert

50 Kripkes Auffassung der Identitaumlt ist sprachunabhaumlngig und sozusagen raquorein objektivlaquo angelegt Fuumlr ihn ist jeder Gegenstand notwendigerweise mit sich selbst identisch und weist eine bestimmte raquoobjektivelaquo Laumlnge auf Wittgenstein dagegen weist darauf hin daszlig auch zum Wort raquoidentischlaquo ein Sprachspiel gehoumlrt das diesem Wort erst seine klare Ver-wendung gibt

51 Einiges spricht jedoch auch dafuumlr daszlig diese Auffassung eher dem spaumlten Wittgen-stein entspricht und daszlig in 654 raquounsinniglaquo gerade nicht im alltaumlglichen Sinn verwendet wird

109Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

5 Es ist bei dieser sehr punktuellen Methodik um so bemerkenswerter und selbst geradezu paradox daszlig Diamonds Ansatz der Ausgangspunkt einer ganzen Richtung der Wittgensteininterpretation und noch dazu der Abhandlung geworden ist Diese Entwicklung hat viel mit der Arbeit von James Conant zu tun der dem Ansatz eine allgemeinere und leichter ein-zuordnende Form gegeben und das Zentrum der Aufmerksamkeit noch viel staumlrker als Diamond auf die Abhandlung und ihren Schluszlig gelenkt hat Conant stellt Wittgensteins Text in einen weiteren Rahmen indem er etwa Wittgenstein mit Kierkegaard Carnap und anderen Autoren ver-gleicht und indem er sich um die Historiographie der Tractatusdeutungen und insbesondere der impliziten Voraussetzungen dieser Deutungen in einer Weise bemuumlht daszlig die resolute Lesart als natuumlrlicher Abschluszlig einer Stufenfolge erscheint Dadurch entsteht der Eindruck daszlig die raquoresolutelaquo Deutung auf uumlberlegene Weise alle vorangegangenen Deutungsversuche in sich aufnimmt und ihnen den gehoumlrigen Platz anweist so daszlig kein sys-tematischer Raum mehr fuumlr Gegenvorschlaumlge bleibt52

In seiner bisher umfangreichsten Darstellung53 gibt Conant zunaumlchst eine Rekonstruktion der rationalen Genese der bisherigen Lesarten die er die raquopositivistischelaquo und die raquoUnsagbarkeitslesartlaquo (ineffability reading) nennt Als deren gemeinsame Grundvoraussetzung arbeitet er die Annahme her-aus daszlig es etwas wie raquogehaltvollen Unsinnlaquo (substantial nonsense) in der Abhandlung geben muumlsse Er zeigt dann auf daszlig und wie sich beide Auf-fassungen gegenseitig bedingen und inwiefern keine von beiden zu einer stabilen und konsequenten (eben raquoresolutlaquo durchhaltbaren) Position fuumlhrt Tatsaumlchlich setzt sich Conant fast ausschlieszliglich mit der von ihm als Stan-dardinterpretation (S 394) angesehenen Lesart und ihrem Hauptvertreter Peter Hacker auseinander54 Die Kernthematik des Aufsatzes der die Me-

52 Der Gestus erinnert stellenweise an Hegels Vorgehen Conant ist auch an anderer Stelle mit weitreichenden Sortiervorschlaumlgen hervorgetreten so etwa in bezug auf Spiel-arten des Skeptizismus wo er eine Cartesische und eine Kantische Spielart des Skeptizis-mus und damit der Philosophie uumlberhaupt unterscheidet (Varieties of Skepticism in D McManus (Hg) Wittgenstein and Skepticism London 2004)

53 James Conant The Method of the Tractatus in Reck From Frege to Wittgenstein daran orientiert sich das Folgende Mehrere Aufsaumltze Conants ergaumlnzen diesen Beitrag noch ndash Durch haumlufi ge Verweise auf einander einen gemeinsamen Aufsatz sowie an beide gerich-tete Kritik ist aumlhnlich wie in der Kopenhagener Deutung der Quantenphysik der Ein-druck entstanden als handele es sich um ein und dieselbe Auffassung Dieser Eindruck taumluscht jedoch in einigen wichtigen Punkten ebenso wie im Fall der Kopenhagener Deu-tung wie aus dem Folgenden klar werden wird

54 Tatsaumlchlich liegt der systematische Schwerpunkt der Kontroverse zwischen ConantDiamond und Hacker auf der Interpretation der Philosophie des spaumlten Wittgenstein die von beiden Parteien als der eindeutig uumlberlegene und bis heute unuumlberbotene philoso-phische Ansatz angesehen wird Diese grundsaumltzliche Debatte um die Deutung von Witt-gensteins Spaumltphilosophie hat erst in Ansaumltzen besonders in einigen Aufsaumltzen von Dia-

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thode der Abhandlung zu klaumlren beansprucht kreist um die Leitbegriffe raquoErlaumluterunglaquo und raquoUnsinnlaquo (S 378) Wie Diamond fi ndet Conant dies bei Frege vorgebildet wobei er dessen Verfahren so zusammenfaszligt daszlig nach Frege raquodie Erlaumluterung logisch einfacher Ausdruumlcke wie Begriff und Gegenstand unvermeidlicherweise mit (dem geschickten Einsatz von) Unsinn arbeiten muszliglaquo (S 387) In der Deutung dieses Verfahrens durch Frege sieht Conant jedoch eine Spannung denn Frege glaubt raquodaszlig er in solchen Faumlllen etwas sagen will was im strengen Sinn nicht gesagt werden kann und druumlckt sich dann so aus daszlig seine Woumlrter einen Gedanken auszudruumlk ken versuchen damit aber notwendigerweise scheiternlaquo (S 391) Damit vertritt Frege aumlhnlich wie Geach und Hacker selbst eine substan-tielle Auffassung von Unsinn55 Nach Conant liegt die Hauptabsicht von Wittensteins Abhandlung nun genau darin eine solche substantielle Auffas-sung von Unsinn nicht zu vertreten sondern zu uumlberwinden Die Unter-scheidung zwischen sinnvollen und nicht sinnvollen Saumltzen liegt nach Conants Deutung nun praumlziser gefaszligt darin raquoEinen Satz als sinnvoll wahr-nehmen bedeutet daszlig man im Satzzeichen das Satzsymbol wahrnimmt Einen Satz als Unsinn wahrzunehmen bedeutet daszlig man im Zeichen kein Symbol erkennen kannlaquo (S 404) Ein Satz ist also dann raquobloszliger Unsinnlaquo wenn eine Zeichenreihe raquokeine erkennbare logische Syntax hatlaquo (S 400) Damit gibt es aber streng genommen keine raquounsinnigen Saumltzelaquo sondern nur Zeichenreihen die auf den ersten Blick wie Saumltze aussehen bei denen aber der Versuch in ihnen eine logische Form aufzufi nden scheitert Die Rede von raquoUnsinnlaquo bezieht sich also nicht auf die Saumltze oder Zeichenrei-hen selbst sondern allein auf unser Scheitern Zentral wird dadurch der Begriff des raquoSymbolslaquo Ein Symbol ist ein Zeichen zusammen mit einer logisch durchsichtigen Verwendungsweise (S 414) Die bekannte Sprach-kritik der Abhandlung (40031) erweist sich so nicht als Versuch die sinn-vollen von den unsinnigen Zeichen(reihen) durch ein Sinnkriterium zu trennen sondern raquodie Quelle des scheinbaren Unsinns liegt in unserer Beziehung zum sprachlichen Zeichen nicht im sprachlichen Zeichen selbstlaquo (S 419) Die Philosophie ist entsprechend Wittgensteins Diktum

mond begonnen Als zentralen Gegensatz zwischen der eigenen Position und derjenigen Hackers formuliert Conant daszlig nach Hacker der fruumlhe Wittgenstein an unausdruumlckbare Wahrheiten glaubte waumlhrend der spaumlte dies als Irrtum durchschaute waumlhrend Wittgen-stein tatsaumlchlich schon in der Abhandlung die darin vorausgesetzte substantielle Auffassung von Unsinn ablehnte Weiter glaubt er in Hackers Deutung des spaumlten Wittgenstein raquoeine verkleidete Fassung der Auffassung die er dem fruumlhen Wittgenstein zuschreibtlaquo zu erken-nen was der wahren Radikalitaumlt dieses Denkens nicht gerecht werde (Conant Two Con-ceptions of Die Uumlberwindung der Metaphysik in Wittgenstein in America (Anm 17) S 13ndash62 hier S 38 Anm 42)

55 In diesem Punkt ist Conant exegetisch weitaus vorsichtiger als Diamond die weniger Scheu hat Frege eine systematisch uumlberzeugende Konzeption zuzuschreiben

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raquokeine Lehre sondern eine Taumltigkeitlaquo Diese Taumltigkeit besteht nach Con-ant darin daszlig eine Illusion von Sinn aufgebaut und am Ende zerstoumlrt wird Das Ziel des Buches ist daher raquonicht eine Einsicht in metaphysische Zuumlge der Wirklichkeit sondern in die Quellen der Metaphysiklaquo (S 421) Nach Conant gibt es im Text nur raquo(scheinbar) eine Lehre uumlber raquodie Gren-zen des Denkenslaquolaquo (S 424) tatsaumlchlich aber sind raquodie Erlaumluterungen des Autors nur dann erfolgreich wenn wir den Haupttext als Unsinn erken-nenlaquo (S 424) Conants Darstellung verleiht der resoluten Lesart dadurch daszlig er aufzeigt wie die grundlegenden Spannungen in den fruumlheren Deu-tungsansaumltzen aufgeloumlst werden koumlnnen den Anschein einer teleologischen Zwangslaumlufi gkeit Nicht zufaumlllig spielt daher die fortgesetzte Auseinan-dersetzung mit der raquoUnsagbarkeitslesartlaquo eine zentrale Rolle in seinen Ausfuumlhrungen Ein nicht zu unterschaumltzender Teil der Anziehungskraft der resoluten Lesart liegt genau darin daszlig sie den einzigen konsistenten wenn auch zunaumlchst uumlberspitzt aber damit zugleich auch brillant wirken-den Ausweg aus den Bemuumlhungen um ein Verstaumlndnis der Logisch-Philoso-phischen Abhandlung zu bieten scheint56

Conants umfangreicher Beitrag zur Festschrift fuumlr Cora Diamond57 verstaumlrkt die genannten Tendenzen noch Dies zeigt sich bereits an der Form Unter dem Titel raquoA Recently Discovered Manuscriptlaquo wird ein gewisser raquoJohannes Climacuslaquo58 als Herausgeber eines Aufsatzes von Con-ant eingefuumlhrt der in Gestalt einer fi ktiven theologischen Auseinanderset-zung um die richtige Wittgensteinorthodoxie eigene (ziemlich dogma-tisch-uneinsichtsvolle) Kommentare zu den einzelnen Teilen von Conants Text abgibt Dieser Text selbst greift schon im Titel und uumlber weite Stre-cken ironisch den Ton theologischer Kontroversen auf Thema der Arbeit ist die umstrittene raquometa-wittgensteinschelaquo Frage ob Anhaumlnger der reso-luten Lesart (die noch einmal zusammenfassend vorgestellt wird) uumlber-haupt uumlber den Spielraum verfuumlgen um einen wesentlichen Unterschied zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein herauszuarbeiten (S 32) Diese Frage geht Conant dialektisch an indem er drei verschie-dene Listen praumlsentiert eine erste (S 49) die scheinbare Lehren der Ab-handlung enthaumllt die aber tatsaumlchlich so Conant Auffassungen sind vor

56 Diese Zwangslaumlufi gkeit tritt in Diamonds Arbeiten weitaus weniger hervor Fuumlr sie ist die Abhandlung ein reiches Buch das zahlreiche ausgesprochen weiterfuumlhrende und faszinierende Passagen enthaumllt die philosophisch weiterhelfen nicht ein Werk das sozu-sagen unter einer Drohung lebt und dessen Leser nach einem Ausweg suchen

57 James Conant Mild-Mono-Wittgensteinianism in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 29ndash142

58 Dieses von Kierkegaard entlehnte Pseudonym verwendet Conant seinerseits in einem Zitat aus der Abschlieszligenden unwissenschaftlichen Nachschrift (31) mit der Bemerkung daszlig Ironie und Ernsthaftigkeit einander nicht ausschlieszligen In fruumlheren Texten hatte Conant raquoClimacuslaquo mit raquoLeiterlaquo uumlbersetzt (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 291)

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denen Wittgenstein seine Leser warnen will eine zweite mit Auffas-sungen die Wittgenstein in der Abhandlung natuumlrlich klar und unkontro-vers erschienen die aber dennoch Ausdruck philosophischer Ansichten sind die er selbst spaumlter als problematisch ansah (S 83)

Damit ist fuumlr eine Differenz zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein ein Spielraum gewonnen der dann durch eine dritte Liste wieder in einen ironischen Schwebezustand gebracht wird indem Conant Saumltze praumlsentiert die man gleichermaszligen dem fruumlhen wie dem spaumlten Wittgenstein zuordnen kann bisweilen indem leichte Variationen des Wortlauts mitgefuumlhrt werden wie raquoDie Logik (Grammatik) muszlig fuumlr sich selber sorgenlaquo (S 106) Conant spricht von raquoAugenblicken atemberau-bender Kontinuitaumltlaquo (S 108) gerade dort wo Wittgenstein die Konzeption der Abhandlung kritisiert (PhU 97ndash133) Als Ergebnis der Untersuchung bleibt so der Eindruck von gleichzeitig auszligerordentlicher Kontinuitaumlt und deutlicher Diskontinuitaumlt in Wittgensteins philosophischer Entwicklung Auch daszlig eine resolute Lesart eher raquoein Programm um das Buch zu lesenlaquo (111 Anm 4) ist als tatsaumlchlich eine durchgehende Lektuumlre ist deutlich ausgesprochen59

Der philosophische Ansatz und Stil Conants ist dem von Diamond in vie-ler Hinsicht entgegengesetzt Waumlhrend Diamond von konkreten Einzelfaumll-len ausgeht und diese im Hin- und Hergehen aufzuklaumlren versucht geht Conant ganz von auszligen mit einem umfassenden Blick in Beziehung zur gesamten Philosophiegeschichte an die Fragen heran Ein bevorzugter Vergleich ist derjenige Wittgensteins mit Kierkegaard insbesondere in der Frage des Verhaumlltnisses des Autors zu seinen Buumlchern60 Man koumlnnte gera-

59 In der gemeinsam verfaszligten Arbeit On Reading The Tractatus Resolutely Reply to Me-redith Williams and Peter Sullivan in M KoumllbelB Weiss Wittgensteinrsquos Lasting Signifi cance London 2004 S 46ndash99 erlaumlutern Diamond und Conant einige Punkte ihres Ansatzes ge-genuumlber Versuchen das Buch als System von Behauptungen zu lesen (Williams) und gegen die Kritik ihre Lesart sei unvollstaumlndig letzteres mit dem Hinweis es handle sich bislang lediglich um ein Forschungsprogramm aber gerade nicht um ein Rezept das eine leichte und zusammenhaumlngende Lektuumlre ermoumlgliche (S 68) Peter Sullivan wird als der produk-tivste Kritiker bezeichnet weil er auf spezifi sche Inkonsistenzen hinweise (vgl die in Anm 64 genannte Arbeit) Sullivans eigene Deutungsvorschlaumlge bleiben jedoch eher tra-ditionellen ontologisch orientierten Ansaumltzen verhaftet (vgl What is the Tractatus About ebenfalls in KoumllbelWeiszlig S 32ndash45) Diese gemeinsame Arbeit verbleibt jedoch insge-samt auf einer sehr allgemeinen und wenig spezifi schen Ebene

60 So etwa Conant Putting Two and Two together Kierkegaard Wittgenstein and the Point of View for Their Work as Authors in T TessinM von der Ruhr (Hg) Philosophy and the Grammar of Religious Belief London 1995 S 248ndash331 Als Zusammenfassung schreibt Co-nant dort daszlig der fruumlhe Wittgenstein aumlhnlich wie Kierkegaard raquoden Leser in die Wahr-heit hineintaumluschen willlaquo zu welchem Zweck er raquoeine ausgefeilte Struktur scheinbarer Behauptungenlaquo verwendet (S 302) Fuumlr ein solches Verstaumlndnis gibt es bei Kierkegaard zahlreiche Hinweise bei Wittgenstein streng genommen keine er will alles raquoklar sagenlaquo

113Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

dezu sagen daszlig sich Conant mehr fuumlr die Frage der Autorschaft als fuumlr das Werk selbst interessiert61 Es geht ihm darum den richtigen Blickwinkel auf das Werk zu gewinnen und den entwickelt er durch weitgespannte Ver-gleiche durch die Analyse der Selbstkommentare und zusaumltzlichen Erlaumlute-rungen Dabei scheint das Ziel vorrangig die Einordnung vorhandener Zu-gangsmoumlglichkeiten zu sein die er dann in eine systematische Ordnung bringt62 Diese Systematik verweist dann gewissermaszligen teleologisch auf eine einzige offene Moumlglichkeit als den richtigen Zugang zu einem Problem oder einem Text Waumlhrend Diamond also einzelne Miszligverstaumlndnisse auf-klaumlrt zieht Conant die groszligen orientierenden Linien63 Damit aber ergaumln-zen beide Ansaumltze einander wiederum in einem Maszlige daszlig sie von auszligen in aller Regel als eine Einheit angesehen werden Erst durch Conants Ord-nungsvorschlaumlge hat Diamonds Ansatz diejenige Uumlbersichtlichkeit und Handhabbarkeit gewonnen die eine breitere Wirksamkeit ermoumlglichen

Einmal schreibt er kritisch raquoDer Verkehr mit Autoren wie Hamann Kierkegaard macht ihre Herausgeber anmaszligend Diese Versuchung wuumlrde der Herausgeber des Cherubi-nischen Wandersmannes nie fuumlhlen noch auch der Confessionen des Augustin oder einer Schrift Luthers Es ist wohl das daszlig die Ironie eines Autors den Leser anmaszligend zu ma-chen geneigt istlaquo (Denkbewegungen [1931] FrankfurtM S 41)

61 In einem fruumlheren Aufsatz The Search for Logically Alien Thought Descartes Kant Frege and the Tractatus in Philosophical Topics 20 (1991) S 115ndash180 vergleicht Conant Witt-gensteins Vorgehen mit einem langen Witz bzw einer Parabel die ein absurdes Gespraumlch wiedergibt in dem ein Pole von einem Juden wissen will worin raquodas Geheimnis der Ju-denlaquo besteht und das nach allerhand Umwegen mit der Einsicht endet daszlig da raquokein Ge-heimnis istlaquo ndash aber so erfahren wir eben das raquoist das Geheimnislaquo (S 160)

62 Conants umfassende Perspektive geht mit einigen Zurechtstellungen bei der Inter-pretation einher die das Material entsprechend dem umfassenden Entwurf leicht umfor-men In seinem langen Aufsatz spricht er Wittgenstein eine besondere Konzeption von Klarheit zu die darin liegen soll daszlig man am Ende das Buch als unsinnig erkennt (374) er uumlbergeht dabei aber daszlig Wittgenstein gegenuumlber Russell unmittelbar auf den voumlllig neu-artigen Inhalt der logischen Konzeption verweist und dabei sogar das Wort raquoTheorielaquo ver-wendet als Ziel formuliert Wittgenstein auch nicht daszlig man bestimmte Konzeptionen als nur scheinbar konsistent erkennen soll (377) sondern daszlig man die Logik der Sprache ein-sehen lernt ohne ein Verstaumlndnis von 654 ist nach Conant kein Verstaumlndnis des Buches moumlglich (378) dies gilt aber angesichts der konzentrierten Form fuumlr jeden Satz des Buches wobei die Schluszligbemerkung eher selbstrefl exiv auf das Buch und die Darstellungsform Bezug nimmt als auf die bis dahin entwickelte Einsicht der gegenuumlber der bloszligen Selbstre-fl exion die Prioritaumlt einzuraumlumen waumlre die Woumlrter raquoUnsinnlaquo und raquoErlaumluternlaquo (378) sind entschieden nicht die Kernbegriffe des Buches zum einen kommen eher die Formen raquoun-sinniglaquo oder raquoes ist ein Unsinnlaquo vor nicht das Substantiv zum anderen sind viel eher raquoKlar-heitlaquo und raquoklarlaquo die zentralen Ausdruumlcke Carnap wird als derjenige hingestellt der nichts verstanden habe aber Wittgenstein hat gerade Carnap 1932 des Plagiats bezichtigt und Conant verkehrt Wittgensteins Aumluszligerung er koumlnne sich raquonicht denkenlaquo daszlig Carnap den Sinn des Buches raquoso ganz und gar miszligverstandenlaquo haben koumlnnte ins gerade Gegenteil und zitiert sie mehrfach (378 Anm 9 Anm 99 als Motto in Two Conceptions wie Anm 54)

63 Relativ haumlufi g verwendet Conant auch ganz traditionelle Ordnungsinstrumente wie raquoArtlaquo und raquoGattunglaquo (vgl Conant Method (Anm 53) S 435 Anm 43 436 Anm 48)

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Ein Punkt hat Kritiker besonders irritiert naumlmlich Diamonds und Co-nants Bestehen darauf daszlig der Text streng und konsequent stuumlckweise (piecemeal) gelesen werden soll Dies scheint mit der radikalen Grundten-denz nicht recht vereinbar oder die Radikalitaumlt doch stark abzuschwaumlchen ndash es koumlnnte aber dazu fuumlhren daszlig man das Gewicht der bisweilen daran angeknuumlpften allgemeineren Betrachtungen als wesentlich geringer anse-hen koumlnnte als es derzeit in aller Regel geschieht Tatsaumlchlich ist der stuumlckweise Zugang sehr charakteristisch fuumlr Diamonds Methode und die allgemein gehaltenen radikalen Thesen wirken in ihren Texten eher wie Fremdkoumlrper Die raquoTheselaquo von der notwendig stuumlckweisen Interpretation reduziert sich daher im Kern auf die wichtige aber unspektakulaumlre me-thodische Beobachtung daszlig es ohne Zweifel richtig ist daszlig man die Ab-handlung sorgfaumlltig langsam und schrittweise entschluumlsseln muszlig gerade damit man die einheitliche und uumlbergreifende Konzeption (und daran ist nichts stuumlckweise und zusammengebastelt) genau richtig auffassen kann

6 Tatsaumlchlich sind die Vertreter der resoluten Lesart insgesamt weit erfolgreicher in der Kritik konkurrierender Ansaumltze als in der Interpreta-tion des Textes selbst Ein groszliger Teil der Debatte wird in der Gestalt von Auseinandersetzungen um das richtige Verstaumlndnis bzw den Maszligstab fuumlr eine angemessene Interpretation gefuumlhrt Dies ist in gewissem Sinne fol-gerichtig denn ein Textverstaumlndnis im gewoumlhnlichen Sinn des Wortes kann es von einem im strengen Sinn unsinnigen Text ja kaum geben Die Debatte behandelt deshalb vorrangig Fragen wie die welches denn der raquoZweck des Unsinnslaquo sei64 Dazu hat Michael Kremer Vorschlaumlge entwi-ckelt die die ethische Dimension des Buches herausarbeiten65 Er zieht Vergleiche zu Wittgensteins Beschaumlftigung mit ethischen und religioumlsen Fragen etwa dem Neuen Testament und dem Gedanken daszlig wir einse-hen muumlssen daszlig wir die raquoSuche nach einer Rechtfertigung unseres Lebens aufgeben muumlssenlaquo (S 56) weil der Versuch einer solchen Selbstrechtferti-gung ein Akt des Hochmutes waumlre Als Ergebnis glaubt er festhalten zu muumlssen daszlig das Buch ein raquoknow-howlaquo kein raquoWissen-daszliglaquo vermittelt raquoDieses Buch und seinen Autor zu verstehen bedeutet zu lernen wie man lebtlaquo66 (S 62) In aumlhnlicher Weise deutet Kremer die Frage nach der

64 Michael Kremer The Purpose of Tractarian Nonsense in Nous 35 2001 S 39ndash73 Darauf reagiert Sullivan mit detaillierter Einzelkritik On Trying to be Resolute A Response to Kremer on the Tractatus in European Journal of Philosophy 10 (2002) S 43ndash78 (vor allem S 66ndash68 mit Hinweisen auf die spaumlrlichen Textbelege)

65 Fragen der Ethik spielen uumlberhaupt in den Arbeiten von Diamond Conant und an-deren resoluten Lesern eine groszlige Rolle was aber hier nicht im einzelnen verfolgt werden kann

66 Schon Diamond Ethics (Anm 37) S 169 spricht als Ziel an daszlig wir raquokeine falschen Anforderungen an die Welt stellenlaquo sollen

115Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

raquoWahrheit des Solipsismuslaquo dahingehend daszlig es darum geht den eigenen Stolz zu uumlberwinden67 Selbst die Frage nach dem raquoHauptproblem der Phi-losophielaquo naumlmlich der Unterscheidung von Sagen und Zeigen versucht Kremer so zu beantworten daszlig Wittgenstein vor allem vor der unberech-tigten und zu vorschnellen Anwendung dieser Unterscheidung warnt (und er will zeigen daszlig insofern diese Unterscheidung als Hauptproblem ange-sprochen wird Wittgenstein dieses Problem raquoloumlsenlaquo will)68 All diese Vor-schlaumlge lenken jedoch systematisch von einer tatsaumlchlichen Lektuumlre von Wittgensteins Buch eher ab

Innerhalb der resoluten Stroumlmung ist Juliet Floyd als radikale raquoJakobine-rinlaquo bezeichnet worden weil sie schon fuumlr den fruumlhen Wittgenstein gene-rell die Existenz einer einheitlichen Auffassung von Logik Bedeutung Sagen und Zeigen aber auch eines eindeutigen Ideals der Klarheit leug-net69 Sie nennt Wittgensteins Vorgehen dialektisch bzw refl ektierend (S 188) so daszlig Wittgenstein nicht auf eine einzelne Stoszligrichtung hin festzulegen ist Dadurch wird zum einen erneut die Moumlglichkeit in Frage gestellt den Text uumlberhaupt einigermaszligen einheitlich zu interpretieren zum anderen eroumlffnen sich Moumlglichkeiten relativ frei auch wieder kon-struktivere (S 187) Zuumlge festzustellen Wenn Floyd als Grundgegensatz der Deutungen die Frage betont ob man Wittgenstein so versteht als wolle er raquodie Endlichkeit oder expressive Begrenztheit der Sprache beto-nenlaquo oder ob er die raquooffene Entwicklung und Vielfalt menschlicher Aus-drucksmoumlglichkeitenlaquo (S 177) herausarbeiten will dann steht auch dies nur in einem eher lockeren Bezug zum Text Genau an dieser Stelle setzen die wichtigsten Kritiker an

7 Als prominentester und heftigster Kritiker ist Peter Hacker hervor-getreten70 Hacker kritisiert und polemisiert aus einer Position der exten-

67 Michael Kremer To What Extent is Solipsism a Truth in Stocker Post-Analytic Tractatus S 59ndash84 Das ist eine sehr ungewoumlhnliche Lesart dieser sonst erkenntnistheore-tisch aufgefaszligten Passage

68 Michael Kremer The Cardinal Problem of Philosophy in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 143ndash176 Kremers Deutung beruht vor allem darauf daszlig Wittgenstein in seinem Brief an Russell (15 8 1919) diese Unterscheidung einmal als raquoHauptpunktlaquo und dann auch als raquoHauptproblemlaquo anspricht Kremer deutet dies so daszlig die Unterscheidung als zu loumlsendes raquoProblemlaquo aufgefaszligt wird

69 Juliet Floyd Wittgenstein and the Inexpressible in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 177ndash234 hier S 185 und 196

70 Hackers Schriften dienen zugleich umgekehrt Diamond und Conant als Illustrati-onen fuumlr die raquoStandardlesartlaquo und dafuumlr wie man Wittgenstein nicht interpretieren sollte so schon 1985 in Diamond Throwing Away the Ladder (Anm 30) S 194 als Beispiel fuumlr raquochickening outlaquo Hacker ist auch als einziger Kritiker im Sammelband New Wittgenstein vertreten Was he Trying to Whistle It in New Wittgenstein S 353ndash388 Sein Sammelband Connections and Controversies Oxford 2001 enthaumllt neben dem Nachdruck auf S 98ndash140 noch eine Fortsetzung When the Whistling Had to Stop S 141ndash169

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siven Kommentieung des spaumlten Wittgenstein und zugleich des philo-sophischen Common Sense heraus Er sieht in der Abhandlung raquoeine ver-bluumlffende Lehre auf verbluumlffende Weise dargebotenlaquo (S 353) ndash diese Charakterisierung entnimmt er jedoch nicht erst seinen neuen Gegnern sondern einer eher traditionellen realistisch-metaphysischen Deutung von David Pears Hacker versteht das Buch als einen gescheiterten Versuch wesentliche Wahrheiten die nicht gesagt werden koumlnnen dennoch zu zeigen Dies sieht er als gesichertes Faktum an dessen Vorhandensein er mit Energie gegen Versuche es zu leugnen untermauert Dazu zaumlhlt er zehn Beispiele solcher Versuche auf von logischen Beziehungen zwischen Saumltzen bis zur Harmonie zwischen Gedanke Sprache und Wirklichkeit (S 353ndash355) und stellt sich ganz auf die Seite schon der fruumlhen Kritiker besonders des Wiener Kreises die den Schluszlig des Buches raquoganz unglaub-wuumlrdig fandenlaquo (S 355)71 Er nennt den Ansatz von Diamond und Conant raquopostmodernlaquo offenbar darauf berechnet zu provozieren jedoch frei von ernsthaften Absichten nicht aber das Buch richtig einschaumltzen zu wollen (S 356)72

Hacker sieht das Buch als offensichtlich inkonsistent an und beruft sich dabei auf Wittgensteins spaumltere Meinung zur Bestaumltigung dieses Faktums (S 370) Von daher fallen alle Versuche das Buch insgesamt nachzuvoll-ziehen zwangslaumlufi g ebenfalls der Inkonsistenz anheim Als Maszligstab der Inkonsistenz dient ihm dabei die Unvereinbarkeit und Widerspruumlchlich-keit der im Buch vorgetragenen (raquogesagtenlaquo oder raquogezeigtenlaquo) Lehren Da-mit aber stellt sich Hacker explizit auf einen Standpunkt den Wittgenstein fuumlr sein eigenes Werk ablehnt das ja explizit raquokein Lehrbuchlaquo (Vorwort) sein will Hacker reduziert das Buch auf einen Lehrinhalt den er unzurei-chend fi ndet ndash der Gegensatz zu Diamond und Conant liegt bereits hier denn beide Seiten differieren vor allem darin was das Buch eigentlich

71 In dieser Hinsicht stimmt seine Einschaumltzung mit derjenigen Conants uumlberein der seinerseits Hacker in die Naumlhe Carnaps plaziert (Two Conceptions of Die Uumlberwindung S 14 ff) Ohne Hacker sofort zu nennen schreibt Conant Carnap (wie spaumlter Hacker) eine substantielle Auffassung von Unsinn zu

72 Hacker lehnt sowohl die Abhandlung als auch Freges philosophische Grundkonzepti-on ab und setzt sie als verfehlten Versuch in scharfen Kontrast zum Denken des spaumlten Wittgenstein Diese Haltung wird in seinem Kommentar zu den Philosophischen Untersu-chungen deutlich besonders eklatant jedoch in dem (gemeinsam mit Gordon Baker ver-faszligten) gegen Dummetts Fregedeutung geschriebenen Frege Logical Excavations (Oxford 1984) Das Auftreten der resoluten Lesart gibt Hacker daher nicht den Grund zu seiner Ablehnung des fruumlhen Wittgenstein sondern vor allem den Anlaszlig seine Gruumlnde zu buumln-deln und erneut vorzubringen (Der verstorbene Gordon Baker der zunaumlchst gemeinsam mit Hacker mehrere Baumlnde zum spaumlten Wittgenstein verfaszligte dann aber seinen Ansatz weiterentwickelte und dabei in einigen Punkten der resoluten Lesart nahekam sei hier noch erwaumlhnt vgl Baker Wittgensteinrsquos Method Neglected Aspects Oxford 2004)

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leisten will Hacker sieht einen eklatanten Gegensatz zwischen Wittgen-steins Erklaumlrung nichts lehren zu wollen und seinem tatsaumlchlichen Vor-gehen seine Gegner versuchen gerade diese Aumluszligerungen Wittgensteins zu verstehen und ihnen entsprechend den Text so zu lesen daszlig er keine raquoLehrenlaquo enthaumllt sondern auf andere Art und Weise arbeitet

Hacker versucht entsprechend auch nicht Diamond und Conant ge-recht zu werden sondern listet vor allem eine Reihe von Kritikpunkten auf Zum einen weist er auf eine gewisse hermeneutische Willkuumlr hin mit der nur relativ wenige insgesamt unzusammenhaumlngende Partien herange-zogen werden wobei einige Passagen doch wieder als ganz gewoumlhnlich und sinnvoll gelesen werden ohne daszlig eine klare Abgrenzung nach Kri-terien gegeben wuumlrde Die haumlufi g verwendete Rede vom raquoRahmenlaquo des Buches im Unterschied zum raquoHauptteillaquo bleibt ihm zufolge unklar abge-grenzt da zum Rahmen auch Bemerkungen wie 4112 aus der Mitte des Textes gezaumlhlt werden73 Im Zusammenhang damit weist er darauf hin daszlig zwischen den Arten von Unsinn doch ein Unterschied gemacht wer-de wenigstens nach der Wirkung auf den Leser74 Und schlieszliglich ver-sucht er nachzuweisen daszlig Wittgenstein selbst weder in seiner fruumlheren noch in seiner spaumlteren Zeit eine solche radikale Lesart seiner eigenen Ar-beit vorgetragen oder unterstuumltzt habe

Eine spezielle Streitfrage liegt darin ob es nach Wittgenstein raquoUumlbertre-tungen der logischen Syntaxlaquo geben koumlnne Diamond und Conant be-haupten nein Hacker versucht an Beispielen aufzuzeigen daszlig Wittgen-stein dies wiederholt anspricht (S 365ndash367)75 Der grundlegende Dissens betrifft hier die Frage ob Wittgenstein sich vorrangig um den Begriff und die Festlegung einer logischen Syntax als Einfuumlhrung sinnvoller Rede be-muumlht denn wenn es um die Festlegung und ggf die Erweiterung und Ver-aumlnderung von Sinn geht dann gibt es nichts was uumlbertreten oder verfehlt werden koumlnnte ndash oder aber ob Wittgenstein wie Hacker ihn liest jemand ist der vor allem schon bestehende syntaktische Systeme betrachtet und dabei die Moumlglichkeiten behandelt sich gegenuumlber den Vorschriften be-

73 Conants Auskunft daszlig nicht der Ort im Text sondern die Funktion der Bemerkung daruumlber entscheide ob es zu Rahmen oder Hauptteil gehoumlre vermag als Gegenargument nicht wirklich zu uumlberzeugen

74 Dies leugnen Conant und Diamond keineswegs nur kommt es ihnen gerade auf den Unterschied zwischen logischen und anderen Einteilungsgruumlnden an

75 Dieser Punkt ist auch deswegen zentral weil fuumlr Hacker Unsinn genau dadurch ent-steht daszlig man die logische Syntax verletzt (Was he Trying S 367) waumlhrend fuumlr Conant und Diamond Unsinn dann vorliegt wenn wir mit einer Zeichenreihe schlicht nichts anfangen koumlnnen also kein Symbol darin erkennen Dieser Frage widmet Hacker den Aufsatz Wittgenstein Carnap and the New American Wittgensteinians in Philosophical Quar-terly 53 (2003) S 1ndash23 und Diamond die Entgegnung Logical Syntax in Wittgensteinrsquos Tractatus in Philosophical Quartely 55 (2005) S 78ndash88

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stimmter Systeme abweichend zu verhalten und ihre Regeln zu verletzen Die Frage ist ob Wittgenstein die Syntax mit einem bestehenden Spiel analog setzt oder nicht76 Fuumlr beide Aspekte gibt es Belege im Text77

Eine gewisse Uumlbereinstimmung zwischen Hacker und seinen Gegnern liegt ironischerweise darin daszlig keine der beiden Seiten eine durchge-hende Interpretation der Abhandlung anstrebt Hacker haumllt dies aufgrund der Inkonsistenz fuumlr uninteressant (wenn auch theoretisch moumlglich) Dia-mond ist vorrangig an Einzelfragen und am methodischen Standard des spaumlten Wittgenstein interessiert (wozu sie in der Abhandlung letztlich doch nur eine Vorstufe fi ndet) und Conant ist hauptsaumlchlich damit beschaumlftigt vorgaumlngige Kriterien fuumlr eine uumlberzeugende Lektuumlre zu entwickeln78

Als zentrale unbeantwortete Frage bleibt daruumlber hinaus das Problem bestehen wie man Wittgensteins Sprache und die Art seiner Behaup-tungen im Text konsequent aufzufassen hat denn hier weist Hacker auf deutliche Inkonsistenzen der resoluten Leser hin Zum einen wird von raquobloszligem Unsinnlaquo gesprochen dann wieder werden Passagen so gelesen wie gewoumlhnliche behauptende Prosa zum einen ist von Ironie die Rede dann wieder scheint alles ganz woumlrtlich aufzufassen zu sein79

8 Marie McGinn hat den bisher ehrgeizigsten Versuch unternommen die Staumlrken beider konkurrierender Ansaumltze zu verbinden und die jewei-

76 Vgl Diamond (wie die vorige Anm) S 86 Hacker vertritt hier einen eher kantischen Ansatz der die Grenzen der Vernunft bereits abgesteckt vorfi ndet (ein fuumlr Hacker wichtiges Buch ist P Strawsons Kantdeutung in The Bounds of Sense) Diamond und Conant sehen Wittgenstein als radikaleren Denker nach dem diese Grenzen immer wieder neu bestimmt werden muumlssen bzw nach dem es genau genommen keine Grenzen gibt da das Entschei-dende die Moumlglichkeit neuer Begriffsbildungen ist ohne daszlig man sich an irgendeiner Vorgabe (oder Grenze) orientieren kann die man entweder trifft oder verfehlt

77 Zum einen schreibt Wittgenstein raquoWir koumlnnen einem Zeichen nicht den unrechten Sinn gebenlaquo (54733) also bei der Bedeutungsfestsetzung nichts verfehlen zum anderen erklaumlrt er schlicht Saumltze wie raquo1 ist eine Zahllaquo (41272) die sich auf unsere bestehende Spra-che beziehen fuumlr unsinnig weil darin das Wort raquoZahllaquo als gewoumlhnliches Begriffswort statt als raquoformaler Begrifflaquo und also falsch verwendet wird Daszlig 1 eine Zahl ist ist schon da-durch klar daszlig wir das Zahlzeichen 1 verwenden und gerade deshalb koumlnnen wir dies nicht noch zusaumltzlich behaupten Es ist allerdings richtig daszlig Wittgenstein im letzteren Fall strenggenommen nicht von der raquoVerletzung der logischen Syntaxlaquo spricht sondern das Gebilde einfach raquounsinniglaquo nennt da fuumlr solche Faumllle gar keine logische Syntax im exakten Sinn verfuumlgbar ist Die gesamte Abhandlung ist in dieser Hinsicht nirgends der Versuch eine vorliegende Syntax zu treffen aber auch nicht eine neue Syntax festzulegen sondern sie befaszligt sich vielmehr mit den Bedingungen der Moumlglichkeit von Syntax uumlberhaupt Insofern verfehlen sowohl Hacker auch Diamond und Conant diesen Kernpunkt des Buches

78 So etwa im Abschnitt What makes a Reading resolute in Mono-Wittgensteinianism S 42ndash47

79 Vgl dazu W Kienzler Die Sprache des Tractatus Klar oder deutlich Karl Kraus Witt-genstein und die Frage der Terminologie in F GoumlppelsriederJ Volbers (Ed) Philosophie als Lebensform Muumlnchen 2008 (im Erscheinen)

119Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

ligen Schwaumlchen zu vermeiden80 Sie will Wittgenstein keine metaphy-sischen Lehren zuschreiben81 aber doch sicherstellen daszlig wir aus dem Buch etwas Konstruktives lernen koumlnnen Dazu nimmt sie den Begriff der Klaumlrung als Orientierungspunkt Die Aufgabe des Buches ist es demnach die Logik der Sprache aufzuklaumlren Wenn dies aber ohne die Verwendung positiver Lehren geschehen soll muszlig es indirekt geschehen naumlmlich da-durch daszlig die Sprache sich indirekt selbst klaumlrt das heiszligt daszlig eine solche Klaumlrung nicht auf etwas auszligerhalb der Sprache Bezug nimmt denn das waumlre Kennzeichen einer metaphysischen Auffassung McGinn schreibt et-was kryptisch raquoEs ist ein Werk in dem die Natur des Satzes die schon klar ist obwohl wir sie noch nicht klar sehen sich selbst fuumlr uns klaumlrtlaquo82

Sie betont jedoch sehr zu Recht daszlig Wittgenstein in seiner Abhandlung die eine groszlige Frage loumlsen wollte raquoDas Wesen des Satzes angeben heiszligt das Wesen aller Beschreibung angeben also das Wesen der Weltlaquo (54711)83

Damit aber waumlren alle (oder raquodielaquo) philosophischen Probleme geloumlst Ohne eine solche Voraussetzung die Wittgenstein offenbar als grundle-gende Einsicht erschien ist seine Handlungsweise gar nicht nachvollzieh-bar naumlmlich ein uumlberaus kurzes Buch zu verfassen in dem alle philoso-phischen Fragen im Prinzip jedenfalls beantwortet sind Dies ist nur moumlglich wenn diese Fragen so eng zusammenhaumlngen daszlig die Loumlsung der einen zugleich die Loumlsung der anderen bedeutet Dieser Grundgedanke strukturiert McGinns Buch und gibt ihm eine klare Linie84 Sie untersucht die besonders von Conant behandelten Fragen nach den Bedingungen einer angemessenen Lektuumlre fast gar nicht und antwortet insofern nicht durch Gegenargumente sondern durch die Tat durch einen Gang durch das Buch Es uumlberrascht dabei daszlig sie den Anfang zunaumlchst weglaumlszligt und nach Einleitungskapiteln zur Abgrenzung gegen Frege und Russell gleich mit dem Begriff des Bildes und dann des Satzes beginnt Tatsaumlchlich zeigt McGinn uumlberzeugend auf daszlig die Eingangspassagen am besten als Hin-fuumlhrungen zur raquoTheorie des Satzeslaquo aufgefaszligt werden und nicht als eigen-staumlndiges Theoriestuumlck einer vorangestellten Ontologie (sei diese nur scheinbar als Illusion aufgebaut oder ernst gemeint vgl etwa Diamond

80 Marie McGinn Elucidating the Tractatus81 Marie McGinn Between Metaphysics and Nonsense Elucidation in Wittgensteinrsquos Tracta-

tus In Philosophical Quarterly 49 (1999) S 491ndash513 hier S 107)82 Damit bleibt McGinn nahe an Aumluszligerungen von Diamond und Conant (etwa Method

S 424)83 Zit in McGinn Elucidating S 24084 Das erste Kapitel The Single Great Problem behandelt diese Frage zeigt aber bereits

daszlig sich McGinn nicht vollstaumlndig auf den Text einlaumlszligt sondern ihn von Anfang an stark aus der Perspektive der Philosophischen Untersuchungen her deutet (die im letzen Kapitel er-neut den Maszligstab der Betrachtung bilden)

120 Wolfgang Kienzler PhR

Ethics S 160) Vor dem Hintergrund der Auffassung des sinnvollen Satzes wird der Anfang dann relativ leicht verstaumlndlich In der Darstellung von McGinn wird die Abhandlung wieder zu einer Abhandlung einer nuumlch-ternen Darlegung uumlber die Voraussetzungen sinnvollen Sprechens und Ausdruumlckens uumlber die Unterschiede der Satzarten und die allgemeine Form des Satzes Allerdings ruumlcken so die Einzelheiten der Sprachlogik ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit und die Fragen nach der Natur der Philosophie aber auch die nach der Einheit des Buches treten ganz in den Hintergrund Das Buch enthaumllt kein Kapitel zum Philosophiebegriff des fruumlhen Wittgenstein und kaum Erlaumluterungen zur spezifi schen Form der Darstellung oder zur Strategie der Praumlsentation Einige Themen wie die Ethik Arithmetik oder die Naturgesetze werden ganz uumlbergangen dabei waumlre an diesen Beispielen die angestrebte Einheitlichkeit erst richtig aufzuzeigen gewesen In dieser Hinsicht erklaumlrt McGinn die Abhandlung in der Form die sie 1916 noch hatte bevor Wittgenstein die Schluszligpassa-gen einarbeitete und als sie noch staumlrker eine Abhandlung in raquophiloso-phischer Logiklaquo war85 Gegen Diamond und Conant stellt sie klar heraus daszlig das Ziel der Klaumlrung raquodurch Einsicht in das Funktionieren der Spra-chelaquo erreicht werden soll und nicht indirekt dadurch daszlig raquodie Versuche philosophische Saumltze zu bilden als Unsinn erkannt werdenlaquo (S 254 Anm 6) Die sehr nuumlchterne Art McGinns zeigt einen Wittgenstein der ganz unironisch seine logisch-philosophische Konzeption Schritt fuumlr Schritt entwickelt86

85 Vgl Brian McGuinness Wittgensteinrsquos 1916 Abhandlung in R HallerK Puhl (Hg) Wittgenstein and the Future of Philosophy Wien 2002 S 272ndash282 Die grundlegenden philologischen Arbeiten von McGuinness werden in der gegenwaumlrtigen Debatte leider wenig fruchtbar gemacht

86 Das stark gestiegene Interesse am fruumlhen Wittgenstein hat eine ganze Reihe von Monographien hervorgebracht die jedoch nur selten das gelassene exegetische Niveau McGinns erreichen sondern in der Regel mehr oder weniger exzentrische Deutungen in den Mittelpunkt stellen

M Ostrow Wittgenstein and the Liberating Word CambridgeMass 2002 (eine Zusam-menfassung in Reck From Frege to Wittgenstein) versucht eine an Floyd orientierte raquodialek-tische Interpretationlaquo die sich am Leitmotiv des raquoerloumlsenden Worteslaquo orientiert aber ins-gesamt zu vage bleibt zumal sich die Differenz zum spaumlteren Wittgenstein ganz aufzuloumlsen scheint und wichtige Passagen unberuumlcksichtigt bleiben

E Friedlander Signs of Sense Reading Wittgensteinrsquos Tractatus Cambridge Mass 2001 scheint das Raumltselhafte geradezu zu genieszligen und nennt als sein Ziel raquonicht das Raumltsel des Buches zu loumlsen sondern seinen raumltselhaften Charakter auf eine wahrhaft zum Denken herausfordernde Art aufzuzeigenlaquo (S XV) und will geradezu raquoseinen raumltselhaften Charak-ter rechtfertigenlaquo (16)

U Nordmann Wittgensteinrsquos Tractatus An Introduction Cambridge 2005 faszligt das Buch als ein Gedankenexperiment und eine groszlige Reductio ad Absurdum auf zu der er einige Praumlmissen ergaumlnzt Er deutet das Buch als im Konjunktiv geaumluszligert wodurch der Behaup-

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Ausblick

Die Arbeiten von Diamond und Conant haben zu einer neuen Welle des Interesses an Wittgensteins Fruumlhwerk gefuumlhrt und die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten vor allem aber auch das Potential seiner Abhandlung gelenkt Im Zentrum steht dabei die Natur der Philosophie als Erlaumlute-rung die selbst nicht in die Gestalt einer Lehre gebracht werden kann oder anders ausgedruumlckt der entscheidende Unterschied zwischen einer philosophischen und einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Untersu-chung

Gerade dadurch daszlig sie die Abhandlung stellenweise sehr nah an den spaumlten Wittgenstein heranruumlcken eroumlffnen Conant und Diamond Moumlg-lichkeiten die Souveraumlnitaumlt und Subtilitaumlt des Buches erst richtig zu wuumlr-digen Dies geschieht jedoch um den Preis daszlig einige Teile des Buches herausgegriffen andere dagegen kaum beruumlcksichtigt werden

Nicht hinreichend geklaumlrt scheint auch die Frage nach dem sprachlichen Grundton des Buches Diamond geht immer wieder von einem nahe an der Alltagssprache stehenden Redegestus aus (aumlhnlich wie der spaumlte Wittgen-stein) waumlhrend Conant aus der weiteren Perspektive ironische Zuumlge be-schreibt87 Gemeinsam ist den resoluten Lesern daszlig sie Wittgensteins Saumltze in der Abhandlung auf doppelte Weise auffassen Sie unterscheiden an vielen Stellen einen buchstaumlblichen naheliegenden Sinn der sich bei naumlherer Be-trachtung als inkohaumlrent erweist und der so zerfaumlllt88 Daher wird in ihrer

tungscharakter eingeklammert die Klaumlrungsfunktion jedoch trotzdem ermoumlglicht wird Er gewinnt so eine Kategorie von Saumltzen die raquounsinnig aber bedeutungsvolllaquo (176) sind

L Gunnarsson Wittgensteins Leiter Bodenheim 2002 greift einen Gedanken Conants auf daszlig wir naumlmlich den Hauptteil des Buches wegwerfen und den Rahmen behalten sollen (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 286) und entwickelt daraus die Fik-tion es waumlre tatsaumlchlich nur das Vorwort und der Schluszlig der Abhandlung erhalten ndash und will daraus den Gehalt des Buches ohne Verlust rekonstruieren Diese Veranschaulichung zeigt besonders klar auf wie verfehlt dieser Ansatz ist wenn man ihn auf die konkrete Interpretationspraxis bezieht

87 Die Parallele zwischen Wittgenstein und Kierkegaard scheint in zentralen Punkten gerade nicht zu bestehen denn Wittgenstein distanziert sich gerade nicht von seinem Buch sondern erklaumlrt seine Auffassungen fuumlr defi nitiv richtig und alternativlos ganz ent-gegen dem verwirrenden Spiel Kierkegaards mit unterschiedlichen Pseudonymen und Perspektiven Ein passenderer Vergleich waumlre etwa mit Hume moumlglich der am Ende seiner Untersuchung uumlber die Prinzipien der Moral (Abschnitt 9 Teil 1) seine Ergebnisse fuumlr derart einfach klar kohaumlrent und uumlberzeugend haumllt daszlig dem nichts hinzuzufuumlgen ist so daszlig er selbst geradezu in Versuchung kommen koumlnnte dogmatisch davon uumlberzeugt zu sein

88 So fuumlhrt Diamond (in Ethics wie Anm 37) folgende Beispiele dafuumlr an 1 das woruuml-ber man schweigen muszlig (aber das kann es doch nicht geben weil es kein raquodaruumlberlaquo ist S 149) 2 die Saumltze der Abhandlung die zu verstehen seien (oder doch raquoer selbstlaquo wie Witt-genstein dann uumlberraschenderweise sagt S 149) 3 die Anfangssaumltze uumlber die Welt (aber daruumlber kann es doch keine Saumltze geben S 160) 4 der Schein daszlig ab 64 Saumltze uumlber Ethik

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Perspektive das Buch durchgehend doppelboumldig und loumlst sich schlieszliglich in Nichts auf wobei in der Aufl oumlsung gerade die Absicht des Buches bestehen soll89 Demgegenuumlber kann festgehalten werden daszlig Wittgenstein nir-gends von Ironie spricht wohl aber davon daszlig er das Wesentliche in Kuumlr-ze klar ausdruumlcken will Eine wichtige Differenz innerhalb der resoluten Lesart liegt weiter darin welche Wichtigkeit man den eher technischen Aspekten der Abhandlung zuschreibt Ricketts und Goldfarb sehen viele Zuumlge des Buches von technischen Erwaumlgungen motiviert und gepraumlgt waumlhrend Diamond und Conant den Sinn der symbolischen Notation vor allem darin sehen wesentliche Unterschiede klarzustellen90

Das Motto erklaumlrt daszlig man raquoalles was man weiszliglaquo schlieszliglich raquoin drei Worten sagenlaquo kann Viele der scheinbaren Widerspruumlche und Doppelt-heiten die resolute Leser beobachten koumlnnten sich von daher moumlglicher-weise der Absicht verdanken im Buch logisch praumlzise Saumltze zu erwarten eine Absicht die bestaumlndig getaumluscht wird91 Wuumlrde man die Saumltze eher als Instrumente verstehen die allmaumlhlich entsprechend den Stufen der Lei-ter zur Klarheit anleiten ohne daszlig der Leser in die selbstrefl exive Geste verwickelt werden soll dann koumlnnte eine einfachere und klarere Lesart entstehen die auch mehr Sinn fuumlr den Zusammenhang und die spezi-fi schen Darstellungsmittel des Buches entwickeln wuumlrde ndash wenn denn eine solche zusammenhaumlngende Erlaumluterung als gemeinsames Ziel fest-staumlnde92 Auch Fragen der Textkritik die derzeit nur sehr sporadisch ge-streift werden koumlnnten dann eine groumlszligere Rolle spielen

Wolfgang Kienzler (ChemnitzJena)

vorkommen (die es doch gar nicht geben kann S 164) 5 der Schein daszlig im Buch Saumltze raquouumlber Logiklaquo vorkommen (die es ebenfalls nicht geben kann S 164) In allen Beispielen kann man die Situation natuumlrlicher so darstellen daszlig man die Saumltze der Abhandlung von vornherein zwar woumlrtlich aber nicht buchstaumlblich nimmt sondern sich von ihren zur Klarheit die sich erst allmaumlhlich einstellen kann fuumlhren laumlszligt

89 Diese Doppeltheit der Lesart ist den resoluten Lesern und ihren Kritikern gemein-sam sie ist aber keineswegs selbstverstaumlndlich und widerspricht dem Grundgedanken der Klarheit

90 Dies ist das Thema von Diamond What Does a Concept-Script Do in The Realistic Spirit S 115ndash144 Sie sieht darin ein raquoWerkzeug geistiger Befreiunglaquo (143) deutet damit aber tendenziell wieder einen Gedanken der Abhandlung in Frege hinein der zunaumlchst die Umgangssprache ganz zugunsten der exakteren Begriffsschrift verbannen wollte

91 In weiten Teilen der resoluten Beitraumlge kann man auch eine gewisse Vergegenstaumlnd-lichung mancher von Wittgenstein verwendeter Woumlrter wahrnehmen die dazu fuumlhren daszlig die Rede von raquoUnsinnlaquo raquoErlaumluterunglaquo u a zunaumlchst gegenstaumlndlich miszligverstanden und anschlieszligend als Gegenstaumlndlichkeit leugnend gedeutet wird Eine Beachtung von Wittgensteins ungezwungenem und unterminologischem Sprachgebrauch koumlnnte viele dieser Schleifen uumlberfl uumlssig machen

92 Das Buch von McGinn kann dazu als erster wichtiger konstruktiver Schritt angese-hen werden auch wenn es insgesamt etwas zu additiv verfaumlhrt

Page 14: Neue Lektüren von Wittgensteins Logisch-Philosophischer ... · 10 E. Stenius : Wittgensteins Traktat [1960], Frankfurt/M. 1969, nennt den Schluß »keine echte Verdammung [. . .]

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wie Wittgenstein zu seiner Aumluszligerung kommt und inwiefern die Institution des Messens davon abhaumlngt daszlig man Maszligstaumlbe einfuumlhrt mit denen dann andere Objekte gemessen werden49 Da Laumlngenangaben entsprechend im-mer auf den Vergleich zu einem Maszligstab bezogen sind entsteht die kuriose Situation daszlig die Laumlnge des Urmeters durch Anlegen an sich selbst be-stimmt werden muumlszligte Nach Kripke ist dies ein Fall von Identitaumlt d h im Fall der Identitaumlt kann man auch ohne jede Messung sagen daszlig das betref-fende Objekt 1 m lang ist (oder eben raquoso lang wie es istlaquo ndash denn wie lang sollte es sonst sein) Damit aber gleicht er den Fall der Messung an den Fall der bloszligen Festsetzung in dem gar keine Messung erfolgt und genau genommen auch keine Messung moumlglich ist (denn man kann keinen Maszlig-stab an sich selbst anlegen weil dazu mindestens zwei Objekte benoumltigt werden) an und uumlbersieht die begriffl iche Verschiedenheit beider Faumllle Durch dieses Beispiel beleuchtet Diamond vor allem den Begriff der Gleichheit bzw Identitaumlt der von Kripke und weiten Teilen der philoso-phischen Tradition als unproblematischer absoluter Fixpunkt in Anspruch genommen wird den Wittgenstein aber einer fruumlhen Kritik (553 ff) und einer spaumlteren genauen Beschreibung (PhU 251 ff) unterzogen hat Zur Aufklaumlrung ist es noumltig den Ort den die Rede von raquogleichlaquo und raquoiden-tischlaquo in der Sprache hat genauer zu beleuchten und zu beschreiben an-statt ihn als quasi sprachunabhaumlngig gegeben einfach vorauszusetzen50

Diamonds Arbeit zielt so durchgehend auf die Klaumlrung scheinbar para-doxer oder merkwuumlrdiger Behauptungen ab und sie sieht ihr Ziel erst dann erreicht wenn aufgezeigt ist daszlig im Sprachspiel alles mit ganz ge-woumlhnlichen Dingen zugeht Paradoxe Behauptungen haben darin keinen Ort Auch ihre Anmerkungen zum Schluszlig von Wittgensteins Abhandlung sind daher systematisch als solche Aufklaumlrungen (etwa der paradoxen Re-deweise von Saumltzen die raquowahr waumlren wenn sie gesagt werden koumlnntenlaquo) zu verstehen auch wenn sie stellenweise selbst sehr uumlberraschend klingen Ihr Grundgedanke lautet jedoch Auch raquounsinniglaquo ist ein ganz gewoumlhn-liches Wort welches Wittgenstein verwendet und wenn er es verwendet dann meint er es auch so wie er es sagt51

49 Diamond betont mit (dem spaumlten) Wittgenstein die grundlegende Bedeutung von sprachlichen Institutionen waumlhrend Kripke konsequent davon absieht und alles als Fakten (unterschiedlicher Art) interpretiert

50 Kripkes Auffassung der Identitaumlt ist sprachunabhaumlngig und sozusagen raquorein objektivlaquo angelegt Fuumlr ihn ist jeder Gegenstand notwendigerweise mit sich selbst identisch und weist eine bestimmte raquoobjektivelaquo Laumlnge auf Wittgenstein dagegen weist darauf hin daszlig auch zum Wort raquoidentischlaquo ein Sprachspiel gehoumlrt das diesem Wort erst seine klare Ver-wendung gibt

51 Einiges spricht jedoch auch dafuumlr daszlig diese Auffassung eher dem spaumlten Wittgen-stein entspricht und daszlig in 654 raquounsinniglaquo gerade nicht im alltaumlglichen Sinn verwendet wird

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5 Es ist bei dieser sehr punktuellen Methodik um so bemerkenswerter und selbst geradezu paradox daszlig Diamonds Ansatz der Ausgangspunkt einer ganzen Richtung der Wittgensteininterpretation und noch dazu der Abhandlung geworden ist Diese Entwicklung hat viel mit der Arbeit von James Conant zu tun der dem Ansatz eine allgemeinere und leichter ein-zuordnende Form gegeben und das Zentrum der Aufmerksamkeit noch viel staumlrker als Diamond auf die Abhandlung und ihren Schluszlig gelenkt hat Conant stellt Wittgensteins Text in einen weiteren Rahmen indem er etwa Wittgenstein mit Kierkegaard Carnap und anderen Autoren ver-gleicht und indem er sich um die Historiographie der Tractatusdeutungen und insbesondere der impliziten Voraussetzungen dieser Deutungen in einer Weise bemuumlht daszlig die resolute Lesart als natuumlrlicher Abschluszlig einer Stufenfolge erscheint Dadurch entsteht der Eindruck daszlig die raquoresolutelaquo Deutung auf uumlberlegene Weise alle vorangegangenen Deutungsversuche in sich aufnimmt und ihnen den gehoumlrigen Platz anweist so daszlig kein sys-tematischer Raum mehr fuumlr Gegenvorschlaumlge bleibt52

In seiner bisher umfangreichsten Darstellung53 gibt Conant zunaumlchst eine Rekonstruktion der rationalen Genese der bisherigen Lesarten die er die raquopositivistischelaquo und die raquoUnsagbarkeitslesartlaquo (ineffability reading) nennt Als deren gemeinsame Grundvoraussetzung arbeitet er die Annahme her-aus daszlig es etwas wie raquogehaltvollen Unsinnlaquo (substantial nonsense) in der Abhandlung geben muumlsse Er zeigt dann auf daszlig und wie sich beide Auf-fassungen gegenseitig bedingen und inwiefern keine von beiden zu einer stabilen und konsequenten (eben raquoresolutlaquo durchhaltbaren) Position fuumlhrt Tatsaumlchlich setzt sich Conant fast ausschlieszliglich mit der von ihm als Stan-dardinterpretation (S 394) angesehenen Lesart und ihrem Hauptvertreter Peter Hacker auseinander54 Die Kernthematik des Aufsatzes der die Me-

52 Der Gestus erinnert stellenweise an Hegels Vorgehen Conant ist auch an anderer Stelle mit weitreichenden Sortiervorschlaumlgen hervorgetreten so etwa in bezug auf Spiel-arten des Skeptizismus wo er eine Cartesische und eine Kantische Spielart des Skeptizis-mus und damit der Philosophie uumlberhaupt unterscheidet (Varieties of Skepticism in D McManus (Hg) Wittgenstein and Skepticism London 2004)

53 James Conant The Method of the Tractatus in Reck From Frege to Wittgenstein daran orientiert sich das Folgende Mehrere Aufsaumltze Conants ergaumlnzen diesen Beitrag noch ndash Durch haumlufi ge Verweise auf einander einen gemeinsamen Aufsatz sowie an beide gerich-tete Kritik ist aumlhnlich wie in der Kopenhagener Deutung der Quantenphysik der Ein-druck entstanden als handele es sich um ein und dieselbe Auffassung Dieser Eindruck taumluscht jedoch in einigen wichtigen Punkten ebenso wie im Fall der Kopenhagener Deu-tung wie aus dem Folgenden klar werden wird

54 Tatsaumlchlich liegt der systematische Schwerpunkt der Kontroverse zwischen ConantDiamond und Hacker auf der Interpretation der Philosophie des spaumlten Wittgenstein die von beiden Parteien als der eindeutig uumlberlegene und bis heute unuumlberbotene philoso-phische Ansatz angesehen wird Diese grundsaumltzliche Debatte um die Deutung von Witt-gensteins Spaumltphilosophie hat erst in Ansaumltzen besonders in einigen Aufsaumltzen von Dia-

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thode der Abhandlung zu klaumlren beansprucht kreist um die Leitbegriffe raquoErlaumluterunglaquo und raquoUnsinnlaquo (S 378) Wie Diamond fi ndet Conant dies bei Frege vorgebildet wobei er dessen Verfahren so zusammenfaszligt daszlig nach Frege raquodie Erlaumluterung logisch einfacher Ausdruumlcke wie Begriff und Gegenstand unvermeidlicherweise mit (dem geschickten Einsatz von) Unsinn arbeiten muszliglaquo (S 387) In der Deutung dieses Verfahrens durch Frege sieht Conant jedoch eine Spannung denn Frege glaubt raquodaszlig er in solchen Faumlllen etwas sagen will was im strengen Sinn nicht gesagt werden kann und druumlckt sich dann so aus daszlig seine Woumlrter einen Gedanken auszudruumlk ken versuchen damit aber notwendigerweise scheiternlaquo (S 391) Damit vertritt Frege aumlhnlich wie Geach und Hacker selbst eine substan-tielle Auffassung von Unsinn55 Nach Conant liegt die Hauptabsicht von Wittensteins Abhandlung nun genau darin eine solche substantielle Auffas-sung von Unsinn nicht zu vertreten sondern zu uumlberwinden Die Unter-scheidung zwischen sinnvollen und nicht sinnvollen Saumltzen liegt nach Conants Deutung nun praumlziser gefaszligt darin raquoEinen Satz als sinnvoll wahr-nehmen bedeutet daszlig man im Satzzeichen das Satzsymbol wahrnimmt Einen Satz als Unsinn wahrzunehmen bedeutet daszlig man im Zeichen kein Symbol erkennen kannlaquo (S 404) Ein Satz ist also dann raquobloszliger Unsinnlaquo wenn eine Zeichenreihe raquokeine erkennbare logische Syntax hatlaquo (S 400) Damit gibt es aber streng genommen keine raquounsinnigen Saumltzelaquo sondern nur Zeichenreihen die auf den ersten Blick wie Saumltze aussehen bei denen aber der Versuch in ihnen eine logische Form aufzufi nden scheitert Die Rede von raquoUnsinnlaquo bezieht sich also nicht auf die Saumltze oder Zeichenrei-hen selbst sondern allein auf unser Scheitern Zentral wird dadurch der Begriff des raquoSymbolslaquo Ein Symbol ist ein Zeichen zusammen mit einer logisch durchsichtigen Verwendungsweise (S 414) Die bekannte Sprach-kritik der Abhandlung (40031) erweist sich so nicht als Versuch die sinn-vollen von den unsinnigen Zeichen(reihen) durch ein Sinnkriterium zu trennen sondern raquodie Quelle des scheinbaren Unsinns liegt in unserer Beziehung zum sprachlichen Zeichen nicht im sprachlichen Zeichen selbstlaquo (S 419) Die Philosophie ist entsprechend Wittgensteins Diktum

mond begonnen Als zentralen Gegensatz zwischen der eigenen Position und derjenigen Hackers formuliert Conant daszlig nach Hacker der fruumlhe Wittgenstein an unausdruumlckbare Wahrheiten glaubte waumlhrend der spaumlte dies als Irrtum durchschaute waumlhrend Wittgen-stein tatsaumlchlich schon in der Abhandlung die darin vorausgesetzte substantielle Auffassung von Unsinn ablehnte Weiter glaubt er in Hackers Deutung des spaumlten Wittgenstein raquoeine verkleidete Fassung der Auffassung die er dem fruumlhen Wittgenstein zuschreibtlaquo zu erken-nen was der wahren Radikalitaumlt dieses Denkens nicht gerecht werde (Conant Two Con-ceptions of Die Uumlberwindung der Metaphysik in Wittgenstein in America (Anm 17) S 13ndash62 hier S 38 Anm 42)

55 In diesem Punkt ist Conant exegetisch weitaus vorsichtiger als Diamond die weniger Scheu hat Frege eine systematisch uumlberzeugende Konzeption zuzuschreiben

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raquokeine Lehre sondern eine Taumltigkeitlaquo Diese Taumltigkeit besteht nach Con-ant darin daszlig eine Illusion von Sinn aufgebaut und am Ende zerstoumlrt wird Das Ziel des Buches ist daher raquonicht eine Einsicht in metaphysische Zuumlge der Wirklichkeit sondern in die Quellen der Metaphysiklaquo (S 421) Nach Conant gibt es im Text nur raquo(scheinbar) eine Lehre uumlber raquodie Gren-zen des Denkenslaquolaquo (S 424) tatsaumlchlich aber sind raquodie Erlaumluterungen des Autors nur dann erfolgreich wenn wir den Haupttext als Unsinn erken-nenlaquo (S 424) Conants Darstellung verleiht der resoluten Lesart dadurch daszlig er aufzeigt wie die grundlegenden Spannungen in den fruumlheren Deu-tungsansaumltzen aufgeloumlst werden koumlnnen den Anschein einer teleologischen Zwangslaumlufi gkeit Nicht zufaumlllig spielt daher die fortgesetzte Auseinan-dersetzung mit der raquoUnsagbarkeitslesartlaquo eine zentrale Rolle in seinen Ausfuumlhrungen Ein nicht zu unterschaumltzender Teil der Anziehungskraft der resoluten Lesart liegt genau darin daszlig sie den einzigen konsistenten wenn auch zunaumlchst uumlberspitzt aber damit zugleich auch brillant wirken-den Ausweg aus den Bemuumlhungen um ein Verstaumlndnis der Logisch-Philoso-phischen Abhandlung zu bieten scheint56

Conants umfangreicher Beitrag zur Festschrift fuumlr Cora Diamond57 verstaumlrkt die genannten Tendenzen noch Dies zeigt sich bereits an der Form Unter dem Titel raquoA Recently Discovered Manuscriptlaquo wird ein gewisser raquoJohannes Climacuslaquo58 als Herausgeber eines Aufsatzes von Con-ant eingefuumlhrt der in Gestalt einer fi ktiven theologischen Auseinanderset-zung um die richtige Wittgensteinorthodoxie eigene (ziemlich dogma-tisch-uneinsichtsvolle) Kommentare zu den einzelnen Teilen von Conants Text abgibt Dieser Text selbst greift schon im Titel und uumlber weite Stre-cken ironisch den Ton theologischer Kontroversen auf Thema der Arbeit ist die umstrittene raquometa-wittgensteinschelaquo Frage ob Anhaumlnger der reso-luten Lesart (die noch einmal zusammenfassend vorgestellt wird) uumlber-haupt uumlber den Spielraum verfuumlgen um einen wesentlichen Unterschied zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein herauszuarbeiten (S 32) Diese Frage geht Conant dialektisch an indem er drei verschie-dene Listen praumlsentiert eine erste (S 49) die scheinbare Lehren der Ab-handlung enthaumllt die aber tatsaumlchlich so Conant Auffassungen sind vor

56 Diese Zwangslaumlufi gkeit tritt in Diamonds Arbeiten weitaus weniger hervor Fuumlr sie ist die Abhandlung ein reiches Buch das zahlreiche ausgesprochen weiterfuumlhrende und faszinierende Passagen enthaumllt die philosophisch weiterhelfen nicht ein Werk das sozu-sagen unter einer Drohung lebt und dessen Leser nach einem Ausweg suchen

57 James Conant Mild-Mono-Wittgensteinianism in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 29ndash142

58 Dieses von Kierkegaard entlehnte Pseudonym verwendet Conant seinerseits in einem Zitat aus der Abschlieszligenden unwissenschaftlichen Nachschrift (31) mit der Bemerkung daszlig Ironie und Ernsthaftigkeit einander nicht ausschlieszligen In fruumlheren Texten hatte Conant raquoClimacuslaquo mit raquoLeiterlaquo uumlbersetzt (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 291)

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denen Wittgenstein seine Leser warnen will eine zweite mit Auffas-sungen die Wittgenstein in der Abhandlung natuumlrlich klar und unkontro-vers erschienen die aber dennoch Ausdruck philosophischer Ansichten sind die er selbst spaumlter als problematisch ansah (S 83)

Damit ist fuumlr eine Differenz zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein ein Spielraum gewonnen der dann durch eine dritte Liste wieder in einen ironischen Schwebezustand gebracht wird indem Conant Saumltze praumlsentiert die man gleichermaszligen dem fruumlhen wie dem spaumlten Wittgenstein zuordnen kann bisweilen indem leichte Variationen des Wortlauts mitgefuumlhrt werden wie raquoDie Logik (Grammatik) muszlig fuumlr sich selber sorgenlaquo (S 106) Conant spricht von raquoAugenblicken atemberau-bender Kontinuitaumltlaquo (S 108) gerade dort wo Wittgenstein die Konzeption der Abhandlung kritisiert (PhU 97ndash133) Als Ergebnis der Untersuchung bleibt so der Eindruck von gleichzeitig auszligerordentlicher Kontinuitaumlt und deutlicher Diskontinuitaumlt in Wittgensteins philosophischer Entwicklung Auch daszlig eine resolute Lesart eher raquoein Programm um das Buch zu lesenlaquo (111 Anm 4) ist als tatsaumlchlich eine durchgehende Lektuumlre ist deutlich ausgesprochen59

Der philosophische Ansatz und Stil Conants ist dem von Diamond in vie-ler Hinsicht entgegengesetzt Waumlhrend Diamond von konkreten Einzelfaumll-len ausgeht und diese im Hin- und Hergehen aufzuklaumlren versucht geht Conant ganz von auszligen mit einem umfassenden Blick in Beziehung zur gesamten Philosophiegeschichte an die Fragen heran Ein bevorzugter Vergleich ist derjenige Wittgensteins mit Kierkegaard insbesondere in der Frage des Verhaumlltnisses des Autors zu seinen Buumlchern60 Man koumlnnte gera-

59 In der gemeinsam verfaszligten Arbeit On Reading The Tractatus Resolutely Reply to Me-redith Williams and Peter Sullivan in M KoumllbelB Weiss Wittgensteinrsquos Lasting Signifi cance London 2004 S 46ndash99 erlaumlutern Diamond und Conant einige Punkte ihres Ansatzes ge-genuumlber Versuchen das Buch als System von Behauptungen zu lesen (Williams) und gegen die Kritik ihre Lesart sei unvollstaumlndig letzteres mit dem Hinweis es handle sich bislang lediglich um ein Forschungsprogramm aber gerade nicht um ein Rezept das eine leichte und zusammenhaumlngende Lektuumlre ermoumlgliche (S 68) Peter Sullivan wird als der produk-tivste Kritiker bezeichnet weil er auf spezifi sche Inkonsistenzen hinweise (vgl die in Anm 64 genannte Arbeit) Sullivans eigene Deutungsvorschlaumlge bleiben jedoch eher tra-ditionellen ontologisch orientierten Ansaumltzen verhaftet (vgl What is the Tractatus About ebenfalls in KoumllbelWeiszlig S 32ndash45) Diese gemeinsame Arbeit verbleibt jedoch insge-samt auf einer sehr allgemeinen und wenig spezifi schen Ebene

60 So etwa Conant Putting Two and Two together Kierkegaard Wittgenstein and the Point of View for Their Work as Authors in T TessinM von der Ruhr (Hg) Philosophy and the Grammar of Religious Belief London 1995 S 248ndash331 Als Zusammenfassung schreibt Co-nant dort daszlig der fruumlhe Wittgenstein aumlhnlich wie Kierkegaard raquoden Leser in die Wahr-heit hineintaumluschen willlaquo zu welchem Zweck er raquoeine ausgefeilte Struktur scheinbarer Behauptungenlaquo verwendet (S 302) Fuumlr ein solches Verstaumlndnis gibt es bei Kierkegaard zahlreiche Hinweise bei Wittgenstein streng genommen keine er will alles raquoklar sagenlaquo

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dezu sagen daszlig sich Conant mehr fuumlr die Frage der Autorschaft als fuumlr das Werk selbst interessiert61 Es geht ihm darum den richtigen Blickwinkel auf das Werk zu gewinnen und den entwickelt er durch weitgespannte Ver-gleiche durch die Analyse der Selbstkommentare und zusaumltzlichen Erlaumlute-rungen Dabei scheint das Ziel vorrangig die Einordnung vorhandener Zu-gangsmoumlglichkeiten zu sein die er dann in eine systematische Ordnung bringt62 Diese Systematik verweist dann gewissermaszligen teleologisch auf eine einzige offene Moumlglichkeit als den richtigen Zugang zu einem Problem oder einem Text Waumlhrend Diamond also einzelne Miszligverstaumlndnisse auf-klaumlrt zieht Conant die groszligen orientierenden Linien63 Damit aber ergaumln-zen beide Ansaumltze einander wiederum in einem Maszlige daszlig sie von auszligen in aller Regel als eine Einheit angesehen werden Erst durch Conants Ord-nungsvorschlaumlge hat Diamonds Ansatz diejenige Uumlbersichtlichkeit und Handhabbarkeit gewonnen die eine breitere Wirksamkeit ermoumlglichen

Einmal schreibt er kritisch raquoDer Verkehr mit Autoren wie Hamann Kierkegaard macht ihre Herausgeber anmaszligend Diese Versuchung wuumlrde der Herausgeber des Cherubi-nischen Wandersmannes nie fuumlhlen noch auch der Confessionen des Augustin oder einer Schrift Luthers Es ist wohl das daszlig die Ironie eines Autors den Leser anmaszligend zu ma-chen geneigt istlaquo (Denkbewegungen [1931] FrankfurtM S 41)

61 In einem fruumlheren Aufsatz The Search for Logically Alien Thought Descartes Kant Frege and the Tractatus in Philosophical Topics 20 (1991) S 115ndash180 vergleicht Conant Witt-gensteins Vorgehen mit einem langen Witz bzw einer Parabel die ein absurdes Gespraumlch wiedergibt in dem ein Pole von einem Juden wissen will worin raquodas Geheimnis der Ju-denlaquo besteht und das nach allerhand Umwegen mit der Einsicht endet daszlig da raquokein Ge-heimnis istlaquo ndash aber so erfahren wir eben das raquoist das Geheimnislaquo (S 160)

62 Conants umfassende Perspektive geht mit einigen Zurechtstellungen bei der Inter-pretation einher die das Material entsprechend dem umfassenden Entwurf leicht umfor-men In seinem langen Aufsatz spricht er Wittgenstein eine besondere Konzeption von Klarheit zu die darin liegen soll daszlig man am Ende das Buch als unsinnig erkennt (374) er uumlbergeht dabei aber daszlig Wittgenstein gegenuumlber Russell unmittelbar auf den voumlllig neu-artigen Inhalt der logischen Konzeption verweist und dabei sogar das Wort raquoTheorielaquo ver-wendet als Ziel formuliert Wittgenstein auch nicht daszlig man bestimmte Konzeptionen als nur scheinbar konsistent erkennen soll (377) sondern daszlig man die Logik der Sprache ein-sehen lernt ohne ein Verstaumlndnis von 654 ist nach Conant kein Verstaumlndnis des Buches moumlglich (378) dies gilt aber angesichts der konzentrierten Form fuumlr jeden Satz des Buches wobei die Schluszligbemerkung eher selbstrefl exiv auf das Buch und die Darstellungsform Bezug nimmt als auf die bis dahin entwickelte Einsicht der gegenuumlber der bloszligen Selbstre-fl exion die Prioritaumlt einzuraumlumen waumlre die Woumlrter raquoUnsinnlaquo und raquoErlaumluternlaquo (378) sind entschieden nicht die Kernbegriffe des Buches zum einen kommen eher die Formen raquoun-sinniglaquo oder raquoes ist ein Unsinnlaquo vor nicht das Substantiv zum anderen sind viel eher raquoKlar-heitlaquo und raquoklarlaquo die zentralen Ausdruumlcke Carnap wird als derjenige hingestellt der nichts verstanden habe aber Wittgenstein hat gerade Carnap 1932 des Plagiats bezichtigt und Conant verkehrt Wittgensteins Aumluszligerung er koumlnne sich raquonicht denkenlaquo daszlig Carnap den Sinn des Buches raquoso ganz und gar miszligverstandenlaquo haben koumlnnte ins gerade Gegenteil und zitiert sie mehrfach (378 Anm 9 Anm 99 als Motto in Two Conceptions wie Anm 54)

63 Relativ haumlufi g verwendet Conant auch ganz traditionelle Ordnungsinstrumente wie raquoArtlaquo und raquoGattunglaquo (vgl Conant Method (Anm 53) S 435 Anm 43 436 Anm 48)

114 Wolfgang Kienzler PhR

Ein Punkt hat Kritiker besonders irritiert naumlmlich Diamonds und Co-nants Bestehen darauf daszlig der Text streng und konsequent stuumlckweise (piecemeal) gelesen werden soll Dies scheint mit der radikalen Grundten-denz nicht recht vereinbar oder die Radikalitaumlt doch stark abzuschwaumlchen ndash es koumlnnte aber dazu fuumlhren daszlig man das Gewicht der bisweilen daran angeknuumlpften allgemeineren Betrachtungen als wesentlich geringer anse-hen koumlnnte als es derzeit in aller Regel geschieht Tatsaumlchlich ist der stuumlckweise Zugang sehr charakteristisch fuumlr Diamonds Methode und die allgemein gehaltenen radikalen Thesen wirken in ihren Texten eher wie Fremdkoumlrper Die raquoTheselaquo von der notwendig stuumlckweisen Interpretation reduziert sich daher im Kern auf die wichtige aber unspektakulaumlre me-thodische Beobachtung daszlig es ohne Zweifel richtig ist daszlig man die Ab-handlung sorgfaumlltig langsam und schrittweise entschluumlsseln muszlig gerade damit man die einheitliche und uumlbergreifende Konzeption (und daran ist nichts stuumlckweise und zusammengebastelt) genau richtig auffassen kann

6 Tatsaumlchlich sind die Vertreter der resoluten Lesart insgesamt weit erfolgreicher in der Kritik konkurrierender Ansaumltze als in der Interpreta-tion des Textes selbst Ein groszliger Teil der Debatte wird in der Gestalt von Auseinandersetzungen um das richtige Verstaumlndnis bzw den Maszligstab fuumlr eine angemessene Interpretation gefuumlhrt Dies ist in gewissem Sinne fol-gerichtig denn ein Textverstaumlndnis im gewoumlhnlichen Sinn des Wortes kann es von einem im strengen Sinn unsinnigen Text ja kaum geben Die Debatte behandelt deshalb vorrangig Fragen wie die welches denn der raquoZweck des Unsinnslaquo sei64 Dazu hat Michael Kremer Vorschlaumlge entwi-ckelt die die ethische Dimension des Buches herausarbeiten65 Er zieht Vergleiche zu Wittgensteins Beschaumlftigung mit ethischen und religioumlsen Fragen etwa dem Neuen Testament und dem Gedanken daszlig wir einse-hen muumlssen daszlig wir die raquoSuche nach einer Rechtfertigung unseres Lebens aufgeben muumlssenlaquo (S 56) weil der Versuch einer solchen Selbstrechtferti-gung ein Akt des Hochmutes waumlre Als Ergebnis glaubt er festhalten zu muumlssen daszlig das Buch ein raquoknow-howlaquo kein raquoWissen-daszliglaquo vermittelt raquoDieses Buch und seinen Autor zu verstehen bedeutet zu lernen wie man lebtlaquo66 (S 62) In aumlhnlicher Weise deutet Kremer die Frage nach der

64 Michael Kremer The Purpose of Tractarian Nonsense in Nous 35 2001 S 39ndash73 Darauf reagiert Sullivan mit detaillierter Einzelkritik On Trying to be Resolute A Response to Kremer on the Tractatus in European Journal of Philosophy 10 (2002) S 43ndash78 (vor allem S 66ndash68 mit Hinweisen auf die spaumlrlichen Textbelege)

65 Fragen der Ethik spielen uumlberhaupt in den Arbeiten von Diamond Conant und an-deren resoluten Lesern eine groszlige Rolle was aber hier nicht im einzelnen verfolgt werden kann

66 Schon Diamond Ethics (Anm 37) S 169 spricht als Ziel an daszlig wir raquokeine falschen Anforderungen an die Welt stellenlaquo sollen

115Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

raquoWahrheit des Solipsismuslaquo dahingehend daszlig es darum geht den eigenen Stolz zu uumlberwinden67 Selbst die Frage nach dem raquoHauptproblem der Phi-losophielaquo naumlmlich der Unterscheidung von Sagen und Zeigen versucht Kremer so zu beantworten daszlig Wittgenstein vor allem vor der unberech-tigten und zu vorschnellen Anwendung dieser Unterscheidung warnt (und er will zeigen daszlig insofern diese Unterscheidung als Hauptproblem ange-sprochen wird Wittgenstein dieses Problem raquoloumlsenlaquo will)68 All diese Vor-schlaumlge lenken jedoch systematisch von einer tatsaumlchlichen Lektuumlre von Wittgensteins Buch eher ab

Innerhalb der resoluten Stroumlmung ist Juliet Floyd als radikale raquoJakobine-rinlaquo bezeichnet worden weil sie schon fuumlr den fruumlhen Wittgenstein gene-rell die Existenz einer einheitlichen Auffassung von Logik Bedeutung Sagen und Zeigen aber auch eines eindeutigen Ideals der Klarheit leug-net69 Sie nennt Wittgensteins Vorgehen dialektisch bzw refl ektierend (S 188) so daszlig Wittgenstein nicht auf eine einzelne Stoszligrichtung hin festzulegen ist Dadurch wird zum einen erneut die Moumlglichkeit in Frage gestellt den Text uumlberhaupt einigermaszligen einheitlich zu interpretieren zum anderen eroumlffnen sich Moumlglichkeiten relativ frei auch wieder kon-struktivere (S 187) Zuumlge festzustellen Wenn Floyd als Grundgegensatz der Deutungen die Frage betont ob man Wittgenstein so versteht als wolle er raquodie Endlichkeit oder expressive Begrenztheit der Sprache beto-nenlaquo oder ob er die raquooffene Entwicklung und Vielfalt menschlicher Aus-drucksmoumlglichkeitenlaquo (S 177) herausarbeiten will dann steht auch dies nur in einem eher lockeren Bezug zum Text Genau an dieser Stelle setzen die wichtigsten Kritiker an

7 Als prominentester und heftigster Kritiker ist Peter Hacker hervor-getreten70 Hacker kritisiert und polemisiert aus einer Position der exten-

67 Michael Kremer To What Extent is Solipsism a Truth in Stocker Post-Analytic Tractatus S 59ndash84 Das ist eine sehr ungewoumlhnliche Lesart dieser sonst erkenntnistheore-tisch aufgefaszligten Passage

68 Michael Kremer The Cardinal Problem of Philosophy in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 143ndash176 Kremers Deutung beruht vor allem darauf daszlig Wittgenstein in seinem Brief an Russell (15 8 1919) diese Unterscheidung einmal als raquoHauptpunktlaquo und dann auch als raquoHauptproblemlaquo anspricht Kremer deutet dies so daszlig die Unterscheidung als zu loumlsendes raquoProblemlaquo aufgefaszligt wird

69 Juliet Floyd Wittgenstein and the Inexpressible in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 177ndash234 hier S 185 und 196

70 Hackers Schriften dienen zugleich umgekehrt Diamond und Conant als Illustrati-onen fuumlr die raquoStandardlesartlaquo und dafuumlr wie man Wittgenstein nicht interpretieren sollte so schon 1985 in Diamond Throwing Away the Ladder (Anm 30) S 194 als Beispiel fuumlr raquochickening outlaquo Hacker ist auch als einziger Kritiker im Sammelband New Wittgenstein vertreten Was he Trying to Whistle It in New Wittgenstein S 353ndash388 Sein Sammelband Connections and Controversies Oxford 2001 enthaumllt neben dem Nachdruck auf S 98ndash140 noch eine Fortsetzung When the Whistling Had to Stop S 141ndash169

116 Wolfgang Kienzler PhR

siven Kommentieung des spaumlten Wittgenstein und zugleich des philo-sophischen Common Sense heraus Er sieht in der Abhandlung raquoeine ver-bluumlffende Lehre auf verbluumlffende Weise dargebotenlaquo (S 353) ndash diese Charakterisierung entnimmt er jedoch nicht erst seinen neuen Gegnern sondern einer eher traditionellen realistisch-metaphysischen Deutung von David Pears Hacker versteht das Buch als einen gescheiterten Versuch wesentliche Wahrheiten die nicht gesagt werden koumlnnen dennoch zu zeigen Dies sieht er als gesichertes Faktum an dessen Vorhandensein er mit Energie gegen Versuche es zu leugnen untermauert Dazu zaumlhlt er zehn Beispiele solcher Versuche auf von logischen Beziehungen zwischen Saumltzen bis zur Harmonie zwischen Gedanke Sprache und Wirklichkeit (S 353ndash355) und stellt sich ganz auf die Seite schon der fruumlhen Kritiker besonders des Wiener Kreises die den Schluszlig des Buches raquoganz unglaub-wuumlrdig fandenlaquo (S 355)71 Er nennt den Ansatz von Diamond und Conant raquopostmodernlaquo offenbar darauf berechnet zu provozieren jedoch frei von ernsthaften Absichten nicht aber das Buch richtig einschaumltzen zu wollen (S 356)72

Hacker sieht das Buch als offensichtlich inkonsistent an und beruft sich dabei auf Wittgensteins spaumltere Meinung zur Bestaumltigung dieses Faktums (S 370) Von daher fallen alle Versuche das Buch insgesamt nachzuvoll-ziehen zwangslaumlufi g ebenfalls der Inkonsistenz anheim Als Maszligstab der Inkonsistenz dient ihm dabei die Unvereinbarkeit und Widerspruumlchlich-keit der im Buch vorgetragenen (raquogesagtenlaquo oder raquogezeigtenlaquo) Lehren Da-mit aber stellt sich Hacker explizit auf einen Standpunkt den Wittgenstein fuumlr sein eigenes Werk ablehnt das ja explizit raquokein Lehrbuchlaquo (Vorwort) sein will Hacker reduziert das Buch auf einen Lehrinhalt den er unzurei-chend fi ndet ndash der Gegensatz zu Diamond und Conant liegt bereits hier denn beide Seiten differieren vor allem darin was das Buch eigentlich

71 In dieser Hinsicht stimmt seine Einschaumltzung mit derjenigen Conants uumlberein der seinerseits Hacker in die Naumlhe Carnaps plaziert (Two Conceptions of Die Uumlberwindung S 14 ff) Ohne Hacker sofort zu nennen schreibt Conant Carnap (wie spaumlter Hacker) eine substantielle Auffassung von Unsinn zu

72 Hacker lehnt sowohl die Abhandlung als auch Freges philosophische Grundkonzepti-on ab und setzt sie als verfehlten Versuch in scharfen Kontrast zum Denken des spaumlten Wittgenstein Diese Haltung wird in seinem Kommentar zu den Philosophischen Untersu-chungen deutlich besonders eklatant jedoch in dem (gemeinsam mit Gordon Baker ver-faszligten) gegen Dummetts Fregedeutung geschriebenen Frege Logical Excavations (Oxford 1984) Das Auftreten der resoluten Lesart gibt Hacker daher nicht den Grund zu seiner Ablehnung des fruumlhen Wittgenstein sondern vor allem den Anlaszlig seine Gruumlnde zu buumln-deln und erneut vorzubringen (Der verstorbene Gordon Baker der zunaumlchst gemeinsam mit Hacker mehrere Baumlnde zum spaumlten Wittgenstein verfaszligte dann aber seinen Ansatz weiterentwickelte und dabei in einigen Punkten der resoluten Lesart nahekam sei hier noch erwaumlhnt vgl Baker Wittgensteinrsquos Method Neglected Aspects Oxford 2004)

117Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

leisten will Hacker sieht einen eklatanten Gegensatz zwischen Wittgen-steins Erklaumlrung nichts lehren zu wollen und seinem tatsaumlchlichen Vor-gehen seine Gegner versuchen gerade diese Aumluszligerungen Wittgensteins zu verstehen und ihnen entsprechend den Text so zu lesen daszlig er keine raquoLehrenlaquo enthaumllt sondern auf andere Art und Weise arbeitet

Hacker versucht entsprechend auch nicht Diamond und Conant ge-recht zu werden sondern listet vor allem eine Reihe von Kritikpunkten auf Zum einen weist er auf eine gewisse hermeneutische Willkuumlr hin mit der nur relativ wenige insgesamt unzusammenhaumlngende Partien herange-zogen werden wobei einige Passagen doch wieder als ganz gewoumlhnlich und sinnvoll gelesen werden ohne daszlig eine klare Abgrenzung nach Kri-terien gegeben wuumlrde Die haumlufi g verwendete Rede vom raquoRahmenlaquo des Buches im Unterschied zum raquoHauptteillaquo bleibt ihm zufolge unklar abge-grenzt da zum Rahmen auch Bemerkungen wie 4112 aus der Mitte des Textes gezaumlhlt werden73 Im Zusammenhang damit weist er darauf hin daszlig zwischen den Arten von Unsinn doch ein Unterschied gemacht wer-de wenigstens nach der Wirkung auf den Leser74 Und schlieszliglich ver-sucht er nachzuweisen daszlig Wittgenstein selbst weder in seiner fruumlheren noch in seiner spaumlteren Zeit eine solche radikale Lesart seiner eigenen Ar-beit vorgetragen oder unterstuumltzt habe

Eine spezielle Streitfrage liegt darin ob es nach Wittgenstein raquoUumlbertre-tungen der logischen Syntaxlaquo geben koumlnne Diamond und Conant be-haupten nein Hacker versucht an Beispielen aufzuzeigen daszlig Wittgen-stein dies wiederholt anspricht (S 365ndash367)75 Der grundlegende Dissens betrifft hier die Frage ob Wittgenstein sich vorrangig um den Begriff und die Festlegung einer logischen Syntax als Einfuumlhrung sinnvoller Rede be-muumlht denn wenn es um die Festlegung und ggf die Erweiterung und Ver-aumlnderung von Sinn geht dann gibt es nichts was uumlbertreten oder verfehlt werden koumlnnte ndash oder aber ob Wittgenstein wie Hacker ihn liest jemand ist der vor allem schon bestehende syntaktische Systeme betrachtet und dabei die Moumlglichkeiten behandelt sich gegenuumlber den Vorschriften be-

73 Conants Auskunft daszlig nicht der Ort im Text sondern die Funktion der Bemerkung daruumlber entscheide ob es zu Rahmen oder Hauptteil gehoumlre vermag als Gegenargument nicht wirklich zu uumlberzeugen

74 Dies leugnen Conant und Diamond keineswegs nur kommt es ihnen gerade auf den Unterschied zwischen logischen und anderen Einteilungsgruumlnden an

75 Dieser Punkt ist auch deswegen zentral weil fuumlr Hacker Unsinn genau dadurch ent-steht daszlig man die logische Syntax verletzt (Was he Trying S 367) waumlhrend fuumlr Conant und Diamond Unsinn dann vorliegt wenn wir mit einer Zeichenreihe schlicht nichts anfangen koumlnnen also kein Symbol darin erkennen Dieser Frage widmet Hacker den Aufsatz Wittgenstein Carnap and the New American Wittgensteinians in Philosophical Quar-terly 53 (2003) S 1ndash23 und Diamond die Entgegnung Logical Syntax in Wittgensteinrsquos Tractatus in Philosophical Quartely 55 (2005) S 78ndash88

118 Wolfgang Kienzler PhR

stimmter Systeme abweichend zu verhalten und ihre Regeln zu verletzen Die Frage ist ob Wittgenstein die Syntax mit einem bestehenden Spiel analog setzt oder nicht76 Fuumlr beide Aspekte gibt es Belege im Text77

Eine gewisse Uumlbereinstimmung zwischen Hacker und seinen Gegnern liegt ironischerweise darin daszlig keine der beiden Seiten eine durchge-hende Interpretation der Abhandlung anstrebt Hacker haumllt dies aufgrund der Inkonsistenz fuumlr uninteressant (wenn auch theoretisch moumlglich) Dia-mond ist vorrangig an Einzelfragen und am methodischen Standard des spaumlten Wittgenstein interessiert (wozu sie in der Abhandlung letztlich doch nur eine Vorstufe fi ndet) und Conant ist hauptsaumlchlich damit beschaumlftigt vorgaumlngige Kriterien fuumlr eine uumlberzeugende Lektuumlre zu entwickeln78

Als zentrale unbeantwortete Frage bleibt daruumlber hinaus das Problem bestehen wie man Wittgensteins Sprache und die Art seiner Behaup-tungen im Text konsequent aufzufassen hat denn hier weist Hacker auf deutliche Inkonsistenzen der resoluten Leser hin Zum einen wird von raquobloszligem Unsinnlaquo gesprochen dann wieder werden Passagen so gelesen wie gewoumlhnliche behauptende Prosa zum einen ist von Ironie die Rede dann wieder scheint alles ganz woumlrtlich aufzufassen zu sein79

8 Marie McGinn hat den bisher ehrgeizigsten Versuch unternommen die Staumlrken beider konkurrierender Ansaumltze zu verbinden und die jewei-

76 Vgl Diamond (wie die vorige Anm) S 86 Hacker vertritt hier einen eher kantischen Ansatz der die Grenzen der Vernunft bereits abgesteckt vorfi ndet (ein fuumlr Hacker wichtiges Buch ist P Strawsons Kantdeutung in The Bounds of Sense) Diamond und Conant sehen Wittgenstein als radikaleren Denker nach dem diese Grenzen immer wieder neu bestimmt werden muumlssen bzw nach dem es genau genommen keine Grenzen gibt da das Entschei-dende die Moumlglichkeit neuer Begriffsbildungen ist ohne daszlig man sich an irgendeiner Vorgabe (oder Grenze) orientieren kann die man entweder trifft oder verfehlt

77 Zum einen schreibt Wittgenstein raquoWir koumlnnen einem Zeichen nicht den unrechten Sinn gebenlaquo (54733) also bei der Bedeutungsfestsetzung nichts verfehlen zum anderen erklaumlrt er schlicht Saumltze wie raquo1 ist eine Zahllaquo (41272) die sich auf unsere bestehende Spra-che beziehen fuumlr unsinnig weil darin das Wort raquoZahllaquo als gewoumlhnliches Begriffswort statt als raquoformaler Begrifflaquo und also falsch verwendet wird Daszlig 1 eine Zahl ist ist schon da-durch klar daszlig wir das Zahlzeichen 1 verwenden und gerade deshalb koumlnnen wir dies nicht noch zusaumltzlich behaupten Es ist allerdings richtig daszlig Wittgenstein im letzteren Fall strenggenommen nicht von der raquoVerletzung der logischen Syntaxlaquo spricht sondern das Gebilde einfach raquounsinniglaquo nennt da fuumlr solche Faumllle gar keine logische Syntax im exakten Sinn verfuumlgbar ist Die gesamte Abhandlung ist in dieser Hinsicht nirgends der Versuch eine vorliegende Syntax zu treffen aber auch nicht eine neue Syntax festzulegen sondern sie befaszligt sich vielmehr mit den Bedingungen der Moumlglichkeit von Syntax uumlberhaupt Insofern verfehlen sowohl Hacker auch Diamond und Conant diesen Kernpunkt des Buches

78 So etwa im Abschnitt What makes a Reading resolute in Mono-Wittgensteinianism S 42ndash47

79 Vgl dazu W Kienzler Die Sprache des Tractatus Klar oder deutlich Karl Kraus Witt-genstein und die Frage der Terminologie in F GoumlppelsriederJ Volbers (Ed) Philosophie als Lebensform Muumlnchen 2008 (im Erscheinen)

119Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

ligen Schwaumlchen zu vermeiden80 Sie will Wittgenstein keine metaphy-sischen Lehren zuschreiben81 aber doch sicherstellen daszlig wir aus dem Buch etwas Konstruktives lernen koumlnnen Dazu nimmt sie den Begriff der Klaumlrung als Orientierungspunkt Die Aufgabe des Buches ist es demnach die Logik der Sprache aufzuklaumlren Wenn dies aber ohne die Verwendung positiver Lehren geschehen soll muszlig es indirekt geschehen naumlmlich da-durch daszlig die Sprache sich indirekt selbst klaumlrt das heiszligt daszlig eine solche Klaumlrung nicht auf etwas auszligerhalb der Sprache Bezug nimmt denn das waumlre Kennzeichen einer metaphysischen Auffassung McGinn schreibt et-was kryptisch raquoEs ist ein Werk in dem die Natur des Satzes die schon klar ist obwohl wir sie noch nicht klar sehen sich selbst fuumlr uns klaumlrtlaquo82

Sie betont jedoch sehr zu Recht daszlig Wittgenstein in seiner Abhandlung die eine groszlige Frage loumlsen wollte raquoDas Wesen des Satzes angeben heiszligt das Wesen aller Beschreibung angeben also das Wesen der Weltlaquo (54711)83

Damit aber waumlren alle (oder raquodielaquo) philosophischen Probleme geloumlst Ohne eine solche Voraussetzung die Wittgenstein offenbar als grundle-gende Einsicht erschien ist seine Handlungsweise gar nicht nachvollzieh-bar naumlmlich ein uumlberaus kurzes Buch zu verfassen in dem alle philoso-phischen Fragen im Prinzip jedenfalls beantwortet sind Dies ist nur moumlglich wenn diese Fragen so eng zusammenhaumlngen daszlig die Loumlsung der einen zugleich die Loumlsung der anderen bedeutet Dieser Grundgedanke strukturiert McGinns Buch und gibt ihm eine klare Linie84 Sie untersucht die besonders von Conant behandelten Fragen nach den Bedingungen einer angemessenen Lektuumlre fast gar nicht und antwortet insofern nicht durch Gegenargumente sondern durch die Tat durch einen Gang durch das Buch Es uumlberrascht dabei daszlig sie den Anfang zunaumlchst weglaumlszligt und nach Einleitungskapiteln zur Abgrenzung gegen Frege und Russell gleich mit dem Begriff des Bildes und dann des Satzes beginnt Tatsaumlchlich zeigt McGinn uumlberzeugend auf daszlig die Eingangspassagen am besten als Hin-fuumlhrungen zur raquoTheorie des Satzeslaquo aufgefaszligt werden und nicht als eigen-staumlndiges Theoriestuumlck einer vorangestellten Ontologie (sei diese nur scheinbar als Illusion aufgebaut oder ernst gemeint vgl etwa Diamond

80 Marie McGinn Elucidating the Tractatus81 Marie McGinn Between Metaphysics and Nonsense Elucidation in Wittgensteinrsquos Tracta-

tus In Philosophical Quarterly 49 (1999) S 491ndash513 hier S 107)82 Damit bleibt McGinn nahe an Aumluszligerungen von Diamond und Conant (etwa Method

S 424)83 Zit in McGinn Elucidating S 24084 Das erste Kapitel The Single Great Problem behandelt diese Frage zeigt aber bereits

daszlig sich McGinn nicht vollstaumlndig auf den Text einlaumlszligt sondern ihn von Anfang an stark aus der Perspektive der Philosophischen Untersuchungen her deutet (die im letzen Kapitel er-neut den Maszligstab der Betrachtung bilden)

120 Wolfgang Kienzler PhR

Ethics S 160) Vor dem Hintergrund der Auffassung des sinnvollen Satzes wird der Anfang dann relativ leicht verstaumlndlich In der Darstellung von McGinn wird die Abhandlung wieder zu einer Abhandlung einer nuumlch-ternen Darlegung uumlber die Voraussetzungen sinnvollen Sprechens und Ausdruumlckens uumlber die Unterschiede der Satzarten und die allgemeine Form des Satzes Allerdings ruumlcken so die Einzelheiten der Sprachlogik ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit und die Fragen nach der Natur der Philosophie aber auch die nach der Einheit des Buches treten ganz in den Hintergrund Das Buch enthaumllt kein Kapitel zum Philosophiebegriff des fruumlhen Wittgenstein und kaum Erlaumluterungen zur spezifi schen Form der Darstellung oder zur Strategie der Praumlsentation Einige Themen wie die Ethik Arithmetik oder die Naturgesetze werden ganz uumlbergangen dabei waumlre an diesen Beispielen die angestrebte Einheitlichkeit erst richtig aufzuzeigen gewesen In dieser Hinsicht erklaumlrt McGinn die Abhandlung in der Form die sie 1916 noch hatte bevor Wittgenstein die Schluszligpassa-gen einarbeitete und als sie noch staumlrker eine Abhandlung in raquophiloso-phischer Logiklaquo war85 Gegen Diamond und Conant stellt sie klar heraus daszlig das Ziel der Klaumlrung raquodurch Einsicht in das Funktionieren der Spra-chelaquo erreicht werden soll und nicht indirekt dadurch daszlig raquodie Versuche philosophische Saumltze zu bilden als Unsinn erkannt werdenlaquo (S 254 Anm 6) Die sehr nuumlchterne Art McGinns zeigt einen Wittgenstein der ganz unironisch seine logisch-philosophische Konzeption Schritt fuumlr Schritt entwickelt86

85 Vgl Brian McGuinness Wittgensteinrsquos 1916 Abhandlung in R HallerK Puhl (Hg) Wittgenstein and the Future of Philosophy Wien 2002 S 272ndash282 Die grundlegenden philologischen Arbeiten von McGuinness werden in der gegenwaumlrtigen Debatte leider wenig fruchtbar gemacht

86 Das stark gestiegene Interesse am fruumlhen Wittgenstein hat eine ganze Reihe von Monographien hervorgebracht die jedoch nur selten das gelassene exegetische Niveau McGinns erreichen sondern in der Regel mehr oder weniger exzentrische Deutungen in den Mittelpunkt stellen

M Ostrow Wittgenstein and the Liberating Word CambridgeMass 2002 (eine Zusam-menfassung in Reck From Frege to Wittgenstein) versucht eine an Floyd orientierte raquodialek-tische Interpretationlaquo die sich am Leitmotiv des raquoerloumlsenden Worteslaquo orientiert aber ins-gesamt zu vage bleibt zumal sich die Differenz zum spaumlteren Wittgenstein ganz aufzuloumlsen scheint und wichtige Passagen unberuumlcksichtigt bleiben

E Friedlander Signs of Sense Reading Wittgensteinrsquos Tractatus Cambridge Mass 2001 scheint das Raumltselhafte geradezu zu genieszligen und nennt als sein Ziel raquonicht das Raumltsel des Buches zu loumlsen sondern seinen raumltselhaften Charakter auf eine wahrhaft zum Denken herausfordernde Art aufzuzeigenlaquo (S XV) und will geradezu raquoseinen raumltselhaften Charak-ter rechtfertigenlaquo (16)

U Nordmann Wittgensteinrsquos Tractatus An Introduction Cambridge 2005 faszligt das Buch als ein Gedankenexperiment und eine groszlige Reductio ad Absurdum auf zu der er einige Praumlmissen ergaumlnzt Er deutet das Buch als im Konjunktiv geaumluszligert wodurch der Behaup-

121Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Ausblick

Die Arbeiten von Diamond und Conant haben zu einer neuen Welle des Interesses an Wittgensteins Fruumlhwerk gefuumlhrt und die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten vor allem aber auch das Potential seiner Abhandlung gelenkt Im Zentrum steht dabei die Natur der Philosophie als Erlaumlute-rung die selbst nicht in die Gestalt einer Lehre gebracht werden kann oder anders ausgedruumlckt der entscheidende Unterschied zwischen einer philosophischen und einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Untersu-chung

Gerade dadurch daszlig sie die Abhandlung stellenweise sehr nah an den spaumlten Wittgenstein heranruumlcken eroumlffnen Conant und Diamond Moumlg-lichkeiten die Souveraumlnitaumlt und Subtilitaumlt des Buches erst richtig zu wuumlr-digen Dies geschieht jedoch um den Preis daszlig einige Teile des Buches herausgegriffen andere dagegen kaum beruumlcksichtigt werden

Nicht hinreichend geklaumlrt scheint auch die Frage nach dem sprachlichen Grundton des Buches Diamond geht immer wieder von einem nahe an der Alltagssprache stehenden Redegestus aus (aumlhnlich wie der spaumlte Wittgen-stein) waumlhrend Conant aus der weiteren Perspektive ironische Zuumlge be-schreibt87 Gemeinsam ist den resoluten Lesern daszlig sie Wittgensteins Saumltze in der Abhandlung auf doppelte Weise auffassen Sie unterscheiden an vielen Stellen einen buchstaumlblichen naheliegenden Sinn der sich bei naumlherer Be-trachtung als inkohaumlrent erweist und der so zerfaumlllt88 Daher wird in ihrer

tungscharakter eingeklammert die Klaumlrungsfunktion jedoch trotzdem ermoumlglicht wird Er gewinnt so eine Kategorie von Saumltzen die raquounsinnig aber bedeutungsvolllaquo (176) sind

L Gunnarsson Wittgensteins Leiter Bodenheim 2002 greift einen Gedanken Conants auf daszlig wir naumlmlich den Hauptteil des Buches wegwerfen und den Rahmen behalten sollen (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 286) und entwickelt daraus die Fik-tion es waumlre tatsaumlchlich nur das Vorwort und der Schluszlig der Abhandlung erhalten ndash und will daraus den Gehalt des Buches ohne Verlust rekonstruieren Diese Veranschaulichung zeigt besonders klar auf wie verfehlt dieser Ansatz ist wenn man ihn auf die konkrete Interpretationspraxis bezieht

87 Die Parallele zwischen Wittgenstein und Kierkegaard scheint in zentralen Punkten gerade nicht zu bestehen denn Wittgenstein distanziert sich gerade nicht von seinem Buch sondern erklaumlrt seine Auffassungen fuumlr defi nitiv richtig und alternativlos ganz ent-gegen dem verwirrenden Spiel Kierkegaards mit unterschiedlichen Pseudonymen und Perspektiven Ein passenderer Vergleich waumlre etwa mit Hume moumlglich der am Ende seiner Untersuchung uumlber die Prinzipien der Moral (Abschnitt 9 Teil 1) seine Ergebnisse fuumlr derart einfach klar kohaumlrent und uumlberzeugend haumllt daszlig dem nichts hinzuzufuumlgen ist so daszlig er selbst geradezu in Versuchung kommen koumlnnte dogmatisch davon uumlberzeugt zu sein

88 So fuumlhrt Diamond (in Ethics wie Anm 37) folgende Beispiele dafuumlr an 1 das woruuml-ber man schweigen muszlig (aber das kann es doch nicht geben weil es kein raquodaruumlberlaquo ist S 149) 2 die Saumltze der Abhandlung die zu verstehen seien (oder doch raquoer selbstlaquo wie Witt-genstein dann uumlberraschenderweise sagt S 149) 3 die Anfangssaumltze uumlber die Welt (aber daruumlber kann es doch keine Saumltze geben S 160) 4 der Schein daszlig ab 64 Saumltze uumlber Ethik

122 Wolfgang Kienzler PhR

Perspektive das Buch durchgehend doppelboumldig und loumlst sich schlieszliglich in Nichts auf wobei in der Aufl oumlsung gerade die Absicht des Buches bestehen soll89 Demgegenuumlber kann festgehalten werden daszlig Wittgenstein nir-gends von Ironie spricht wohl aber davon daszlig er das Wesentliche in Kuumlr-ze klar ausdruumlcken will Eine wichtige Differenz innerhalb der resoluten Lesart liegt weiter darin welche Wichtigkeit man den eher technischen Aspekten der Abhandlung zuschreibt Ricketts und Goldfarb sehen viele Zuumlge des Buches von technischen Erwaumlgungen motiviert und gepraumlgt waumlhrend Diamond und Conant den Sinn der symbolischen Notation vor allem darin sehen wesentliche Unterschiede klarzustellen90

Das Motto erklaumlrt daszlig man raquoalles was man weiszliglaquo schlieszliglich raquoin drei Worten sagenlaquo kann Viele der scheinbaren Widerspruumlche und Doppelt-heiten die resolute Leser beobachten koumlnnten sich von daher moumlglicher-weise der Absicht verdanken im Buch logisch praumlzise Saumltze zu erwarten eine Absicht die bestaumlndig getaumluscht wird91 Wuumlrde man die Saumltze eher als Instrumente verstehen die allmaumlhlich entsprechend den Stufen der Lei-ter zur Klarheit anleiten ohne daszlig der Leser in die selbstrefl exive Geste verwickelt werden soll dann koumlnnte eine einfachere und klarere Lesart entstehen die auch mehr Sinn fuumlr den Zusammenhang und die spezi-fi schen Darstellungsmittel des Buches entwickeln wuumlrde ndash wenn denn eine solche zusammenhaumlngende Erlaumluterung als gemeinsames Ziel fest-staumlnde92 Auch Fragen der Textkritik die derzeit nur sehr sporadisch ge-streift werden koumlnnten dann eine groumlszligere Rolle spielen

Wolfgang Kienzler (ChemnitzJena)

vorkommen (die es doch gar nicht geben kann S 164) 5 der Schein daszlig im Buch Saumltze raquouumlber Logiklaquo vorkommen (die es ebenfalls nicht geben kann S 164) In allen Beispielen kann man die Situation natuumlrlicher so darstellen daszlig man die Saumltze der Abhandlung von vornherein zwar woumlrtlich aber nicht buchstaumlblich nimmt sondern sich von ihren zur Klarheit die sich erst allmaumlhlich einstellen kann fuumlhren laumlszligt

89 Diese Doppeltheit der Lesart ist den resoluten Lesern und ihren Kritikern gemein-sam sie ist aber keineswegs selbstverstaumlndlich und widerspricht dem Grundgedanken der Klarheit

90 Dies ist das Thema von Diamond What Does a Concept-Script Do in The Realistic Spirit S 115ndash144 Sie sieht darin ein raquoWerkzeug geistiger Befreiunglaquo (143) deutet damit aber tendenziell wieder einen Gedanken der Abhandlung in Frege hinein der zunaumlchst die Umgangssprache ganz zugunsten der exakteren Begriffsschrift verbannen wollte

91 In weiten Teilen der resoluten Beitraumlge kann man auch eine gewisse Vergegenstaumlnd-lichung mancher von Wittgenstein verwendeter Woumlrter wahrnehmen die dazu fuumlhren daszlig die Rede von raquoUnsinnlaquo raquoErlaumluterunglaquo u a zunaumlchst gegenstaumlndlich miszligverstanden und anschlieszligend als Gegenstaumlndlichkeit leugnend gedeutet wird Eine Beachtung von Wittgensteins ungezwungenem und unterminologischem Sprachgebrauch koumlnnte viele dieser Schleifen uumlberfl uumlssig machen

92 Das Buch von McGinn kann dazu als erster wichtiger konstruktiver Schritt angese-hen werden auch wenn es insgesamt etwas zu additiv verfaumlhrt

Page 15: Neue Lektüren von Wittgensteins Logisch-Philosophischer ... · 10 E. Stenius : Wittgensteins Traktat [1960], Frankfurt/M. 1969, nennt den Schluß »keine echte Verdammung [. . .]

109Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

5 Es ist bei dieser sehr punktuellen Methodik um so bemerkenswerter und selbst geradezu paradox daszlig Diamonds Ansatz der Ausgangspunkt einer ganzen Richtung der Wittgensteininterpretation und noch dazu der Abhandlung geworden ist Diese Entwicklung hat viel mit der Arbeit von James Conant zu tun der dem Ansatz eine allgemeinere und leichter ein-zuordnende Form gegeben und das Zentrum der Aufmerksamkeit noch viel staumlrker als Diamond auf die Abhandlung und ihren Schluszlig gelenkt hat Conant stellt Wittgensteins Text in einen weiteren Rahmen indem er etwa Wittgenstein mit Kierkegaard Carnap und anderen Autoren ver-gleicht und indem er sich um die Historiographie der Tractatusdeutungen und insbesondere der impliziten Voraussetzungen dieser Deutungen in einer Weise bemuumlht daszlig die resolute Lesart als natuumlrlicher Abschluszlig einer Stufenfolge erscheint Dadurch entsteht der Eindruck daszlig die raquoresolutelaquo Deutung auf uumlberlegene Weise alle vorangegangenen Deutungsversuche in sich aufnimmt und ihnen den gehoumlrigen Platz anweist so daszlig kein sys-tematischer Raum mehr fuumlr Gegenvorschlaumlge bleibt52

In seiner bisher umfangreichsten Darstellung53 gibt Conant zunaumlchst eine Rekonstruktion der rationalen Genese der bisherigen Lesarten die er die raquopositivistischelaquo und die raquoUnsagbarkeitslesartlaquo (ineffability reading) nennt Als deren gemeinsame Grundvoraussetzung arbeitet er die Annahme her-aus daszlig es etwas wie raquogehaltvollen Unsinnlaquo (substantial nonsense) in der Abhandlung geben muumlsse Er zeigt dann auf daszlig und wie sich beide Auf-fassungen gegenseitig bedingen und inwiefern keine von beiden zu einer stabilen und konsequenten (eben raquoresolutlaquo durchhaltbaren) Position fuumlhrt Tatsaumlchlich setzt sich Conant fast ausschlieszliglich mit der von ihm als Stan-dardinterpretation (S 394) angesehenen Lesart und ihrem Hauptvertreter Peter Hacker auseinander54 Die Kernthematik des Aufsatzes der die Me-

52 Der Gestus erinnert stellenweise an Hegels Vorgehen Conant ist auch an anderer Stelle mit weitreichenden Sortiervorschlaumlgen hervorgetreten so etwa in bezug auf Spiel-arten des Skeptizismus wo er eine Cartesische und eine Kantische Spielart des Skeptizis-mus und damit der Philosophie uumlberhaupt unterscheidet (Varieties of Skepticism in D McManus (Hg) Wittgenstein and Skepticism London 2004)

53 James Conant The Method of the Tractatus in Reck From Frege to Wittgenstein daran orientiert sich das Folgende Mehrere Aufsaumltze Conants ergaumlnzen diesen Beitrag noch ndash Durch haumlufi ge Verweise auf einander einen gemeinsamen Aufsatz sowie an beide gerich-tete Kritik ist aumlhnlich wie in der Kopenhagener Deutung der Quantenphysik der Ein-druck entstanden als handele es sich um ein und dieselbe Auffassung Dieser Eindruck taumluscht jedoch in einigen wichtigen Punkten ebenso wie im Fall der Kopenhagener Deu-tung wie aus dem Folgenden klar werden wird

54 Tatsaumlchlich liegt der systematische Schwerpunkt der Kontroverse zwischen ConantDiamond und Hacker auf der Interpretation der Philosophie des spaumlten Wittgenstein die von beiden Parteien als der eindeutig uumlberlegene und bis heute unuumlberbotene philoso-phische Ansatz angesehen wird Diese grundsaumltzliche Debatte um die Deutung von Witt-gensteins Spaumltphilosophie hat erst in Ansaumltzen besonders in einigen Aufsaumltzen von Dia-

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thode der Abhandlung zu klaumlren beansprucht kreist um die Leitbegriffe raquoErlaumluterunglaquo und raquoUnsinnlaquo (S 378) Wie Diamond fi ndet Conant dies bei Frege vorgebildet wobei er dessen Verfahren so zusammenfaszligt daszlig nach Frege raquodie Erlaumluterung logisch einfacher Ausdruumlcke wie Begriff und Gegenstand unvermeidlicherweise mit (dem geschickten Einsatz von) Unsinn arbeiten muszliglaquo (S 387) In der Deutung dieses Verfahrens durch Frege sieht Conant jedoch eine Spannung denn Frege glaubt raquodaszlig er in solchen Faumlllen etwas sagen will was im strengen Sinn nicht gesagt werden kann und druumlckt sich dann so aus daszlig seine Woumlrter einen Gedanken auszudruumlk ken versuchen damit aber notwendigerweise scheiternlaquo (S 391) Damit vertritt Frege aumlhnlich wie Geach und Hacker selbst eine substan-tielle Auffassung von Unsinn55 Nach Conant liegt die Hauptabsicht von Wittensteins Abhandlung nun genau darin eine solche substantielle Auffas-sung von Unsinn nicht zu vertreten sondern zu uumlberwinden Die Unter-scheidung zwischen sinnvollen und nicht sinnvollen Saumltzen liegt nach Conants Deutung nun praumlziser gefaszligt darin raquoEinen Satz als sinnvoll wahr-nehmen bedeutet daszlig man im Satzzeichen das Satzsymbol wahrnimmt Einen Satz als Unsinn wahrzunehmen bedeutet daszlig man im Zeichen kein Symbol erkennen kannlaquo (S 404) Ein Satz ist also dann raquobloszliger Unsinnlaquo wenn eine Zeichenreihe raquokeine erkennbare logische Syntax hatlaquo (S 400) Damit gibt es aber streng genommen keine raquounsinnigen Saumltzelaquo sondern nur Zeichenreihen die auf den ersten Blick wie Saumltze aussehen bei denen aber der Versuch in ihnen eine logische Form aufzufi nden scheitert Die Rede von raquoUnsinnlaquo bezieht sich also nicht auf die Saumltze oder Zeichenrei-hen selbst sondern allein auf unser Scheitern Zentral wird dadurch der Begriff des raquoSymbolslaquo Ein Symbol ist ein Zeichen zusammen mit einer logisch durchsichtigen Verwendungsweise (S 414) Die bekannte Sprach-kritik der Abhandlung (40031) erweist sich so nicht als Versuch die sinn-vollen von den unsinnigen Zeichen(reihen) durch ein Sinnkriterium zu trennen sondern raquodie Quelle des scheinbaren Unsinns liegt in unserer Beziehung zum sprachlichen Zeichen nicht im sprachlichen Zeichen selbstlaquo (S 419) Die Philosophie ist entsprechend Wittgensteins Diktum

mond begonnen Als zentralen Gegensatz zwischen der eigenen Position und derjenigen Hackers formuliert Conant daszlig nach Hacker der fruumlhe Wittgenstein an unausdruumlckbare Wahrheiten glaubte waumlhrend der spaumlte dies als Irrtum durchschaute waumlhrend Wittgen-stein tatsaumlchlich schon in der Abhandlung die darin vorausgesetzte substantielle Auffassung von Unsinn ablehnte Weiter glaubt er in Hackers Deutung des spaumlten Wittgenstein raquoeine verkleidete Fassung der Auffassung die er dem fruumlhen Wittgenstein zuschreibtlaquo zu erken-nen was der wahren Radikalitaumlt dieses Denkens nicht gerecht werde (Conant Two Con-ceptions of Die Uumlberwindung der Metaphysik in Wittgenstein in America (Anm 17) S 13ndash62 hier S 38 Anm 42)

55 In diesem Punkt ist Conant exegetisch weitaus vorsichtiger als Diamond die weniger Scheu hat Frege eine systematisch uumlberzeugende Konzeption zuzuschreiben

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raquokeine Lehre sondern eine Taumltigkeitlaquo Diese Taumltigkeit besteht nach Con-ant darin daszlig eine Illusion von Sinn aufgebaut und am Ende zerstoumlrt wird Das Ziel des Buches ist daher raquonicht eine Einsicht in metaphysische Zuumlge der Wirklichkeit sondern in die Quellen der Metaphysiklaquo (S 421) Nach Conant gibt es im Text nur raquo(scheinbar) eine Lehre uumlber raquodie Gren-zen des Denkenslaquolaquo (S 424) tatsaumlchlich aber sind raquodie Erlaumluterungen des Autors nur dann erfolgreich wenn wir den Haupttext als Unsinn erken-nenlaquo (S 424) Conants Darstellung verleiht der resoluten Lesart dadurch daszlig er aufzeigt wie die grundlegenden Spannungen in den fruumlheren Deu-tungsansaumltzen aufgeloumlst werden koumlnnen den Anschein einer teleologischen Zwangslaumlufi gkeit Nicht zufaumlllig spielt daher die fortgesetzte Auseinan-dersetzung mit der raquoUnsagbarkeitslesartlaquo eine zentrale Rolle in seinen Ausfuumlhrungen Ein nicht zu unterschaumltzender Teil der Anziehungskraft der resoluten Lesart liegt genau darin daszlig sie den einzigen konsistenten wenn auch zunaumlchst uumlberspitzt aber damit zugleich auch brillant wirken-den Ausweg aus den Bemuumlhungen um ein Verstaumlndnis der Logisch-Philoso-phischen Abhandlung zu bieten scheint56

Conants umfangreicher Beitrag zur Festschrift fuumlr Cora Diamond57 verstaumlrkt die genannten Tendenzen noch Dies zeigt sich bereits an der Form Unter dem Titel raquoA Recently Discovered Manuscriptlaquo wird ein gewisser raquoJohannes Climacuslaquo58 als Herausgeber eines Aufsatzes von Con-ant eingefuumlhrt der in Gestalt einer fi ktiven theologischen Auseinanderset-zung um die richtige Wittgensteinorthodoxie eigene (ziemlich dogma-tisch-uneinsichtsvolle) Kommentare zu den einzelnen Teilen von Conants Text abgibt Dieser Text selbst greift schon im Titel und uumlber weite Stre-cken ironisch den Ton theologischer Kontroversen auf Thema der Arbeit ist die umstrittene raquometa-wittgensteinschelaquo Frage ob Anhaumlnger der reso-luten Lesart (die noch einmal zusammenfassend vorgestellt wird) uumlber-haupt uumlber den Spielraum verfuumlgen um einen wesentlichen Unterschied zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein herauszuarbeiten (S 32) Diese Frage geht Conant dialektisch an indem er drei verschie-dene Listen praumlsentiert eine erste (S 49) die scheinbare Lehren der Ab-handlung enthaumllt die aber tatsaumlchlich so Conant Auffassungen sind vor

56 Diese Zwangslaumlufi gkeit tritt in Diamonds Arbeiten weitaus weniger hervor Fuumlr sie ist die Abhandlung ein reiches Buch das zahlreiche ausgesprochen weiterfuumlhrende und faszinierende Passagen enthaumllt die philosophisch weiterhelfen nicht ein Werk das sozu-sagen unter einer Drohung lebt und dessen Leser nach einem Ausweg suchen

57 James Conant Mild-Mono-Wittgensteinianism in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 29ndash142

58 Dieses von Kierkegaard entlehnte Pseudonym verwendet Conant seinerseits in einem Zitat aus der Abschlieszligenden unwissenschaftlichen Nachschrift (31) mit der Bemerkung daszlig Ironie und Ernsthaftigkeit einander nicht ausschlieszligen In fruumlheren Texten hatte Conant raquoClimacuslaquo mit raquoLeiterlaquo uumlbersetzt (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 291)

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denen Wittgenstein seine Leser warnen will eine zweite mit Auffas-sungen die Wittgenstein in der Abhandlung natuumlrlich klar und unkontro-vers erschienen die aber dennoch Ausdruck philosophischer Ansichten sind die er selbst spaumlter als problematisch ansah (S 83)

Damit ist fuumlr eine Differenz zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein ein Spielraum gewonnen der dann durch eine dritte Liste wieder in einen ironischen Schwebezustand gebracht wird indem Conant Saumltze praumlsentiert die man gleichermaszligen dem fruumlhen wie dem spaumlten Wittgenstein zuordnen kann bisweilen indem leichte Variationen des Wortlauts mitgefuumlhrt werden wie raquoDie Logik (Grammatik) muszlig fuumlr sich selber sorgenlaquo (S 106) Conant spricht von raquoAugenblicken atemberau-bender Kontinuitaumltlaquo (S 108) gerade dort wo Wittgenstein die Konzeption der Abhandlung kritisiert (PhU 97ndash133) Als Ergebnis der Untersuchung bleibt so der Eindruck von gleichzeitig auszligerordentlicher Kontinuitaumlt und deutlicher Diskontinuitaumlt in Wittgensteins philosophischer Entwicklung Auch daszlig eine resolute Lesart eher raquoein Programm um das Buch zu lesenlaquo (111 Anm 4) ist als tatsaumlchlich eine durchgehende Lektuumlre ist deutlich ausgesprochen59

Der philosophische Ansatz und Stil Conants ist dem von Diamond in vie-ler Hinsicht entgegengesetzt Waumlhrend Diamond von konkreten Einzelfaumll-len ausgeht und diese im Hin- und Hergehen aufzuklaumlren versucht geht Conant ganz von auszligen mit einem umfassenden Blick in Beziehung zur gesamten Philosophiegeschichte an die Fragen heran Ein bevorzugter Vergleich ist derjenige Wittgensteins mit Kierkegaard insbesondere in der Frage des Verhaumlltnisses des Autors zu seinen Buumlchern60 Man koumlnnte gera-

59 In der gemeinsam verfaszligten Arbeit On Reading The Tractatus Resolutely Reply to Me-redith Williams and Peter Sullivan in M KoumllbelB Weiss Wittgensteinrsquos Lasting Signifi cance London 2004 S 46ndash99 erlaumlutern Diamond und Conant einige Punkte ihres Ansatzes ge-genuumlber Versuchen das Buch als System von Behauptungen zu lesen (Williams) und gegen die Kritik ihre Lesart sei unvollstaumlndig letzteres mit dem Hinweis es handle sich bislang lediglich um ein Forschungsprogramm aber gerade nicht um ein Rezept das eine leichte und zusammenhaumlngende Lektuumlre ermoumlgliche (S 68) Peter Sullivan wird als der produk-tivste Kritiker bezeichnet weil er auf spezifi sche Inkonsistenzen hinweise (vgl die in Anm 64 genannte Arbeit) Sullivans eigene Deutungsvorschlaumlge bleiben jedoch eher tra-ditionellen ontologisch orientierten Ansaumltzen verhaftet (vgl What is the Tractatus About ebenfalls in KoumllbelWeiszlig S 32ndash45) Diese gemeinsame Arbeit verbleibt jedoch insge-samt auf einer sehr allgemeinen und wenig spezifi schen Ebene

60 So etwa Conant Putting Two and Two together Kierkegaard Wittgenstein and the Point of View for Their Work as Authors in T TessinM von der Ruhr (Hg) Philosophy and the Grammar of Religious Belief London 1995 S 248ndash331 Als Zusammenfassung schreibt Co-nant dort daszlig der fruumlhe Wittgenstein aumlhnlich wie Kierkegaard raquoden Leser in die Wahr-heit hineintaumluschen willlaquo zu welchem Zweck er raquoeine ausgefeilte Struktur scheinbarer Behauptungenlaquo verwendet (S 302) Fuumlr ein solches Verstaumlndnis gibt es bei Kierkegaard zahlreiche Hinweise bei Wittgenstein streng genommen keine er will alles raquoklar sagenlaquo

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dezu sagen daszlig sich Conant mehr fuumlr die Frage der Autorschaft als fuumlr das Werk selbst interessiert61 Es geht ihm darum den richtigen Blickwinkel auf das Werk zu gewinnen und den entwickelt er durch weitgespannte Ver-gleiche durch die Analyse der Selbstkommentare und zusaumltzlichen Erlaumlute-rungen Dabei scheint das Ziel vorrangig die Einordnung vorhandener Zu-gangsmoumlglichkeiten zu sein die er dann in eine systematische Ordnung bringt62 Diese Systematik verweist dann gewissermaszligen teleologisch auf eine einzige offene Moumlglichkeit als den richtigen Zugang zu einem Problem oder einem Text Waumlhrend Diamond also einzelne Miszligverstaumlndnisse auf-klaumlrt zieht Conant die groszligen orientierenden Linien63 Damit aber ergaumln-zen beide Ansaumltze einander wiederum in einem Maszlige daszlig sie von auszligen in aller Regel als eine Einheit angesehen werden Erst durch Conants Ord-nungsvorschlaumlge hat Diamonds Ansatz diejenige Uumlbersichtlichkeit und Handhabbarkeit gewonnen die eine breitere Wirksamkeit ermoumlglichen

Einmal schreibt er kritisch raquoDer Verkehr mit Autoren wie Hamann Kierkegaard macht ihre Herausgeber anmaszligend Diese Versuchung wuumlrde der Herausgeber des Cherubi-nischen Wandersmannes nie fuumlhlen noch auch der Confessionen des Augustin oder einer Schrift Luthers Es ist wohl das daszlig die Ironie eines Autors den Leser anmaszligend zu ma-chen geneigt istlaquo (Denkbewegungen [1931] FrankfurtM S 41)

61 In einem fruumlheren Aufsatz The Search for Logically Alien Thought Descartes Kant Frege and the Tractatus in Philosophical Topics 20 (1991) S 115ndash180 vergleicht Conant Witt-gensteins Vorgehen mit einem langen Witz bzw einer Parabel die ein absurdes Gespraumlch wiedergibt in dem ein Pole von einem Juden wissen will worin raquodas Geheimnis der Ju-denlaquo besteht und das nach allerhand Umwegen mit der Einsicht endet daszlig da raquokein Ge-heimnis istlaquo ndash aber so erfahren wir eben das raquoist das Geheimnislaquo (S 160)

62 Conants umfassende Perspektive geht mit einigen Zurechtstellungen bei der Inter-pretation einher die das Material entsprechend dem umfassenden Entwurf leicht umfor-men In seinem langen Aufsatz spricht er Wittgenstein eine besondere Konzeption von Klarheit zu die darin liegen soll daszlig man am Ende das Buch als unsinnig erkennt (374) er uumlbergeht dabei aber daszlig Wittgenstein gegenuumlber Russell unmittelbar auf den voumlllig neu-artigen Inhalt der logischen Konzeption verweist und dabei sogar das Wort raquoTheorielaquo ver-wendet als Ziel formuliert Wittgenstein auch nicht daszlig man bestimmte Konzeptionen als nur scheinbar konsistent erkennen soll (377) sondern daszlig man die Logik der Sprache ein-sehen lernt ohne ein Verstaumlndnis von 654 ist nach Conant kein Verstaumlndnis des Buches moumlglich (378) dies gilt aber angesichts der konzentrierten Form fuumlr jeden Satz des Buches wobei die Schluszligbemerkung eher selbstrefl exiv auf das Buch und die Darstellungsform Bezug nimmt als auf die bis dahin entwickelte Einsicht der gegenuumlber der bloszligen Selbstre-fl exion die Prioritaumlt einzuraumlumen waumlre die Woumlrter raquoUnsinnlaquo und raquoErlaumluternlaquo (378) sind entschieden nicht die Kernbegriffe des Buches zum einen kommen eher die Formen raquoun-sinniglaquo oder raquoes ist ein Unsinnlaquo vor nicht das Substantiv zum anderen sind viel eher raquoKlar-heitlaquo und raquoklarlaquo die zentralen Ausdruumlcke Carnap wird als derjenige hingestellt der nichts verstanden habe aber Wittgenstein hat gerade Carnap 1932 des Plagiats bezichtigt und Conant verkehrt Wittgensteins Aumluszligerung er koumlnne sich raquonicht denkenlaquo daszlig Carnap den Sinn des Buches raquoso ganz und gar miszligverstandenlaquo haben koumlnnte ins gerade Gegenteil und zitiert sie mehrfach (378 Anm 9 Anm 99 als Motto in Two Conceptions wie Anm 54)

63 Relativ haumlufi g verwendet Conant auch ganz traditionelle Ordnungsinstrumente wie raquoArtlaquo und raquoGattunglaquo (vgl Conant Method (Anm 53) S 435 Anm 43 436 Anm 48)

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Ein Punkt hat Kritiker besonders irritiert naumlmlich Diamonds und Co-nants Bestehen darauf daszlig der Text streng und konsequent stuumlckweise (piecemeal) gelesen werden soll Dies scheint mit der radikalen Grundten-denz nicht recht vereinbar oder die Radikalitaumlt doch stark abzuschwaumlchen ndash es koumlnnte aber dazu fuumlhren daszlig man das Gewicht der bisweilen daran angeknuumlpften allgemeineren Betrachtungen als wesentlich geringer anse-hen koumlnnte als es derzeit in aller Regel geschieht Tatsaumlchlich ist der stuumlckweise Zugang sehr charakteristisch fuumlr Diamonds Methode und die allgemein gehaltenen radikalen Thesen wirken in ihren Texten eher wie Fremdkoumlrper Die raquoTheselaquo von der notwendig stuumlckweisen Interpretation reduziert sich daher im Kern auf die wichtige aber unspektakulaumlre me-thodische Beobachtung daszlig es ohne Zweifel richtig ist daszlig man die Ab-handlung sorgfaumlltig langsam und schrittweise entschluumlsseln muszlig gerade damit man die einheitliche und uumlbergreifende Konzeption (und daran ist nichts stuumlckweise und zusammengebastelt) genau richtig auffassen kann

6 Tatsaumlchlich sind die Vertreter der resoluten Lesart insgesamt weit erfolgreicher in der Kritik konkurrierender Ansaumltze als in der Interpreta-tion des Textes selbst Ein groszliger Teil der Debatte wird in der Gestalt von Auseinandersetzungen um das richtige Verstaumlndnis bzw den Maszligstab fuumlr eine angemessene Interpretation gefuumlhrt Dies ist in gewissem Sinne fol-gerichtig denn ein Textverstaumlndnis im gewoumlhnlichen Sinn des Wortes kann es von einem im strengen Sinn unsinnigen Text ja kaum geben Die Debatte behandelt deshalb vorrangig Fragen wie die welches denn der raquoZweck des Unsinnslaquo sei64 Dazu hat Michael Kremer Vorschlaumlge entwi-ckelt die die ethische Dimension des Buches herausarbeiten65 Er zieht Vergleiche zu Wittgensteins Beschaumlftigung mit ethischen und religioumlsen Fragen etwa dem Neuen Testament und dem Gedanken daszlig wir einse-hen muumlssen daszlig wir die raquoSuche nach einer Rechtfertigung unseres Lebens aufgeben muumlssenlaquo (S 56) weil der Versuch einer solchen Selbstrechtferti-gung ein Akt des Hochmutes waumlre Als Ergebnis glaubt er festhalten zu muumlssen daszlig das Buch ein raquoknow-howlaquo kein raquoWissen-daszliglaquo vermittelt raquoDieses Buch und seinen Autor zu verstehen bedeutet zu lernen wie man lebtlaquo66 (S 62) In aumlhnlicher Weise deutet Kremer die Frage nach der

64 Michael Kremer The Purpose of Tractarian Nonsense in Nous 35 2001 S 39ndash73 Darauf reagiert Sullivan mit detaillierter Einzelkritik On Trying to be Resolute A Response to Kremer on the Tractatus in European Journal of Philosophy 10 (2002) S 43ndash78 (vor allem S 66ndash68 mit Hinweisen auf die spaumlrlichen Textbelege)

65 Fragen der Ethik spielen uumlberhaupt in den Arbeiten von Diamond Conant und an-deren resoluten Lesern eine groszlige Rolle was aber hier nicht im einzelnen verfolgt werden kann

66 Schon Diamond Ethics (Anm 37) S 169 spricht als Ziel an daszlig wir raquokeine falschen Anforderungen an die Welt stellenlaquo sollen

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raquoWahrheit des Solipsismuslaquo dahingehend daszlig es darum geht den eigenen Stolz zu uumlberwinden67 Selbst die Frage nach dem raquoHauptproblem der Phi-losophielaquo naumlmlich der Unterscheidung von Sagen und Zeigen versucht Kremer so zu beantworten daszlig Wittgenstein vor allem vor der unberech-tigten und zu vorschnellen Anwendung dieser Unterscheidung warnt (und er will zeigen daszlig insofern diese Unterscheidung als Hauptproblem ange-sprochen wird Wittgenstein dieses Problem raquoloumlsenlaquo will)68 All diese Vor-schlaumlge lenken jedoch systematisch von einer tatsaumlchlichen Lektuumlre von Wittgensteins Buch eher ab

Innerhalb der resoluten Stroumlmung ist Juliet Floyd als radikale raquoJakobine-rinlaquo bezeichnet worden weil sie schon fuumlr den fruumlhen Wittgenstein gene-rell die Existenz einer einheitlichen Auffassung von Logik Bedeutung Sagen und Zeigen aber auch eines eindeutigen Ideals der Klarheit leug-net69 Sie nennt Wittgensteins Vorgehen dialektisch bzw refl ektierend (S 188) so daszlig Wittgenstein nicht auf eine einzelne Stoszligrichtung hin festzulegen ist Dadurch wird zum einen erneut die Moumlglichkeit in Frage gestellt den Text uumlberhaupt einigermaszligen einheitlich zu interpretieren zum anderen eroumlffnen sich Moumlglichkeiten relativ frei auch wieder kon-struktivere (S 187) Zuumlge festzustellen Wenn Floyd als Grundgegensatz der Deutungen die Frage betont ob man Wittgenstein so versteht als wolle er raquodie Endlichkeit oder expressive Begrenztheit der Sprache beto-nenlaquo oder ob er die raquooffene Entwicklung und Vielfalt menschlicher Aus-drucksmoumlglichkeitenlaquo (S 177) herausarbeiten will dann steht auch dies nur in einem eher lockeren Bezug zum Text Genau an dieser Stelle setzen die wichtigsten Kritiker an

7 Als prominentester und heftigster Kritiker ist Peter Hacker hervor-getreten70 Hacker kritisiert und polemisiert aus einer Position der exten-

67 Michael Kremer To What Extent is Solipsism a Truth in Stocker Post-Analytic Tractatus S 59ndash84 Das ist eine sehr ungewoumlhnliche Lesart dieser sonst erkenntnistheore-tisch aufgefaszligten Passage

68 Michael Kremer The Cardinal Problem of Philosophy in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 143ndash176 Kremers Deutung beruht vor allem darauf daszlig Wittgenstein in seinem Brief an Russell (15 8 1919) diese Unterscheidung einmal als raquoHauptpunktlaquo und dann auch als raquoHauptproblemlaquo anspricht Kremer deutet dies so daszlig die Unterscheidung als zu loumlsendes raquoProblemlaquo aufgefaszligt wird

69 Juliet Floyd Wittgenstein and the Inexpressible in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 177ndash234 hier S 185 und 196

70 Hackers Schriften dienen zugleich umgekehrt Diamond und Conant als Illustrati-onen fuumlr die raquoStandardlesartlaquo und dafuumlr wie man Wittgenstein nicht interpretieren sollte so schon 1985 in Diamond Throwing Away the Ladder (Anm 30) S 194 als Beispiel fuumlr raquochickening outlaquo Hacker ist auch als einziger Kritiker im Sammelband New Wittgenstein vertreten Was he Trying to Whistle It in New Wittgenstein S 353ndash388 Sein Sammelband Connections and Controversies Oxford 2001 enthaumllt neben dem Nachdruck auf S 98ndash140 noch eine Fortsetzung When the Whistling Had to Stop S 141ndash169

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siven Kommentieung des spaumlten Wittgenstein und zugleich des philo-sophischen Common Sense heraus Er sieht in der Abhandlung raquoeine ver-bluumlffende Lehre auf verbluumlffende Weise dargebotenlaquo (S 353) ndash diese Charakterisierung entnimmt er jedoch nicht erst seinen neuen Gegnern sondern einer eher traditionellen realistisch-metaphysischen Deutung von David Pears Hacker versteht das Buch als einen gescheiterten Versuch wesentliche Wahrheiten die nicht gesagt werden koumlnnen dennoch zu zeigen Dies sieht er als gesichertes Faktum an dessen Vorhandensein er mit Energie gegen Versuche es zu leugnen untermauert Dazu zaumlhlt er zehn Beispiele solcher Versuche auf von logischen Beziehungen zwischen Saumltzen bis zur Harmonie zwischen Gedanke Sprache und Wirklichkeit (S 353ndash355) und stellt sich ganz auf die Seite schon der fruumlhen Kritiker besonders des Wiener Kreises die den Schluszlig des Buches raquoganz unglaub-wuumlrdig fandenlaquo (S 355)71 Er nennt den Ansatz von Diamond und Conant raquopostmodernlaquo offenbar darauf berechnet zu provozieren jedoch frei von ernsthaften Absichten nicht aber das Buch richtig einschaumltzen zu wollen (S 356)72

Hacker sieht das Buch als offensichtlich inkonsistent an und beruft sich dabei auf Wittgensteins spaumltere Meinung zur Bestaumltigung dieses Faktums (S 370) Von daher fallen alle Versuche das Buch insgesamt nachzuvoll-ziehen zwangslaumlufi g ebenfalls der Inkonsistenz anheim Als Maszligstab der Inkonsistenz dient ihm dabei die Unvereinbarkeit und Widerspruumlchlich-keit der im Buch vorgetragenen (raquogesagtenlaquo oder raquogezeigtenlaquo) Lehren Da-mit aber stellt sich Hacker explizit auf einen Standpunkt den Wittgenstein fuumlr sein eigenes Werk ablehnt das ja explizit raquokein Lehrbuchlaquo (Vorwort) sein will Hacker reduziert das Buch auf einen Lehrinhalt den er unzurei-chend fi ndet ndash der Gegensatz zu Diamond und Conant liegt bereits hier denn beide Seiten differieren vor allem darin was das Buch eigentlich

71 In dieser Hinsicht stimmt seine Einschaumltzung mit derjenigen Conants uumlberein der seinerseits Hacker in die Naumlhe Carnaps plaziert (Two Conceptions of Die Uumlberwindung S 14 ff) Ohne Hacker sofort zu nennen schreibt Conant Carnap (wie spaumlter Hacker) eine substantielle Auffassung von Unsinn zu

72 Hacker lehnt sowohl die Abhandlung als auch Freges philosophische Grundkonzepti-on ab und setzt sie als verfehlten Versuch in scharfen Kontrast zum Denken des spaumlten Wittgenstein Diese Haltung wird in seinem Kommentar zu den Philosophischen Untersu-chungen deutlich besonders eklatant jedoch in dem (gemeinsam mit Gordon Baker ver-faszligten) gegen Dummetts Fregedeutung geschriebenen Frege Logical Excavations (Oxford 1984) Das Auftreten der resoluten Lesart gibt Hacker daher nicht den Grund zu seiner Ablehnung des fruumlhen Wittgenstein sondern vor allem den Anlaszlig seine Gruumlnde zu buumln-deln und erneut vorzubringen (Der verstorbene Gordon Baker der zunaumlchst gemeinsam mit Hacker mehrere Baumlnde zum spaumlten Wittgenstein verfaszligte dann aber seinen Ansatz weiterentwickelte und dabei in einigen Punkten der resoluten Lesart nahekam sei hier noch erwaumlhnt vgl Baker Wittgensteinrsquos Method Neglected Aspects Oxford 2004)

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leisten will Hacker sieht einen eklatanten Gegensatz zwischen Wittgen-steins Erklaumlrung nichts lehren zu wollen und seinem tatsaumlchlichen Vor-gehen seine Gegner versuchen gerade diese Aumluszligerungen Wittgensteins zu verstehen und ihnen entsprechend den Text so zu lesen daszlig er keine raquoLehrenlaquo enthaumllt sondern auf andere Art und Weise arbeitet

Hacker versucht entsprechend auch nicht Diamond und Conant ge-recht zu werden sondern listet vor allem eine Reihe von Kritikpunkten auf Zum einen weist er auf eine gewisse hermeneutische Willkuumlr hin mit der nur relativ wenige insgesamt unzusammenhaumlngende Partien herange-zogen werden wobei einige Passagen doch wieder als ganz gewoumlhnlich und sinnvoll gelesen werden ohne daszlig eine klare Abgrenzung nach Kri-terien gegeben wuumlrde Die haumlufi g verwendete Rede vom raquoRahmenlaquo des Buches im Unterschied zum raquoHauptteillaquo bleibt ihm zufolge unklar abge-grenzt da zum Rahmen auch Bemerkungen wie 4112 aus der Mitte des Textes gezaumlhlt werden73 Im Zusammenhang damit weist er darauf hin daszlig zwischen den Arten von Unsinn doch ein Unterschied gemacht wer-de wenigstens nach der Wirkung auf den Leser74 Und schlieszliglich ver-sucht er nachzuweisen daszlig Wittgenstein selbst weder in seiner fruumlheren noch in seiner spaumlteren Zeit eine solche radikale Lesart seiner eigenen Ar-beit vorgetragen oder unterstuumltzt habe

Eine spezielle Streitfrage liegt darin ob es nach Wittgenstein raquoUumlbertre-tungen der logischen Syntaxlaquo geben koumlnne Diamond und Conant be-haupten nein Hacker versucht an Beispielen aufzuzeigen daszlig Wittgen-stein dies wiederholt anspricht (S 365ndash367)75 Der grundlegende Dissens betrifft hier die Frage ob Wittgenstein sich vorrangig um den Begriff und die Festlegung einer logischen Syntax als Einfuumlhrung sinnvoller Rede be-muumlht denn wenn es um die Festlegung und ggf die Erweiterung und Ver-aumlnderung von Sinn geht dann gibt es nichts was uumlbertreten oder verfehlt werden koumlnnte ndash oder aber ob Wittgenstein wie Hacker ihn liest jemand ist der vor allem schon bestehende syntaktische Systeme betrachtet und dabei die Moumlglichkeiten behandelt sich gegenuumlber den Vorschriften be-

73 Conants Auskunft daszlig nicht der Ort im Text sondern die Funktion der Bemerkung daruumlber entscheide ob es zu Rahmen oder Hauptteil gehoumlre vermag als Gegenargument nicht wirklich zu uumlberzeugen

74 Dies leugnen Conant und Diamond keineswegs nur kommt es ihnen gerade auf den Unterschied zwischen logischen und anderen Einteilungsgruumlnden an

75 Dieser Punkt ist auch deswegen zentral weil fuumlr Hacker Unsinn genau dadurch ent-steht daszlig man die logische Syntax verletzt (Was he Trying S 367) waumlhrend fuumlr Conant und Diamond Unsinn dann vorliegt wenn wir mit einer Zeichenreihe schlicht nichts anfangen koumlnnen also kein Symbol darin erkennen Dieser Frage widmet Hacker den Aufsatz Wittgenstein Carnap and the New American Wittgensteinians in Philosophical Quar-terly 53 (2003) S 1ndash23 und Diamond die Entgegnung Logical Syntax in Wittgensteinrsquos Tractatus in Philosophical Quartely 55 (2005) S 78ndash88

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stimmter Systeme abweichend zu verhalten und ihre Regeln zu verletzen Die Frage ist ob Wittgenstein die Syntax mit einem bestehenden Spiel analog setzt oder nicht76 Fuumlr beide Aspekte gibt es Belege im Text77

Eine gewisse Uumlbereinstimmung zwischen Hacker und seinen Gegnern liegt ironischerweise darin daszlig keine der beiden Seiten eine durchge-hende Interpretation der Abhandlung anstrebt Hacker haumllt dies aufgrund der Inkonsistenz fuumlr uninteressant (wenn auch theoretisch moumlglich) Dia-mond ist vorrangig an Einzelfragen und am methodischen Standard des spaumlten Wittgenstein interessiert (wozu sie in der Abhandlung letztlich doch nur eine Vorstufe fi ndet) und Conant ist hauptsaumlchlich damit beschaumlftigt vorgaumlngige Kriterien fuumlr eine uumlberzeugende Lektuumlre zu entwickeln78

Als zentrale unbeantwortete Frage bleibt daruumlber hinaus das Problem bestehen wie man Wittgensteins Sprache und die Art seiner Behaup-tungen im Text konsequent aufzufassen hat denn hier weist Hacker auf deutliche Inkonsistenzen der resoluten Leser hin Zum einen wird von raquobloszligem Unsinnlaquo gesprochen dann wieder werden Passagen so gelesen wie gewoumlhnliche behauptende Prosa zum einen ist von Ironie die Rede dann wieder scheint alles ganz woumlrtlich aufzufassen zu sein79

8 Marie McGinn hat den bisher ehrgeizigsten Versuch unternommen die Staumlrken beider konkurrierender Ansaumltze zu verbinden und die jewei-

76 Vgl Diamond (wie die vorige Anm) S 86 Hacker vertritt hier einen eher kantischen Ansatz der die Grenzen der Vernunft bereits abgesteckt vorfi ndet (ein fuumlr Hacker wichtiges Buch ist P Strawsons Kantdeutung in The Bounds of Sense) Diamond und Conant sehen Wittgenstein als radikaleren Denker nach dem diese Grenzen immer wieder neu bestimmt werden muumlssen bzw nach dem es genau genommen keine Grenzen gibt da das Entschei-dende die Moumlglichkeit neuer Begriffsbildungen ist ohne daszlig man sich an irgendeiner Vorgabe (oder Grenze) orientieren kann die man entweder trifft oder verfehlt

77 Zum einen schreibt Wittgenstein raquoWir koumlnnen einem Zeichen nicht den unrechten Sinn gebenlaquo (54733) also bei der Bedeutungsfestsetzung nichts verfehlen zum anderen erklaumlrt er schlicht Saumltze wie raquo1 ist eine Zahllaquo (41272) die sich auf unsere bestehende Spra-che beziehen fuumlr unsinnig weil darin das Wort raquoZahllaquo als gewoumlhnliches Begriffswort statt als raquoformaler Begrifflaquo und also falsch verwendet wird Daszlig 1 eine Zahl ist ist schon da-durch klar daszlig wir das Zahlzeichen 1 verwenden und gerade deshalb koumlnnen wir dies nicht noch zusaumltzlich behaupten Es ist allerdings richtig daszlig Wittgenstein im letzteren Fall strenggenommen nicht von der raquoVerletzung der logischen Syntaxlaquo spricht sondern das Gebilde einfach raquounsinniglaquo nennt da fuumlr solche Faumllle gar keine logische Syntax im exakten Sinn verfuumlgbar ist Die gesamte Abhandlung ist in dieser Hinsicht nirgends der Versuch eine vorliegende Syntax zu treffen aber auch nicht eine neue Syntax festzulegen sondern sie befaszligt sich vielmehr mit den Bedingungen der Moumlglichkeit von Syntax uumlberhaupt Insofern verfehlen sowohl Hacker auch Diamond und Conant diesen Kernpunkt des Buches

78 So etwa im Abschnitt What makes a Reading resolute in Mono-Wittgensteinianism S 42ndash47

79 Vgl dazu W Kienzler Die Sprache des Tractatus Klar oder deutlich Karl Kraus Witt-genstein und die Frage der Terminologie in F GoumlppelsriederJ Volbers (Ed) Philosophie als Lebensform Muumlnchen 2008 (im Erscheinen)

119Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

ligen Schwaumlchen zu vermeiden80 Sie will Wittgenstein keine metaphy-sischen Lehren zuschreiben81 aber doch sicherstellen daszlig wir aus dem Buch etwas Konstruktives lernen koumlnnen Dazu nimmt sie den Begriff der Klaumlrung als Orientierungspunkt Die Aufgabe des Buches ist es demnach die Logik der Sprache aufzuklaumlren Wenn dies aber ohne die Verwendung positiver Lehren geschehen soll muszlig es indirekt geschehen naumlmlich da-durch daszlig die Sprache sich indirekt selbst klaumlrt das heiszligt daszlig eine solche Klaumlrung nicht auf etwas auszligerhalb der Sprache Bezug nimmt denn das waumlre Kennzeichen einer metaphysischen Auffassung McGinn schreibt et-was kryptisch raquoEs ist ein Werk in dem die Natur des Satzes die schon klar ist obwohl wir sie noch nicht klar sehen sich selbst fuumlr uns klaumlrtlaquo82

Sie betont jedoch sehr zu Recht daszlig Wittgenstein in seiner Abhandlung die eine groszlige Frage loumlsen wollte raquoDas Wesen des Satzes angeben heiszligt das Wesen aller Beschreibung angeben also das Wesen der Weltlaquo (54711)83

Damit aber waumlren alle (oder raquodielaquo) philosophischen Probleme geloumlst Ohne eine solche Voraussetzung die Wittgenstein offenbar als grundle-gende Einsicht erschien ist seine Handlungsweise gar nicht nachvollzieh-bar naumlmlich ein uumlberaus kurzes Buch zu verfassen in dem alle philoso-phischen Fragen im Prinzip jedenfalls beantwortet sind Dies ist nur moumlglich wenn diese Fragen so eng zusammenhaumlngen daszlig die Loumlsung der einen zugleich die Loumlsung der anderen bedeutet Dieser Grundgedanke strukturiert McGinns Buch und gibt ihm eine klare Linie84 Sie untersucht die besonders von Conant behandelten Fragen nach den Bedingungen einer angemessenen Lektuumlre fast gar nicht und antwortet insofern nicht durch Gegenargumente sondern durch die Tat durch einen Gang durch das Buch Es uumlberrascht dabei daszlig sie den Anfang zunaumlchst weglaumlszligt und nach Einleitungskapiteln zur Abgrenzung gegen Frege und Russell gleich mit dem Begriff des Bildes und dann des Satzes beginnt Tatsaumlchlich zeigt McGinn uumlberzeugend auf daszlig die Eingangspassagen am besten als Hin-fuumlhrungen zur raquoTheorie des Satzeslaquo aufgefaszligt werden und nicht als eigen-staumlndiges Theoriestuumlck einer vorangestellten Ontologie (sei diese nur scheinbar als Illusion aufgebaut oder ernst gemeint vgl etwa Diamond

80 Marie McGinn Elucidating the Tractatus81 Marie McGinn Between Metaphysics and Nonsense Elucidation in Wittgensteinrsquos Tracta-

tus In Philosophical Quarterly 49 (1999) S 491ndash513 hier S 107)82 Damit bleibt McGinn nahe an Aumluszligerungen von Diamond und Conant (etwa Method

S 424)83 Zit in McGinn Elucidating S 24084 Das erste Kapitel The Single Great Problem behandelt diese Frage zeigt aber bereits

daszlig sich McGinn nicht vollstaumlndig auf den Text einlaumlszligt sondern ihn von Anfang an stark aus der Perspektive der Philosophischen Untersuchungen her deutet (die im letzen Kapitel er-neut den Maszligstab der Betrachtung bilden)

120 Wolfgang Kienzler PhR

Ethics S 160) Vor dem Hintergrund der Auffassung des sinnvollen Satzes wird der Anfang dann relativ leicht verstaumlndlich In der Darstellung von McGinn wird die Abhandlung wieder zu einer Abhandlung einer nuumlch-ternen Darlegung uumlber die Voraussetzungen sinnvollen Sprechens und Ausdruumlckens uumlber die Unterschiede der Satzarten und die allgemeine Form des Satzes Allerdings ruumlcken so die Einzelheiten der Sprachlogik ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit und die Fragen nach der Natur der Philosophie aber auch die nach der Einheit des Buches treten ganz in den Hintergrund Das Buch enthaumllt kein Kapitel zum Philosophiebegriff des fruumlhen Wittgenstein und kaum Erlaumluterungen zur spezifi schen Form der Darstellung oder zur Strategie der Praumlsentation Einige Themen wie die Ethik Arithmetik oder die Naturgesetze werden ganz uumlbergangen dabei waumlre an diesen Beispielen die angestrebte Einheitlichkeit erst richtig aufzuzeigen gewesen In dieser Hinsicht erklaumlrt McGinn die Abhandlung in der Form die sie 1916 noch hatte bevor Wittgenstein die Schluszligpassa-gen einarbeitete und als sie noch staumlrker eine Abhandlung in raquophiloso-phischer Logiklaquo war85 Gegen Diamond und Conant stellt sie klar heraus daszlig das Ziel der Klaumlrung raquodurch Einsicht in das Funktionieren der Spra-chelaquo erreicht werden soll und nicht indirekt dadurch daszlig raquodie Versuche philosophische Saumltze zu bilden als Unsinn erkannt werdenlaquo (S 254 Anm 6) Die sehr nuumlchterne Art McGinns zeigt einen Wittgenstein der ganz unironisch seine logisch-philosophische Konzeption Schritt fuumlr Schritt entwickelt86

85 Vgl Brian McGuinness Wittgensteinrsquos 1916 Abhandlung in R HallerK Puhl (Hg) Wittgenstein and the Future of Philosophy Wien 2002 S 272ndash282 Die grundlegenden philologischen Arbeiten von McGuinness werden in der gegenwaumlrtigen Debatte leider wenig fruchtbar gemacht

86 Das stark gestiegene Interesse am fruumlhen Wittgenstein hat eine ganze Reihe von Monographien hervorgebracht die jedoch nur selten das gelassene exegetische Niveau McGinns erreichen sondern in der Regel mehr oder weniger exzentrische Deutungen in den Mittelpunkt stellen

M Ostrow Wittgenstein and the Liberating Word CambridgeMass 2002 (eine Zusam-menfassung in Reck From Frege to Wittgenstein) versucht eine an Floyd orientierte raquodialek-tische Interpretationlaquo die sich am Leitmotiv des raquoerloumlsenden Worteslaquo orientiert aber ins-gesamt zu vage bleibt zumal sich die Differenz zum spaumlteren Wittgenstein ganz aufzuloumlsen scheint und wichtige Passagen unberuumlcksichtigt bleiben

E Friedlander Signs of Sense Reading Wittgensteinrsquos Tractatus Cambridge Mass 2001 scheint das Raumltselhafte geradezu zu genieszligen und nennt als sein Ziel raquonicht das Raumltsel des Buches zu loumlsen sondern seinen raumltselhaften Charakter auf eine wahrhaft zum Denken herausfordernde Art aufzuzeigenlaquo (S XV) und will geradezu raquoseinen raumltselhaften Charak-ter rechtfertigenlaquo (16)

U Nordmann Wittgensteinrsquos Tractatus An Introduction Cambridge 2005 faszligt das Buch als ein Gedankenexperiment und eine groszlige Reductio ad Absurdum auf zu der er einige Praumlmissen ergaumlnzt Er deutet das Buch als im Konjunktiv geaumluszligert wodurch der Behaup-

121Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Ausblick

Die Arbeiten von Diamond und Conant haben zu einer neuen Welle des Interesses an Wittgensteins Fruumlhwerk gefuumlhrt und die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten vor allem aber auch das Potential seiner Abhandlung gelenkt Im Zentrum steht dabei die Natur der Philosophie als Erlaumlute-rung die selbst nicht in die Gestalt einer Lehre gebracht werden kann oder anders ausgedruumlckt der entscheidende Unterschied zwischen einer philosophischen und einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Untersu-chung

Gerade dadurch daszlig sie die Abhandlung stellenweise sehr nah an den spaumlten Wittgenstein heranruumlcken eroumlffnen Conant und Diamond Moumlg-lichkeiten die Souveraumlnitaumlt und Subtilitaumlt des Buches erst richtig zu wuumlr-digen Dies geschieht jedoch um den Preis daszlig einige Teile des Buches herausgegriffen andere dagegen kaum beruumlcksichtigt werden

Nicht hinreichend geklaumlrt scheint auch die Frage nach dem sprachlichen Grundton des Buches Diamond geht immer wieder von einem nahe an der Alltagssprache stehenden Redegestus aus (aumlhnlich wie der spaumlte Wittgen-stein) waumlhrend Conant aus der weiteren Perspektive ironische Zuumlge be-schreibt87 Gemeinsam ist den resoluten Lesern daszlig sie Wittgensteins Saumltze in der Abhandlung auf doppelte Weise auffassen Sie unterscheiden an vielen Stellen einen buchstaumlblichen naheliegenden Sinn der sich bei naumlherer Be-trachtung als inkohaumlrent erweist und der so zerfaumlllt88 Daher wird in ihrer

tungscharakter eingeklammert die Klaumlrungsfunktion jedoch trotzdem ermoumlglicht wird Er gewinnt so eine Kategorie von Saumltzen die raquounsinnig aber bedeutungsvolllaquo (176) sind

L Gunnarsson Wittgensteins Leiter Bodenheim 2002 greift einen Gedanken Conants auf daszlig wir naumlmlich den Hauptteil des Buches wegwerfen und den Rahmen behalten sollen (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 286) und entwickelt daraus die Fik-tion es waumlre tatsaumlchlich nur das Vorwort und der Schluszlig der Abhandlung erhalten ndash und will daraus den Gehalt des Buches ohne Verlust rekonstruieren Diese Veranschaulichung zeigt besonders klar auf wie verfehlt dieser Ansatz ist wenn man ihn auf die konkrete Interpretationspraxis bezieht

87 Die Parallele zwischen Wittgenstein und Kierkegaard scheint in zentralen Punkten gerade nicht zu bestehen denn Wittgenstein distanziert sich gerade nicht von seinem Buch sondern erklaumlrt seine Auffassungen fuumlr defi nitiv richtig und alternativlos ganz ent-gegen dem verwirrenden Spiel Kierkegaards mit unterschiedlichen Pseudonymen und Perspektiven Ein passenderer Vergleich waumlre etwa mit Hume moumlglich der am Ende seiner Untersuchung uumlber die Prinzipien der Moral (Abschnitt 9 Teil 1) seine Ergebnisse fuumlr derart einfach klar kohaumlrent und uumlberzeugend haumllt daszlig dem nichts hinzuzufuumlgen ist so daszlig er selbst geradezu in Versuchung kommen koumlnnte dogmatisch davon uumlberzeugt zu sein

88 So fuumlhrt Diamond (in Ethics wie Anm 37) folgende Beispiele dafuumlr an 1 das woruuml-ber man schweigen muszlig (aber das kann es doch nicht geben weil es kein raquodaruumlberlaquo ist S 149) 2 die Saumltze der Abhandlung die zu verstehen seien (oder doch raquoer selbstlaquo wie Witt-genstein dann uumlberraschenderweise sagt S 149) 3 die Anfangssaumltze uumlber die Welt (aber daruumlber kann es doch keine Saumltze geben S 160) 4 der Schein daszlig ab 64 Saumltze uumlber Ethik

122 Wolfgang Kienzler PhR

Perspektive das Buch durchgehend doppelboumldig und loumlst sich schlieszliglich in Nichts auf wobei in der Aufl oumlsung gerade die Absicht des Buches bestehen soll89 Demgegenuumlber kann festgehalten werden daszlig Wittgenstein nir-gends von Ironie spricht wohl aber davon daszlig er das Wesentliche in Kuumlr-ze klar ausdruumlcken will Eine wichtige Differenz innerhalb der resoluten Lesart liegt weiter darin welche Wichtigkeit man den eher technischen Aspekten der Abhandlung zuschreibt Ricketts und Goldfarb sehen viele Zuumlge des Buches von technischen Erwaumlgungen motiviert und gepraumlgt waumlhrend Diamond und Conant den Sinn der symbolischen Notation vor allem darin sehen wesentliche Unterschiede klarzustellen90

Das Motto erklaumlrt daszlig man raquoalles was man weiszliglaquo schlieszliglich raquoin drei Worten sagenlaquo kann Viele der scheinbaren Widerspruumlche und Doppelt-heiten die resolute Leser beobachten koumlnnten sich von daher moumlglicher-weise der Absicht verdanken im Buch logisch praumlzise Saumltze zu erwarten eine Absicht die bestaumlndig getaumluscht wird91 Wuumlrde man die Saumltze eher als Instrumente verstehen die allmaumlhlich entsprechend den Stufen der Lei-ter zur Klarheit anleiten ohne daszlig der Leser in die selbstrefl exive Geste verwickelt werden soll dann koumlnnte eine einfachere und klarere Lesart entstehen die auch mehr Sinn fuumlr den Zusammenhang und die spezi-fi schen Darstellungsmittel des Buches entwickeln wuumlrde ndash wenn denn eine solche zusammenhaumlngende Erlaumluterung als gemeinsames Ziel fest-staumlnde92 Auch Fragen der Textkritik die derzeit nur sehr sporadisch ge-streift werden koumlnnten dann eine groumlszligere Rolle spielen

Wolfgang Kienzler (ChemnitzJena)

vorkommen (die es doch gar nicht geben kann S 164) 5 der Schein daszlig im Buch Saumltze raquouumlber Logiklaquo vorkommen (die es ebenfalls nicht geben kann S 164) In allen Beispielen kann man die Situation natuumlrlicher so darstellen daszlig man die Saumltze der Abhandlung von vornherein zwar woumlrtlich aber nicht buchstaumlblich nimmt sondern sich von ihren zur Klarheit die sich erst allmaumlhlich einstellen kann fuumlhren laumlszligt

89 Diese Doppeltheit der Lesart ist den resoluten Lesern und ihren Kritikern gemein-sam sie ist aber keineswegs selbstverstaumlndlich und widerspricht dem Grundgedanken der Klarheit

90 Dies ist das Thema von Diamond What Does a Concept-Script Do in The Realistic Spirit S 115ndash144 Sie sieht darin ein raquoWerkzeug geistiger Befreiunglaquo (143) deutet damit aber tendenziell wieder einen Gedanken der Abhandlung in Frege hinein der zunaumlchst die Umgangssprache ganz zugunsten der exakteren Begriffsschrift verbannen wollte

91 In weiten Teilen der resoluten Beitraumlge kann man auch eine gewisse Vergegenstaumlnd-lichung mancher von Wittgenstein verwendeter Woumlrter wahrnehmen die dazu fuumlhren daszlig die Rede von raquoUnsinnlaquo raquoErlaumluterunglaquo u a zunaumlchst gegenstaumlndlich miszligverstanden und anschlieszligend als Gegenstaumlndlichkeit leugnend gedeutet wird Eine Beachtung von Wittgensteins ungezwungenem und unterminologischem Sprachgebrauch koumlnnte viele dieser Schleifen uumlberfl uumlssig machen

92 Das Buch von McGinn kann dazu als erster wichtiger konstruktiver Schritt angese-hen werden auch wenn es insgesamt etwas zu additiv verfaumlhrt

Page 16: Neue Lektüren von Wittgensteins Logisch-Philosophischer ... · 10 E. Stenius : Wittgensteins Traktat [1960], Frankfurt/M. 1969, nennt den Schluß »keine echte Verdammung [. . .]

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thode der Abhandlung zu klaumlren beansprucht kreist um die Leitbegriffe raquoErlaumluterunglaquo und raquoUnsinnlaquo (S 378) Wie Diamond fi ndet Conant dies bei Frege vorgebildet wobei er dessen Verfahren so zusammenfaszligt daszlig nach Frege raquodie Erlaumluterung logisch einfacher Ausdruumlcke wie Begriff und Gegenstand unvermeidlicherweise mit (dem geschickten Einsatz von) Unsinn arbeiten muszliglaquo (S 387) In der Deutung dieses Verfahrens durch Frege sieht Conant jedoch eine Spannung denn Frege glaubt raquodaszlig er in solchen Faumlllen etwas sagen will was im strengen Sinn nicht gesagt werden kann und druumlckt sich dann so aus daszlig seine Woumlrter einen Gedanken auszudruumlk ken versuchen damit aber notwendigerweise scheiternlaquo (S 391) Damit vertritt Frege aumlhnlich wie Geach und Hacker selbst eine substan-tielle Auffassung von Unsinn55 Nach Conant liegt die Hauptabsicht von Wittensteins Abhandlung nun genau darin eine solche substantielle Auffas-sung von Unsinn nicht zu vertreten sondern zu uumlberwinden Die Unter-scheidung zwischen sinnvollen und nicht sinnvollen Saumltzen liegt nach Conants Deutung nun praumlziser gefaszligt darin raquoEinen Satz als sinnvoll wahr-nehmen bedeutet daszlig man im Satzzeichen das Satzsymbol wahrnimmt Einen Satz als Unsinn wahrzunehmen bedeutet daszlig man im Zeichen kein Symbol erkennen kannlaquo (S 404) Ein Satz ist also dann raquobloszliger Unsinnlaquo wenn eine Zeichenreihe raquokeine erkennbare logische Syntax hatlaquo (S 400) Damit gibt es aber streng genommen keine raquounsinnigen Saumltzelaquo sondern nur Zeichenreihen die auf den ersten Blick wie Saumltze aussehen bei denen aber der Versuch in ihnen eine logische Form aufzufi nden scheitert Die Rede von raquoUnsinnlaquo bezieht sich also nicht auf die Saumltze oder Zeichenrei-hen selbst sondern allein auf unser Scheitern Zentral wird dadurch der Begriff des raquoSymbolslaquo Ein Symbol ist ein Zeichen zusammen mit einer logisch durchsichtigen Verwendungsweise (S 414) Die bekannte Sprach-kritik der Abhandlung (40031) erweist sich so nicht als Versuch die sinn-vollen von den unsinnigen Zeichen(reihen) durch ein Sinnkriterium zu trennen sondern raquodie Quelle des scheinbaren Unsinns liegt in unserer Beziehung zum sprachlichen Zeichen nicht im sprachlichen Zeichen selbstlaquo (S 419) Die Philosophie ist entsprechend Wittgensteins Diktum

mond begonnen Als zentralen Gegensatz zwischen der eigenen Position und derjenigen Hackers formuliert Conant daszlig nach Hacker der fruumlhe Wittgenstein an unausdruumlckbare Wahrheiten glaubte waumlhrend der spaumlte dies als Irrtum durchschaute waumlhrend Wittgen-stein tatsaumlchlich schon in der Abhandlung die darin vorausgesetzte substantielle Auffassung von Unsinn ablehnte Weiter glaubt er in Hackers Deutung des spaumlten Wittgenstein raquoeine verkleidete Fassung der Auffassung die er dem fruumlhen Wittgenstein zuschreibtlaquo zu erken-nen was der wahren Radikalitaumlt dieses Denkens nicht gerecht werde (Conant Two Con-ceptions of Die Uumlberwindung der Metaphysik in Wittgenstein in America (Anm 17) S 13ndash62 hier S 38 Anm 42)

55 In diesem Punkt ist Conant exegetisch weitaus vorsichtiger als Diamond die weniger Scheu hat Frege eine systematisch uumlberzeugende Konzeption zuzuschreiben

111Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

raquokeine Lehre sondern eine Taumltigkeitlaquo Diese Taumltigkeit besteht nach Con-ant darin daszlig eine Illusion von Sinn aufgebaut und am Ende zerstoumlrt wird Das Ziel des Buches ist daher raquonicht eine Einsicht in metaphysische Zuumlge der Wirklichkeit sondern in die Quellen der Metaphysiklaquo (S 421) Nach Conant gibt es im Text nur raquo(scheinbar) eine Lehre uumlber raquodie Gren-zen des Denkenslaquolaquo (S 424) tatsaumlchlich aber sind raquodie Erlaumluterungen des Autors nur dann erfolgreich wenn wir den Haupttext als Unsinn erken-nenlaquo (S 424) Conants Darstellung verleiht der resoluten Lesart dadurch daszlig er aufzeigt wie die grundlegenden Spannungen in den fruumlheren Deu-tungsansaumltzen aufgeloumlst werden koumlnnen den Anschein einer teleologischen Zwangslaumlufi gkeit Nicht zufaumlllig spielt daher die fortgesetzte Auseinan-dersetzung mit der raquoUnsagbarkeitslesartlaquo eine zentrale Rolle in seinen Ausfuumlhrungen Ein nicht zu unterschaumltzender Teil der Anziehungskraft der resoluten Lesart liegt genau darin daszlig sie den einzigen konsistenten wenn auch zunaumlchst uumlberspitzt aber damit zugleich auch brillant wirken-den Ausweg aus den Bemuumlhungen um ein Verstaumlndnis der Logisch-Philoso-phischen Abhandlung zu bieten scheint56

Conants umfangreicher Beitrag zur Festschrift fuumlr Cora Diamond57 verstaumlrkt die genannten Tendenzen noch Dies zeigt sich bereits an der Form Unter dem Titel raquoA Recently Discovered Manuscriptlaquo wird ein gewisser raquoJohannes Climacuslaquo58 als Herausgeber eines Aufsatzes von Con-ant eingefuumlhrt der in Gestalt einer fi ktiven theologischen Auseinanderset-zung um die richtige Wittgensteinorthodoxie eigene (ziemlich dogma-tisch-uneinsichtsvolle) Kommentare zu den einzelnen Teilen von Conants Text abgibt Dieser Text selbst greift schon im Titel und uumlber weite Stre-cken ironisch den Ton theologischer Kontroversen auf Thema der Arbeit ist die umstrittene raquometa-wittgensteinschelaquo Frage ob Anhaumlnger der reso-luten Lesart (die noch einmal zusammenfassend vorgestellt wird) uumlber-haupt uumlber den Spielraum verfuumlgen um einen wesentlichen Unterschied zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein herauszuarbeiten (S 32) Diese Frage geht Conant dialektisch an indem er drei verschie-dene Listen praumlsentiert eine erste (S 49) die scheinbare Lehren der Ab-handlung enthaumllt die aber tatsaumlchlich so Conant Auffassungen sind vor

56 Diese Zwangslaumlufi gkeit tritt in Diamonds Arbeiten weitaus weniger hervor Fuumlr sie ist die Abhandlung ein reiches Buch das zahlreiche ausgesprochen weiterfuumlhrende und faszinierende Passagen enthaumllt die philosophisch weiterhelfen nicht ein Werk das sozu-sagen unter einer Drohung lebt und dessen Leser nach einem Ausweg suchen

57 James Conant Mild-Mono-Wittgensteinianism in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 29ndash142

58 Dieses von Kierkegaard entlehnte Pseudonym verwendet Conant seinerseits in einem Zitat aus der Abschlieszligenden unwissenschaftlichen Nachschrift (31) mit der Bemerkung daszlig Ironie und Ernsthaftigkeit einander nicht ausschlieszligen In fruumlheren Texten hatte Conant raquoClimacuslaquo mit raquoLeiterlaquo uumlbersetzt (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 291)

112 Wolfgang Kienzler PhR

denen Wittgenstein seine Leser warnen will eine zweite mit Auffas-sungen die Wittgenstein in der Abhandlung natuumlrlich klar und unkontro-vers erschienen die aber dennoch Ausdruck philosophischer Ansichten sind die er selbst spaumlter als problematisch ansah (S 83)

Damit ist fuumlr eine Differenz zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein ein Spielraum gewonnen der dann durch eine dritte Liste wieder in einen ironischen Schwebezustand gebracht wird indem Conant Saumltze praumlsentiert die man gleichermaszligen dem fruumlhen wie dem spaumlten Wittgenstein zuordnen kann bisweilen indem leichte Variationen des Wortlauts mitgefuumlhrt werden wie raquoDie Logik (Grammatik) muszlig fuumlr sich selber sorgenlaquo (S 106) Conant spricht von raquoAugenblicken atemberau-bender Kontinuitaumltlaquo (S 108) gerade dort wo Wittgenstein die Konzeption der Abhandlung kritisiert (PhU 97ndash133) Als Ergebnis der Untersuchung bleibt so der Eindruck von gleichzeitig auszligerordentlicher Kontinuitaumlt und deutlicher Diskontinuitaumlt in Wittgensteins philosophischer Entwicklung Auch daszlig eine resolute Lesart eher raquoein Programm um das Buch zu lesenlaquo (111 Anm 4) ist als tatsaumlchlich eine durchgehende Lektuumlre ist deutlich ausgesprochen59

Der philosophische Ansatz und Stil Conants ist dem von Diamond in vie-ler Hinsicht entgegengesetzt Waumlhrend Diamond von konkreten Einzelfaumll-len ausgeht und diese im Hin- und Hergehen aufzuklaumlren versucht geht Conant ganz von auszligen mit einem umfassenden Blick in Beziehung zur gesamten Philosophiegeschichte an die Fragen heran Ein bevorzugter Vergleich ist derjenige Wittgensteins mit Kierkegaard insbesondere in der Frage des Verhaumlltnisses des Autors zu seinen Buumlchern60 Man koumlnnte gera-

59 In der gemeinsam verfaszligten Arbeit On Reading The Tractatus Resolutely Reply to Me-redith Williams and Peter Sullivan in M KoumllbelB Weiss Wittgensteinrsquos Lasting Signifi cance London 2004 S 46ndash99 erlaumlutern Diamond und Conant einige Punkte ihres Ansatzes ge-genuumlber Versuchen das Buch als System von Behauptungen zu lesen (Williams) und gegen die Kritik ihre Lesart sei unvollstaumlndig letzteres mit dem Hinweis es handle sich bislang lediglich um ein Forschungsprogramm aber gerade nicht um ein Rezept das eine leichte und zusammenhaumlngende Lektuumlre ermoumlgliche (S 68) Peter Sullivan wird als der produk-tivste Kritiker bezeichnet weil er auf spezifi sche Inkonsistenzen hinweise (vgl die in Anm 64 genannte Arbeit) Sullivans eigene Deutungsvorschlaumlge bleiben jedoch eher tra-ditionellen ontologisch orientierten Ansaumltzen verhaftet (vgl What is the Tractatus About ebenfalls in KoumllbelWeiszlig S 32ndash45) Diese gemeinsame Arbeit verbleibt jedoch insge-samt auf einer sehr allgemeinen und wenig spezifi schen Ebene

60 So etwa Conant Putting Two and Two together Kierkegaard Wittgenstein and the Point of View for Their Work as Authors in T TessinM von der Ruhr (Hg) Philosophy and the Grammar of Religious Belief London 1995 S 248ndash331 Als Zusammenfassung schreibt Co-nant dort daszlig der fruumlhe Wittgenstein aumlhnlich wie Kierkegaard raquoden Leser in die Wahr-heit hineintaumluschen willlaquo zu welchem Zweck er raquoeine ausgefeilte Struktur scheinbarer Behauptungenlaquo verwendet (S 302) Fuumlr ein solches Verstaumlndnis gibt es bei Kierkegaard zahlreiche Hinweise bei Wittgenstein streng genommen keine er will alles raquoklar sagenlaquo

113Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

dezu sagen daszlig sich Conant mehr fuumlr die Frage der Autorschaft als fuumlr das Werk selbst interessiert61 Es geht ihm darum den richtigen Blickwinkel auf das Werk zu gewinnen und den entwickelt er durch weitgespannte Ver-gleiche durch die Analyse der Selbstkommentare und zusaumltzlichen Erlaumlute-rungen Dabei scheint das Ziel vorrangig die Einordnung vorhandener Zu-gangsmoumlglichkeiten zu sein die er dann in eine systematische Ordnung bringt62 Diese Systematik verweist dann gewissermaszligen teleologisch auf eine einzige offene Moumlglichkeit als den richtigen Zugang zu einem Problem oder einem Text Waumlhrend Diamond also einzelne Miszligverstaumlndnisse auf-klaumlrt zieht Conant die groszligen orientierenden Linien63 Damit aber ergaumln-zen beide Ansaumltze einander wiederum in einem Maszlige daszlig sie von auszligen in aller Regel als eine Einheit angesehen werden Erst durch Conants Ord-nungsvorschlaumlge hat Diamonds Ansatz diejenige Uumlbersichtlichkeit und Handhabbarkeit gewonnen die eine breitere Wirksamkeit ermoumlglichen

Einmal schreibt er kritisch raquoDer Verkehr mit Autoren wie Hamann Kierkegaard macht ihre Herausgeber anmaszligend Diese Versuchung wuumlrde der Herausgeber des Cherubi-nischen Wandersmannes nie fuumlhlen noch auch der Confessionen des Augustin oder einer Schrift Luthers Es ist wohl das daszlig die Ironie eines Autors den Leser anmaszligend zu ma-chen geneigt istlaquo (Denkbewegungen [1931] FrankfurtM S 41)

61 In einem fruumlheren Aufsatz The Search for Logically Alien Thought Descartes Kant Frege and the Tractatus in Philosophical Topics 20 (1991) S 115ndash180 vergleicht Conant Witt-gensteins Vorgehen mit einem langen Witz bzw einer Parabel die ein absurdes Gespraumlch wiedergibt in dem ein Pole von einem Juden wissen will worin raquodas Geheimnis der Ju-denlaquo besteht und das nach allerhand Umwegen mit der Einsicht endet daszlig da raquokein Ge-heimnis istlaquo ndash aber so erfahren wir eben das raquoist das Geheimnislaquo (S 160)

62 Conants umfassende Perspektive geht mit einigen Zurechtstellungen bei der Inter-pretation einher die das Material entsprechend dem umfassenden Entwurf leicht umfor-men In seinem langen Aufsatz spricht er Wittgenstein eine besondere Konzeption von Klarheit zu die darin liegen soll daszlig man am Ende das Buch als unsinnig erkennt (374) er uumlbergeht dabei aber daszlig Wittgenstein gegenuumlber Russell unmittelbar auf den voumlllig neu-artigen Inhalt der logischen Konzeption verweist und dabei sogar das Wort raquoTheorielaquo ver-wendet als Ziel formuliert Wittgenstein auch nicht daszlig man bestimmte Konzeptionen als nur scheinbar konsistent erkennen soll (377) sondern daszlig man die Logik der Sprache ein-sehen lernt ohne ein Verstaumlndnis von 654 ist nach Conant kein Verstaumlndnis des Buches moumlglich (378) dies gilt aber angesichts der konzentrierten Form fuumlr jeden Satz des Buches wobei die Schluszligbemerkung eher selbstrefl exiv auf das Buch und die Darstellungsform Bezug nimmt als auf die bis dahin entwickelte Einsicht der gegenuumlber der bloszligen Selbstre-fl exion die Prioritaumlt einzuraumlumen waumlre die Woumlrter raquoUnsinnlaquo und raquoErlaumluternlaquo (378) sind entschieden nicht die Kernbegriffe des Buches zum einen kommen eher die Formen raquoun-sinniglaquo oder raquoes ist ein Unsinnlaquo vor nicht das Substantiv zum anderen sind viel eher raquoKlar-heitlaquo und raquoklarlaquo die zentralen Ausdruumlcke Carnap wird als derjenige hingestellt der nichts verstanden habe aber Wittgenstein hat gerade Carnap 1932 des Plagiats bezichtigt und Conant verkehrt Wittgensteins Aumluszligerung er koumlnne sich raquonicht denkenlaquo daszlig Carnap den Sinn des Buches raquoso ganz und gar miszligverstandenlaquo haben koumlnnte ins gerade Gegenteil und zitiert sie mehrfach (378 Anm 9 Anm 99 als Motto in Two Conceptions wie Anm 54)

63 Relativ haumlufi g verwendet Conant auch ganz traditionelle Ordnungsinstrumente wie raquoArtlaquo und raquoGattunglaquo (vgl Conant Method (Anm 53) S 435 Anm 43 436 Anm 48)

114 Wolfgang Kienzler PhR

Ein Punkt hat Kritiker besonders irritiert naumlmlich Diamonds und Co-nants Bestehen darauf daszlig der Text streng und konsequent stuumlckweise (piecemeal) gelesen werden soll Dies scheint mit der radikalen Grundten-denz nicht recht vereinbar oder die Radikalitaumlt doch stark abzuschwaumlchen ndash es koumlnnte aber dazu fuumlhren daszlig man das Gewicht der bisweilen daran angeknuumlpften allgemeineren Betrachtungen als wesentlich geringer anse-hen koumlnnte als es derzeit in aller Regel geschieht Tatsaumlchlich ist der stuumlckweise Zugang sehr charakteristisch fuumlr Diamonds Methode und die allgemein gehaltenen radikalen Thesen wirken in ihren Texten eher wie Fremdkoumlrper Die raquoTheselaquo von der notwendig stuumlckweisen Interpretation reduziert sich daher im Kern auf die wichtige aber unspektakulaumlre me-thodische Beobachtung daszlig es ohne Zweifel richtig ist daszlig man die Ab-handlung sorgfaumlltig langsam und schrittweise entschluumlsseln muszlig gerade damit man die einheitliche und uumlbergreifende Konzeption (und daran ist nichts stuumlckweise und zusammengebastelt) genau richtig auffassen kann

6 Tatsaumlchlich sind die Vertreter der resoluten Lesart insgesamt weit erfolgreicher in der Kritik konkurrierender Ansaumltze als in der Interpreta-tion des Textes selbst Ein groszliger Teil der Debatte wird in der Gestalt von Auseinandersetzungen um das richtige Verstaumlndnis bzw den Maszligstab fuumlr eine angemessene Interpretation gefuumlhrt Dies ist in gewissem Sinne fol-gerichtig denn ein Textverstaumlndnis im gewoumlhnlichen Sinn des Wortes kann es von einem im strengen Sinn unsinnigen Text ja kaum geben Die Debatte behandelt deshalb vorrangig Fragen wie die welches denn der raquoZweck des Unsinnslaquo sei64 Dazu hat Michael Kremer Vorschlaumlge entwi-ckelt die die ethische Dimension des Buches herausarbeiten65 Er zieht Vergleiche zu Wittgensteins Beschaumlftigung mit ethischen und religioumlsen Fragen etwa dem Neuen Testament und dem Gedanken daszlig wir einse-hen muumlssen daszlig wir die raquoSuche nach einer Rechtfertigung unseres Lebens aufgeben muumlssenlaquo (S 56) weil der Versuch einer solchen Selbstrechtferti-gung ein Akt des Hochmutes waumlre Als Ergebnis glaubt er festhalten zu muumlssen daszlig das Buch ein raquoknow-howlaquo kein raquoWissen-daszliglaquo vermittelt raquoDieses Buch und seinen Autor zu verstehen bedeutet zu lernen wie man lebtlaquo66 (S 62) In aumlhnlicher Weise deutet Kremer die Frage nach der

64 Michael Kremer The Purpose of Tractarian Nonsense in Nous 35 2001 S 39ndash73 Darauf reagiert Sullivan mit detaillierter Einzelkritik On Trying to be Resolute A Response to Kremer on the Tractatus in European Journal of Philosophy 10 (2002) S 43ndash78 (vor allem S 66ndash68 mit Hinweisen auf die spaumlrlichen Textbelege)

65 Fragen der Ethik spielen uumlberhaupt in den Arbeiten von Diamond Conant und an-deren resoluten Lesern eine groszlige Rolle was aber hier nicht im einzelnen verfolgt werden kann

66 Schon Diamond Ethics (Anm 37) S 169 spricht als Ziel an daszlig wir raquokeine falschen Anforderungen an die Welt stellenlaquo sollen

115Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

raquoWahrheit des Solipsismuslaquo dahingehend daszlig es darum geht den eigenen Stolz zu uumlberwinden67 Selbst die Frage nach dem raquoHauptproblem der Phi-losophielaquo naumlmlich der Unterscheidung von Sagen und Zeigen versucht Kremer so zu beantworten daszlig Wittgenstein vor allem vor der unberech-tigten und zu vorschnellen Anwendung dieser Unterscheidung warnt (und er will zeigen daszlig insofern diese Unterscheidung als Hauptproblem ange-sprochen wird Wittgenstein dieses Problem raquoloumlsenlaquo will)68 All diese Vor-schlaumlge lenken jedoch systematisch von einer tatsaumlchlichen Lektuumlre von Wittgensteins Buch eher ab

Innerhalb der resoluten Stroumlmung ist Juliet Floyd als radikale raquoJakobine-rinlaquo bezeichnet worden weil sie schon fuumlr den fruumlhen Wittgenstein gene-rell die Existenz einer einheitlichen Auffassung von Logik Bedeutung Sagen und Zeigen aber auch eines eindeutigen Ideals der Klarheit leug-net69 Sie nennt Wittgensteins Vorgehen dialektisch bzw refl ektierend (S 188) so daszlig Wittgenstein nicht auf eine einzelne Stoszligrichtung hin festzulegen ist Dadurch wird zum einen erneut die Moumlglichkeit in Frage gestellt den Text uumlberhaupt einigermaszligen einheitlich zu interpretieren zum anderen eroumlffnen sich Moumlglichkeiten relativ frei auch wieder kon-struktivere (S 187) Zuumlge festzustellen Wenn Floyd als Grundgegensatz der Deutungen die Frage betont ob man Wittgenstein so versteht als wolle er raquodie Endlichkeit oder expressive Begrenztheit der Sprache beto-nenlaquo oder ob er die raquooffene Entwicklung und Vielfalt menschlicher Aus-drucksmoumlglichkeitenlaquo (S 177) herausarbeiten will dann steht auch dies nur in einem eher lockeren Bezug zum Text Genau an dieser Stelle setzen die wichtigsten Kritiker an

7 Als prominentester und heftigster Kritiker ist Peter Hacker hervor-getreten70 Hacker kritisiert und polemisiert aus einer Position der exten-

67 Michael Kremer To What Extent is Solipsism a Truth in Stocker Post-Analytic Tractatus S 59ndash84 Das ist eine sehr ungewoumlhnliche Lesart dieser sonst erkenntnistheore-tisch aufgefaszligten Passage

68 Michael Kremer The Cardinal Problem of Philosophy in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 143ndash176 Kremers Deutung beruht vor allem darauf daszlig Wittgenstein in seinem Brief an Russell (15 8 1919) diese Unterscheidung einmal als raquoHauptpunktlaquo und dann auch als raquoHauptproblemlaquo anspricht Kremer deutet dies so daszlig die Unterscheidung als zu loumlsendes raquoProblemlaquo aufgefaszligt wird

69 Juliet Floyd Wittgenstein and the Inexpressible in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 177ndash234 hier S 185 und 196

70 Hackers Schriften dienen zugleich umgekehrt Diamond und Conant als Illustrati-onen fuumlr die raquoStandardlesartlaquo und dafuumlr wie man Wittgenstein nicht interpretieren sollte so schon 1985 in Diamond Throwing Away the Ladder (Anm 30) S 194 als Beispiel fuumlr raquochickening outlaquo Hacker ist auch als einziger Kritiker im Sammelband New Wittgenstein vertreten Was he Trying to Whistle It in New Wittgenstein S 353ndash388 Sein Sammelband Connections and Controversies Oxford 2001 enthaumllt neben dem Nachdruck auf S 98ndash140 noch eine Fortsetzung When the Whistling Had to Stop S 141ndash169

116 Wolfgang Kienzler PhR

siven Kommentieung des spaumlten Wittgenstein und zugleich des philo-sophischen Common Sense heraus Er sieht in der Abhandlung raquoeine ver-bluumlffende Lehre auf verbluumlffende Weise dargebotenlaquo (S 353) ndash diese Charakterisierung entnimmt er jedoch nicht erst seinen neuen Gegnern sondern einer eher traditionellen realistisch-metaphysischen Deutung von David Pears Hacker versteht das Buch als einen gescheiterten Versuch wesentliche Wahrheiten die nicht gesagt werden koumlnnen dennoch zu zeigen Dies sieht er als gesichertes Faktum an dessen Vorhandensein er mit Energie gegen Versuche es zu leugnen untermauert Dazu zaumlhlt er zehn Beispiele solcher Versuche auf von logischen Beziehungen zwischen Saumltzen bis zur Harmonie zwischen Gedanke Sprache und Wirklichkeit (S 353ndash355) und stellt sich ganz auf die Seite schon der fruumlhen Kritiker besonders des Wiener Kreises die den Schluszlig des Buches raquoganz unglaub-wuumlrdig fandenlaquo (S 355)71 Er nennt den Ansatz von Diamond und Conant raquopostmodernlaquo offenbar darauf berechnet zu provozieren jedoch frei von ernsthaften Absichten nicht aber das Buch richtig einschaumltzen zu wollen (S 356)72

Hacker sieht das Buch als offensichtlich inkonsistent an und beruft sich dabei auf Wittgensteins spaumltere Meinung zur Bestaumltigung dieses Faktums (S 370) Von daher fallen alle Versuche das Buch insgesamt nachzuvoll-ziehen zwangslaumlufi g ebenfalls der Inkonsistenz anheim Als Maszligstab der Inkonsistenz dient ihm dabei die Unvereinbarkeit und Widerspruumlchlich-keit der im Buch vorgetragenen (raquogesagtenlaquo oder raquogezeigtenlaquo) Lehren Da-mit aber stellt sich Hacker explizit auf einen Standpunkt den Wittgenstein fuumlr sein eigenes Werk ablehnt das ja explizit raquokein Lehrbuchlaquo (Vorwort) sein will Hacker reduziert das Buch auf einen Lehrinhalt den er unzurei-chend fi ndet ndash der Gegensatz zu Diamond und Conant liegt bereits hier denn beide Seiten differieren vor allem darin was das Buch eigentlich

71 In dieser Hinsicht stimmt seine Einschaumltzung mit derjenigen Conants uumlberein der seinerseits Hacker in die Naumlhe Carnaps plaziert (Two Conceptions of Die Uumlberwindung S 14 ff) Ohne Hacker sofort zu nennen schreibt Conant Carnap (wie spaumlter Hacker) eine substantielle Auffassung von Unsinn zu

72 Hacker lehnt sowohl die Abhandlung als auch Freges philosophische Grundkonzepti-on ab und setzt sie als verfehlten Versuch in scharfen Kontrast zum Denken des spaumlten Wittgenstein Diese Haltung wird in seinem Kommentar zu den Philosophischen Untersu-chungen deutlich besonders eklatant jedoch in dem (gemeinsam mit Gordon Baker ver-faszligten) gegen Dummetts Fregedeutung geschriebenen Frege Logical Excavations (Oxford 1984) Das Auftreten der resoluten Lesart gibt Hacker daher nicht den Grund zu seiner Ablehnung des fruumlhen Wittgenstein sondern vor allem den Anlaszlig seine Gruumlnde zu buumln-deln und erneut vorzubringen (Der verstorbene Gordon Baker der zunaumlchst gemeinsam mit Hacker mehrere Baumlnde zum spaumlten Wittgenstein verfaszligte dann aber seinen Ansatz weiterentwickelte und dabei in einigen Punkten der resoluten Lesart nahekam sei hier noch erwaumlhnt vgl Baker Wittgensteinrsquos Method Neglected Aspects Oxford 2004)

117Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

leisten will Hacker sieht einen eklatanten Gegensatz zwischen Wittgen-steins Erklaumlrung nichts lehren zu wollen und seinem tatsaumlchlichen Vor-gehen seine Gegner versuchen gerade diese Aumluszligerungen Wittgensteins zu verstehen und ihnen entsprechend den Text so zu lesen daszlig er keine raquoLehrenlaquo enthaumllt sondern auf andere Art und Weise arbeitet

Hacker versucht entsprechend auch nicht Diamond und Conant ge-recht zu werden sondern listet vor allem eine Reihe von Kritikpunkten auf Zum einen weist er auf eine gewisse hermeneutische Willkuumlr hin mit der nur relativ wenige insgesamt unzusammenhaumlngende Partien herange-zogen werden wobei einige Passagen doch wieder als ganz gewoumlhnlich und sinnvoll gelesen werden ohne daszlig eine klare Abgrenzung nach Kri-terien gegeben wuumlrde Die haumlufi g verwendete Rede vom raquoRahmenlaquo des Buches im Unterschied zum raquoHauptteillaquo bleibt ihm zufolge unklar abge-grenzt da zum Rahmen auch Bemerkungen wie 4112 aus der Mitte des Textes gezaumlhlt werden73 Im Zusammenhang damit weist er darauf hin daszlig zwischen den Arten von Unsinn doch ein Unterschied gemacht wer-de wenigstens nach der Wirkung auf den Leser74 Und schlieszliglich ver-sucht er nachzuweisen daszlig Wittgenstein selbst weder in seiner fruumlheren noch in seiner spaumlteren Zeit eine solche radikale Lesart seiner eigenen Ar-beit vorgetragen oder unterstuumltzt habe

Eine spezielle Streitfrage liegt darin ob es nach Wittgenstein raquoUumlbertre-tungen der logischen Syntaxlaquo geben koumlnne Diamond und Conant be-haupten nein Hacker versucht an Beispielen aufzuzeigen daszlig Wittgen-stein dies wiederholt anspricht (S 365ndash367)75 Der grundlegende Dissens betrifft hier die Frage ob Wittgenstein sich vorrangig um den Begriff und die Festlegung einer logischen Syntax als Einfuumlhrung sinnvoller Rede be-muumlht denn wenn es um die Festlegung und ggf die Erweiterung und Ver-aumlnderung von Sinn geht dann gibt es nichts was uumlbertreten oder verfehlt werden koumlnnte ndash oder aber ob Wittgenstein wie Hacker ihn liest jemand ist der vor allem schon bestehende syntaktische Systeme betrachtet und dabei die Moumlglichkeiten behandelt sich gegenuumlber den Vorschriften be-

73 Conants Auskunft daszlig nicht der Ort im Text sondern die Funktion der Bemerkung daruumlber entscheide ob es zu Rahmen oder Hauptteil gehoumlre vermag als Gegenargument nicht wirklich zu uumlberzeugen

74 Dies leugnen Conant und Diamond keineswegs nur kommt es ihnen gerade auf den Unterschied zwischen logischen und anderen Einteilungsgruumlnden an

75 Dieser Punkt ist auch deswegen zentral weil fuumlr Hacker Unsinn genau dadurch ent-steht daszlig man die logische Syntax verletzt (Was he Trying S 367) waumlhrend fuumlr Conant und Diamond Unsinn dann vorliegt wenn wir mit einer Zeichenreihe schlicht nichts anfangen koumlnnen also kein Symbol darin erkennen Dieser Frage widmet Hacker den Aufsatz Wittgenstein Carnap and the New American Wittgensteinians in Philosophical Quar-terly 53 (2003) S 1ndash23 und Diamond die Entgegnung Logical Syntax in Wittgensteinrsquos Tractatus in Philosophical Quartely 55 (2005) S 78ndash88

118 Wolfgang Kienzler PhR

stimmter Systeme abweichend zu verhalten und ihre Regeln zu verletzen Die Frage ist ob Wittgenstein die Syntax mit einem bestehenden Spiel analog setzt oder nicht76 Fuumlr beide Aspekte gibt es Belege im Text77

Eine gewisse Uumlbereinstimmung zwischen Hacker und seinen Gegnern liegt ironischerweise darin daszlig keine der beiden Seiten eine durchge-hende Interpretation der Abhandlung anstrebt Hacker haumllt dies aufgrund der Inkonsistenz fuumlr uninteressant (wenn auch theoretisch moumlglich) Dia-mond ist vorrangig an Einzelfragen und am methodischen Standard des spaumlten Wittgenstein interessiert (wozu sie in der Abhandlung letztlich doch nur eine Vorstufe fi ndet) und Conant ist hauptsaumlchlich damit beschaumlftigt vorgaumlngige Kriterien fuumlr eine uumlberzeugende Lektuumlre zu entwickeln78

Als zentrale unbeantwortete Frage bleibt daruumlber hinaus das Problem bestehen wie man Wittgensteins Sprache und die Art seiner Behaup-tungen im Text konsequent aufzufassen hat denn hier weist Hacker auf deutliche Inkonsistenzen der resoluten Leser hin Zum einen wird von raquobloszligem Unsinnlaquo gesprochen dann wieder werden Passagen so gelesen wie gewoumlhnliche behauptende Prosa zum einen ist von Ironie die Rede dann wieder scheint alles ganz woumlrtlich aufzufassen zu sein79

8 Marie McGinn hat den bisher ehrgeizigsten Versuch unternommen die Staumlrken beider konkurrierender Ansaumltze zu verbinden und die jewei-

76 Vgl Diamond (wie die vorige Anm) S 86 Hacker vertritt hier einen eher kantischen Ansatz der die Grenzen der Vernunft bereits abgesteckt vorfi ndet (ein fuumlr Hacker wichtiges Buch ist P Strawsons Kantdeutung in The Bounds of Sense) Diamond und Conant sehen Wittgenstein als radikaleren Denker nach dem diese Grenzen immer wieder neu bestimmt werden muumlssen bzw nach dem es genau genommen keine Grenzen gibt da das Entschei-dende die Moumlglichkeit neuer Begriffsbildungen ist ohne daszlig man sich an irgendeiner Vorgabe (oder Grenze) orientieren kann die man entweder trifft oder verfehlt

77 Zum einen schreibt Wittgenstein raquoWir koumlnnen einem Zeichen nicht den unrechten Sinn gebenlaquo (54733) also bei der Bedeutungsfestsetzung nichts verfehlen zum anderen erklaumlrt er schlicht Saumltze wie raquo1 ist eine Zahllaquo (41272) die sich auf unsere bestehende Spra-che beziehen fuumlr unsinnig weil darin das Wort raquoZahllaquo als gewoumlhnliches Begriffswort statt als raquoformaler Begrifflaquo und also falsch verwendet wird Daszlig 1 eine Zahl ist ist schon da-durch klar daszlig wir das Zahlzeichen 1 verwenden und gerade deshalb koumlnnen wir dies nicht noch zusaumltzlich behaupten Es ist allerdings richtig daszlig Wittgenstein im letzteren Fall strenggenommen nicht von der raquoVerletzung der logischen Syntaxlaquo spricht sondern das Gebilde einfach raquounsinniglaquo nennt da fuumlr solche Faumllle gar keine logische Syntax im exakten Sinn verfuumlgbar ist Die gesamte Abhandlung ist in dieser Hinsicht nirgends der Versuch eine vorliegende Syntax zu treffen aber auch nicht eine neue Syntax festzulegen sondern sie befaszligt sich vielmehr mit den Bedingungen der Moumlglichkeit von Syntax uumlberhaupt Insofern verfehlen sowohl Hacker auch Diamond und Conant diesen Kernpunkt des Buches

78 So etwa im Abschnitt What makes a Reading resolute in Mono-Wittgensteinianism S 42ndash47

79 Vgl dazu W Kienzler Die Sprache des Tractatus Klar oder deutlich Karl Kraus Witt-genstein und die Frage der Terminologie in F GoumlppelsriederJ Volbers (Ed) Philosophie als Lebensform Muumlnchen 2008 (im Erscheinen)

119Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

ligen Schwaumlchen zu vermeiden80 Sie will Wittgenstein keine metaphy-sischen Lehren zuschreiben81 aber doch sicherstellen daszlig wir aus dem Buch etwas Konstruktives lernen koumlnnen Dazu nimmt sie den Begriff der Klaumlrung als Orientierungspunkt Die Aufgabe des Buches ist es demnach die Logik der Sprache aufzuklaumlren Wenn dies aber ohne die Verwendung positiver Lehren geschehen soll muszlig es indirekt geschehen naumlmlich da-durch daszlig die Sprache sich indirekt selbst klaumlrt das heiszligt daszlig eine solche Klaumlrung nicht auf etwas auszligerhalb der Sprache Bezug nimmt denn das waumlre Kennzeichen einer metaphysischen Auffassung McGinn schreibt et-was kryptisch raquoEs ist ein Werk in dem die Natur des Satzes die schon klar ist obwohl wir sie noch nicht klar sehen sich selbst fuumlr uns klaumlrtlaquo82

Sie betont jedoch sehr zu Recht daszlig Wittgenstein in seiner Abhandlung die eine groszlige Frage loumlsen wollte raquoDas Wesen des Satzes angeben heiszligt das Wesen aller Beschreibung angeben also das Wesen der Weltlaquo (54711)83

Damit aber waumlren alle (oder raquodielaquo) philosophischen Probleme geloumlst Ohne eine solche Voraussetzung die Wittgenstein offenbar als grundle-gende Einsicht erschien ist seine Handlungsweise gar nicht nachvollzieh-bar naumlmlich ein uumlberaus kurzes Buch zu verfassen in dem alle philoso-phischen Fragen im Prinzip jedenfalls beantwortet sind Dies ist nur moumlglich wenn diese Fragen so eng zusammenhaumlngen daszlig die Loumlsung der einen zugleich die Loumlsung der anderen bedeutet Dieser Grundgedanke strukturiert McGinns Buch und gibt ihm eine klare Linie84 Sie untersucht die besonders von Conant behandelten Fragen nach den Bedingungen einer angemessenen Lektuumlre fast gar nicht und antwortet insofern nicht durch Gegenargumente sondern durch die Tat durch einen Gang durch das Buch Es uumlberrascht dabei daszlig sie den Anfang zunaumlchst weglaumlszligt und nach Einleitungskapiteln zur Abgrenzung gegen Frege und Russell gleich mit dem Begriff des Bildes und dann des Satzes beginnt Tatsaumlchlich zeigt McGinn uumlberzeugend auf daszlig die Eingangspassagen am besten als Hin-fuumlhrungen zur raquoTheorie des Satzeslaquo aufgefaszligt werden und nicht als eigen-staumlndiges Theoriestuumlck einer vorangestellten Ontologie (sei diese nur scheinbar als Illusion aufgebaut oder ernst gemeint vgl etwa Diamond

80 Marie McGinn Elucidating the Tractatus81 Marie McGinn Between Metaphysics and Nonsense Elucidation in Wittgensteinrsquos Tracta-

tus In Philosophical Quarterly 49 (1999) S 491ndash513 hier S 107)82 Damit bleibt McGinn nahe an Aumluszligerungen von Diamond und Conant (etwa Method

S 424)83 Zit in McGinn Elucidating S 24084 Das erste Kapitel The Single Great Problem behandelt diese Frage zeigt aber bereits

daszlig sich McGinn nicht vollstaumlndig auf den Text einlaumlszligt sondern ihn von Anfang an stark aus der Perspektive der Philosophischen Untersuchungen her deutet (die im letzen Kapitel er-neut den Maszligstab der Betrachtung bilden)

120 Wolfgang Kienzler PhR

Ethics S 160) Vor dem Hintergrund der Auffassung des sinnvollen Satzes wird der Anfang dann relativ leicht verstaumlndlich In der Darstellung von McGinn wird die Abhandlung wieder zu einer Abhandlung einer nuumlch-ternen Darlegung uumlber die Voraussetzungen sinnvollen Sprechens und Ausdruumlckens uumlber die Unterschiede der Satzarten und die allgemeine Form des Satzes Allerdings ruumlcken so die Einzelheiten der Sprachlogik ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit und die Fragen nach der Natur der Philosophie aber auch die nach der Einheit des Buches treten ganz in den Hintergrund Das Buch enthaumllt kein Kapitel zum Philosophiebegriff des fruumlhen Wittgenstein und kaum Erlaumluterungen zur spezifi schen Form der Darstellung oder zur Strategie der Praumlsentation Einige Themen wie die Ethik Arithmetik oder die Naturgesetze werden ganz uumlbergangen dabei waumlre an diesen Beispielen die angestrebte Einheitlichkeit erst richtig aufzuzeigen gewesen In dieser Hinsicht erklaumlrt McGinn die Abhandlung in der Form die sie 1916 noch hatte bevor Wittgenstein die Schluszligpassa-gen einarbeitete und als sie noch staumlrker eine Abhandlung in raquophiloso-phischer Logiklaquo war85 Gegen Diamond und Conant stellt sie klar heraus daszlig das Ziel der Klaumlrung raquodurch Einsicht in das Funktionieren der Spra-chelaquo erreicht werden soll und nicht indirekt dadurch daszlig raquodie Versuche philosophische Saumltze zu bilden als Unsinn erkannt werdenlaquo (S 254 Anm 6) Die sehr nuumlchterne Art McGinns zeigt einen Wittgenstein der ganz unironisch seine logisch-philosophische Konzeption Schritt fuumlr Schritt entwickelt86

85 Vgl Brian McGuinness Wittgensteinrsquos 1916 Abhandlung in R HallerK Puhl (Hg) Wittgenstein and the Future of Philosophy Wien 2002 S 272ndash282 Die grundlegenden philologischen Arbeiten von McGuinness werden in der gegenwaumlrtigen Debatte leider wenig fruchtbar gemacht

86 Das stark gestiegene Interesse am fruumlhen Wittgenstein hat eine ganze Reihe von Monographien hervorgebracht die jedoch nur selten das gelassene exegetische Niveau McGinns erreichen sondern in der Regel mehr oder weniger exzentrische Deutungen in den Mittelpunkt stellen

M Ostrow Wittgenstein and the Liberating Word CambridgeMass 2002 (eine Zusam-menfassung in Reck From Frege to Wittgenstein) versucht eine an Floyd orientierte raquodialek-tische Interpretationlaquo die sich am Leitmotiv des raquoerloumlsenden Worteslaquo orientiert aber ins-gesamt zu vage bleibt zumal sich die Differenz zum spaumlteren Wittgenstein ganz aufzuloumlsen scheint und wichtige Passagen unberuumlcksichtigt bleiben

E Friedlander Signs of Sense Reading Wittgensteinrsquos Tractatus Cambridge Mass 2001 scheint das Raumltselhafte geradezu zu genieszligen und nennt als sein Ziel raquonicht das Raumltsel des Buches zu loumlsen sondern seinen raumltselhaften Charakter auf eine wahrhaft zum Denken herausfordernde Art aufzuzeigenlaquo (S XV) und will geradezu raquoseinen raumltselhaften Charak-ter rechtfertigenlaquo (16)

U Nordmann Wittgensteinrsquos Tractatus An Introduction Cambridge 2005 faszligt das Buch als ein Gedankenexperiment und eine groszlige Reductio ad Absurdum auf zu der er einige Praumlmissen ergaumlnzt Er deutet das Buch als im Konjunktiv geaumluszligert wodurch der Behaup-

121Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Ausblick

Die Arbeiten von Diamond und Conant haben zu einer neuen Welle des Interesses an Wittgensteins Fruumlhwerk gefuumlhrt und die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten vor allem aber auch das Potential seiner Abhandlung gelenkt Im Zentrum steht dabei die Natur der Philosophie als Erlaumlute-rung die selbst nicht in die Gestalt einer Lehre gebracht werden kann oder anders ausgedruumlckt der entscheidende Unterschied zwischen einer philosophischen und einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Untersu-chung

Gerade dadurch daszlig sie die Abhandlung stellenweise sehr nah an den spaumlten Wittgenstein heranruumlcken eroumlffnen Conant und Diamond Moumlg-lichkeiten die Souveraumlnitaumlt und Subtilitaumlt des Buches erst richtig zu wuumlr-digen Dies geschieht jedoch um den Preis daszlig einige Teile des Buches herausgegriffen andere dagegen kaum beruumlcksichtigt werden

Nicht hinreichend geklaumlrt scheint auch die Frage nach dem sprachlichen Grundton des Buches Diamond geht immer wieder von einem nahe an der Alltagssprache stehenden Redegestus aus (aumlhnlich wie der spaumlte Wittgen-stein) waumlhrend Conant aus der weiteren Perspektive ironische Zuumlge be-schreibt87 Gemeinsam ist den resoluten Lesern daszlig sie Wittgensteins Saumltze in der Abhandlung auf doppelte Weise auffassen Sie unterscheiden an vielen Stellen einen buchstaumlblichen naheliegenden Sinn der sich bei naumlherer Be-trachtung als inkohaumlrent erweist und der so zerfaumlllt88 Daher wird in ihrer

tungscharakter eingeklammert die Klaumlrungsfunktion jedoch trotzdem ermoumlglicht wird Er gewinnt so eine Kategorie von Saumltzen die raquounsinnig aber bedeutungsvolllaquo (176) sind

L Gunnarsson Wittgensteins Leiter Bodenheim 2002 greift einen Gedanken Conants auf daszlig wir naumlmlich den Hauptteil des Buches wegwerfen und den Rahmen behalten sollen (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 286) und entwickelt daraus die Fik-tion es waumlre tatsaumlchlich nur das Vorwort und der Schluszlig der Abhandlung erhalten ndash und will daraus den Gehalt des Buches ohne Verlust rekonstruieren Diese Veranschaulichung zeigt besonders klar auf wie verfehlt dieser Ansatz ist wenn man ihn auf die konkrete Interpretationspraxis bezieht

87 Die Parallele zwischen Wittgenstein und Kierkegaard scheint in zentralen Punkten gerade nicht zu bestehen denn Wittgenstein distanziert sich gerade nicht von seinem Buch sondern erklaumlrt seine Auffassungen fuumlr defi nitiv richtig und alternativlos ganz ent-gegen dem verwirrenden Spiel Kierkegaards mit unterschiedlichen Pseudonymen und Perspektiven Ein passenderer Vergleich waumlre etwa mit Hume moumlglich der am Ende seiner Untersuchung uumlber die Prinzipien der Moral (Abschnitt 9 Teil 1) seine Ergebnisse fuumlr derart einfach klar kohaumlrent und uumlberzeugend haumllt daszlig dem nichts hinzuzufuumlgen ist so daszlig er selbst geradezu in Versuchung kommen koumlnnte dogmatisch davon uumlberzeugt zu sein

88 So fuumlhrt Diamond (in Ethics wie Anm 37) folgende Beispiele dafuumlr an 1 das woruuml-ber man schweigen muszlig (aber das kann es doch nicht geben weil es kein raquodaruumlberlaquo ist S 149) 2 die Saumltze der Abhandlung die zu verstehen seien (oder doch raquoer selbstlaquo wie Witt-genstein dann uumlberraschenderweise sagt S 149) 3 die Anfangssaumltze uumlber die Welt (aber daruumlber kann es doch keine Saumltze geben S 160) 4 der Schein daszlig ab 64 Saumltze uumlber Ethik

122 Wolfgang Kienzler PhR

Perspektive das Buch durchgehend doppelboumldig und loumlst sich schlieszliglich in Nichts auf wobei in der Aufl oumlsung gerade die Absicht des Buches bestehen soll89 Demgegenuumlber kann festgehalten werden daszlig Wittgenstein nir-gends von Ironie spricht wohl aber davon daszlig er das Wesentliche in Kuumlr-ze klar ausdruumlcken will Eine wichtige Differenz innerhalb der resoluten Lesart liegt weiter darin welche Wichtigkeit man den eher technischen Aspekten der Abhandlung zuschreibt Ricketts und Goldfarb sehen viele Zuumlge des Buches von technischen Erwaumlgungen motiviert und gepraumlgt waumlhrend Diamond und Conant den Sinn der symbolischen Notation vor allem darin sehen wesentliche Unterschiede klarzustellen90

Das Motto erklaumlrt daszlig man raquoalles was man weiszliglaquo schlieszliglich raquoin drei Worten sagenlaquo kann Viele der scheinbaren Widerspruumlche und Doppelt-heiten die resolute Leser beobachten koumlnnten sich von daher moumlglicher-weise der Absicht verdanken im Buch logisch praumlzise Saumltze zu erwarten eine Absicht die bestaumlndig getaumluscht wird91 Wuumlrde man die Saumltze eher als Instrumente verstehen die allmaumlhlich entsprechend den Stufen der Lei-ter zur Klarheit anleiten ohne daszlig der Leser in die selbstrefl exive Geste verwickelt werden soll dann koumlnnte eine einfachere und klarere Lesart entstehen die auch mehr Sinn fuumlr den Zusammenhang und die spezi-fi schen Darstellungsmittel des Buches entwickeln wuumlrde ndash wenn denn eine solche zusammenhaumlngende Erlaumluterung als gemeinsames Ziel fest-staumlnde92 Auch Fragen der Textkritik die derzeit nur sehr sporadisch ge-streift werden koumlnnten dann eine groumlszligere Rolle spielen

Wolfgang Kienzler (ChemnitzJena)

vorkommen (die es doch gar nicht geben kann S 164) 5 der Schein daszlig im Buch Saumltze raquouumlber Logiklaquo vorkommen (die es ebenfalls nicht geben kann S 164) In allen Beispielen kann man die Situation natuumlrlicher so darstellen daszlig man die Saumltze der Abhandlung von vornherein zwar woumlrtlich aber nicht buchstaumlblich nimmt sondern sich von ihren zur Klarheit die sich erst allmaumlhlich einstellen kann fuumlhren laumlszligt

89 Diese Doppeltheit der Lesart ist den resoluten Lesern und ihren Kritikern gemein-sam sie ist aber keineswegs selbstverstaumlndlich und widerspricht dem Grundgedanken der Klarheit

90 Dies ist das Thema von Diamond What Does a Concept-Script Do in The Realistic Spirit S 115ndash144 Sie sieht darin ein raquoWerkzeug geistiger Befreiunglaquo (143) deutet damit aber tendenziell wieder einen Gedanken der Abhandlung in Frege hinein der zunaumlchst die Umgangssprache ganz zugunsten der exakteren Begriffsschrift verbannen wollte

91 In weiten Teilen der resoluten Beitraumlge kann man auch eine gewisse Vergegenstaumlnd-lichung mancher von Wittgenstein verwendeter Woumlrter wahrnehmen die dazu fuumlhren daszlig die Rede von raquoUnsinnlaquo raquoErlaumluterunglaquo u a zunaumlchst gegenstaumlndlich miszligverstanden und anschlieszligend als Gegenstaumlndlichkeit leugnend gedeutet wird Eine Beachtung von Wittgensteins ungezwungenem und unterminologischem Sprachgebrauch koumlnnte viele dieser Schleifen uumlberfl uumlssig machen

92 Das Buch von McGinn kann dazu als erster wichtiger konstruktiver Schritt angese-hen werden auch wenn es insgesamt etwas zu additiv verfaumlhrt

Page 17: Neue Lektüren von Wittgensteins Logisch-Philosophischer ... · 10 E. Stenius : Wittgensteins Traktat [1960], Frankfurt/M. 1969, nennt den Schluß »keine echte Verdammung [. . .]

111Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

raquokeine Lehre sondern eine Taumltigkeitlaquo Diese Taumltigkeit besteht nach Con-ant darin daszlig eine Illusion von Sinn aufgebaut und am Ende zerstoumlrt wird Das Ziel des Buches ist daher raquonicht eine Einsicht in metaphysische Zuumlge der Wirklichkeit sondern in die Quellen der Metaphysiklaquo (S 421) Nach Conant gibt es im Text nur raquo(scheinbar) eine Lehre uumlber raquodie Gren-zen des Denkenslaquolaquo (S 424) tatsaumlchlich aber sind raquodie Erlaumluterungen des Autors nur dann erfolgreich wenn wir den Haupttext als Unsinn erken-nenlaquo (S 424) Conants Darstellung verleiht der resoluten Lesart dadurch daszlig er aufzeigt wie die grundlegenden Spannungen in den fruumlheren Deu-tungsansaumltzen aufgeloumlst werden koumlnnen den Anschein einer teleologischen Zwangslaumlufi gkeit Nicht zufaumlllig spielt daher die fortgesetzte Auseinan-dersetzung mit der raquoUnsagbarkeitslesartlaquo eine zentrale Rolle in seinen Ausfuumlhrungen Ein nicht zu unterschaumltzender Teil der Anziehungskraft der resoluten Lesart liegt genau darin daszlig sie den einzigen konsistenten wenn auch zunaumlchst uumlberspitzt aber damit zugleich auch brillant wirken-den Ausweg aus den Bemuumlhungen um ein Verstaumlndnis der Logisch-Philoso-phischen Abhandlung zu bieten scheint56

Conants umfangreicher Beitrag zur Festschrift fuumlr Cora Diamond57 verstaumlrkt die genannten Tendenzen noch Dies zeigt sich bereits an der Form Unter dem Titel raquoA Recently Discovered Manuscriptlaquo wird ein gewisser raquoJohannes Climacuslaquo58 als Herausgeber eines Aufsatzes von Con-ant eingefuumlhrt der in Gestalt einer fi ktiven theologischen Auseinanderset-zung um die richtige Wittgensteinorthodoxie eigene (ziemlich dogma-tisch-uneinsichtsvolle) Kommentare zu den einzelnen Teilen von Conants Text abgibt Dieser Text selbst greift schon im Titel und uumlber weite Stre-cken ironisch den Ton theologischer Kontroversen auf Thema der Arbeit ist die umstrittene raquometa-wittgensteinschelaquo Frage ob Anhaumlnger der reso-luten Lesart (die noch einmal zusammenfassend vorgestellt wird) uumlber-haupt uumlber den Spielraum verfuumlgen um einen wesentlichen Unterschied zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein herauszuarbeiten (S 32) Diese Frage geht Conant dialektisch an indem er drei verschie-dene Listen praumlsentiert eine erste (S 49) die scheinbare Lehren der Ab-handlung enthaumllt die aber tatsaumlchlich so Conant Auffassungen sind vor

56 Diese Zwangslaumlufi gkeit tritt in Diamonds Arbeiten weitaus weniger hervor Fuumlr sie ist die Abhandlung ein reiches Buch das zahlreiche ausgesprochen weiterfuumlhrende und faszinierende Passagen enthaumllt die philosophisch weiterhelfen nicht ein Werk das sozu-sagen unter einer Drohung lebt und dessen Leser nach einem Ausweg suchen

57 James Conant Mild-Mono-Wittgensteinianism in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 29ndash142

58 Dieses von Kierkegaard entlehnte Pseudonym verwendet Conant seinerseits in einem Zitat aus der Abschlieszligenden unwissenschaftlichen Nachschrift (31) mit der Bemerkung daszlig Ironie und Ernsthaftigkeit einander nicht ausschlieszligen In fruumlheren Texten hatte Conant raquoClimacuslaquo mit raquoLeiterlaquo uumlbersetzt (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 291)

112 Wolfgang Kienzler PhR

denen Wittgenstein seine Leser warnen will eine zweite mit Auffas-sungen die Wittgenstein in der Abhandlung natuumlrlich klar und unkontro-vers erschienen die aber dennoch Ausdruck philosophischer Ansichten sind die er selbst spaumlter als problematisch ansah (S 83)

Damit ist fuumlr eine Differenz zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein ein Spielraum gewonnen der dann durch eine dritte Liste wieder in einen ironischen Schwebezustand gebracht wird indem Conant Saumltze praumlsentiert die man gleichermaszligen dem fruumlhen wie dem spaumlten Wittgenstein zuordnen kann bisweilen indem leichte Variationen des Wortlauts mitgefuumlhrt werden wie raquoDie Logik (Grammatik) muszlig fuumlr sich selber sorgenlaquo (S 106) Conant spricht von raquoAugenblicken atemberau-bender Kontinuitaumltlaquo (S 108) gerade dort wo Wittgenstein die Konzeption der Abhandlung kritisiert (PhU 97ndash133) Als Ergebnis der Untersuchung bleibt so der Eindruck von gleichzeitig auszligerordentlicher Kontinuitaumlt und deutlicher Diskontinuitaumlt in Wittgensteins philosophischer Entwicklung Auch daszlig eine resolute Lesart eher raquoein Programm um das Buch zu lesenlaquo (111 Anm 4) ist als tatsaumlchlich eine durchgehende Lektuumlre ist deutlich ausgesprochen59

Der philosophische Ansatz und Stil Conants ist dem von Diamond in vie-ler Hinsicht entgegengesetzt Waumlhrend Diamond von konkreten Einzelfaumll-len ausgeht und diese im Hin- und Hergehen aufzuklaumlren versucht geht Conant ganz von auszligen mit einem umfassenden Blick in Beziehung zur gesamten Philosophiegeschichte an die Fragen heran Ein bevorzugter Vergleich ist derjenige Wittgensteins mit Kierkegaard insbesondere in der Frage des Verhaumlltnisses des Autors zu seinen Buumlchern60 Man koumlnnte gera-

59 In der gemeinsam verfaszligten Arbeit On Reading The Tractatus Resolutely Reply to Me-redith Williams and Peter Sullivan in M KoumllbelB Weiss Wittgensteinrsquos Lasting Signifi cance London 2004 S 46ndash99 erlaumlutern Diamond und Conant einige Punkte ihres Ansatzes ge-genuumlber Versuchen das Buch als System von Behauptungen zu lesen (Williams) und gegen die Kritik ihre Lesart sei unvollstaumlndig letzteres mit dem Hinweis es handle sich bislang lediglich um ein Forschungsprogramm aber gerade nicht um ein Rezept das eine leichte und zusammenhaumlngende Lektuumlre ermoumlgliche (S 68) Peter Sullivan wird als der produk-tivste Kritiker bezeichnet weil er auf spezifi sche Inkonsistenzen hinweise (vgl die in Anm 64 genannte Arbeit) Sullivans eigene Deutungsvorschlaumlge bleiben jedoch eher tra-ditionellen ontologisch orientierten Ansaumltzen verhaftet (vgl What is the Tractatus About ebenfalls in KoumllbelWeiszlig S 32ndash45) Diese gemeinsame Arbeit verbleibt jedoch insge-samt auf einer sehr allgemeinen und wenig spezifi schen Ebene

60 So etwa Conant Putting Two and Two together Kierkegaard Wittgenstein and the Point of View for Their Work as Authors in T TessinM von der Ruhr (Hg) Philosophy and the Grammar of Religious Belief London 1995 S 248ndash331 Als Zusammenfassung schreibt Co-nant dort daszlig der fruumlhe Wittgenstein aumlhnlich wie Kierkegaard raquoden Leser in die Wahr-heit hineintaumluschen willlaquo zu welchem Zweck er raquoeine ausgefeilte Struktur scheinbarer Behauptungenlaquo verwendet (S 302) Fuumlr ein solches Verstaumlndnis gibt es bei Kierkegaard zahlreiche Hinweise bei Wittgenstein streng genommen keine er will alles raquoklar sagenlaquo

113Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

dezu sagen daszlig sich Conant mehr fuumlr die Frage der Autorschaft als fuumlr das Werk selbst interessiert61 Es geht ihm darum den richtigen Blickwinkel auf das Werk zu gewinnen und den entwickelt er durch weitgespannte Ver-gleiche durch die Analyse der Selbstkommentare und zusaumltzlichen Erlaumlute-rungen Dabei scheint das Ziel vorrangig die Einordnung vorhandener Zu-gangsmoumlglichkeiten zu sein die er dann in eine systematische Ordnung bringt62 Diese Systematik verweist dann gewissermaszligen teleologisch auf eine einzige offene Moumlglichkeit als den richtigen Zugang zu einem Problem oder einem Text Waumlhrend Diamond also einzelne Miszligverstaumlndnisse auf-klaumlrt zieht Conant die groszligen orientierenden Linien63 Damit aber ergaumln-zen beide Ansaumltze einander wiederum in einem Maszlige daszlig sie von auszligen in aller Regel als eine Einheit angesehen werden Erst durch Conants Ord-nungsvorschlaumlge hat Diamonds Ansatz diejenige Uumlbersichtlichkeit und Handhabbarkeit gewonnen die eine breitere Wirksamkeit ermoumlglichen

Einmal schreibt er kritisch raquoDer Verkehr mit Autoren wie Hamann Kierkegaard macht ihre Herausgeber anmaszligend Diese Versuchung wuumlrde der Herausgeber des Cherubi-nischen Wandersmannes nie fuumlhlen noch auch der Confessionen des Augustin oder einer Schrift Luthers Es ist wohl das daszlig die Ironie eines Autors den Leser anmaszligend zu ma-chen geneigt istlaquo (Denkbewegungen [1931] FrankfurtM S 41)

61 In einem fruumlheren Aufsatz The Search for Logically Alien Thought Descartes Kant Frege and the Tractatus in Philosophical Topics 20 (1991) S 115ndash180 vergleicht Conant Witt-gensteins Vorgehen mit einem langen Witz bzw einer Parabel die ein absurdes Gespraumlch wiedergibt in dem ein Pole von einem Juden wissen will worin raquodas Geheimnis der Ju-denlaquo besteht und das nach allerhand Umwegen mit der Einsicht endet daszlig da raquokein Ge-heimnis istlaquo ndash aber so erfahren wir eben das raquoist das Geheimnislaquo (S 160)

62 Conants umfassende Perspektive geht mit einigen Zurechtstellungen bei der Inter-pretation einher die das Material entsprechend dem umfassenden Entwurf leicht umfor-men In seinem langen Aufsatz spricht er Wittgenstein eine besondere Konzeption von Klarheit zu die darin liegen soll daszlig man am Ende das Buch als unsinnig erkennt (374) er uumlbergeht dabei aber daszlig Wittgenstein gegenuumlber Russell unmittelbar auf den voumlllig neu-artigen Inhalt der logischen Konzeption verweist und dabei sogar das Wort raquoTheorielaquo ver-wendet als Ziel formuliert Wittgenstein auch nicht daszlig man bestimmte Konzeptionen als nur scheinbar konsistent erkennen soll (377) sondern daszlig man die Logik der Sprache ein-sehen lernt ohne ein Verstaumlndnis von 654 ist nach Conant kein Verstaumlndnis des Buches moumlglich (378) dies gilt aber angesichts der konzentrierten Form fuumlr jeden Satz des Buches wobei die Schluszligbemerkung eher selbstrefl exiv auf das Buch und die Darstellungsform Bezug nimmt als auf die bis dahin entwickelte Einsicht der gegenuumlber der bloszligen Selbstre-fl exion die Prioritaumlt einzuraumlumen waumlre die Woumlrter raquoUnsinnlaquo und raquoErlaumluternlaquo (378) sind entschieden nicht die Kernbegriffe des Buches zum einen kommen eher die Formen raquoun-sinniglaquo oder raquoes ist ein Unsinnlaquo vor nicht das Substantiv zum anderen sind viel eher raquoKlar-heitlaquo und raquoklarlaquo die zentralen Ausdruumlcke Carnap wird als derjenige hingestellt der nichts verstanden habe aber Wittgenstein hat gerade Carnap 1932 des Plagiats bezichtigt und Conant verkehrt Wittgensteins Aumluszligerung er koumlnne sich raquonicht denkenlaquo daszlig Carnap den Sinn des Buches raquoso ganz und gar miszligverstandenlaquo haben koumlnnte ins gerade Gegenteil und zitiert sie mehrfach (378 Anm 9 Anm 99 als Motto in Two Conceptions wie Anm 54)

63 Relativ haumlufi g verwendet Conant auch ganz traditionelle Ordnungsinstrumente wie raquoArtlaquo und raquoGattunglaquo (vgl Conant Method (Anm 53) S 435 Anm 43 436 Anm 48)

114 Wolfgang Kienzler PhR

Ein Punkt hat Kritiker besonders irritiert naumlmlich Diamonds und Co-nants Bestehen darauf daszlig der Text streng und konsequent stuumlckweise (piecemeal) gelesen werden soll Dies scheint mit der radikalen Grundten-denz nicht recht vereinbar oder die Radikalitaumlt doch stark abzuschwaumlchen ndash es koumlnnte aber dazu fuumlhren daszlig man das Gewicht der bisweilen daran angeknuumlpften allgemeineren Betrachtungen als wesentlich geringer anse-hen koumlnnte als es derzeit in aller Regel geschieht Tatsaumlchlich ist der stuumlckweise Zugang sehr charakteristisch fuumlr Diamonds Methode und die allgemein gehaltenen radikalen Thesen wirken in ihren Texten eher wie Fremdkoumlrper Die raquoTheselaquo von der notwendig stuumlckweisen Interpretation reduziert sich daher im Kern auf die wichtige aber unspektakulaumlre me-thodische Beobachtung daszlig es ohne Zweifel richtig ist daszlig man die Ab-handlung sorgfaumlltig langsam und schrittweise entschluumlsseln muszlig gerade damit man die einheitliche und uumlbergreifende Konzeption (und daran ist nichts stuumlckweise und zusammengebastelt) genau richtig auffassen kann

6 Tatsaumlchlich sind die Vertreter der resoluten Lesart insgesamt weit erfolgreicher in der Kritik konkurrierender Ansaumltze als in der Interpreta-tion des Textes selbst Ein groszliger Teil der Debatte wird in der Gestalt von Auseinandersetzungen um das richtige Verstaumlndnis bzw den Maszligstab fuumlr eine angemessene Interpretation gefuumlhrt Dies ist in gewissem Sinne fol-gerichtig denn ein Textverstaumlndnis im gewoumlhnlichen Sinn des Wortes kann es von einem im strengen Sinn unsinnigen Text ja kaum geben Die Debatte behandelt deshalb vorrangig Fragen wie die welches denn der raquoZweck des Unsinnslaquo sei64 Dazu hat Michael Kremer Vorschlaumlge entwi-ckelt die die ethische Dimension des Buches herausarbeiten65 Er zieht Vergleiche zu Wittgensteins Beschaumlftigung mit ethischen und religioumlsen Fragen etwa dem Neuen Testament und dem Gedanken daszlig wir einse-hen muumlssen daszlig wir die raquoSuche nach einer Rechtfertigung unseres Lebens aufgeben muumlssenlaquo (S 56) weil der Versuch einer solchen Selbstrechtferti-gung ein Akt des Hochmutes waumlre Als Ergebnis glaubt er festhalten zu muumlssen daszlig das Buch ein raquoknow-howlaquo kein raquoWissen-daszliglaquo vermittelt raquoDieses Buch und seinen Autor zu verstehen bedeutet zu lernen wie man lebtlaquo66 (S 62) In aumlhnlicher Weise deutet Kremer die Frage nach der

64 Michael Kremer The Purpose of Tractarian Nonsense in Nous 35 2001 S 39ndash73 Darauf reagiert Sullivan mit detaillierter Einzelkritik On Trying to be Resolute A Response to Kremer on the Tractatus in European Journal of Philosophy 10 (2002) S 43ndash78 (vor allem S 66ndash68 mit Hinweisen auf die spaumlrlichen Textbelege)

65 Fragen der Ethik spielen uumlberhaupt in den Arbeiten von Diamond Conant und an-deren resoluten Lesern eine groszlige Rolle was aber hier nicht im einzelnen verfolgt werden kann

66 Schon Diamond Ethics (Anm 37) S 169 spricht als Ziel an daszlig wir raquokeine falschen Anforderungen an die Welt stellenlaquo sollen

115Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

raquoWahrheit des Solipsismuslaquo dahingehend daszlig es darum geht den eigenen Stolz zu uumlberwinden67 Selbst die Frage nach dem raquoHauptproblem der Phi-losophielaquo naumlmlich der Unterscheidung von Sagen und Zeigen versucht Kremer so zu beantworten daszlig Wittgenstein vor allem vor der unberech-tigten und zu vorschnellen Anwendung dieser Unterscheidung warnt (und er will zeigen daszlig insofern diese Unterscheidung als Hauptproblem ange-sprochen wird Wittgenstein dieses Problem raquoloumlsenlaquo will)68 All diese Vor-schlaumlge lenken jedoch systematisch von einer tatsaumlchlichen Lektuumlre von Wittgensteins Buch eher ab

Innerhalb der resoluten Stroumlmung ist Juliet Floyd als radikale raquoJakobine-rinlaquo bezeichnet worden weil sie schon fuumlr den fruumlhen Wittgenstein gene-rell die Existenz einer einheitlichen Auffassung von Logik Bedeutung Sagen und Zeigen aber auch eines eindeutigen Ideals der Klarheit leug-net69 Sie nennt Wittgensteins Vorgehen dialektisch bzw refl ektierend (S 188) so daszlig Wittgenstein nicht auf eine einzelne Stoszligrichtung hin festzulegen ist Dadurch wird zum einen erneut die Moumlglichkeit in Frage gestellt den Text uumlberhaupt einigermaszligen einheitlich zu interpretieren zum anderen eroumlffnen sich Moumlglichkeiten relativ frei auch wieder kon-struktivere (S 187) Zuumlge festzustellen Wenn Floyd als Grundgegensatz der Deutungen die Frage betont ob man Wittgenstein so versteht als wolle er raquodie Endlichkeit oder expressive Begrenztheit der Sprache beto-nenlaquo oder ob er die raquooffene Entwicklung und Vielfalt menschlicher Aus-drucksmoumlglichkeitenlaquo (S 177) herausarbeiten will dann steht auch dies nur in einem eher lockeren Bezug zum Text Genau an dieser Stelle setzen die wichtigsten Kritiker an

7 Als prominentester und heftigster Kritiker ist Peter Hacker hervor-getreten70 Hacker kritisiert und polemisiert aus einer Position der exten-

67 Michael Kremer To What Extent is Solipsism a Truth in Stocker Post-Analytic Tractatus S 59ndash84 Das ist eine sehr ungewoumlhnliche Lesart dieser sonst erkenntnistheore-tisch aufgefaszligten Passage

68 Michael Kremer The Cardinal Problem of Philosophy in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 143ndash176 Kremers Deutung beruht vor allem darauf daszlig Wittgenstein in seinem Brief an Russell (15 8 1919) diese Unterscheidung einmal als raquoHauptpunktlaquo und dann auch als raquoHauptproblemlaquo anspricht Kremer deutet dies so daszlig die Unterscheidung als zu loumlsendes raquoProblemlaquo aufgefaszligt wird

69 Juliet Floyd Wittgenstein and the Inexpressible in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 177ndash234 hier S 185 und 196

70 Hackers Schriften dienen zugleich umgekehrt Diamond und Conant als Illustrati-onen fuumlr die raquoStandardlesartlaquo und dafuumlr wie man Wittgenstein nicht interpretieren sollte so schon 1985 in Diamond Throwing Away the Ladder (Anm 30) S 194 als Beispiel fuumlr raquochickening outlaquo Hacker ist auch als einziger Kritiker im Sammelband New Wittgenstein vertreten Was he Trying to Whistle It in New Wittgenstein S 353ndash388 Sein Sammelband Connections and Controversies Oxford 2001 enthaumllt neben dem Nachdruck auf S 98ndash140 noch eine Fortsetzung When the Whistling Had to Stop S 141ndash169

116 Wolfgang Kienzler PhR

siven Kommentieung des spaumlten Wittgenstein und zugleich des philo-sophischen Common Sense heraus Er sieht in der Abhandlung raquoeine ver-bluumlffende Lehre auf verbluumlffende Weise dargebotenlaquo (S 353) ndash diese Charakterisierung entnimmt er jedoch nicht erst seinen neuen Gegnern sondern einer eher traditionellen realistisch-metaphysischen Deutung von David Pears Hacker versteht das Buch als einen gescheiterten Versuch wesentliche Wahrheiten die nicht gesagt werden koumlnnen dennoch zu zeigen Dies sieht er als gesichertes Faktum an dessen Vorhandensein er mit Energie gegen Versuche es zu leugnen untermauert Dazu zaumlhlt er zehn Beispiele solcher Versuche auf von logischen Beziehungen zwischen Saumltzen bis zur Harmonie zwischen Gedanke Sprache und Wirklichkeit (S 353ndash355) und stellt sich ganz auf die Seite schon der fruumlhen Kritiker besonders des Wiener Kreises die den Schluszlig des Buches raquoganz unglaub-wuumlrdig fandenlaquo (S 355)71 Er nennt den Ansatz von Diamond und Conant raquopostmodernlaquo offenbar darauf berechnet zu provozieren jedoch frei von ernsthaften Absichten nicht aber das Buch richtig einschaumltzen zu wollen (S 356)72

Hacker sieht das Buch als offensichtlich inkonsistent an und beruft sich dabei auf Wittgensteins spaumltere Meinung zur Bestaumltigung dieses Faktums (S 370) Von daher fallen alle Versuche das Buch insgesamt nachzuvoll-ziehen zwangslaumlufi g ebenfalls der Inkonsistenz anheim Als Maszligstab der Inkonsistenz dient ihm dabei die Unvereinbarkeit und Widerspruumlchlich-keit der im Buch vorgetragenen (raquogesagtenlaquo oder raquogezeigtenlaquo) Lehren Da-mit aber stellt sich Hacker explizit auf einen Standpunkt den Wittgenstein fuumlr sein eigenes Werk ablehnt das ja explizit raquokein Lehrbuchlaquo (Vorwort) sein will Hacker reduziert das Buch auf einen Lehrinhalt den er unzurei-chend fi ndet ndash der Gegensatz zu Diamond und Conant liegt bereits hier denn beide Seiten differieren vor allem darin was das Buch eigentlich

71 In dieser Hinsicht stimmt seine Einschaumltzung mit derjenigen Conants uumlberein der seinerseits Hacker in die Naumlhe Carnaps plaziert (Two Conceptions of Die Uumlberwindung S 14 ff) Ohne Hacker sofort zu nennen schreibt Conant Carnap (wie spaumlter Hacker) eine substantielle Auffassung von Unsinn zu

72 Hacker lehnt sowohl die Abhandlung als auch Freges philosophische Grundkonzepti-on ab und setzt sie als verfehlten Versuch in scharfen Kontrast zum Denken des spaumlten Wittgenstein Diese Haltung wird in seinem Kommentar zu den Philosophischen Untersu-chungen deutlich besonders eklatant jedoch in dem (gemeinsam mit Gordon Baker ver-faszligten) gegen Dummetts Fregedeutung geschriebenen Frege Logical Excavations (Oxford 1984) Das Auftreten der resoluten Lesart gibt Hacker daher nicht den Grund zu seiner Ablehnung des fruumlhen Wittgenstein sondern vor allem den Anlaszlig seine Gruumlnde zu buumln-deln und erneut vorzubringen (Der verstorbene Gordon Baker der zunaumlchst gemeinsam mit Hacker mehrere Baumlnde zum spaumlten Wittgenstein verfaszligte dann aber seinen Ansatz weiterentwickelte und dabei in einigen Punkten der resoluten Lesart nahekam sei hier noch erwaumlhnt vgl Baker Wittgensteinrsquos Method Neglected Aspects Oxford 2004)

117Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

leisten will Hacker sieht einen eklatanten Gegensatz zwischen Wittgen-steins Erklaumlrung nichts lehren zu wollen und seinem tatsaumlchlichen Vor-gehen seine Gegner versuchen gerade diese Aumluszligerungen Wittgensteins zu verstehen und ihnen entsprechend den Text so zu lesen daszlig er keine raquoLehrenlaquo enthaumllt sondern auf andere Art und Weise arbeitet

Hacker versucht entsprechend auch nicht Diamond und Conant ge-recht zu werden sondern listet vor allem eine Reihe von Kritikpunkten auf Zum einen weist er auf eine gewisse hermeneutische Willkuumlr hin mit der nur relativ wenige insgesamt unzusammenhaumlngende Partien herange-zogen werden wobei einige Passagen doch wieder als ganz gewoumlhnlich und sinnvoll gelesen werden ohne daszlig eine klare Abgrenzung nach Kri-terien gegeben wuumlrde Die haumlufi g verwendete Rede vom raquoRahmenlaquo des Buches im Unterschied zum raquoHauptteillaquo bleibt ihm zufolge unklar abge-grenzt da zum Rahmen auch Bemerkungen wie 4112 aus der Mitte des Textes gezaumlhlt werden73 Im Zusammenhang damit weist er darauf hin daszlig zwischen den Arten von Unsinn doch ein Unterschied gemacht wer-de wenigstens nach der Wirkung auf den Leser74 Und schlieszliglich ver-sucht er nachzuweisen daszlig Wittgenstein selbst weder in seiner fruumlheren noch in seiner spaumlteren Zeit eine solche radikale Lesart seiner eigenen Ar-beit vorgetragen oder unterstuumltzt habe

Eine spezielle Streitfrage liegt darin ob es nach Wittgenstein raquoUumlbertre-tungen der logischen Syntaxlaquo geben koumlnne Diamond und Conant be-haupten nein Hacker versucht an Beispielen aufzuzeigen daszlig Wittgen-stein dies wiederholt anspricht (S 365ndash367)75 Der grundlegende Dissens betrifft hier die Frage ob Wittgenstein sich vorrangig um den Begriff und die Festlegung einer logischen Syntax als Einfuumlhrung sinnvoller Rede be-muumlht denn wenn es um die Festlegung und ggf die Erweiterung und Ver-aumlnderung von Sinn geht dann gibt es nichts was uumlbertreten oder verfehlt werden koumlnnte ndash oder aber ob Wittgenstein wie Hacker ihn liest jemand ist der vor allem schon bestehende syntaktische Systeme betrachtet und dabei die Moumlglichkeiten behandelt sich gegenuumlber den Vorschriften be-

73 Conants Auskunft daszlig nicht der Ort im Text sondern die Funktion der Bemerkung daruumlber entscheide ob es zu Rahmen oder Hauptteil gehoumlre vermag als Gegenargument nicht wirklich zu uumlberzeugen

74 Dies leugnen Conant und Diamond keineswegs nur kommt es ihnen gerade auf den Unterschied zwischen logischen und anderen Einteilungsgruumlnden an

75 Dieser Punkt ist auch deswegen zentral weil fuumlr Hacker Unsinn genau dadurch ent-steht daszlig man die logische Syntax verletzt (Was he Trying S 367) waumlhrend fuumlr Conant und Diamond Unsinn dann vorliegt wenn wir mit einer Zeichenreihe schlicht nichts anfangen koumlnnen also kein Symbol darin erkennen Dieser Frage widmet Hacker den Aufsatz Wittgenstein Carnap and the New American Wittgensteinians in Philosophical Quar-terly 53 (2003) S 1ndash23 und Diamond die Entgegnung Logical Syntax in Wittgensteinrsquos Tractatus in Philosophical Quartely 55 (2005) S 78ndash88

118 Wolfgang Kienzler PhR

stimmter Systeme abweichend zu verhalten und ihre Regeln zu verletzen Die Frage ist ob Wittgenstein die Syntax mit einem bestehenden Spiel analog setzt oder nicht76 Fuumlr beide Aspekte gibt es Belege im Text77

Eine gewisse Uumlbereinstimmung zwischen Hacker und seinen Gegnern liegt ironischerweise darin daszlig keine der beiden Seiten eine durchge-hende Interpretation der Abhandlung anstrebt Hacker haumllt dies aufgrund der Inkonsistenz fuumlr uninteressant (wenn auch theoretisch moumlglich) Dia-mond ist vorrangig an Einzelfragen und am methodischen Standard des spaumlten Wittgenstein interessiert (wozu sie in der Abhandlung letztlich doch nur eine Vorstufe fi ndet) und Conant ist hauptsaumlchlich damit beschaumlftigt vorgaumlngige Kriterien fuumlr eine uumlberzeugende Lektuumlre zu entwickeln78

Als zentrale unbeantwortete Frage bleibt daruumlber hinaus das Problem bestehen wie man Wittgensteins Sprache und die Art seiner Behaup-tungen im Text konsequent aufzufassen hat denn hier weist Hacker auf deutliche Inkonsistenzen der resoluten Leser hin Zum einen wird von raquobloszligem Unsinnlaquo gesprochen dann wieder werden Passagen so gelesen wie gewoumlhnliche behauptende Prosa zum einen ist von Ironie die Rede dann wieder scheint alles ganz woumlrtlich aufzufassen zu sein79

8 Marie McGinn hat den bisher ehrgeizigsten Versuch unternommen die Staumlrken beider konkurrierender Ansaumltze zu verbinden und die jewei-

76 Vgl Diamond (wie die vorige Anm) S 86 Hacker vertritt hier einen eher kantischen Ansatz der die Grenzen der Vernunft bereits abgesteckt vorfi ndet (ein fuumlr Hacker wichtiges Buch ist P Strawsons Kantdeutung in The Bounds of Sense) Diamond und Conant sehen Wittgenstein als radikaleren Denker nach dem diese Grenzen immer wieder neu bestimmt werden muumlssen bzw nach dem es genau genommen keine Grenzen gibt da das Entschei-dende die Moumlglichkeit neuer Begriffsbildungen ist ohne daszlig man sich an irgendeiner Vorgabe (oder Grenze) orientieren kann die man entweder trifft oder verfehlt

77 Zum einen schreibt Wittgenstein raquoWir koumlnnen einem Zeichen nicht den unrechten Sinn gebenlaquo (54733) also bei der Bedeutungsfestsetzung nichts verfehlen zum anderen erklaumlrt er schlicht Saumltze wie raquo1 ist eine Zahllaquo (41272) die sich auf unsere bestehende Spra-che beziehen fuumlr unsinnig weil darin das Wort raquoZahllaquo als gewoumlhnliches Begriffswort statt als raquoformaler Begrifflaquo und also falsch verwendet wird Daszlig 1 eine Zahl ist ist schon da-durch klar daszlig wir das Zahlzeichen 1 verwenden und gerade deshalb koumlnnen wir dies nicht noch zusaumltzlich behaupten Es ist allerdings richtig daszlig Wittgenstein im letzteren Fall strenggenommen nicht von der raquoVerletzung der logischen Syntaxlaquo spricht sondern das Gebilde einfach raquounsinniglaquo nennt da fuumlr solche Faumllle gar keine logische Syntax im exakten Sinn verfuumlgbar ist Die gesamte Abhandlung ist in dieser Hinsicht nirgends der Versuch eine vorliegende Syntax zu treffen aber auch nicht eine neue Syntax festzulegen sondern sie befaszligt sich vielmehr mit den Bedingungen der Moumlglichkeit von Syntax uumlberhaupt Insofern verfehlen sowohl Hacker auch Diamond und Conant diesen Kernpunkt des Buches

78 So etwa im Abschnitt What makes a Reading resolute in Mono-Wittgensteinianism S 42ndash47

79 Vgl dazu W Kienzler Die Sprache des Tractatus Klar oder deutlich Karl Kraus Witt-genstein und die Frage der Terminologie in F GoumlppelsriederJ Volbers (Ed) Philosophie als Lebensform Muumlnchen 2008 (im Erscheinen)

119Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

ligen Schwaumlchen zu vermeiden80 Sie will Wittgenstein keine metaphy-sischen Lehren zuschreiben81 aber doch sicherstellen daszlig wir aus dem Buch etwas Konstruktives lernen koumlnnen Dazu nimmt sie den Begriff der Klaumlrung als Orientierungspunkt Die Aufgabe des Buches ist es demnach die Logik der Sprache aufzuklaumlren Wenn dies aber ohne die Verwendung positiver Lehren geschehen soll muszlig es indirekt geschehen naumlmlich da-durch daszlig die Sprache sich indirekt selbst klaumlrt das heiszligt daszlig eine solche Klaumlrung nicht auf etwas auszligerhalb der Sprache Bezug nimmt denn das waumlre Kennzeichen einer metaphysischen Auffassung McGinn schreibt et-was kryptisch raquoEs ist ein Werk in dem die Natur des Satzes die schon klar ist obwohl wir sie noch nicht klar sehen sich selbst fuumlr uns klaumlrtlaquo82

Sie betont jedoch sehr zu Recht daszlig Wittgenstein in seiner Abhandlung die eine groszlige Frage loumlsen wollte raquoDas Wesen des Satzes angeben heiszligt das Wesen aller Beschreibung angeben also das Wesen der Weltlaquo (54711)83

Damit aber waumlren alle (oder raquodielaquo) philosophischen Probleme geloumlst Ohne eine solche Voraussetzung die Wittgenstein offenbar als grundle-gende Einsicht erschien ist seine Handlungsweise gar nicht nachvollzieh-bar naumlmlich ein uumlberaus kurzes Buch zu verfassen in dem alle philoso-phischen Fragen im Prinzip jedenfalls beantwortet sind Dies ist nur moumlglich wenn diese Fragen so eng zusammenhaumlngen daszlig die Loumlsung der einen zugleich die Loumlsung der anderen bedeutet Dieser Grundgedanke strukturiert McGinns Buch und gibt ihm eine klare Linie84 Sie untersucht die besonders von Conant behandelten Fragen nach den Bedingungen einer angemessenen Lektuumlre fast gar nicht und antwortet insofern nicht durch Gegenargumente sondern durch die Tat durch einen Gang durch das Buch Es uumlberrascht dabei daszlig sie den Anfang zunaumlchst weglaumlszligt und nach Einleitungskapiteln zur Abgrenzung gegen Frege und Russell gleich mit dem Begriff des Bildes und dann des Satzes beginnt Tatsaumlchlich zeigt McGinn uumlberzeugend auf daszlig die Eingangspassagen am besten als Hin-fuumlhrungen zur raquoTheorie des Satzeslaquo aufgefaszligt werden und nicht als eigen-staumlndiges Theoriestuumlck einer vorangestellten Ontologie (sei diese nur scheinbar als Illusion aufgebaut oder ernst gemeint vgl etwa Diamond

80 Marie McGinn Elucidating the Tractatus81 Marie McGinn Between Metaphysics and Nonsense Elucidation in Wittgensteinrsquos Tracta-

tus In Philosophical Quarterly 49 (1999) S 491ndash513 hier S 107)82 Damit bleibt McGinn nahe an Aumluszligerungen von Diamond und Conant (etwa Method

S 424)83 Zit in McGinn Elucidating S 24084 Das erste Kapitel The Single Great Problem behandelt diese Frage zeigt aber bereits

daszlig sich McGinn nicht vollstaumlndig auf den Text einlaumlszligt sondern ihn von Anfang an stark aus der Perspektive der Philosophischen Untersuchungen her deutet (die im letzen Kapitel er-neut den Maszligstab der Betrachtung bilden)

120 Wolfgang Kienzler PhR

Ethics S 160) Vor dem Hintergrund der Auffassung des sinnvollen Satzes wird der Anfang dann relativ leicht verstaumlndlich In der Darstellung von McGinn wird die Abhandlung wieder zu einer Abhandlung einer nuumlch-ternen Darlegung uumlber die Voraussetzungen sinnvollen Sprechens und Ausdruumlckens uumlber die Unterschiede der Satzarten und die allgemeine Form des Satzes Allerdings ruumlcken so die Einzelheiten der Sprachlogik ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit und die Fragen nach der Natur der Philosophie aber auch die nach der Einheit des Buches treten ganz in den Hintergrund Das Buch enthaumllt kein Kapitel zum Philosophiebegriff des fruumlhen Wittgenstein und kaum Erlaumluterungen zur spezifi schen Form der Darstellung oder zur Strategie der Praumlsentation Einige Themen wie die Ethik Arithmetik oder die Naturgesetze werden ganz uumlbergangen dabei waumlre an diesen Beispielen die angestrebte Einheitlichkeit erst richtig aufzuzeigen gewesen In dieser Hinsicht erklaumlrt McGinn die Abhandlung in der Form die sie 1916 noch hatte bevor Wittgenstein die Schluszligpassa-gen einarbeitete und als sie noch staumlrker eine Abhandlung in raquophiloso-phischer Logiklaquo war85 Gegen Diamond und Conant stellt sie klar heraus daszlig das Ziel der Klaumlrung raquodurch Einsicht in das Funktionieren der Spra-chelaquo erreicht werden soll und nicht indirekt dadurch daszlig raquodie Versuche philosophische Saumltze zu bilden als Unsinn erkannt werdenlaquo (S 254 Anm 6) Die sehr nuumlchterne Art McGinns zeigt einen Wittgenstein der ganz unironisch seine logisch-philosophische Konzeption Schritt fuumlr Schritt entwickelt86

85 Vgl Brian McGuinness Wittgensteinrsquos 1916 Abhandlung in R HallerK Puhl (Hg) Wittgenstein and the Future of Philosophy Wien 2002 S 272ndash282 Die grundlegenden philologischen Arbeiten von McGuinness werden in der gegenwaumlrtigen Debatte leider wenig fruchtbar gemacht

86 Das stark gestiegene Interesse am fruumlhen Wittgenstein hat eine ganze Reihe von Monographien hervorgebracht die jedoch nur selten das gelassene exegetische Niveau McGinns erreichen sondern in der Regel mehr oder weniger exzentrische Deutungen in den Mittelpunkt stellen

M Ostrow Wittgenstein and the Liberating Word CambridgeMass 2002 (eine Zusam-menfassung in Reck From Frege to Wittgenstein) versucht eine an Floyd orientierte raquodialek-tische Interpretationlaquo die sich am Leitmotiv des raquoerloumlsenden Worteslaquo orientiert aber ins-gesamt zu vage bleibt zumal sich die Differenz zum spaumlteren Wittgenstein ganz aufzuloumlsen scheint und wichtige Passagen unberuumlcksichtigt bleiben

E Friedlander Signs of Sense Reading Wittgensteinrsquos Tractatus Cambridge Mass 2001 scheint das Raumltselhafte geradezu zu genieszligen und nennt als sein Ziel raquonicht das Raumltsel des Buches zu loumlsen sondern seinen raumltselhaften Charakter auf eine wahrhaft zum Denken herausfordernde Art aufzuzeigenlaquo (S XV) und will geradezu raquoseinen raumltselhaften Charak-ter rechtfertigenlaquo (16)

U Nordmann Wittgensteinrsquos Tractatus An Introduction Cambridge 2005 faszligt das Buch als ein Gedankenexperiment und eine groszlige Reductio ad Absurdum auf zu der er einige Praumlmissen ergaumlnzt Er deutet das Buch als im Konjunktiv geaumluszligert wodurch der Behaup-

121Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Ausblick

Die Arbeiten von Diamond und Conant haben zu einer neuen Welle des Interesses an Wittgensteins Fruumlhwerk gefuumlhrt und die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten vor allem aber auch das Potential seiner Abhandlung gelenkt Im Zentrum steht dabei die Natur der Philosophie als Erlaumlute-rung die selbst nicht in die Gestalt einer Lehre gebracht werden kann oder anders ausgedruumlckt der entscheidende Unterschied zwischen einer philosophischen und einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Untersu-chung

Gerade dadurch daszlig sie die Abhandlung stellenweise sehr nah an den spaumlten Wittgenstein heranruumlcken eroumlffnen Conant und Diamond Moumlg-lichkeiten die Souveraumlnitaumlt und Subtilitaumlt des Buches erst richtig zu wuumlr-digen Dies geschieht jedoch um den Preis daszlig einige Teile des Buches herausgegriffen andere dagegen kaum beruumlcksichtigt werden

Nicht hinreichend geklaumlrt scheint auch die Frage nach dem sprachlichen Grundton des Buches Diamond geht immer wieder von einem nahe an der Alltagssprache stehenden Redegestus aus (aumlhnlich wie der spaumlte Wittgen-stein) waumlhrend Conant aus der weiteren Perspektive ironische Zuumlge be-schreibt87 Gemeinsam ist den resoluten Lesern daszlig sie Wittgensteins Saumltze in der Abhandlung auf doppelte Weise auffassen Sie unterscheiden an vielen Stellen einen buchstaumlblichen naheliegenden Sinn der sich bei naumlherer Be-trachtung als inkohaumlrent erweist und der so zerfaumlllt88 Daher wird in ihrer

tungscharakter eingeklammert die Klaumlrungsfunktion jedoch trotzdem ermoumlglicht wird Er gewinnt so eine Kategorie von Saumltzen die raquounsinnig aber bedeutungsvolllaquo (176) sind

L Gunnarsson Wittgensteins Leiter Bodenheim 2002 greift einen Gedanken Conants auf daszlig wir naumlmlich den Hauptteil des Buches wegwerfen und den Rahmen behalten sollen (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 286) und entwickelt daraus die Fik-tion es waumlre tatsaumlchlich nur das Vorwort und der Schluszlig der Abhandlung erhalten ndash und will daraus den Gehalt des Buches ohne Verlust rekonstruieren Diese Veranschaulichung zeigt besonders klar auf wie verfehlt dieser Ansatz ist wenn man ihn auf die konkrete Interpretationspraxis bezieht

87 Die Parallele zwischen Wittgenstein und Kierkegaard scheint in zentralen Punkten gerade nicht zu bestehen denn Wittgenstein distanziert sich gerade nicht von seinem Buch sondern erklaumlrt seine Auffassungen fuumlr defi nitiv richtig und alternativlos ganz ent-gegen dem verwirrenden Spiel Kierkegaards mit unterschiedlichen Pseudonymen und Perspektiven Ein passenderer Vergleich waumlre etwa mit Hume moumlglich der am Ende seiner Untersuchung uumlber die Prinzipien der Moral (Abschnitt 9 Teil 1) seine Ergebnisse fuumlr derart einfach klar kohaumlrent und uumlberzeugend haumllt daszlig dem nichts hinzuzufuumlgen ist so daszlig er selbst geradezu in Versuchung kommen koumlnnte dogmatisch davon uumlberzeugt zu sein

88 So fuumlhrt Diamond (in Ethics wie Anm 37) folgende Beispiele dafuumlr an 1 das woruuml-ber man schweigen muszlig (aber das kann es doch nicht geben weil es kein raquodaruumlberlaquo ist S 149) 2 die Saumltze der Abhandlung die zu verstehen seien (oder doch raquoer selbstlaquo wie Witt-genstein dann uumlberraschenderweise sagt S 149) 3 die Anfangssaumltze uumlber die Welt (aber daruumlber kann es doch keine Saumltze geben S 160) 4 der Schein daszlig ab 64 Saumltze uumlber Ethik

122 Wolfgang Kienzler PhR

Perspektive das Buch durchgehend doppelboumldig und loumlst sich schlieszliglich in Nichts auf wobei in der Aufl oumlsung gerade die Absicht des Buches bestehen soll89 Demgegenuumlber kann festgehalten werden daszlig Wittgenstein nir-gends von Ironie spricht wohl aber davon daszlig er das Wesentliche in Kuumlr-ze klar ausdruumlcken will Eine wichtige Differenz innerhalb der resoluten Lesart liegt weiter darin welche Wichtigkeit man den eher technischen Aspekten der Abhandlung zuschreibt Ricketts und Goldfarb sehen viele Zuumlge des Buches von technischen Erwaumlgungen motiviert und gepraumlgt waumlhrend Diamond und Conant den Sinn der symbolischen Notation vor allem darin sehen wesentliche Unterschiede klarzustellen90

Das Motto erklaumlrt daszlig man raquoalles was man weiszliglaquo schlieszliglich raquoin drei Worten sagenlaquo kann Viele der scheinbaren Widerspruumlche und Doppelt-heiten die resolute Leser beobachten koumlnnten sich von daher moumlglicher-weise der Absicht verdanken im Buch logisch praumlzise Saumltze zu erwarten eine Absicht die bestaumlndig getaumluscht wird91 Wuumlrde man die Saumltze eher als Instrumente verstehen die allmaumlhlich entsprechend den Stufen der Lei-ter zur Klarheit anleiten ohne daszlig der Leser in die selbstrefl exive Geste verwickelt werden soll dann koumlnnte eine einfachere und klarere Lesart entstehen die auch mehr Sinn fuumlr den Zusammenhang und die spezi-fi schen Darstellungsmittel des Buches entwickeln wuumlrde ndash wenn denn eine solche zusammenhaumlngende Erlaumluterung als gemeinsames Ziel fest-staumlnde92 Auch Fragen der Textkritik die derzeit nur sehr sporadisch ge-streift werden koumlnnten dann eine groumlszligere Rolle spielen

Wolfgang Kienzler (ChemnitzJena)

vorkommen (die es doch gar nicht geben kann S 164) 5 der Schein daszlig im Buch Saumltze raquouumlber Logiklaquo vorkommen (die es ebenfalls nicht geben kann S 164) In allen Beispielen kann man die Situation natuumlrlicher so darstellen daszlig man die Saumltze der Abhandlung von vornherein zwar woumlrtlich aber nicht buchstaumlblich nimmt sondern sich von ihren zur Klarheit die sich erst allmaumlhlich einstellen kann fuumlhren laumlszligt

89 Diese Doppeltheit der Lesart ist den resoluten Lesern und ihren Kritikern gemein-sam sie ist aber keineswegs selbstverstaumlndlich und widerspricht dem Grundgedanken der Klarheit

90 Dies ist das Thema von Diamond What Does a Concept-Script Do in The Realistic Spirit S 115ndash144 Sie sieht darin ein raquoWerkzeug geistiger Befreiunglaquo (143) deutet damit aber tendenziell wieder einen Gedanken der Abhandlung in Frege hinein der zunaumlchst die Umgangssprache ganz zugunsten der exakteren Begriffsschrift verbannen wollte

91 In weiten Teilen der resoluten Beitraumlge kann man auch eine gewisse Vergegenstaumlnd-lichung mancher von Wittgenstein verwendeter Woumlrter wahrnehmen die dazu fuumlhren daszlig die Rede von raquoUnsinnlaquo raquoErlaumluterunglaquo u a zunaumlchst gegenstaumlndlich miszligverstanden und anschlieszligend als Gegenstaumlndlichkeit leugnend gedeutet wird Eine Beachtung von Wittgensteins ungezwungenem und unterminologischem Sprachgebrauch koumlnnte viele dieser Schleifen uumlberfl uumlssig machen

92 Das Buch von McGinn kann dazu als erster wichtiger konstruktiver Schritt angese-hen werden auch wenn es insgesamt etwas zu additiv verfaumlhrt

Page 18: Neue Lektüren von Wittgensteins Logisch-Philosophischer ... · 10 E. Stenius : Wittgensteins Traktat [1960], Frankfurt/M. 1969, nennt den Schluß »keine echte Verdammung [. . .]

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denen Wittgenstein seine Leser warnen will eine zweite mit Auffas-sungen die Wittgenstein in der Abhandlung natuumlrlich klar und unkontro-vers erschienen die aber dennoch Ausdruck philosophischer Ansichten sind die er selbst spaumlter als problematisch ansah (S 83)

Damit ist fuumlr eine Differenz zwischen dem fruumlhen und dem spaumlten Wittgenstein ein Spielraum gewonnen der dann durch eine dritte Liste wieder in einen ironischen Schwebezustand gebracht wird indem Conant Saumltze praumlsentiert die man gleichermaszligen dem fruumlhen wie dem spaumlten Wittgenstein zuordnen kann bisweilen indem leichte Variationen des Wortlauts mitgefuumlhrt werden wie raquoDie Logik (Grammatik) muszlig fuumlr sich selber sorgenlaquo (S 106) Conant spricht von raquoAugenblicken atemberau-bender Kontinuitaumltlaquo (S 108) gerade dort wo Wittgenstein die Konzeption der Abhandlung kritisiert (PhU 97ndash133) Als Ergebnis der Untersuchung bleibt so der Eindruck von gleichzeitig auszligerordentlicher Kontinuitaumlt und deutlicher Diskontinuitaumlt in Wittgensteins philosophischer Entwicklung Auch daszlig eine resolute Lesart eher raquoein Programm um das Buch zu lesenlaquo (111 Anm 4) ist als tatsaumlchlich eine durchgehende Lektuumlre ist deutlich ausgesprochen59

Der philosophische Ansatz und Stil Conants ist dem von Diamond in vie-ler Hinsicht entgegengesetzt Waumlhrend Diamond von konkreten Einzelfaumll-len ausgeht und diese im Hin- und Hergehen aufzuklaumlren versucht geht Conant ganz von auszligen mit einem umfassenden Blick in Beziehung zur gesamten Philosophiegeschichte an die Fragen heran Ein bevorzugter Vergleich ist derjenige Wittgensteins mit Kierkegaard insbesondere in der Frage des Verhaumlltnisses des Autors zu seinen Buumlchern60 Man koumlnnte gera-

59 In der gemeinsam verfaszligten Arbeit On Reading The Tractatus Resolutely Reply to Me-redith Williams and Peter Sullivan in M KoumllbelB Weiss Wittgensteinrsquos Lasting Signifi cance London 2004 S 46ndash99 erlaumlutern Diamond und Conant einige Punkte ihres Ansatzes ge-genuumlber Versuchen das Buch als System von Behauptungen zu lesen (Williams) und gegen die Kritik ihre Lesart sei unvollstaumlndig letzteres mit dem Hinweis es handle sich bislang lediglich um ein Forschungsprogramm aber gerade nicht um ein Rezept das eine leichte und zusammenhaumlngende Lektuumlre ermoumlgliche (S 68) Peter Sullivan wird als der produk-tivste Kritiker bezeichnet weil er auf spezifi sche Inkonsistenzen hinweise (vgl die in Anm 64 genannte Arbeit) Sullivans eigene Deutungsvorschlaumlge bleiben jedoch eher tra-ditionellen ontologisch orientierten Ansaumltzen verhaftet (vgl What is the Tractatus About ebenfalls in KoumllbelWeiszlig S 32ndash45) Diese gemeinsame Arbeit verbleibt jedoch insge-samt auf einer sehr allgemeinen und wenig spezifi schen Ebene

60 So etwa Conant Putting Two and Two together Kierkegaard Wittgenstein and the Point of View for Their Work as Authors in T TessinM von der Ruhr (Hg) Philosophy and the Grammar of Religious Belief London 1995 S 248ndash331 Als Zusammenfassung schreibt Co-nant dort daszlig der fruumlhe Wittgenstein aumlhnlich wie Kierkegaard raquoden Leser in die Wahr-heit hineintaumluschen willlaquo zu welchem Zweck er raquoeine ausgefeilte Struktur scheinbarer Behauptungenlaquo verwendet (S 302) Fuumlr ein solches Verstaumlndnis gibt es bei Kierkegaard zahlreiche Hinweise bei Wittgenstein streng genommen keine er will alles raquoklar sagenlaquo

113Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

dezu sagen daszlig sich Conant mehr fuumlr die Frage der Autorschaft als fuumlr das Werk selbst interessiert61 Es geht ihm darum den richtigen Blickwinkel auf das Werk zu gewinnen und den entwickelt er durch weitgespannte Ver-gleiche durch die Analyse der Selbstkommentare und zusaumltzlichen Erlaumlute-rungen Dabei scheint das Ziel vorrangig die Einordnung vorhandener Zu-gangsmoumlglichkeiten zu sein die er dann in eine systematische Ordnung bringt62 Diese Systematik verweist dann gewissermaszligen teleologisch auf eine einzige offene Moumlglichkeit als den richtigen Zugang zu einem Problem oder einem Text Waumlhrend Diamond also einzelne Miszligverstaumlndnisse auf-klaumlrt zieht Conant die groszligen orientierenden Linien63 Damit aber ergaumln-zen beide Ansaumltze einander wiederum in einem Maszlige daszlig sie von auszligen in aller Regel als eine Einheit angesehen werden Erst durch Conants Ord-nungsvorschlaumlge hat Diamonds Ansatz diejenige Uumlbersichtlichkeit und Handhabbarkeit gewonnen die eine breitere Wirksamkeit ermoumlglichen

Einmal schreibt er kritisch raquoDer Verkehr mit Autoren wie Hamann Kierkegaard macht ihre Herausgeber anmaszligend Diese Versuchung wuumlrde der Herausgeber des Cherubi-nischen Wandersmannes nie fuumlhlen noch auch der Confessionen des Augustin oder einer Schrift Luthers Es ist wohl das daszlig die Ironie eines Autors den Leser anmaszligend zu ma-chen geneigt istlaquo (Denkbewegungen [1931] FrankfurtM S 41)

61 In einem fruumlheren Aufsatz The Search for Logically Alien Thought Descartes Kant Frege and the Tractatus in Philosophical Topics 20 (1991) S 115ndash180 vergleicht Conant Witt-gensteins Vorgehen mit einem langen Witz bzw einer Parabel die ein absurdes Gespraumlch wiedergibt in dem ein Pole von einem Juden wissen will worin raquodas Geheimnis der Ju-denlaquo besteht und das nach allerhand Umwegen mit der Einsicht endet daszlig da raquokein Ge-heimnis istlaquo ndash aber so erfahren wir eben das raquoist das Geheimnislaquo (S 160)

62 Conants umfassende Perspektive geht mit einigen Zurechtstellungen bei der Inter-pretation einher die das Material entsprechend dem umfassenden Entwurf leicht umfor-men In seinem langen Aufsatz spricht er Wittgenstein eine besondere Konzeption von Klarheit zu die darin liegen soll daszlig man am Ende das Buch als unsinnig erkennt (374) er uumlbergeht dabei aber daszlig Wittgenstein gegenuumlber Russell unmittelbar auf den voumlllig neu-artigen Inhalt der logischen Konzeption verweist und dabei sogar das Wort raquoTheorielaquo ver-wendet als Ziel formuliert Wittgenstein auch nicht daszlig man bestimmte Konzeptionen als nur scheinbar konsistent erkennen soll (377) sondern daszlig man die Logik der Sprache ein-sehen lernt ohne ein Verstaumlndnis von 654 ist nach Conant kein Verstaumlndnis des Buches moumlglich (378) dies gilt aber angesichts der konzentrierten Form fuumlr jeden Satz des Buches wobei die Schluszligbemerkung eher selbstrefl exiv auf das Buch und die Darstellungsform Bezug nimmt als auf die bis dahin entwickelte Einsicht der gegenuumlber der bloszligen Selbstre-fl exion die Prioritaumlt einzuraumlumen waumlre die Woumlrter raquoUnsinnlaquo und raquoErlaumluternlaquo (378) sind entschieden nicht die Kernbegriffe des Buches zum einen kommen eher die Formen raquoun-sinniglaquo oder raquoes ist ein Unsinnlaquo vor nicht das Substantiv zum anderen sind viel eher raquoKlar-heitlaquo und raquoklarlaquo die zentralen Ausdruumlcke Carnap wird als derjenige hingestellt der nichts verstanden habe aber Wittgenstein hat gerade Carnap 1932 des Plagiats bezichtigt und Conant verkehrt Wittgensteins Aumluszligerung er koumlnne sich raquonicht denkenlaquo daszlig Carnap den Sinn des Buches raquoso ganz und gar miszligverstandenlaquo haben koumlnnte ins gerade Gegenteil und zitiert sie mehrfach (378 Anm 9 Anm 99 als Motto in Two Conceptions wie Anm 54)

63 Relativ haumlufi g verwendet Conant auch ganz traditionelle Ordnungsinstrumente wie raquoArtlaquo und raquoGattunglaquo (vgl Conant Method (Anm 53) S 435 Anm 43 436 Anm 48)

114 Wolfgang Kienzler PhR

Ein Punkt hat Kritiker besonders irritiert naumlmlich Diamonds und Co-nants Bestehen darauf daszlig der Text streng und konsequent stuumlckweise (piecemeal) gelesen werden soll Dies scheint mit der radikalen Grundten-denz nicht recht vereinbar oder die Radikalitaumlt doch stark abzuschwaumlchen ndash es koumlnnte aber dazu fuumlhren daszlig man das Gewicht der bisweilen daran angeknuumlpften allgemeineren Betrachtungen als wesentlich geringer anse-hen koumlnnte als es derzeit in aller Regel geschieht Tatsaumlchlich ist der stuumlckweise Zugang sehr charakteristisch fuumlr Diamonds Methode und die allgemein gehaltenen radikalen Thesen wirken in ihren Texten eher wie Fremdkoumlrper Die raquoTheselaquo von der notwendig stuumlckweisen Interpretation reduziert sich daher im Kern auf die wichtige aber unspektakulaumlre me-thodische Beobachtung daszlig es ohne Zweifel richtig ist daszlig man die Ab-handlung sorgfaumlltig langsam und schrittweise entschluumlsseln muszlig gerade damit man die einheitliche und uumlbergreifende Konzeption (und daran ist nichts stuumlckweise und zusammengebastelt) genau richtig auffassen kann

6 Tatsaumlchlich sind die Vertreter der resoluten Lesart insgesamt weit erfolgreicher in der Kritik konkurrierender Ansaumltze als in der Interpreta-tion des Textes selbst Ein groszliger Teil der Debatte wird in der Gestalt von Auseinandersetzungen um das richtige Verstaumlndnis bzw den Maszligstab fuumlr eine angemessene Interpretation gefuumlhrt Dies ist in gewissem Sinne fol-gerichtig denn ein Textverstaumlndnis im gewoumlhnlichen Sinn des Wortes kann es von einem im strengen Sinn unsinnigen Text ja kaum geben Die Debatte behandelt deshalb vorrangig Fragen wie die welches denn der raquoZweck des Unsinnslaquo sei64 Dazu hat Michael Kremer Vorschlaumlge entwi-ckelt die die ethische Dimension des Buches herausarbeiten65 Er zieht Vergleiche zu Wittgensteins Beschaumlftigung mit ethischen und religioumlsen Fragen etwa dem Neuen Testament und dem Gedanken daszlig wir einse-hen muumlssen daszlig wir die raquoSuche nach einer Rechtfertigung unseres Lebens aufgeben muumlssenlaquo (S 56) weil der Versuch einer solchen Selbstrechtferti-gung ein Akt des Hochmutes waumlre Als Ergebnis glaubt er festhalten zu muumlssen daszlig das Buch ein raquoknow-howlaquo kein raquoWissen-daszliglaquo vermittelt raquoDieses Buch und seinen Autor zu verstehen bedeutet zu lernen wie man lebtlaquo66 (S 62) In aumlhnlicher Weise deutet Kremer die Frage nach der

64 Michael Kremer The Purpose of Tractarian Nonsense in Nous 35 2001 S 39ndash73 Darauf reagiert Sullivan mit detaillierter Einzelkritik On Trying to be Resolute A Response to Kremer on the Tractatus in European Journal of Philosophy 10 (2002) S 43ndash78 (vor allem S 66ndash68 mit Hinweisen auf die spaumlrlichen Textbelege)

65 Fragen der Ethik spielen uumlberhaupt in den Arbeiten von Diamond Conant und an-deren resoluten Lesern eine groszlige Rolle was aber hier nicht im einzelnen verfolgt werden kann

66 Schon Diamond Ethics (Anm 37) S 169 spricht als Ziel an daszlig wir raquokeine falschen Anforderungen an die Welt stellenlaquo sollen

115Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

raquoWahrheit des Solipsismuslaquo dahingehend daszlig es darum geht den eigenen Stolz zu uumlberwinden67 Selbst die Frage nach dem raquoHauptproblem der Phi-losophielaquo naumlmlich der Unterscheidung von Sagen und Zeigen versucht Kremer so zu beantworten daszlig Wittgenstein vor allem vor der unberech-tigten und zu vorschnellen Anwendung dieser Unterscheidung warnt (und er will zeigen daszlig insofern diese Unterscheidung als Hauptproblem ange-sprochen wird Wittgenstein dieses Problem raquoloumlsenlaquo will)68 All diese Vor-schlaumlge lenken jedoch systematisch von einer tatsaumlchlichen Lektuumlre von Wittgensteins Buch eher ab

Innerhalb der resoluten Stroumlmung ist Juliet Floyd als radikale raquoJakobine-rinlaquo bezeichnet worden weil sie schon fuumlr den fruumlhen Wittgenstein gene-rell die Existenz einer einheitlichen Auffassung von Logik Bedeutung Sagen und Zeigen aber auch eines eindeutigen Ideals der Klarheit leug-net69 Sie nennt Wittgensteins Vorgehen dialektisch bzw refl ektierend (S 188) so daszlig Wittgenstein nicht auf eine einzelne Stoszligrichtung hin festzulegen ist Dadurch wird zum einen erneut die Moumlglichkeit in Frage gestellt den Text uumlberhaupt einigermaszligen einheitlich zu interpretieren zum anderen eroumlffnen sich Moumlglichkeiten relativ frei auch wieder kon-struktivere (S 187) Zuumlge festzustellen Wenn Floyd als Grundgegensatz der Deutungen die Frage betont ob man Wittgenstein so versteht als wolle er raquodie Endlichkeit oder expressive Begrenztheit der Sprache beto-nenlaquo oder ob er die raquooffene Entwicklung und Vielfalt menschlicher Aus-drucksmoumlglichkeitenlaquo (S 177) herausarbeiten will dann steht auch dies nur in einem eher lockeren Bezug zum Text Genau an dieser Stelle setzen die wichtigsten Kritiker an

7 Als prominentester und heftigster Kritiker ist Peter Hacker hervor-getreten70 Hacker kritisiert und polemisiert aus einer Position der exten-

67 Michael Kremer To What Extent is Solipsism a Truth in Stocker Post-Analytic Tractatus S 59ndash84 Das ist eine sehr ungewoumlhnliche Lesart dieser sonst erkenntnistheore-tisch aufgefaszligten Passage

68 Michael Kremer The Cardinal Problem of Philosophy in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 143ndash176 Kremers Deutung beruht vor allem darauf daszlig Wittgenstein in seinem Brief an Russell (15 8 1919) diese Unterscheidung einmal als raquoHauptpunktlaquo und dann auch als raquoHauptproblemlaquo anspricht Kremer deutet dies so daszlig die Unterscheidung als zu loumlsendes raquoProblemlaquo aufgefaszligt wird

69 Juliet Floyd Wittgenstein and the Inexpressible in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 177ndash234 hier S 185 und 196

70 Hackers Schriften dienen zugleich umgekehrt Diamond und Conant als Illustrati-onen fuumlr die raquoStandardlesartlaquo und dafuumlr wie man Wittgenstein nicht interpretieren sollte so schon 1985 in Diamond Throwing Away the Ladder (Anm 30) S 194 als Beispiel fuumlr raquochickening outlaquo Hacker ist auch als einziger Kritiker im Sammelband New Wittgenstein vertreten Was he Trying to Whistle It in New Wittgenstein S 353ndash388 Sein Sammelband Connections and Controversies Oxford 2001 enthaumllt neben dem Nachdruck auf S 98ndash140 noch eine Fortsetzung When the Whistling Had to Stop S 141ndash169

116 Wolfgang Kienzler PhR

siven Kommentieung des spaumlten Wittgenstein und zugleich des philo-sophischen Common Sense heraus Er sieht in der Abhandlung raquoeine ver-bluumlffende Lehre auf verbluumlffende Weise dargebotenlaquo (S 353) ndash diese Charakterisierung entnimmt er jedoch nicht erst seinen neuen Gegnern sondern einer eher traditionellen realistisch-metaphysischen Deutung von David Pears Hacker versteht das Buch als einen gescheiterten Versuch wesentliche Wahrheiten die nicht gesagt werden koumlnnen dennoch zu zeigen Dies sieht er als gesichertes Faktum an dessen Vorhandensein er mit Energie gegen Versuche es zu leugnen untermauert Dazu zaumlhlt er zehn Beispiele solcher Versuche auf von logischen Beziehungen zwischen Saumltzen bis zur Harmonie zwischen Gedanke Sprache und Wirklichkeit (S 353ndash355) und stellt sich ganz auf die Seite schon der fruumlhen Kritiker besonders des Wiener Kreises die den Schluszlig des Buches raquoganz unglaub-wuumlrdig fandenlaquo (S 355)71 Er nennt den Ansatz von Diamond und Conant raquopostmodernlaquo offenbar darauf berechnet zu provozieren jedoch frei von ernsthaften Absichten nicht aber das Buch richtig einschaumltzen zu wollen (S 356)72

Hacker sieht das Buch als offensichtlich inkonsistent an und beruft sich dabei auf Wittgensteins spaumltere Meinung zur Bestaumltigung dieses Faktums (S 370) Von daher fallen alle Versuche das Buch insgesamt nachzuvoll-ziehen zwangslaumlufi g ebenfalls der Inkonsistenz anheim Als Maszligstab der Inkonsistenz dient ihm dabei die Unvereinbarkeit und Widerspruumlchlich-keit der im Buch vorgetragenen (raquogesagtenlaquo oder raquogezeigtenlaquo) Lehren Da-mit aber stellt sich Hacker explizit auf einen Standpunkt den Wittgenstein fuumlr sein eigenes Werk ablehnt das ja explizit raquokein Lehrbuchlaquo (Vorwort) sein will Hacker reduziert das Buch auf einen Lehrinhalt den er unzurei-chend fi ndet ndash der Gegensatz zu Diamond und Conant liegt bereits hier denn beide Seiten differieren vor allem darin was das Buch eigentlich

71 In dieser Hinsicht stimmt seine Einschaumltzung mit derjenigen Conants uumlberein der seinerseits Hacker in die Naumlhe Carnaps plaziert (Two Conceptions of Die Uumlberwindung S 14 ff) Ohne Hacker sofort zu nennen schreibt Conant Carnap (wie spaumlter Hacker) eine substantielle Auffassung von Unsinn zu

72 Hacker lehnt sowohl die Abhandlung als auch Freges philosophische Grundkonzepti-on ab und setzt sie als verfehlten Versuch in scharfen Kontrast zum Denken des spaumlten Wittgenstein Diese Haltung wird in seinem Kommentar zu den Philosophischen Untersu-chungen deutlich besonders eklatant jedoch in dem (gemeinsam mit Gordon Baker ver-faszligten) gegen Dummetts Fregedeutung geschriebenen Frege Logical Excavations (Oxford 1984) Das Auftreten der resoluten Lesart gibt Hacker daher nicht den Grund zu seiner Ablehnung des fruumlhen Wittgenstein sondern vor allem den Anlaszlig seine Gruumlnde zu buumln-deln und erneut vorzubringen (Der verstorbene Gordon Baker der zunaumlchst gemeinsam mit Hacker mehrere Baumlnde zum spaumlten Wittgenstein verfaszligte dann aber seinen Ansatz weiterentwickelte und dabei in einigen Punkten der resoluten Lesart nahekam sei hier noch erwaumlhnt vgl Baker Wittgensteinrsquos Method Neglected Aspects Oxford 2004)

117Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

leisten will Hacker sieht einen eklatanten Gegensatz zwischen Wittgen-steins Erklaumlrung nichts lehren zu wollen und seinem tatsaumlchlichen Vor-gehen seine Gegner versuchen gerade diese Aumluszligerungen Wittgensteins zu verstehen und ihnen entsprechend den Text so zu lesen daszlig er keine raquoLehrenlaquo enthaumllt sondern auf andere Art und Weise arbeitet

Hacker versucht entsprechend auch nicht Diamond und Conant ge-recht zu werden sondern listet vor allem eine Reihe von Kritikpunkten auf Zum einen weist er auf eine gewisse hermeneutische Willkuumlr hin mit der nur relativ wenige insgesamt unzusammenhaumlngende Partien herange-zogen werden wobei einige Passagen doch wieder als ganz gewoumlhnlich und sinnvoll gelesen werden ohne daszlig eine klare Abgrenzung nach Kri-terien gegeben wuumlrde Die haumlufi g verwendete Rede vom raquoRahmenlaquo des Buches im Unterschied zum raquoHauptteillaquo bleibt ihm zufolge unklar abge-grenzt da zum Rahmen auch Bemerkungen wie 4112 aus der Mitte des Textes gezaumlhlt werden73 Im Zusammenhang damit weist er darauf hin daszlig zwischen den Arten von Unsinn doch ein Unterschied gemacht wer-de wenigstens nach der Wirkung auf den Leser74 Und schlieszliglich ver-sucht er nachzuweisen daszlig Wittgenstein selbst weder in seiner fruumlheren noch in seiner spaumlteren Zeit eine solche radikale Lesart seiner eigenen Ar-beit vorgetragen oder unterstuumltzt habe

Eine spezielle Streitfrage liegt darin ob es nach Wittgenstein raquoUumlbertre-tungen der logischen Syntaxlaquo geben koumlnne Diamond und Conant be-haupten nein Hacker versucht an Beispielen aufzuzeigen daszlig Wittgen-stein dies wiederholt anspricht (S 365ndash367)75 Der grundlegende Dissens betrifft hier die Frage ob Wittgenstein sich vorrangig um den Begriff und die Festlegung einer logischen Syntax als Einfuumlhrung sinnvoller Rede be-muumlht denn wenn es um die Festlegung und ggf die Erweiterung und Ver-aumlnderung von Sinn geht dann gibt es nichts was uumlbertreten oder verfehlt werden koumlnnte ndash oder aber ob Wittgenstein wie Hacker ihn liest jemand ist der vor allem schon bestehende syntaktische Systeme betrachtet und dabei die Moumlglichkeiten behandelt sich gegenuumlber den Vorschriften be-

73 Conants Auskunft daszlig nicht der Ort im Text sondern die Funktion der Bemerkung daruumlber entscheide ob es zu Rahmen oder Hauptteil gehoumlre vermag als Gegenargument nicht wirklich zu uumlberzeugen

74 Dies leugnen Conant und Diamond keineswegs nur kommt es ihnen gerade auf den Unterschied zwischen logischen und anderen Einteilungsgruumlnden an

75 Dieser Punkt ist auch deswegen zentral weil fuumlr Hacker Unsinn genau dadurch ent-steht daszlig man die logische Syntax verletzt (Was he Trying S 367) waumlhrend fuumlr Conant und Diamond Unsinn dann vorliegt wenn wir mit einer Zeichenreihe schlicht nichts anfangen koumlnnen also kein Symbol darin erkennen Dieser Frage widmet Hacker den Aufsatz Wittgenstein Carnap and the New American Wittgensteinians in Philosophical Quar-terly 53 (2003) S 1ndash23 und Diamond die Entgegnung Logical Syntax in Wittgensteinrsquos Tractatus in Philosophical Quartely 55 (2005) S 78ndash88

118 Wolfgang Kienzler PhR

stimmter Systeme abweichend zu verhalten und ihre Regeln zu verletzen Die Frage ist ob Wittgenstein die Syntax mit einem bestehenden Spiel analog setzt oder nicht76 Fuumlr beide Aspekte gibt es Belege im Text77

Eine gewisse Uumlbereinstimmung zwischen Hacker und seinen Gegnern liegt ironischerweise darin daszlig keine der beiden Seiten eine durchge-hende Interpretation der Abhandlung anstrebt Hacker haumllt dies aufgrund der Inkonsistenz fuumlr uninteressant (wenn auch theoretisch moumlglich) Dia-mond ist vorrangig an Einzelfragen und am methodischen Standard des spaumlten Wittgenstein interessiert (wozu sie in der Abhandlung letztlich doch nur eine Vorstufe fi ndet) und Conant ist hauptsaumlchlich damit beschaumlftigt vorgaumlngige Kriterien fuumlr eine uumlberzeugende Lektuumlre zu entwickeln78

Als zentrale unbeantwortete Frage bleibt daruumlber hinaus das Problem bestehen wie man Wittgensteins Sprache und die Art seiner Behaup-tungen im Text konsequent aufzufassen hat denn hier weist Hacker auf deutliche Inkonsistenzen der resoluten Leser hin Zum einen wird von raquobloszligem Unsinnlaquo gesprochen dann wieder werden Passagen so gelesen wie gewoumlhnliche behauptende Prosa zum einen ist von Ironie die Rede dann wieder scheint alles ganz woumlrtlich aufzufassen zu sein79

8 Marie McGinn hat den bisher ehrgeizigsten Versuch unternommen die Staumlrken beider konkurrierender Ansaumltze zu verbinden und die jewei-

76 Vgl Diamond (wie die vorige Anm) S 86 Hacker vertritt hier einen eher kantischen Ansatz der die Grenzen der Vernunft bereits abgesteckt vorfi ndet (ein fuumlr Hacker wichtiges Buch ist P Strawsons Kantdeutung in The Bounds of Sense) Diamond und Conant sehen Wittgenstein als radikaleren Denker nach dem diese Grenzen immer wieder neu bestimmt werden muumlssen bzw nach dem es genau genommen keine Grenzen gibt da das Entschei-dende die Moumlglichkeit neuer Begriffsbildungen ist ohne daszlig man sich an irgendeiner Vorgabe (oder Grenze) orientieren kann die man entweder trifft oder verfehlt

77 Zum einen schreibt Wittgenstein raquoWir koumlnnen einem Zeichen nicht den unrechten Sinn gebenlaquo (54733) also bei der Bedeutungsfestsetzung nichts verfehlen zum anderen erklaumlrt er schlicht Saumltze wie raquo1 ist eine Zahllaquo (41272) die sich auf unsere bestehende Spra-che beziehen fuumlr unsinnig weil darin das Wort raquoZahllaquo als gewoumlhnliches Begriffswort statt als raquoformaler Begrifflaquo und also falsch verwendet wird Daszlig 1 eine Zahl ist ist schon da-durch klar daszlig wir das Zahlzeichen 1 verwenden und gerade deshalb koumlnnen wir dies nicht noch zusaumltzlich behaupten Es ist allerdings richtig daszlig Wittgenstein im letzteren Fall strenggenommen nicht von der raquoVerletzung der logischen Syntaxlaquo spricht sondern das Gebilde einfach raquounsinniglaquo nennt da fuumlr solche Faumllle gar keine logische Syntax im exakten Sinn verfuumlgbar ist Die gesamte Abhandlung ist in dieser Hinsicht nirgends der Versuch eine vorliegende Syntax zu treffen aber auch nicht eine neue Syntax festzulegen sondern sie befaszligt sich vielmehr mit den Bedingungen der Moumlglichkeit von Syntax uumlberhaupt Insofern verfehlen sowohl Hacker auch Diamond und Conant diesen Kernpunkt des Buches

78 So etwa im Abschnitt What makes a Reading resolute in Mono-Wittgensteinianism S 42ndash47

79 Vgl dazu W Kienzler Die Sprache des Tractatus Klar oder deutlich Karl Kraus Witt-genstein und die Frage der Terminologie in F GoumlppelsriederJ Volbers (Ed) Philosophie als Lebensform Muumlnchen 2008 (im Erscheinen)

119Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

ligen Schwaumlchen zu vermeiden80 Sie will Wittgenstein keine metaphy-sischen Lehren zuschreiben81 aber doch sicherstellen daszlig wir aus dem Buch etwas Konstruktives lernen koumlnnen Dazu nimmt sie den Begriff der Klaumlrung als Orientierungspunkt Die Aufgabe des Buches ist es demnach die Logik der Sprache aufzuklaumlren Wenn dies aber ohne die Verwendung positiver Lehren geschehen soll muszlig es indirekt geschehen naumlmlich da-durch daszlig die Sprache sich indirekt selbst klaumlrt das heiszligt daszlig eine solche Klaumlrung nicht auf etwas auszligerhalb der Sprache Bezug nimmt denn das waumlre Kennzeichen einer metaphysischen Auffassung McGinn schreibt et-was kryptisch raquoEs ist ein Werk in dem die Natur des Satzes die schon klar ist obwohl wir sie noch nicht klar sehen sich selbst fuumlr uns klaumlrtlaquo82

Sie betont jedoch sehr zu Recht daszlig Wittgenstein in seiner Abhandlung die eine groszlige Frage loumlsen wollte raquoDas Wesen des Satzes angeben heiszligt das Wesen aller Beschreibung angeben also das Wesen der Weltlaquo (54711)83

Damit aber waumlren alle (oder raquodielaquo) philosophischen Probleme geloumlst Ohne eine solche Voraussetzung die Wittgenstein offenbar als grundle-gende Einsicht erschien ist seine Handlungsweise gar nicht nachvollzieh-bar naumlmlich ein uumlberaus kurzes Buch zu verfassen in dem alle philoso-phischen Fragen im Prinzip jedenfalls beantwortet sind Dies ist nur moumlglich wenn diese Fragen so eng zusammenhaumlngen daszlig die Loumlsung der einen zugleich die Loumlsung der anderen bedeutet Dieser Grundgedanke strukturiert McGinns Buch und gibt ihm eine klare Linie84 Sie untersucht die besonders von Conant behandelten Fragen nach den Bedingungen einer angemessenen Lektuumlre fast gar nicht und antwortet insofern nicht durch Gegenargumente sondern durch die Tat durch einen Gang durch das Buch Es uumlberrascht dabei daszlig sie den Anfang zunaumlchst weglaumlszligt und nach Einleitungskapiteln zur Abgrenzung gegen Frege und Russell gleich mit dem Begriff des Bildes und dann des Satzes beginnt Tatsaumlchlich zeigt McGinn uumlberzeugend auf daszlig die Eingangspassagen am besten als Hin-fuumlhrungen zur raquoTheorie des Satzeslaquo aufgefaszligt werden und nicht als eigen-staumlndiges Theoriestuumlck einer vorangestellten Ontologie (sei diese nur scheinbar als Illusion aufgebaut oder ernst gemeint vgl etwa Diamond

80 Marie McGinn Elucidating the Tractatus81 Marie McGinn Between Metaphysics and Nonsense Elucidation in Wittgensteinrsquos Tracta-

tus In Philosophical Quarterly 49 (1999) S 491ndash513 hier S 107)82 Damit bleibt McGinn nahe an Aumluszligerungen von Diamond und Conant (etwa Method

S 424)83 Zit in McGinn Elucidating S 24084 Das erste Kapitel The Single Great Problem behandelt diese Frage zeigt aber bereits

daszlig sich McGinn nicht vollstaumlndig auf den Text einlaumlszligt sondern ihn von Anfang an stark aus der Perspektive der Philosophischen Untersuchungen her deutet (die im letzen Kapitel er-neut den Maszligstab der Betrachtung bilden)

120 Wolfgang Kienzler PhR

Ethics S 160) Vor dem Hintergrund der Auffassung des sinnvollen Satzes wird der Anfang dann relativ leicht verstaumlndlich In der Darstellung von McGinn wird die Abhandlung wieder zu einer Abhandlung einer nuumlch-ternen Darlegung uumlber die Voraussetzungen sinnvollen Sprechens und Ausdruumlckens uumlber die Unterschiede der Satzarten und die allgemeine Form des Satzes Allerdings ruumlcken so die Einzelheiten der Sprachlogik ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit und die Fragen nach der Natur der Philosophie aber auch die nach der Einheit des Buches treten ganz in den Hintergrund Das Buch enthaumllt kein Kapitel zum Philosophiebegriff des fruumlhen Wittgenstein und kaum Erlaumluterungen zur spezifi schen Form der Darstellung oder zur Strategie der Praumlsentation Einige Themen wie die Ethik Arithmetik oder die Naturgesetze werden ganz uumlbergangen dabei waumlre an diesen Beispielen die angestrebte Einheitlichkeit erst richtig aufzuzeigen gewesen In dieser Hinsicht erklaumlrt McGinn die Abhandlung in der Form die sie 1916 noch hatte bevor Wittgenstein die Schluszligpassa-gen einarbeitete und als sie noch staumlrker eine Abhandlung in raquophiloso-phischer Logiklaquo war85 Gegen Diamond und Conant stellt sie klar heraus daszlig das Ziel der Klaumlrung raquodurch Einsicht in das Funktionieren der Spra-chelaquo erreicht werden soll und nicht indirekt dadurch daszlig raquodie Versuche philosophische Saumltze zu bilden als Unsinn erkannt werdenlaquo (S 254 Anm 6) Die sehr nuumlchterne Art McGinns zeigt einen Wittgenstein der ganz unironisch seine logisch-philosophische Konzeption Schritt fuumlr Schritt entwickelt86

85 Vgl Brian McGuinness Wittgensteinrsquos 1916 Abhandlung in R HallerK Puhl (Hg) Wittgenstein and the Future of Philosophy Wien 2002 S 272ndash282 Die grundlegenden philologischen Arbeiten von McGuinness werden in der gegenwaumlrtigen Debatte leider wenig fruchtbar gemacht

86 Das stark gestiegene Interesse am fruumlhen Wittgenstein hat eine ganze Reihe von Monographien hervorgebracht die jedoch nur selten das gelassene exegetische Niveau McGinns erreichen sondern in der Regel mehr oder weniger exzentrische Deutungen in den Mittelpunkt stellen

M Ostrow Wittgenstein and the Liberating Word CambridgeMass 2002 (eine Zusam-menfassung in Reck From Frege to Wittgenstein) versucht eine an Floyd orientierte raquodialek-tische Interpretationlaquo die sich am Leitmotiv des raquoerloumlsenden Worteslaquo orientiert aber ins-gesamt zu vage bleibt zumal sich die Differenz zum spaumlteren Wittgenstein ganz aufzuloumlsen scheint und wichtige Passagen unberuumlcksichtigt bleiben

E Friedlander Signs of Sense Reading Wittgensteinrsquos Tractatus Cambridge Mass 2001 scheint das Raumltselhafte geradezu zu genieszligen und nennt als sein Ziel raquonicht das Raumltsel des Buches zu loumlsen sondern seinen raumltselhaften Charakter auf eine wahrhaft zum Denken herausfordernde Art aufzuzeigenlaquo (S XV) und will geradezu raquoseinen raumltselhaften Charak-ter rechtfertigenlaquo (16)

U Nordmann Wittgensteinrsquos Tractatus An Introduction Cambridge 2005 faszligt das Buch als ein Gedankenexperiment und eine groszlige Reductio ad Absurdum auf zu der er einige Praumlmissen ergaumlnzt Er deutet das Buch als im Konjunktiv geaumluszligert wodurch der Behaup-

121Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Ausblick

Die Arbeiten von Diamond und Conant haben zu einer neuen Welle des Interesses an Wittgensteins Fruumlhwerk gefuumlhrt und die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten vor allem aber auch das Potential seiner Abhandlung gelenkt Im Zentrum steht dabei die Natur der Philosophie als Erlaumlute-rung die selbst nicht in die Gestalt einer Lehre gebracht werden kann oder anders ausgedruumlckt der entscheidende Unterschied zwischen einer philosophischen und einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Untersu-chung

Gerade dadurch daszlig sie die Abhandlung stellenweise sehr nah an den spaumlten Wittgenstein heranruumlcken eroumlffnen Conant und Diamond Moumlg-lichkeiten die Souveraumlnitaumlt und Subtilitaumlt des Buches erst richtig zu wuumlr-digen Dies geschieht jedoch um den Preis daszlig einige Teile des Buches herausgegriffen andere dagegen kaum beruumlcksichtigt werden

Nicht hinreichend geklaumlrt scheint auch die Frage nach dem sprachlichen Grundton des Buches Diamond geht immer wieder von einem nahe an der Alltagssprache stehenden Redegestus aus (aumlhnlich wie der spaumlte Wittgen-stein) waumlhrend Conant aus der weiteren Perspektive ironische Zuumlge be-schreibt87 Gemeinsam ist den resoluten Lesern daszlig sie Wittgensteins Saumltze in der Abhandlung auf doppelte Weise auffassen Sie unterscheiden an vielen Stellen einen buchstaumlblichen naheliegenden Sinn der sich bei naumlherer Be-trachtung als inkohaumlrent erweist und der so zerfaumlllt88 Daher wird in ihrer

tungscharakter eingeklammert die Klaumlrungsfunktion jedoch trotzdem ermoumlglicht wird Er gewinnt so eine Kategorie von Saumltzen die raquounsinnig aber bedeutungsvolllaquo (176) sind

L Gunnarsson Wittgensteins Leiter Bodenheim 2002 greift einen Gedanken Conants auf daszlig wir naumlmlich den Hauptteil des Buches wegwerfen und den Rahmen behalten sollen (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 286) und entwickelt daraus die Fik-tion es waumlre tatsaumlchlich nur das Vorwort und der Schluszlig der Abhandlung erhalten ndash und will daraus den Gehalt des Buches ohne Verlust rekonstruieren Diese Veranschaulichung zeigt besonders klar auf wie verfehlt dieser Ansatz ist wenn man ihn auf die konkrete Interpretationspraxis bezieht

87 Die Parallele zwischen Wittgenstein und Kierkegaard scheint in zentralen Punkten gerade nicht zu bestehen denn Wittgenstein distanziert sich gerade nicht von seinem Buch sondern erklaumlrt seine Auffassungen fuumlr defi nitiv richtig und alternativlos ganz ent-gegen dem verwirrenden Spiel Kierkegaards mit unterschiedlichen Pseudonymen und Perspektiven Ein passenderer Vergleich waumlre etwa mit Hume moumlglich der am Ende seiner Untersuchung uumlber die Prinzipien der Moral (Abschnitt 9 Teil 1) seine Ergebnisse fuumlr derart einfach klar kohaumlrent und uumlberzeugend haumllt daszlig dem nichts hinzuzufuumlgen ist so daszlig er selbst geradezu in Versuchung kommen koumlnnte dogmatisch davon uumlberzeugt zu sein

88 So fuumlhrt Diamond (in Ethics wie Anm 37) folgende Beispiele dafuumlr an 1 das woruuml-ber man schweigen muszlig (aber das kann es doch nicht geben weil es kein raquodaruumlberlaquo ist S 149) 2 die Saumltze der Abhandlung die zu verstehen seien (oder doch raquoer selbstlaquo wie Witt-genstein dann uumlberraschenderweise sagt S 149) 3 die Anfangssaumltze uumlber die Welt (aber daruumlber kann es doch keine Saumltze geben S 160) 4 der Schein daszlig ab 64 Saumltze uumlber Ethik

122 Wolfgang Kienzler PhR

Perspektive das Buch durchgehend doppelboumldig und loumlst sich schlieszliglich in Nichts auf wobei in der Aufl oumlsung gerade die Absicht des Buches bestehen soll89 Demgegenuumlber kann festgehalten werden daszlig Wittgenstein nir-gends von Ironie spricht wohl aber davon daszlig er das Wesentliche in Kuumlr-ze klar ausdruumlcken will Eine wichtige Differenz innerhalb der resoluten Lesart liegt weiter darin welche Wichtigkeit man den eher technischen Aspekten der Abhandlung zuschreibt Ricketts und Goldfarb sehen viele Zuumlge des Buches von technischen Erwaumlgungen motiviert und gepraumlgt waumlhrend Diamond und Conant den Sinn der symbolischen Notation vor allem darin sehen wesentliche Unterschiede klarzustellen90

Das Motto erklaumlrt daszlig man raquoalles was man weiszliglaquo schlieszliglich raquoin drei Worten sagenlaquo kann Viele der scheinbaren Widerspruumlche und Doppelt-heiten die resolute Leser beobachten koumlnnten sich von daher moumlglicher-weise der Absicht verdanken im Buch logisch praumlzise Saumltze zu erwarten eine Absicht die bestaumlndig getaumluscht wird91 Wuumlrde man die Saumltze eher als Instrumente verstehen die allmaumlhlich entsprechend den Stufen der Lei-ter zur Klarheit anleiten ohne daszlig der Leser in die selbstrefl exive Geste verwickelt werden soll dann koumlnnte eine einfachere und klarere Lesart entstehen die auch mehr Sinn fuumlr den Zusammenhang und die spezi-fi schen Darstellungsmittel des Buches entwickeln wuumlrde ndash wenn denn eine solche zusammenhaumlngende Erlaumluterung als gemeinsames Ziel fest-staumlnde92 Auch Fragen der Textkritik die derzeit nur sehr sporadisch ge-streift werden koumlnnten dann eine groumlszligere Rolle spielen

Wolfgang Kienzler (ChemnitzJena)

vorkommen (die es doch gar nicht geben kann S 164) 5 der Schein daszlig im Buch Saumltze raquouumlber Logiklaquo vorkommen (die es ebenfalls nicht geben kann S 164) In allen Beispielen kann man die Situation natuumlrlicher so darstellen daszlig man die Saumltze der Abhandlung von vornherein zwar woumlrtlich aber nicht buchstaumlblich nimmt sondern sich von ihren zur Klarheit die sich erst allmaumlhlich einstellen kann fuumlhren laumlszligt

89 Diese Doppeltheit der Lesart ist den resoluten Lesern und ihren Kritikern gemein-sam sie ist aber keineswegs selbstverstaumlndlich und widerspricht dem Grundgedanken der Klarheit

90 Dies ist das Thema von Diamond What Does a Concept-Script Do in The Realistic Spirit S 115ndash144 Sie sieht darin ein raquoWerkzeug geistiger Befreiunglaquo (143) deutet damit aber tendenziell wieder einen Gedanken der Abhandlung in Frege hinein der zunaumlchst die Umgangssprache ganz zugunsten der exakteren Begriffsschrift verbannen wollte

91 In weiten Teilen der resoluten Beitraumlge kann man auch eine gewisse Vergegenstaumlnd-lichung mancher von Wittgenstein verwendeter Woumlrter wahrnehmen die dazu fuumlhren daszlig die Rede von raquoUnsinnlaquo raquoErlaumluterunglaquo u a zunaumlchst gegenstaumlndlich miszligverstanden und anschlieszligend als Gegenstaumlndlichkeit leugnend gedeutet wird Eine Beachtung von Wittgensteins ungezwungenem und unterminologischem Sprachgebrauch koumlnnte viele dieser Schleifen uumlberfl uumlssig machen

92 Das Buch von McGinn kann dazu als erster wichtiger konstruktiver Schritt angese-hen werden auch wenn es insgesamt etwas zu additiv verfaumlhrt

Page 19: Neue Lektüren von Wittgensteins Logisch-Philosophischer ... · 10 E. Stenius : Wittgensteins Traktat [1960], Frankfurt/M. 1969, nennt den Schluß »keine echte Verdammung [. . .]

113Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

dezu sagen daszlig sich Conant mehr fuumlr die Frage der Autorschaft als fuumlr das Werk selbst interessiert61 Es geht ihm darum den richtigen Blickwinkel auf das Werk zu gewinnen und den entwickelt er durch weitgespannte Ver-gleiche durch die Analyse der Selbstkommentare und zusaumltzlichen Erlaumlute-rungen Dabei scheint das Ziel vorrangig die Einordnung vorhandener Zu-gangsmoumlglichkeiten zu sein die er dann in eine systematische Ordnung bringt62 Diese Systematik verweist dann gewissermaszligen teleologisch auf eine einzige offene Moumlglichkeit als den richtigen Zugang zu einem Problem oder einem Text Waumlhrend Diamond also einzelne Miszligverstaumlndnisse auf-klaumlrt zieht Conant die groszligen orientierenden Linien63 Damit aber ergaumln-zen beide Ansaumltze einander wiederum in einem Maszlige daszlig sie von auszligen in aller Regel als eine Einheit angesehen werden Erst durch Conants Ord-nungsvorschlaumlge hat Diamonds Ansatz diejenige Uumlbersichtlichkeit und Handhabbarkeit gewonnen die eine breitere Wirksamkeit ermoumlglichen

Einmal schreibt er kritisch raquoDer Verkehr mit Autoren wie Hamann Kierkegaard macht ihre Herausgeber anmaszligend Diese Versuchung wuumlrde der Herausgeber des Cherubi-nischen Wandersmannes nie fuumlhlen noch auch der Confessionen des Augustin oder einer Schrift Luthers Es ist wohl das daszlig die Ironie eines Autors den Leser anmaszligend zu ma-chen geneigt istlaquo (Denkbewegungen [1931] FrankfurtM S 41)

61 In einem fruumlheren Aufsatz The Search for Logically Alien Thought Descartes Kant Frege and the Tractatus in Philosophical Topics 20 (1991) S 115ndash180 vergleicht Conant Witt-gensteins Vorgehen mit einem langen Witz bzw einer Parabel die ein absurdes Gespraumlch wiedergibt in dem ein Pole von einem Juden wissen will worin raquodas Geheimnis der Ju-denlaquo besteht und das nach allerhand Umwegen mit der Einsicht endet daszlig da raquokein Ge-heimnis istlaquo ndash aber so erfahren wir eben das raquoist das Geheimnislaquo (S 160)

62 Conants umfassende Perspektive geht mit einigen Zurechtstellungen bei der Inter-pretation einher die das Material entsprechend dem umfassenden Entwurf leicht umfor-men In seinem langen Aufsatz spricht er Wittgenstein eine besondere Konzeption von Klarheit zu die darin liegen soll daszlig man am Ende das Buch als unsinnig erkennt (374) er uumlbergeht dabei aber daszlig Wittgenstein gegenuumlber Russell unmittelbar auf den voumlllig neu-artigen Inhalt der logischen Konzeption verweist und dabei sogar das Wort raquoTheorielaquo ver-wendet als Ziel formuliert Wittgenstein auch nicht daszlig man bestimmte Konzeptionen als nur scheinbar konsistent erkennen soll (377) sondern daszlig man die Logik der Sprache ein-sehen lernt ohne ein Verstaumlndnis von 654 ist nach Conant kein Verstaumlndnis des Buches moumlglich (378) dies gilt aber angesichts der konzentrierten Form fuumlr jeden Satz des Buches wobei die Schluszligbemerkung eher selbstrefl exiv auf das Buch und die Darstellungsform Bezug nimmt als auf die bis dahin entwickelte Einsicht der gegenuumlber der bloszligen Selbstre-fl exion die Prioritaumlt einzuraumlumen waumlre die Woumlrter raquoUnsinnlaquo und raquoErlaumluternlaquo (378) sind entschieden nicht die Kernbegriffe des Buches zum einen kommen eher die Formen raquoun-sinniglaquo oder raquoes ist ein Unsinnlaquo vor nicht das Substantiv zum anderen sind viel eher raquoKlar-heitlaquo und raquoklarlaquo die zentralen Ausdruumlcke Carnap wird als derjenige hingestellt der nichts verstanden habe aber Wittgenstein hat gerade Carnap 1932 des Plagiats bezichtigt und Conant verkehrt Wittgensteins Aumluszligerung er koumlnne sich raquonicht denkenlaquo daszlig Carnap den Sinn des Buches raquoso ganz und gar miszligverstandenlaquo haben koumlnnte ins gerade Gegenteil und zitiert sie mehrfach (378 Anm 9 Anm 99 als Motto in Two Conceptions wie Anm 54)

63 Relativ haumlufi g verwendet Conant auch ganz traditionelle Ordnungsinstrumente wie raquoArtlaquo und raquoGattunglaquo (vgl Conant Method (Anm 53) S 435 Anm 43 436 Anm 48)

114 Wolfgang Kienzler PhR

Ein Punkt hat Kritiker besonders irritiert naumlmlich Diamonds und Co-nants Bestehen darauf daszlig der Text streng und konsequent stuumlckweise (piecemeal) gelesen werden soll Dies scheint mit der radikalen Grundten-denz nicht recht vereinbar oder die Radikalitaumlt doch stark abzuschwaumlchen ndash es koumlnnte aber dazu fuumlhren daszlig man das Gewicht der bisweilen daran angeknuumlpften allgemeineren Betrachtungen als wesentlich geringer anse-hen koumlnnte als es derzeit in aller Regel geschieht Tatsaumlchlich ist der stuumlckweise Zugang sehr charakteristisch fuumlr Diamonds Methode und die allgemein gehaltenen radikalen Thesen wirken in ihren Texten eher wie Fremdkoumlrper Die raquoTheselaquo von der notwendig stuumlckweisen Interpretation reduziert sich daher im Kern auf die wichtige aber unspektakulaumlre me-thodische Beobachtung daszlig es ohne Zweifel richtig ist daszlig man die Ab-handlung sorgfaumlltig langsam und schrittweise entschluumlsseln muszlig gerade damit man die einheitliche und uumlbergreifende Konzeption (und daran ist nichts stuumlckweise und zusammengebastelt) genau richtig auffassen kann

6 Tatsaumlchlich sind die Vertreter der resoluten Lesart insgesamt weit erfolgreicher in der Kritik konkurrierender Ansaumltze als in der Interpreta-tion des Textes selbst Ein groszliger Teil der Debatte wird in der Gestalt von Auseinandersetzungen um das richtige Verstaumlndnis bzw den Maszligstab fuumlr eine angemessene Interpretation gefuumlhrt Dies ist in gewissem Sinne fol-gerichtig denn ein Textverstaumlndnis im gewoumlhnlichen Sinn des Wortes kann es von einem im strengen Sinn unsinnigen Text ja kaum geben Die Debatte behandelt deshalb vorrangig Fragen wie die welches denn der raquoZweck des Unsinnslaquo sei64 Dazu hat Michael Kremer Vorschlaumlge entwi-ckelt die die ethische Dimension des Buches herausarbeiten65 Er zieht Vergleiche zu Wittgensteins Beschaumlftigung mit ethischen und religioumlsen Fragen etwa dem Neuen Testament und dem Gedanken daszlig wir einse-hen muumlssen daszlig wir die raquoSuche nach einer Rechtfertigung unseres Lebens aufgeben muumlssenlaquo (S 56) weil der Versuch einer solchen Selbstrechtferti-gung ein Akt des Hochmutes waumlre Als Ergebnis glaubt er festhalten zu muumlssen daszlig das Buch ein raquoknow-howlaquo kein raquoWissen-daszliglaquo vermittelt raquoDieses Buch und seinen Autor zu verstehen bedeutet zu lernen wie man lebtlaquo66 (S 62) In aumlhnlicher Weise deutet Kremer die Frage nach der

64 Michael Kremer The Purpose of Tractarian Nonsense in Nous 35 2001 S 39ndash73 Darauf reagiert Sullivan mit detaillierter Einzelkritik On Trying to be Resolute A Response to Kremer on the Tractatus in European Journal of Philosophy 10 (2002) S 43ndash78 (vor allem S 66ndash68 mit Hinweisen auf die spaumlrlichen Textbelege)

65 Fragen der Ethik spielen uumlberhaupt in den Arbeiten von Diamond Conant und an-deren resoluten Lesern eine groszlige Rolle was aber hier nicht im einzelnen verfolgt werden kann

66 Schon Diamond Ethics (Anm 37) S 169 spricht als Ziel an daszlig wir raquokeine falschen Anforderungen an die Welt stellenlaquo sollen

115Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

raquoWahrheit des Solipsismuslaquo dahingehend daszlig es darum geht den eigenen Stolz zu uumlberwinden67 Selbst die Frage nach dem raquoHauptproblem der Phi-losophielaquo naumlmlich der Unterscheidung von Sagen und Zeigen versucht Kremer so zu beantworten daszlig Wittgenstein vor allem vor der unberech-tigten und zu vorschnellen Anwendung dieser Unterscheidung warnt (und er will zeigen daszlig insofern diese Unterscheidung als Hauptproblem ange-sprochen wird Wittgenstein dieses Problem raquoloumlsenlaquo will)68 All diese Vor-schlaumlge lenken jedoch systematisch von einer tatsaumlchlichen Lektuumlre von Wittgensteins Buch eher ab

Innerhalb der resoluten Stroumlmung ist Juliet Floyd als radikale raquoJakobine-rinlaquo bezeichnet worden weil sie schon fuumlr den fruumlhen Wittgenstein gene-rell die Existenz einer einheitlichen Auffassung von Logik Bedeutung Sagen und Zeigen aber auch eines eindeutigen Ideals der Klarheit leug-net69 Sie nennt Wittgensteins Vorgehen dialektisch bzw refl ektierend (S 188) so daszlig Wittgenstein nicht auf eine einzelne Stoszligrichtung hin festzulegen ist Dadurch wird zum einen erneut die Moumlglichkeit in Frage gestellt den Text uumlberhaupt einigermaszligen einheitlich zu interpretieren zum anderen eroumlffnen sich Moumlglichkeiten relativ frei auch wieder kon-struktivere (S 187) Zuumlge festzustellen Wenn Floyd als Grundgegensatz der Deutungen die Frage betont ob man Wittgenstein so versteht als wolle er raquodie Endlichkeit oder expressive Begrenztheit der Sprache beto-nenlaquo oder ob er die raquooffene Entwicklung und Vielfalt menschlicher Aus-drucksmoumlglichkeitenlaquo (S 177) herausarbeiten will dann steht auch dies nur in einem eher lockeren Bezug zum Text Genau an dieser Stelle setzen die wichtigsten Kritiker an

7 Als prominentester und heftigster Kritiker ist Peter Hacker hervor-getreten70 Hacker kritisiert und polemisiert aus einer Position der exten-

67 Michael Kremer To What Extent is Solipsism a Truth in Stocker Post-Analytic Tractatus S 59ndash84 Das ist eine sehr ungewoumlhnliche Lesart dieser sonst erkenntnistheore-tisch aufgefaszligten Passage

68 Michael Kremer The Cardinal Problem of Philosophy in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 143ndash176 Kremers Deutung beruht vor allem darauf daszlig Wittgenstein in seinem Brief an Russell (15 8 1919) diese Unterscheidung einmal als raquoHauptpunktlaquo und dann auch als raquoHauptproblemlaquo anspricht Kremer deutet dies so daszlig die Unterscheidung als zu loumlsendes raquoProblemlaquo aufgefaszligt wird

69 Juliet Floyd Wittgenstein and the Inexpressible in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 177ndash234 hier S 185 und 196

70 Hackers Schriften dienen zugleich umgekehrt Diamond und Conant als Illustrati-onen fuumlr die raquoStandardlesartlaquo und dafuumlr wie man Wittgenstein nicht interpretieren sollte so schon 1985 in Diamond Throwing Away the Ladder (Anm 30) S 194 als Beispiel fuumlr raquochickening outlaquo Hacker ist auch als einziger Kritiker im Sammelband New Wittgenstein vertreten Was he Trying to Whistle It in New Wittgenstein S 353ndash388 Sein Sammelband Connections and Controversies Oxford 2001 enthaumllt neben dem Nachdruck auf S 98ndash140 noch eine Fortsetzung When the Whistling Had to Stop S 141ndash169

116 Wolfgang Kienzler PhR

siven Kommentieung des spaumlten Wittgenstein und zugleich des philo-sophischen Common Sense heraus Er sieht in der Abhandlung raquoeine ver-bluumlffende Lehre auf verbluumlffende Weise dargebotenlaquo (S 353) ndash diese Charakterisierung entnimmt er jedoch nicht erst seinen neuen Gegnern sondern einer eher traditionellen realistisch-metaphysischen Deutung von David Pears Hacker versteht das Buch als einen gescheiterten Versuch wesentliche Wahrheiten die nicht gesagt werden koumlnnen dennoch zu zeigen Dies sieht er als gesichertes Faktum an dessen Vorhandensein er mit Energie gegen Versuche es zu leugnen untermauert Dazu zaumlhlt er zehn Beispiele solcher Versuche auf von logischen Beziehungen zwischen Saumltzen bis zur Harmonie zwischen Gedanke Sprache und Wirklichkeit (S 353ndash355) und stellt sich ganz auf die Seite schon der fruumlhen Kritiker besonders des Wiener Kreises die den Schluszlig des Buches raquoganz unglaub-wuumlrdig fandenlaquo (S 355)71 Er nennt den Ansatz von Diamond und Conant raquopostmodernlaquo offenbar darauf berechnet zu provozieren jedoch frei von ernsthaften Absichten nicht aber das Buch richtig einschaumltzen zu wollen (S 356)72

Hacker sieht das Buch als offensichtlich inkonsistent an und beruft sich dabei auf Wittgensteins spaumltere Meinung zur Bestaumltigung dieses Faktums (S 370) Von daher fallen alle Versuche das Buch insgesamt nachzuvoll-ziehen zwangslaumlufi g ebenfalls der Inkonsistenz anheim Als Maszligstab der Inkonsistenz dient ihm dabei die Unvereinbarkeit und Widerspruumlchlich-keit der im Buch vorgetragenen (raquogesagtenlaquo oder raquogezeigtenlaquo) Lehren Da-mit aber stellt sich Hacker explizit auf einen Standpunkt den Wittgenstein fuumlr sein eigenes Werk ablehnt das ja explizit raquokein Lehrbuchlaquo (Vorwort) sein will Hacker reduziert das Buch auf einen Lehrinhalt den er unzurei-chend fi ndet ndash der Gegensatz zu Diamond und Conant liegt bereits hier denn beide Seiten differieren vor allem darin was das Buch eigentlich

71 In dieser Hinsicht stimmt seine Einschaumltzung mit derjenigen Conants uumlberein der seinerseits Hacker in die Naumlhe Carnaps plaziert (Two Conceptions of Die Uumlberwindung S 14 ff) Ohne Hacker sofort zu nennen schreibt Conant Carnap (wie spaumlter Hacker) eine substantielle Auffassung von Unsinn zu

72 Hacker lehnt sowohl die Abhandlung als auch Freges philosophische Grundkonzepti-on ab und setzt sie als verfehlten Versuch in scharfen Kontrast zum Denken des spaumlten Wittgenstein Diese Haltung wird in seinem Kommentar zu den Philosophischen Untersu-chungen deutlich besonders eklatant jedoch in dem (gemeinsam mit Gordon Baker ver-faszligten) gegen Dummetts Fregedeutung geschriebenen Frege Logical Excavations (Oxford 1984) Das Auftreten der resoluten Lesart gibt Hacker daher nicht den Grund zu seiner Ablehnung des fruumlhen Wittgenstein sondern vor allem den Anlaszlig seine Gruumlnde zu buumln-deln und erneut vorzubringen (Der verstorbene Gordon Baker der zunaumlchst gemeinsam mit Hacker mehrere Baumlnde zum spaumlten Wittgenstein verfaszligte dann aber seinen Ansatz weiterentwickelte und dabei in einigen Punkten der resoluten Lesart nahekam sei hier noch erwaumlhnt vgl Baker Wittgensteinrsquos Method Neglected Aspects Oxford 2004)

117Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

leisten will Hacker sieht einen eklatanten Gegensatz zwischen Wittgen-steins Erklaumlrung nichts lehren zu wollen und seinem tatsaumlchlichen Vor-gehen seine Gegner versuchen gerade diese Aumluszligerungen Wittgensteins zu verstehen und ihnen entsprechend den Text so zu lesen daszlig er keine raquoLehrenlaquo enthaumllt sondern auf andere Art und Weise arbeitet

Hacker versucht entsprechend auch nicht Diamond und Conant ge-recht zu werden sondern listet vor allem eine Reihe von Kritikpunkten auf Zum einen weist er auf eine gewisse hermeneutische Willkuumlr hin mit der nur relativ wenige insgesamt unzusammenhaumlngende Partien herange-zogen werden wobei einige Passagen doch wieder als ganz gewoumlhnlich und sinnvoll gelesen werden ohne daszlig eine klare Abgrenzung nach Kri-terien gegeben wuumlrde Die haumlufi g verwendete Rede vom raquoRahmenlaquo des Buches im Unterschied zum raquoHauptteillaquo bleibt ihm zufolge unklar abge-grenzt da zum Rahmen auch Bemerkungen wie 4112 aus der Mitte des Textes gezaumlhlt werden73 Im Zusammenhang damit weist er darauf hin daszlig zwischen den Arten von Unsinn doch ein Unterschied gemacht wer-de wenigstens nach der Wirkung auf den Leser74 Und schlieszliglich ver-sucht er nachzuweisen daszlig Wittgenstein selbst weder in seiner fruumlheren noch in seiner spaumlteren Zeit eine solche radikale Lesart seiner eigenen Ar-beit vorgetragen oder unterstuumltzt habe

Eine spezielle Streitfrage liegt darin ob es nach Wittgenstein raquoUumlbertre-tungen der logischen Syntaxlaquo geben koumlnne Diamond und Conant be-haupten nein Hacker versucht an Beispielen aufzuzeigen daszlig Wittgen-stein dies wiederholt anspricht (S 365ndash367)75 Der grundlegende Dissens betrifft hier die Frage ob Wittgenstein sich vorrangig um den Begriff und die Festlegung einer logischen Syntax als Einfuumlhrung sinnvoller Rede be-muumlht denn wenn es um die Festlegung und ggf die Erweiterung und Ver-aumlnderung von Sinn geht dann gibt es nichts was uumlbertreten oder verfehlt werden koumlnnte ndash oder aber ob Wittgenstein wie Hacker ihn liest jemand ist der vor allem schon bestehende syntaktische Systeme betrachtet und dabei die Moumlglichkeiten behandelt sich gegenuumlber den Vorschriften be-

73 Conants Auskunft daszlig nicht der Ort im Text sondern die Funktion der Bemerkung daruumlber entscheide ob es zu Rahmen oder Hauptteil gehoumlre vermag als Gegenargument nicht wirklich zu uumlberzeugen

74 Dies leugnen Conant und Diamond keineswegs nur kommt es ihnen gerade auf den Unterschied zwischen logischen und anderen Einteilungsgruumlnden an

75 Dieser Punkt ist auch deswegen zentral weil fuumlr Hacker Unsinn genau dadurch ent-steht daszlig man die logische Syntax verletzt (Was he Trying S 367) waumlhrend fuumlr Conant und Diamond Unsinn dann vorliegt wenn wir mit einer Zeichenreihe schlicht nichts anfangen koumlnnen also kein Symbol darin erkennen Dieser Frage widmet Hacker den Aufsatz Wittgenstein Carnap and the New American Wittgensteinians in Philosophical Quar-terly 53 (2003) S 1ndash23 und Diamond die Entgegnung Logical Syntax in Wittgensteinrsquos Tractatus in Philosophical Quartely 55 (2005) S 78ndash88

118 Wolfgang Kienzler PhR

stimmter Systeme abweichend zu verhalten und ihre Regeln zu verletzen Die Frage ist ob Wittgenstein die Syntax mit einem bestehenden Spiel analog setzt oder nicht76 Fuumlr beide Aspekte gibt es Belege im Text77

Eine gewisse Uumlbereinstimmung zwischen Hacker und seinen Gegnern liegt ironischerweise darin daszlig keine der beiden Seiten eine durchge-hende Interpretation der Abhandlung anstrebt Hacker haumllt dies aufgrund der Inkonsistenz fuumlr uninteressant (wenn auch theoretisch moumlglich) Dia-mond ist vorrangig an Einzelfragen und am methodischen Standard des spaumlten Wittgenstein interessiert (wozu sie in der Abhandlung letztlich doch nur eine Vorstufe fi ndet) und Conant ist hauptsaumlchlich damit beschaumlftigt vorgaumlngige Kriterien fuumlr eine uumlberzeugende Lektuumlre zu entwickeln78

Als zentrale unbeantwortete Frage bleibt daruumlber hinaus das Problem bestehen wie man Wittgensteins Sprache und die Art seiner Behaup-tungen im Text konsequent aufzufassen hat denn hier weist Hacker auf deutliche Inkonsistenzen der resoluten Leser hin Zum einen wird von raquobloszligem Unsinnlaquo gesprochen dann wieder werden Passagen so gelesen wie gewoumlhnliche behauptende Prosa zum einen ist von Ironie die Rede dann wieder scheint alles ganz woumlrtlich aufzufassen zu sein79

8 Marie McGinn hat den bisher ehrgeizigsten Versuch unternommen die Staumlrken beider konkurrierender Ansaumltze zu verbinden und die jewei-

76 Vgl Diamond (wie die vorige Anm) S 86 Hacker vertritt hier einen eher kantischen Ansatz der die Grenzen der Vernunft bereits abgesteckt vorfi ndet (ein fuumlr Hacker wichtiges Buch ist P Strawsons Kantdeutung in The Bounds of Sense) Diamond und Conant sehen Wittgenstein als radikaleren Denker nach dem diese Grenzen immer wieder neu bestimmt werden muumlssen bzw nach dem es genau genommen keine Grenzen gibt da das Entschei-dende die Moumlglichkeit neuer Begriffsbildungen ist ohne daszlig man sich an irgendeiner Vorgabe (oder Grenze) orientieren kann die man entweder trifft oder verfehlt

77 Zum einen schreibt Wittgenstein raquoWir koumlnnen einem Zeichen nicht den unrechten Sinn gebenlaquo (54733) also bei der Bedeutungsfestsetzung nichts verfehlen zum anderen erklaumlrt er schlicht Saumltze wie raquo1 ist eine Zahllaquo (41272) die sich auf unsere bestehende Spra-che beziehen fuumlr unsinnig weil darin das Wort raquoZahllaquo als gewoumlhnliches Begriffswort statt als raquoformaler Begrifflaquo und also falsch verwendet wird Daszlig 1 eine Zahl ist ist schon da-durch klar daszlig wir das Zahlzeichen 1 verwenden und gerade deshalb koumlnnen wir dies nicht noch zusaumltzlich behaupten Es ist allerdings richtig daszlig Wittgenstein im letzteren Fall strenggenommen nicht von der raquoVerletzung der logischen Syntaxlaquo spricht sondern das Gebilde einfach raquounsinniglaquo nennt da fuumlr solche Faumllle gar keine logische Syntax im exakten Sinn verfuumlgbar ist Die gesamte Abhandlung ist in dieser Hinsicht nirgends der Versuch eine vorliegende Syntax zu treffen aber auch nicht eine neue Syntax festzulegen sondern sie befaszligt sich vielmehr mit den Bedingungen der Moumlglichkeit von Syntax uumlberhaupt Insofern verfehlen sowohl Hacker auch Diamond und Conant diesen Kernpunkt des Buches

78 So etwa im Abschnitt What makes a Reading resolute in Mono-Wittgensteinianism S 42ndash47

79 Vgl dazu W Kienzler Die Sprache des Tractatus Klar oder deutlich Karl Kraus Witt-genstein und die Frage der Terminologie in F GoumlppelsriederJ Volbers (Ed) Philosophie als Lebensform Muumlnchen 2008 (im Erscheinen)

119Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

ligen Schwaumlchen zu vermeiden80 Sie will Wittgenstein keine metaphy-sischen Lehren zuschreiben81 aber doch sicherstellen daszlig wir aus dem Buch etwas Konstruktives lernen koumlnnen Dazu nimmt sie den Begriff der Klaumlrung als Orientierungspunkt Die Aufgabe des Buches ist es demnach die Logik der Sprache aufzuklaumlren Wenn dies aber ohne die Verwendung positiver Lehren geschehen soll muszlig es indirekt geschehen naumlmlich da-durch daszlig die Sprache sich indirekt selbst klaumlrt das heiszligt daszlig eine solche Klaumlrung nicht auf etwas auszligerhalb der Sprache Bezug nimmt denn das waumlre Kennzeichen einer metaphysischen Auffassung McGinn schreibt et-was kryptisch raquoEs ist ein Werk in dem die Natur des Satzes die schon klar ist obwohl wir sie noch nicht klar sehen sich selbst fuumlr uns klaumlrtlaquo82

Sie betont jedoch sehr zu Recht daszlig Wittgenstein in seiner Abhandlung die eine groszlige Frage loumlsen wollte raquoDas Wesen des Satzes angeben heiszligt das Wesen aller Beschreibung angeben also das Wesen der Weltlaquo (54711)83

Damit aber waumlren alle (oder raquodielaquo) philosophischen Probleme geloumlst Ohne eine solche Voraussetzung die Wittgenstein offenbar als grundle-gende Einsicht erschien ist seine Handlungsweise gar nicht nachvollzieh-bar naumlmlich ein uumlberaus kurzes Buch zu verfassen in dem alle philoso-phischen Fragen im Prinzip jedenfalls beantwortet sind Dies ist nur moumlglich wenn diese Fragen so eng zusammenhaumlngen daszlig die Loumlsung der einen zugleich die Loumlsung der anderen bedeutet Dieser Grundgedanke strukturiert McGinns Buch und gibt ihm eine klare Linie84 Sie untersucht die besonders von Conant behandelten Fragen nach den Bedingungen einer angemessenen Lektuumlre fast gar nicht und antwortet insofern nicht durch Gegenargumente sondern durch die Tat durch einen Gang durch das Buch Es uumlberrascht dabei daszlig sie den Anfang zunaumlchst weglaumlszligt und nach Einleitungskapiteln zur Abgrenzung gegen Frege und Russell gleich mit dem Begriff des Bildes und dann des Satzes beginnt Tatsaumlchlich zeigt McGinn uumlberzeugend auf daszlig die Eingangspassagen am besten als Hin-fuumlhrungen zur raquoTheorie des Satzeslaquo aufgefaszligt werden und nicht als eigen-staumlndiges Theoriestuumlck einer vorangestellten Ontologie (sei diese nur scheinbar als Illusion aufgebaut oder ernst gemeint vgl etwa Diamond

80 Marie McGinn Elucidating the Tractatus81 Marie McGinn Between Metaphysics and Nonsense Elucidation in Wittgensteinrsquos Tracta-

tus In Philosophical Quarterly 49 (1999) S 491ndash513 hier S 107)82 Damit bleibt McGinn nahe an Aumluszligerungen von Diamond und Conant (etwa Method

S 424)83 Zit in McGinn Elucidating S 24084 Das erste Kapitel The Single Great Problem behandelt diese Frage zeigt aber bereits

daszlig sich McGinn nicht vollstaumlndig auf den Text einlaumlszligt sondern ihn von Anfang an stark aus der Perspektive der Philosophischen Untersuchungen her deutet (die im letzen Kapitel er-neut den Maszligstab der Betrachtung bilden)

120 Wolfgang Kienzler PhR

Ethics S 160) Vor dem Hintergrund der Auffassung des sinnvollen Satzes wird der Anfang dann relativ leicht verstaumlndlich In der Darstellung von McGinn wird die Abhandlung wieder zu einer Abhandlung einer nuumlch-ternen Darlegung uumlber die Voraussetzungen sinnvollen Sprechens und Ausdruumlckens uumlber die Unterschiede der Satzarten und die allgemeine Form des Satzes Allerdings ruumlcken so die Einzelheiten der Sprachlogik ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit und die Fragen nach der Natur der Philosophie aber auch die nach der Einheit des Buches treten ganz in den Hintergrund Das Buch enthaumllt kein Kapitel zum Philosophiebegriff des fruumlhen Wittgenstein und kaum Erlaumluterungen zur spezifi schen Form der Darstellung oder zur Strategie der Praumlsentation Einige Themen wie die Ethik Arithmetik oder die Naturgesetze werden ganz uumlbergangen dabei waumlre an diesen Beispielen die angestrebte Einheitlichkeit erst richtig aufzuzeigen gewesen In dieser Hinsicht erklaumlrt McGinn die Abhandlung in der Form die sie 1916 noch hatte bevor Wittgenstein die Schluszligpassa-gen einarbeitete und als sie noch staumlrker eine Abhandlung in raquophiloso-phischer Logiklaquo war85 Gegen Diamond und Conant stellt sie klar heraus daszlig das Ziel der Klaumlrung raquodurch Einsicht in das Funktionieren der Spra-chelaquo erreicht werden soll und nicht indirekt dadurch daszlig raquodie Versuche philosophische Saumltze zu bilden als Unsinn erkannt werdenlaquo (S 254 Anm 6) Die sehr nuumlchterne Art McGinns zeigt einen Wittgenstein der ganz unironisch seine logisch-philosophische Konzeption Schritt fuumlr Schritt entwickelt86

85 Vgl Brian McGuinness Wittgensteinrsquos 1916 Abhandlung in R HallerK Puhl (Hg) Wittgenstein and the Future of Philosophy Wien 2002 S 272ndash282 Die grundlegenden philologischen Arbeiten von McGuinness werden in der gegenwaumlrtigen Debatte leider wenig fruchtbar gemacht

86 Das stark gestiegene Interesse am fruumlhen Wittgenstein hat eine ganze Reihe von Monographien hervorgebracht die jedoch nur selten das gelassene exegetische Niveau McGinns erreichen sondern in der Regel mehr oder weniger exzentrische Deutungen in den Mittelpunkt stellen

M Ostrow Wittgenstein and the Liberating Word CambridgeMass 2002 (eine Zusam-menfassung in Reck From Frege to Wittgenstein) versucht eine an Floyd orientierte raquodialek-tische Interpretationlaquo die sich am Leitmotiv des raquoerloumlsenden Worteslaquo orientiert aber ins-gesamt zu vage bleibt zumal sich die Differenz zum spaumlteren Wittgenstein ganz aufzuloumlsen scheint und wichtige Passagen unberuumlcksichtigt bleiben

E Friedlander Signs of Sense Reading Wittgensteinrsquos Tractatus Cambridge Mass 2001 scheint das Raumltselhafte geradezu zu genieszligen und nennt als sein Ziel raquonicht das Raumltsel des Buches zu loumlsen sondern seinen raumltselhaften Charakter auf eine wahrhaft zum Denken herausfordernde Art aufzuzeigenlaquo (S XV) und will geradezu raquoseinen raumltselhaften Charak-ter rechtfertigenlaquo (16)

U Nordmann Wittgensteinrsquos Tractatus An Introduction Cambridge 2005 faszligt das Buch als ein Gedankenexperiment und eine groszlige Reductio ad Absurdum auf zu der er einige Praumlmissen ergaumlnzt Er deutet das Buch als im Konjunktiv geaumluszligert wodurch der Behaup-

121Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Ausblick

Die Arbeiten von Diamond und Conant haben zu einer neuen Welle des Interesses an Wittgensteins Fruumlhwerk gefuumlhrt und die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten vor allem aber auch das Potential seiner Abhandlung gelenkt Im Zentrum steht dabei die Natur der Philosophie als Erlaumlute-rung die selbst nicht in die Gestalt einer Lehre gebracht werden kann oder anders ausgedruumlckt der entscheidende Unterschied zwischen einer philosophischen und einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Untersu-chung

Gerade dadurch daszlig sie die Abhandlung stellenweise sehr nah an den spaumlten Wittgenstein heranruumlcken eroumlffnen Conant und Diamond Moumlg-lichkeiten die Souveraumlnitaumlt und Subtilitaumlt des Buches erst richtig zu wuumlr-digen Dies geschieht jedoch um den Preis daszlig einige Teile des Buches herausgegriffen andere dagegen kaum beruumlcksichtigt werden

Nicht hinreichend geklaumlrt scheint auch die Frage nach dem sprachlichen Grundton des Buches Diamond geht immer wieder von einem nahe an der Alltagssprache stehenden Redegestus aus (aumlhnlich wie der spaumlte Wittgen-stein) waumlhrend Conant aus der weiteren Perspektive ironische Zuumlge be-schreibt87 Gemeinsam ist den resoluten Lesern daszlig sie Wittgensteins Saumltze in der Abhandlung auf doppelte Weise auffassen Sie unterscheiden an vielen Stellen einen buchstaumlblichen naheliegenden Sinn der sich bei naumlherer Be-trachtung als inkohaumlrent erweist und der so zerfaumlllt88 Daher wird in ihrer

tungscharakter eingeklammert die Klaumlrungsfunktion jedoch trotzdem ermoumlglicht wird Er gewinnt so eine Kategorie von Saumltzen die raquounsinnig aber bedeutungsvolllaquo (176) sind

L Gunnarsson Wittgensteins Leiter Bodenheim 2002 greift einen Gedanken Conants auf daszlig wir naumlmlich den Hauptteil des Buches wegwerfen und den Rahmen behalten sollen (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 286) und entwickelt daraus die Fik-tion es waumlre tatsaumlchlich nur das Vorwort und der Schluszlig der Abhandlung erhalten ndash und will daraus den Gehalt des Buches ohne Verlust rekonstruieren Diese Veranschaulichung zeigt besonders klar auf wie verfehlt dieser Ansatz ist wenn man ihn auf die konkrete Interpretationspraxis bezieht

87 Die Parallele zwischen Wittgenstein und Kierkegaard scheint in zentralen Punkten gerade nicht zu bestehen denn Wittgenstein distanziert sich gerade nicht von seinem Buch sondern erklaumlrt seine Auffassungen fuumlr defi nitiv richtig und alternativlos ganz ent-gegen dem verwirrenden Spiel Kierkegaards mit unterschiedlichen Pseudonymen und Perspektiven Ein passenderer Vergleich waumlre etwa mit Hume moumlglich der am Ende seiner Untersuchung uumlber die Prinzipien der Moral (Abschnitt 9 Teil 1) seine Ergebnisse fuumlr derart einfach klar kohaumlrent und uumlberzeugend haumllt daszlig dem nichts hinzuzufuumlgen ist so daszlig er selbst geradezu in Versuchung kommen koumlnnte dogmatisch davon uumlberzeugt zu sein

88 So fuumlhrt Diamond (in Ethics wie Anm 37) folgende Beispiele dafuumlr an 1 das woruuml-ber man schweigen muszlig (aber das kann es doch nicht geben weil es kein raquodaruumlberlaquo ist S 149) 2 die Saumltze der Abhandlung die zu verstehen seien (oder doch raquoer selbstlaquo wie Witt-genstein dann uumlberraschenderweise sagt S 149) 3 die Anfangssaumltze uumlber die Welt (aber daruumlber kann es doch keine Saumltze geben S 160) 4 der Schein daszlig ab 64 Saumltze uumlber Ethik

122 Wolfgang Kienzler PhR

Perspektive das Buch durchgehend doppelboumldig und loumlst sich schlieszliglich in Nichts auf wobei in der Aufl oumlsung gerade die Absicht des Buches bestehen soll89 Demgegenuumlber kann festgehalten werden daszlig Wittgenstein nir-gends von Ironie spricht wohl aber davon daszlig er das Wesentliche in Kuumlr-ze klar ausdruumlcken will Eine wichtige Differenz innerhalb der resoluten Lesart liegt weiter darin welche Wichtigkeit man den eher technischen Aspekten der Abhandlung zuschreibt Ricketts und Goldfarb sehen viele Zuumlge des Buches von technischen Erwaumlgungen motiviert und gepraumlgt waumlhrend Diamond und Conant den Sinn der symbolischen Notation vor allem darin sehen wesentliche Unterschiede klarzustellen90

Das Motto erklaumlrt daszlig man raquoalles was man weiszliglaquo schlieszliglich raquoin drei Worten sagenlaquo kann Viele der scheinbaren Widerspruumlche und Doppelt-heiten die resolute Leser beobachten koumlnnten sich von daher moumlglicher-weise der Absicht verdanken im Buch logisch praumlzise Saumltze zu erwarten eine Absicht die bestaumlndig getaumluscht wird91 Wuumlrde man die Saumltze eher als Instrumente verstehen die allmaumlhlich entsprechend den Stufen der Lei-ter zur Klarheit anleiten ohne daszlig der Leser in die selbstrefl exive Geste verwickelt werden soll dann koumlnnte eine einfachere und klarere Lesart entstehen die auch mehr Sinn fuumlr den Zusammenhang und die spezi-fi schen Darstellungsmittel des Buches entwickeln wuumlrde ndash wenn denn eine solche zusammenhaumlngende Erlaumluterung als gemeinsames Ziel fest-staumlnde92 Auch Fragen der Textkritik die derzeit nur sehr sporadisch ge-streift werden koumlnnten dann eine groumlszligere Rolle spielen

Wolfgang Kienzler (ChemnitzJena)

vorkommen (die es doch gar nicht geben kann S 164) 5 der Schein daszlig im Buch Saumltze raquouumlber Logiklaquo vorkommen (die es ebenfalls nicht geben kann S 164) In allen Beispielen kann man die Situation natuumlrlicher so darstellen daszlig man die Saumltze der Abhandlung von vornherein zwar woumlrtlich aber nicht buchstaumlblich nimmt sondern sich von ihren zur Klarheit die sich erst allmaumlhlich einstellen kann fuumlhren laumlszligt

89 Diese Doppeltheit der Lesart ist den resoluten Lesern und ihren Kritikern gemein-sam sie ist aber keineswegs selbstverstaumlndlich und widerspricht dem Grundgedanken der Klarheit

90 Dies ist das Thema von Diamond What Does a Concept-Script Do in The Realistic Spirit S 115ndash144 Sie sieht darin ein raquoWerkzeug geistiger Befreiunglaquo (143) deutet damit aber tendenziell wieder einen Gedanken der Abhandlung in Frege hinein der zunaumlchst die Umgangssprache ganz zugunsten der exakteren Begriffsschrift verbannen wollte

91 In weiten Teilen der resoluten Beitraumlge kann man auch eine gewisse Vergegenstaumlnd-lichung mancher von Wittgenstein verwendeter Woumlrter wahrnehmen die dazu fuumlhren daszlig die Rede von raquoUnsinnlaquo raquoErlaumluterunglaquo u a zunaumlchst gegenstaumlndlich miszligverstanden und anschlieszligend als Gegenstaumlndlichkeit leugnend gedeutet wird Eine Beachtung von Wittgensteins ungezwungenem und unterminologischem Sprachgebrauch koumlnnte viele dieser Schleifen uumlberfl uumlssig machen

92 Das Buch von McGinn kann dazu als erster wichtiger konstruktiver Schritt angese-hen werden auch wenn es insgesamt etwas zu additiv verfaumlhrt

Page 20: Neue Lektüren von Wittgensteins Logisch-Philosophischer ... · 10 E. Stenius : Wittgensteins Traktat [1960], Frankfurt/M. 1969, nennt den Schluß »keine echte Verdammung [. . .]

114 Wolfgang Kienzler PhR

Ein Punkt hat Kritiker besonders irritiert naumlmlich Diamonds und Co-nants Bestehen darauf daszlig der Text streng und konsequent stuumlckweise (piecemeal) gelesen werden soll Dies scheint mit der radikalen Grundten-denz nicht recht vereinbar oder die Radikalitaumlt doch stark abzuschwaumlchen ndash es koumlnnte aber dazu fuumlhren daszlig man das Gewicht der bisweilen daran angeknuumlpften allgemeineren Betrachtungen als wesentlich geringer anse-hen koumlnnte als es derzeit in aller Regel geschieht Tatsaumlchlich ist der stuumlckweise Zugang sehr charakteristisch fuumlr Diamonds Methode und die allgemein gehaltenen radikalen Thesen wirken in ihren Texten eher wie Fremdkoumlrper Die raquoTheselaquo von der notwendig stuumlckweisen Interpretation reduziert sich daher im Kern auf die wichtige aber unspektakulaumlre me-thodische Beobachtung daszlig es ohne Zweifel richtig ist daszlig man die Ab-handlung sorgfaumlltig langsam und schrittweise entschluumlsseln muszlig gerade damit man die einheitliche und uumlbergreifende Konzeption (und daran ist nichts stuumlckweise und zusammengebastelt) genau richtig auffassen kann

6 Tatsaumlchlich sind die Vertreter der resoluten Lesart insgesamt weit erfolgreicher in der Kritik konkurrierender Ansaumltze als in der Interpreta-tion des Textes selbst Ein groszliger Teil der Debatte wird in der Gestalt von Auseinandersetzungen um das richtige Verstaumlndnis bzw den Maszligstab fuumlr eine angemessene Interpretation gefuumlhrt Dies ist in gewissem Sinne fol-gerichtig denn ein Textverstaumlndnis im gewoumlhnlichen Sinn des Wortes kann es von einem im strengen Sinn unsinnigen Text ja kaum geben Die Debatte behandelt deshalb vorrangig Fragen wie die welches denn der raquoZweck des Unsinnslaquo sei64 Dazu hat Michael Kremer Vorschlaumlge entwi-ckelt die die ethische Dimension des Buches herausarbeiten65 Er zieht Vergleiche zu Wittgensteins Beschaumlftigung mit ethischen und religioumlsen Fragen etwa dem Neuen Testament und dem Gedanken daszlig wir einse-hen muumlssen daszlig wir die raquoSuche nach einer Rechtfertigung unseres Lebens aufgeben muumlssenlaquo (S 56) weil der Versuch einer solchen Selbstrechtferti-gung ein Akt des Hochmutes waumlre Als Ergebnis glaubt er festhalten zu muumlssen daszlig das Buch ein raquoknow-howlaquo kein raquoWissen-daszliglaquo vermittelt raquoDieses Buch und seinen Autor zu verstehen bedeutet zu lernen wie man lebtlaquo66 (S 62) In aumlhnlicher Weise deutet Kremer die Frage nach der

64 Michael Kremer The Purpose of Tractarian Nonsense in Nous 35 2001 S 39ndash73 Darauf reagiert Sullivan mit detaillierter Einzelkritik On Trying to be Resolute A Response to Kremer on the Tractatus in European Journal of Philosophy 10 (2002) S 43ndash78 (vor allem S 66ndash68 mit Hinweisen auf die spaumlrlichen Textbelege)

65 Fragen der Ethik spielen uumlberhaupt in den Arbeiten von Diamond Conant und an-deren resoluten Lesern eine groszlige Rolle was aber hier nicht im einzelnen verfolgt werden kann

66 Schon Diamond Ethics (Anm 37) S 169 spricht als Ziel an daszlig wir raquokeine falschen Anforderungen an die Welt stellenlaquo sollen

115Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

raquoWahrheit des Solipsismuslaquo dahingehend daszlig es darum geht den eigenen Stolz zu uumlberwinden67 Selbst die Frage nach dem raquoHauptproblem der Phi-losophielaquo naumlmlich der Unterscheidung von Sagen und Zeigen versucht Kremer so zu beantworten daszlig Wittgenstein vor allem vor der unberech-tigten und zu vorschnellen Anwendung dieser Unterscheidung warnt (und er will zeigen daszlig insofern diese Unterscheidung als Hauptproblem ange-sprochen wird Wittgenstein dieses Problem raquoloumlsenlaquo will)68 All diese Vor-schlaumlge lenken jedoch systematisch von einer tatsaumlchlichen Lektuumlre von Wittgensteins Buch eher ab

Innerhalb der resoluten Stroumlmung ist Juliet Floyd als radikale raquoJakobine-rinlaquo bezeichnet worden weil sie schon fuumlr den fruumlhen Wittgenstein gene-rell die Existenz einer einheitlichen Auffassung von Logik Bedeutung Sagen und Zeigen aber auch eines eindeutigen Ideals der Klarheit leug-net69 Sie nennt Wittgensteins Vorgehen dialektisch bzw refl ektierend (S 188) so daszlig Wittgenstein nicht auf eine einzelne Stoszligrichtung hin festzulegen ist Dadurch wird zum einen erneut die Moumlglichkeit in Frage gestellt den Text uumlberhaupt einigermaszligen einheitlich zu interpretieren zum anderen eroumlffnen sich Moumlglichkeiten relativ frei auch wieder kon-struktivere (S 187) Zuumlge festzustellen Wenn Floyd als Grundgegensatz der Deutungen die Frage betont ob man Wittgenstein so versteht als wolle er raquodie Endlichkeit oder expressive Begrenztheit der Sprache beto-nenlaquo oder ob er die raquooffene Entwicklung und Vielfalt menschlicher Aus-drucksmoumlglichkeitenlaquo (S 177) herausarbeiten will dann steht auch dies nur in einem eher lockeren Bezug zum Text Genau an dieser Stelle setzen die wichtigsten Kritiker an

7 Als prominentester und heftigster Kritiker ist Peter Hacker hervor-getreten70 Hacker kritisiert und polemisiert aus einer Position der exten-

67 Michael Kremer To What Extent is Solipsism a Truth in Stocker Post-Analytic Tractatus S 59ndash84 Das ist eine sehr ungewoumlhnliche Lesart dieser sonst erkenntnistheore-tisch aufgefaszligten Passage

68 Michael Kremer The Cardinal Problem of Philosophy in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 143ndash176 Kremers Deutung beruht vor allem darauf daszlig Wittgenstein in seinem Brief an Russell (15 8 1919) diese Unterscheidung einmal als raquoHauptpunktlaquo und dann auch als raquoHauptproblemlaquo anspricht Kremer deutet dies so daszlig die Unterscheidung als zu loumlsendes raquoProblemlaquo aufgefaszligt wird

69 Juliet Floyd Wittgenstein and the Inexpressible in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 177ndash234 hier S 185 und 196

70 Hackers Schriften dienen zugleich umgekehrt Diamond und Conant als Illustrati-onen fuumlr die raquoStandardlesartlaquo und dafuumlr wie man Wittgenstein nicht interpretieren sollte so schon 1985 in Diamond Throwing Away the Ladder (Anm 30) S 194 als Beispiel fuumlr raquochickening outlaquo Hacker ist auch als einziger Kritiker im Sammelband New Wittgenstein vertreten Was he Trying to Whistle It in New Wittgenstein S 353ndash388 Sein Sammelband Connections and Controversies Oxford 2001 enthaumllt neben dem Nachdruck auf S 98ndash140 noch eine Fortsetzung When the Whistling Had to Stop S 141ndash169

116 Wolfgang Kienzler PhR

siven Kommentieung des spaumlten Wittgenstein und zugleich des philo-sophischen Common Sense heraus Er sieht in der Abhandlung raquoeine ver-bluumlffende Lehre auf verbluumlffende Weise dargebotenlaquo (S 353) ndash diese Charakterisierung entnimmt er jedoch nicht erst seinen neuen Gegnern sondern einer eher traditionellen realistisch-metaphysischen Deutung von David Pears Hacker versteht das Buch als einen gescheiterten Versuch wesentliche Wahrheiten die nicht gesagt werden koumlnnen dennoch zu zeigen Dies sieht er als gesichertes Faktum an dessen Vorhandensein er mit Energie gegen Versuche es zu leugnen untermauert Dazu zaumlhlt er zehn Beispiele solcher Versuche auf von logischen Beziehungen zwischen Saumltzen bis zur Harmonie zwischen Gedanke Sprache und Wirklichkeit (S 353ndash355) und stellt sich ganz auf die Seite schon der fruumlhen Kritiker besonders des Wiener Kreises die den Schluszlig des Buches raquoganz unglaub-wuumlrdig fandenlaquo (S 355)71 Er nennt den Ansatz von Diamond und Conant raquopostmodernlaquo offenbar darauf berechnet zu provozieren jedoch frei von ernsthaften Absichten nicht aber das Buch richtig einschaumltzen zu wollen (S 356)72

Hacker sieht das Buch als offensichtlich inkonsistent an und beruft sich dabei auf Wittgensteins spaumltere Meinung zur Bestaumltigung dieses Faktums (S 370) Von daher fallen alle Versuche das Buch insgesamt nachzuvoll-ziehen zwangslaumlufi g ebenfalls der Inkonsistenz anheim Als Maszligstab der Inkonsistenz dient ihm dabei die Unvereinbarkeit und Widerspruumlchlich-keit der im Buch vorgetragenen (raquogesagtenlaquo oder raquogezeigtenlaquo) Lehren Da-mit aber stellt sich Hacker explizit auf einen Standpunkt den Wittgenstein fuumlr sein eigenes Werk ablehnt das ja explizit raquokein Lehrbuchlaquo (Vorwort) sein will Hacker reduziert das Buch auf einen Lehrinhalt den er unzurei-chend fi ndet ndash der Gegensatz zu Diamond und Conant liegt bereits hier denn beide Seiten differieren vor allem darin was das Buch eigentlich

71 In dieser Hinsicht stimmt seine Einschaumltzung mit derjenigen Conants uumlberein der seinerseits Hacker in die Naumlhe Carnaps plaziert (Two Conceptions of Die Uumlberwindung S 14 ff) Ohne Hacker sofort zu nennen schreibt Conant Carnap (wie spaumlter Hacker) eine substantielle Auffassung von Unsinn zu

72 Hacker lehnt sowohl die Abhandlung als auch Freges philosophische Grundkonzepti-on ab und setzt sie als verfehlten Versuch in scharfen Kontrast zum Denken des spaumlten Wittgenstein Diese Haltung wird in seinem Kommentar zu den Philosophischen Untersu-chungen deutlich besonders eklatant jedoch in dem (gemeinsam mit Gordon Baker ver-faszligten) gegen Dummetts Fregedeutung geschriebenen Frege Logical Excavations (Oxford 1984) Das Auftreten der resoluten Lesart gibt Hacker daher nicht den Grund zu seiner Ablehnung des fruumlhen Wittgenstein sondern vor allem den Anlaszlig seine Gruumlnde zu buumln-deln und erneut vorzubringen (Der verstorbene Gordon Baker der zunaumlchst gemeinsam mit Hacker mehrere Baumlnde zum spaumlten Wittgenstein verfaszligte dann aber seinen Ansatz weiterentwickelte und dabei in einigen Punkten der resoluten Lesart nahekam sei hier noch erwaumlhnt vgl Baker Wittgensteinrsquos Method Neglected Aspects Oxford 2004)

117Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

leisten will Hacker sieht einen eklatanten Gegensatz zwischen Wittgen-steins Erklaumlrung nichts lehren zu wollen und seinem tatsaumlchlichen Vor-gehen seine Gegner versuchen gerade diese Aumluszligerungen Wittgensteins zu verstehen und ihnen entsprechend den Text so zu lesen daszlig er keine raquoLehrenlaquo enthaumllt sondern auf andere Art und Weise arbeitet

Hacker versucht entsprechend auch nicht Diamond und Conant ge-recht zu werden sondern listet vor allem eine Reihe von Kritikpunkten auf Zum einen weist er auf eine gewisse hermeneutische Willkuumlr hin mit der nur relativ wenige insgesamt unzusammenhaumlngende Partien herange-zogen werden wobei einige Passagen doch wieder als ganz gewoumlhnlich und sinnvoll gelesen werden ohne daszlig eine klare Abgrenzung nach Kri-terien gegeben wuumlrde Die haumlufi g verwendete Rede vom raquoRahmenlaquo des Buches im Unterschied zum raquoHauptteillaquo bleibt ihm zufolge unklar abge-grenzt da zum Rahmen auch Bemerkungen wie 4112 aus der Mitte des Textes gezaumlhlt werden73 Im Zusammenhang damit weist er darauf hin daszlig zwischen den Arten von Unsinn doch ein Unterschied gemacht wer-de wenigstens nach der Wirkung auf den Leser74 Und schlieszliglich ver-sucht er nachzuweisen daszlig Wittgenstein selbst weder in seiner fruumlheren noch in seiner spaumlteren Zeit eine solche radikale Lesart seiner eigenen Ar-beit vorgetragen oder unterstuumltzt habe

Eine spezielle Streitfrage liegt darin ob es nach Wittgenstein raquoUumlbertre-tungen der logischen Syntaxlaquo geben koumlnne Diamond und Conant be-haupten nein Hacker versucht an Beispielen aufzuzeigen daszlig Wittgen-stein dies wiederholt anspricht (S 365ndash367)75 Der grundlegende Dissens betrifft hier die Frage ob Wittgenstein sich vorrangig um den Begriff und die Festlegung einer logischen Syntax als Einfuumlhrung sinnvoller Rede be-muumlht denn wenn es um die Festlegung und ggf die Erweiterung und Ver-aumlnderung von Sinn geht dann gibt es nichts was uumlbertreten oder verfehlt werden koumlnnte ndash oder aber ob Wittgenstein wie Hacker ihn liest jemand ist der vor allem schon bestehende syntaktische Systeme betrachtet und dabei die Moumlglichkeiten behandelt sich gegenuumlber den Vorschriften be-

73 Conants Auskunft daszlig nicht der Ort im Text sondern die Funktion der Bemerkung daruumlber entscheide ob es zu Rahmen oder Hauptteil gehoumlre vermag als Gegenargument nicht wirklich zu uumlberzeugen

74 Dies leugnen Conant und Diamond keineswegs nur kommt es ihnen gerade auf den Unterschied zwischen logischen und anderen Einteilungsgruumlnden an

75 Dieser Punkt ist auch deswegen zentral weil fuumlr Hacker Unsinn genau dadurch ent-steht daszlig man die logische Syntax verletzt (Was he Trying S 367) waumlhrend fuumlr Conant und Diamond Unsinn dann vorliegt wenn wir mit einer Zeichenreihe schlicht nichts anfangen koumlnnen also kein Symbol darin erkennen Dieser Frage widmet Hacker den Aufsatz Wittgenstein Carnap and the New American Wittgensteinians in Philosophical Quar-terly 53 (2003) S 1ndash23 und Diamond die Entgegnung Logical Syntax in Wittgensteinrsquos Tractatus in Philosophical Quartely 55 (2005) S 78ndash88

118 Wolfgang Kienzler PhR

stimmter Systeme abweichend zu verhalten und ihre Regeln zu verletzen Die Frage ist ob Wittgenstein die Syntax mit einem bestehenden Spiel analog setzt oder nicht76 Fuumlr beide Aspekte gibt es Belege im Text77

Eine gewisse Uumlbereinstimmung zwischen Hacker und seinen Gegnern liegt ironischerweise darin daszlig keine der beiden Seiten eine durchge-hende Interpretation der Abhandlung anstrebt Hacker haumllt dies aufgrund der Inkonsistenz fuumlr uninteressant (wenn auch theoretisch moumlglich) Dia-mond ist vorrangig an Einzelfragen und am methodischen Standard des spaumlten Wittgenstein interessiert (wozu sie in der Abhandlung letztlich doch nur eine Vorstufe fi ndet) und Conant ist hauptsaumlchlich damit beschaumlftigt vorgaumlngige Kriterien fuumlr eine uumlberzeugende Lektuumlre zu entwickeln78

Als zentrale unbeantwortete Frage bleibt daruumlber hinaus das Problem bestehen wie man Wittgensteins Sprache und die Art seiner Behaup-tungen im Text konsequent aufzufassen hat denn hier weist Hacker auf deutliche Inkonsistenzen der resoluten Leser hin Zum einen wird von raquobloszligem Unsinnlaquo gesprochen dann wieder werden Passagen so gelesen wie gewoumlhnliche behauptende Prosa zum einen ist von Ironie die Rede dann wieder scheint alles ganz woumlrtlich aufzufassen zu sein79

8 Marie McGinn hat den bisher ehrgeizigsten Versuch unternommen die Staumlrken beider konkurrierender Ansaumltze zu verbinden und die jewei-

76 Vgl Diamond (wie die vorige Anm) S 86 Hacker vertritt hier einen eher kantischen Ansatz der die Grenzen der Vernunft bereits abgesteckt vorfi ndet (ein fuumlr Hacker wichtiges Buch ist P Strawsons Kantdeutung in The Bounds of Sense) Diamond und Conant sehen Wittgenstein als radikaleren Denker nach dem diese Grenzen immer wieder neu bestimmt werden muumlssen bzw nach dem es genau genommen keine Grenzen gibt da das Entschei-dende die Moumlglichkeit neuer Begriffsbildungen ist ohne daszlig man sich an irgendeiner Vorgabe (oder Grenze) orientieren kann die man entweder trifft oder verfehlt

77 Zum einen schreibt Wittgenstein raquoWir koumlnnen einem Zeichen nicht den unrechten Sinn gebenlaquo (54733) also bei der Bedeutungsfestsetzung nichts verfehlen zum anderen erklaumlrt er schlicht Saumltze wie raquo1 ist eine Zahllaquo (41272) die sich auf unsere bestehende Spra-che beziehen fuumlr unsinnig weil darin das Wort raquoZahllaquo als gewoumlhnliches Begriffswort statt als raquoformaler Begrifflaquo und also falsch verwendet wird Daszlig 1 eine Zahl ist ist schon da-durch klar daszlig wir das Zahlzeichen 1 verwenden und gerade deshalb koumlnnen wir dies nicht noch zusaumltzlich behaupten Es ist allerdings richtig daszlig Wittgenstein im letzteren Fall strenggenommen nicht von der raquoVerletzung der logischen Syntaxlaquo spricht sondern das Gebilde einfach raquounsinniglaquo nennt da fuumlr solche Faumllle gar keine logische Syntax im exakten Sinn verfuumlgbar ist Die gesamte Abhandlung ist in dieser Hinsicht nirgends der Versuch eine vorliegende Syntax zu treffen aber auch nicht eine neue Syntax festzulegen sondern sie befaszligt sich vielmehr mit den Bedingungen der Moumlglichkeit von Syntax uumlberhaupt Insofern verfehlen sowohl Hacker auch Diamond und Conant diesen Kernpunkt des Buches

78 So etwa im Abschnitt What makes a Reading resolute in Mono-Wittgensteinianism S 42ndash47

79 Vgl dazu W Kienzler Die Sprache des Tractatus Klar oder deutlich Karl Kraus Witt-genstein und die Frage der Terminologie in F GoumlppelsriederJ Volbers (Ed) Philosophie als Lebensform Muumlnchen 2008 (im Erscheinen)

119Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

ligen Schwaumlchen zu vermeiden80 Sie will Wittgenstein keine metaphy-sischen Lehren zuschreiben81 aber doch sicherstellen daszlig wir aus dem Buch etwas Konstruktives lernen koumlnnen Dazu nimmt sie den Begriff der Klaumlrung als Orientierungspunkt Die Aufgabe des Buches ist es demnach die Logik der Sprache aufzuklaumlren Wenn dies aber ohne die Verwendung positiver Lehren geschehen soll muszlig es indirekt geschehen naumlmlich da-durch daszlig die Sprache sich indirekt selbst klaumlrt das heiszligt daszlig eine solche Klaumlrung nicht auf etwas auszligerhalb der Sprache Bezug nimmt denn das waumlre Kennzeichen einer metaphysischen Auffassung McGinn schreibt et-was kryptisch raquoEs ist ein Werk in dem die Natur des Satzes die schon klar ist obwohl wir sie noch nicht klar sehen sich selbst fuumlr uns klaumlrtlaquo82

Sie betont jedoch sehr zu Recht daszlig Wittgenstein in seiner Abhandlung die eine groszlige Frage loumlsen wollte raquoDas Wesen des Satzes angeben heiszligt das Wesen aller Beschreibung angeben also das Wesen der Weltlaquo (54711)83

Damit aber waumlren alle (oder raquodielaquo) philosophischen Probleme geloumlst Ohne eine solche Voraussetzung die Wittgenstein offenbar als grundle-gende Einsicht erschien ist seine Handlungsweise gar nicht nachvollzieh-bar naumlmlich ein uumlberaus kurzes Buch zu verfassen in dem alle philoso-phischen Fragen im Prinzip jedenfalls beantwortet sind Dies ist nur moumlglich wenn diese Fragen so eng zusammenhaumlngen daszlig die Loumlsung der einen zugleich die Loumlsung der anderen bedeutet Dieser Grundgedanke strukturiert McGinns Buch und gibt ihm eine klare Linie84 Sie untersucht die besonders von Conant behandelten Fragen nach den Bedingungen einer angemessenen Lektuumlre fast gar nicht und antwortet insofern nicht durch Gegenargumente sondern durch die Tat durch einen Gang durch das Buch Es uumlberrascht dabei daszlig sie den Anfang zunaumlchst weglaumlszligt und nach Einleitungskapiteln zur Abgrenzung gegen Frege und Russell gleich mit dem Begriff des Bildes und dann des Satzes beginnt Tatsaumlchlich zeigt McGinn uumlberzeugend auf daszlig die Eingangspassagen am besten als Hin-fuumlhrungen zur raquoTheorie des Satzeslaquo aufgefaszligt werden und nicht als eigen-staumlndiges Theoriestuumlck einer vorangestellten Ontologie (sei diese nur scheinbar als Illusion aufgebaut oder ernst gemeint vgl etwa Diamond

80 Marie McGinn Elucidating the Tractatus81 Marie McGinn Between Metaphysics and Nonsense Elucidation in Wittgensteinrsquos Tracta-

tus In Philosophical Quarterly 49 (1999) S 491ndash513 hier S 107)82 Damit bleibt McGinn nahe an Aumluszligerungen von Diamond und Conant (etwa Method

S 424)83 Zit in McGinn Elucidating S 24084 Das erste Kapitel The Single Great Problem behandelt diese Frage zeigt aber bereits

daszlig sich McGinn nicht vollstaumlndig auf den Text einlaumlszligt sondern ihn von Anfang an stark aus der Perspektive der Philosophischen Untersuchungen her deutet (die im letzen Kapitel er-neut den Maszligstab der Betrachtung bilden)

120 Wolfgang Kienzler PhR

Ethics S 160) Vor dem Hintergrund der Auffassung des sinnvollen Satzes wird der Anfang dann relativ leicht verstaumlndlich In der Darstellung von McGinn wird die Abhandlung wieder zu einer Abhandlung einer nuumlch-ternen Darlegung uumlber die Voraussetzungen sinnvollen Sprechens und Ausdruumlckens uumlber die Unterschiede der Satzarten und die allgemeine Form des Satzes Allerdings ruumlcken so die Einzelheiten der Sprachlogik ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit und die Fragen nach der Natur der Philosophie aber auch die nach der Einheit des Buches treten ganz in den Hintergrund Das Buch enthaumllt kein Kapitel zum Philosophiebegriff des fruumlhen Wittgenstein und kaum Erlaumluterungen zur spezifi schen Form der Darstellung oder zur Strategie der Praumlsentation Einige Themen wie die Ethik Arithmetik oder die Naturgesetze werden ganz uumlbergangen dabei waumlre an diesen Beispielen die angestrebte Einheitlichkeit erst richtig aufzuzeigen gewesen In dieser Hinsicht erklaumlrt McGinn die Abhandlung in der Form die sie 1916 noch hatte bevor Wittgenstein die Schluszligpassa-gen einarbeitete und als sie noch staumlrker eine Abhandlung in raquophiloso-phischer Logiklaquo war85 Gegen Diamond und Conant stellt sie klar heraus daszlig das Ziel der Klaumlrung raquodurch Einsicht in das Funktionieren der Spra-chelaquo erreicht werden soll und nicht indirekt dadurch daszlig raquodie Versuche philosophische Saumltze zu bilden als Unsinn erkannt werdenlaquo (S 254 Anm 6) Die sehr nuumlchterne Art McGinns zeigt einen Wittgenstein der ganz unironisch seine logisch-philosophische Konzeption Schritt fuumlr Schritt entwickelt86

85 Vgl Brian McGuinness Wittgensteinrsquos 1916 Abhandlung in R HallerK Puhl (Hg) Wittgenstein and the Future of Philosophy Wien 2002 S 272ndash282 Die grundlegenden philologischen Arbeiten von McGuinness werden in der gegenwaumlrtigen Debatte leider wenig fruchtbar gemacht

86 Das stark gestiegene Interesse am fruumlhen Wittgenstein hat eine ganze Reihe von Monographien hervorgebracht die jedoch nur selten das gelassene exegetische Niveau McGinns erreichen sondern in der Regel mehr oder weniger exzentrische Deutungen in den Mittelpunkt stellen

M Ostrow Wittgenstein and the Liberating Word CambridgeMass 2002 (eine Zusam-menfassung in Reck From Frege to Wittgenstein) versucht eine an Floyd orientierte raquodialek-tische Interpretationlaquo die sich am Leitmotiv des raquoerloumlsenden Worteslaquo orientiert aber ins-gesamt zu vage bleibt zumal sich die Differenz zum spaumlteren Wittgenstein ganz aufzuloumlsen scheint und wichtige Passagen unberuumlcksichtigt bleiben

E Friedlander Signs of Sense Reading Wittgensteinrsquos Tractatus Cambridge Mass 2001 scheint das Raumltselhafte geradezu zu genieszligen und nennt als sein Ziel raquonicht das Raumltsel des Buches zu loumlsen sondern seinen raumltselhaften Charakter auf eine wahrhaft zum Denken herausfordernde Art aufzuzeigenlaquo (S XV) und will geradezu raquoseinen raumltselhaften Charak-ter rechtfertigenlaquo (16)

U Nordmann Wittgensteinrsquos Tractatus An Introduction Cambridge 2005 faszligt das Buch als ein Gedankenexperiment und eine groszlige Reductio ad Absurdum auf zu der er einige Praumlmissen ergaumlnzt Er deutet das Buch als im Konjunktiv geaumluszligert wodurch der Behaup-

121Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Ausblick

Die Arbeiten von Diamond und Conant haben zu einer neuen Welle des Interesses an Wittgensteins Fruumlhwerk gefuumlhrt und die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten vor allem aber auch das Potential seiner Abhandlung gelenkt Im Zentrum steht dabei die Natur der Philosophie als Erlaumlute-rung die selbst nicht in die Gestalt einer Lehre gebracht werden kann oder anders ausgedruumlckt der entscheidende Unterschied zwischen einer philosophischen und einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Untersu-chung

Gerade dadurch daszlig sie die Abhandlung stellenweise sehr nah an den spaumlten Wittgenstein heranruumlcken eroumlffnen Conant und Diamond Moumlg-lichkeiten die Souveraumlnitaumlt und Subtilitaumlt des Buches erst richtig zu wuumlr-digen Dies geschieht jedoch um den Preis daszlig einige Teile des Buches herausgegriffen andere dagegen kaum beruumlcksichtigt werden

Nicht hinreichend geklaumlrt scheint auch die Frage nach dem sprachlichen Grundton des Buches Diamond geht immer wieder von einem nahe an der Alltagssprache stehenden Redegestus aus (aumlhnlich wie der spaumlte Wittgen-stein) waumlhrend Conant aus der weiteren Perspektive ironische Zuumlge be-schreibt87 Gemeinsam ist den resoluten Lesern daszlig sie Wittgensteins Saumltze in der Abhandlung auf doppelte Weise auffassen Sie unterscheiden an vielen Stellen einen buchstaumlblichen naheliegenden Sinn der sich bei naumlherer Be-trachtung als inkohaumlrent erweist und der so zerfaumlllt88 Daher wird in ihrer

tungscharakter eingeklammert die Klaumlrungsfunktion jedoch trotzdem ermoumlglicht wird Er gewinnt so eine Kategorie von Saumltzen die raquounsinnig aber bedeutungsvolllaquo (176) sind

L Gunnarsson Wittgensteins Leiter Bodenheim 2002 greift einen Gedanken Conants auf daszlig wir naumlmlich den Hauptteil des Buches wegwerfen und den Rahmen behalten sollen (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 286) und entwickelt daraus die Fik-tion es waumlre tatsaumlchlich nur das Vorwort und der Schluszlig der Abhandlung erhalten ndash und will daraus den Gehalt des Buches ohne Verlust rekonstruieren Diese Veranschaulichung zeigt besonders klar auf wie verfehlt dieser Ansatz ist wenn man ihn auf die konkrete Interpretationspraxis bezieht

87 Die Parallele zwischen Wittgenstein und Kierkegaard scheint in zentralen Punkten gerade nicht zu bestehen denn Wittgenstein distanziert sich gerade nicht von seinem Buch sondern erklaumlrt seine Auffassungen fuumlr defi nitiv richtig und alternativlos ganz ent-gegen dem verwirrenden Spiel Kierkegaards mit unterschiedlichen Pseudonymen und Perspektiven Ein passenderer Vergleich waumlre etwa mit Hume moumlglich der am Ende seiner Untersuchung uumlber die Prinzipien der Moral (Abschnitt 9 Teil 1) seine Ergebnisse fuumlr derart einfach klar kohaumlrent und uumlberzeugend haumllt daszlig dem nichts hinzuzufuumlgen ist so daszlig er selbst geradezu in Versuchung kommen koumlnnte dogmatisch davon uumlberzeugt zu sein

88 So fuumlhrt Diamond (in Ethics wie Anm 37) folgende Beispiele dafuumlr an 1 das woruuml-ber man schweigen muszlig (aber das kann es doch nicht geben weil es kein raquodaruumlberlaquo ist S 149) 2 die Saumltze der Abhandlung die zu verstehen seien (oder doch raquoer selbstlaquo wie Witt-genstein dann uumlberraschenderweise sagt S 149) 3 die Anfangssaumltze uumlber die Welt (aber daruumlber kann es doch keine Saumltze geben S 160) 4 der Schein daszlig ab 64 Saumltze uumlber Ethik

122 Wolfgang Kienzler PhR

Perspektive das Buch durchgehend doppelboumldig und loumlst sich schlieszliglich in Nichts auf wobei in der Aufl oumlsung gerade die Absicht des Buches bestehen soll89 Demgegenuumlber kann festgehalten werden daszlig Wittgenstein nir-gends von Ironie spricht wohl aber davon daszlig er das Wesentliche in Kuumlr-ze klar ausdruumlcken will Eine wichtige Differenz innerhalb der resoluten Lesart liegt weiter darin welche Wichtigkeit man den eher technischen Aspekten der Abhandlung zuschreibt Ricketts und Goldfarb sehen viele Zuumlge des Buches von technischen Erwaumlgungen motiviert und gepraumlgt waumlhrend Diamond und Conant den Sinn der symbolischen Notation vor allem darin sehen wesentliche Unterschiede klarzustellen90

Das Motto erklaumlrt daszlig man raquoalles was man weiszliglaquo schlieszliglich raquoin drei Worten sagenlaquo kann Viele der scheinbaren Widerspruumlche und Doppelt-heiten die resolute Leser beobachten koumlnnten sich von daher moumlglicher-weise der Absicht verdanken im Buch logisch praumlzise Saumltze zu erwarten eine Absicht die bestaumlndig getaumluscht wird91 Wuumlrde man die Saumltze eher als Instrumente verstehen die allmaumlhlich entsprechend den Stufen der Lei-ter zur Klarheit anleiten ohne daszlig der Leser in die selbstrefl exive Geste verwickelt werden soll dann koumlnnte eine einfachere und klarere Lesart entstehen die auch mehr Sinn fuumlr den Zusammenhang und die spezi-fi schen Darstellungsmittel des Buches entwickeln wuumlrde ndash wenn denn eine solche zusammenhaumlngende Erlaumluterung als gemeinsames Ziel fest-staumlnde92 Auch Fragen der Textkritik die derzeit nur sehr sporadisch ge-streift werden koumlnnten dann eine groumlszligere Rolle spielen

Wolfgang Kienzler (ChemnitzJena)

vorkommen (die es doch gar nicht geben kann S 164) 5 der Schein daszlig im Buch Saumltze raquouumlber Logiklaquo vorkommen (die es ebenfalls nicht geben kann S 164) In allen Beispielen kann man die Situation natuumlrlicher so darstellen daszlig man die Saumltze der Abhandlung von vornherein zwar woumlrtlich aber nicht buchstaumlblich nimmt sondern sich von ihren zur Klarheit die sich erst allmaumlhlich einstellen kann fuumlhren laumlszligt

89 Diese Doppeltheit der Lesart ist den resoluten Lesern und ihren Kritikern gemein-sam sie ist aber keineswegs selbstverstaumlndlich und widerspricht dem Grundgedanken der Klarheit

90 Dies ist das Thema von Diamond What Does a Concept-Script Do in The Realistic Spirit S 115ndash144 Sie sieht darin ein raquoWerkzeug geistiger Befreiunglaquo (143) deutet damit aber tendenziell wieder einen Gedanken der Abhandlung in Frege hinein der zunaumlchst die Umgangssprache ganz zugunsten der exakteren Begriffsschrift verbannen wollte

91 In weiten Teilen der resoluten Beitraumlge kann man auch eine gewisse Vergegenstaumlnd-lichung mancher von Wittgenstein verwendeter Woumlrter wahrnehmen die dazu fuumlhren daszlig die Rede von raquoUnsinnlaquo raquoErlaumluterunglaquo u a zunaumlchst gegenstaumlndlich miszligverstanden und anschlieszligend als Gegenstaumlndlichkeit leugnend gedeutet wird Eine Beachtung von Wittgensteins ungezwungenem und unterminologischem Sprachgebrauch koumlnnte viele dieser Schleifen uumlberfl uumlssig machen

92 Das Buch von McGinn kann dazu als erster wichtiger konstruktiver Schritt angese-hen werden auch wenn es insgesamt etwas zu additiv verfaumlhrt

Page 21: Neue Lektüren von Wittgensteins Logisch-Philosophischer ... · 10 E. Stenius : Wittgensteins Traktat [1960], Frankfurt/M. 1969, nennt den Schluß »keine echte Verdammung [. . .]

115Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

raquoWahrheit des Solipsismuslaquo dahingehend daszlig es darum geht den eigenen Stolz zu uumlberwinden67 Selbst die Frage nach dem raquoHauptproblem der Phi-losophielaquo naumlmlich der Unterscheidung von Sagen und Zeigen versucht Kremer so zu beantworten daszlig Wittgenstein vor allem vor der unberech-tigten und zu vorschnellen Anwendung dieser Unterscheidung warnt (und er will zeigen daszlig insofern diese Unterscheidung als Hauptproblem ange-sprochen wird Wittgenstein dieses Problem raquoloumlsenlaquo will)68 All diese Vor-schlaumlge lenken jedoch systematisch von einer tatsaumlchlichen Lektuumlre von Wittgensteins Buch eher ab

Innerhalb der resoluten Stroumlmung ist Juliet Floyd als radikale raquoJakobine-rinlaquo bezeichnet worden weil sie schon fuumlr den fruumlhen Wittgenstein gene-rell die Existenz einer einheitlichen Auffassung von Logik Bedeutung Sagen und Zeigen aber auch eines eindeutigen Ideals der Klarheit leug-net69 Sie nennt Wittgensteins Vorgehen dialektisch bzw refl ektierend (S 188) so daszlig Wittgenstein nicht auf eine einzelne Stoszligrichtung hin festzulegen ist Dadurch wird zum einen erneut die Moumlglichkeit in Frage gestellt den Text uumlberhaupt einigermaszligen einheitlich zu interpretieren zum anderen eroumlffnen sich Moumlglichkeiten relativ frei auch wieder kon-struktivere (S 187) Zuumlge festzustellen Wenn Floyd als Grundgegensatz der Deutungen die Frage betont ob man Wittgenstein so versteht als wolle er raquodie Endlichkeit oder expressive Begrenztheit der Sprache beto-nenlaquo oder ob er die raquooffene Entwicklung und Vielfalt menschlicher Aus-drucksmoumlglichkeitenlaquo (S 177) herausarbeiten will dann steht auch dies nur in einem eher lockeren Bezug zum Text Genau an dieser Stelle setzen die wichtigsten Kritiker an

7 Als prominentester und heftigster Kritiker ist Peter Hacker hervor-getreten70 Hacker kritisiert und polemisiert aus einer Position der exten-

67 Michael Kremer To What Extent is Solipsism a Truth in Stocker Post-Analytic Tractatus S 59ndash84 Das ist eine sehr ungewoumlhnliche Lesart dieser sonst erkenntnistheore-tisch aufgefaszligten Passage

68 Michael Kremer The Cardinal Problem of Philosophy in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 143ndash176 Kremers Deutung beruht vor allem darauf daszlig Wittgenstein in seinem Brief an Russell (15 8 1919) diese Unterscheidung einmal als raquoHauptpunktlaquo und dann auch als raquoHauptproblemlaquo anspricht Kremer deutet dies so daszlig die Unterscheidung als zu loumlsendes raquoProblemlaquo aufgefaszligt wird

69 Juliet Floyd Wittgenstein and the Inexpressible in Crary Wittgenstein and the Moral Life S 177ndash234 hier S 185 und 196

70 Hackers Schriften dienen zugleich umgekehrt Diamond und Conant als Illustrati-onen fuumlr die raquoStandardlesartlaquo und dafuumlr wie man Wittgenstein nicht interpretieren sollte so schon 1985 in Diamond Throwing Away the Ladder (Anm 30) S 194 als Beispiel fuumlr raquochickening outlaquo Hacker ist auch als einziger Kritiker im Sammelband New Wittgenstein vertreten Was he Trying to Whistle It in New Wittgenstein S 353ndash388 Sein Sammelband Connections and Controversies Oxford 2001 enthaumllt neben dem Nachdruck auf S 98ndash140 noch eine Fortsetzung When the Whistling Had to Stop S 141ndash169

116 Wolfgang Kienzler PhR

siven Kommentieung des spaumlten Wittgenstein und zugleich des philo-sophischen Common Sense heraus Er sieht in der Abhandlung raquoeine ver-bluumlffende Lehre auf verbluumlffende Weise dargebotenlaquo (S 353) ndash diese Charakterisierung entnimmt er jedoch nicht erst seinen neuen Gegnern sondern einer eher traditionellen realistisch-metaphysischen Deutung von David Pears Hacker versteht das Buch als einen gescheiterten Versuch wesentliche Wahrheiten die nicht gesagt werden koumlnnen dennoch zu zeigen Dies sieht er als gesichertes Faktum an dessen Vorhandensein er mit Energie gegen Versuche es zu leugnen untermauert Dazu zaumlhlt er zehn Beispiele solcher Versuche auf von logischen Beziehungen zwischen Saumltzen bis zur Harmonie zwischen Gedanke Sprache und Wirklichkeit (S 353ndash355) und stellt sich ganz auf die Seite schon der fruumlhen Kritiker besonders des Wiener Kreises die den Schluszlig des Buches raquoganz unglaub-wuumlrdig fandenlaquo (S 355)71 Er nennt den Ansatz von Diamond und Conant raquopostmodernlaquo offenbar darauf berechnet zu provozieren jedoch frei von ernsthaften Absichten nicht aber das Buch richtig einschaumltzen zu wollen (S 356)72

Hacker sieht das Buch als offensichtlich inkonsistent an und beruft sich dabei auf Wittgensteins spaumltere Meinung zur Bestaumltigung dieses Faktums (S 370) Von daher fallen alle Versuche das Buch insgesamt nachzuvoll-ziehen zwangslaumlufi g ebenfalls der Inkonsistenz anheim Als Maszligstab der Inkonsistenz dient ihm dabei die Unvereinbarkeit und Widerspruumlchlich-keit der im Buch vorgetragenen (raquogesagtenlaquo oder raquogezeigtenlaquo) Lehren Da-mit aber stellt sich Hacker explizit auf einen Standpunkt den Wittgenstein fuumlr sein eigenes Werk ablehnt das ja explizit raquokein Lehrbuchlaquo (Vorwort) sein will Hacker reduziert das Buch auf einen Lehrinhalt den er unzurei-chend fi ndet ndash der Gegensatz zu Diamond und Conant liegt bereits hier denn beide Seiten differieren vor allem darin was das Buch eigentlich

71 In dieser Hinsicht stimmt seine Einschaumltzung mit derjenigen Conants uumlberein der seinerseits Hacker in die Naumlhe Carnaps plaziert (Two Conceptions of Die Uumlberwindung S 14 ff) Ohne Hacker sofort zu nennen schreibt Conant Carnap (wie spaumlter Hacker) eine substantielle Auffassung von Unsinn zu

72 Hacker lehnt sowohl die Abhandlung als auch Freges philosophische Grundkonzepti-on ab und setzt sie als verfehlten Versuch in scharfen Kontrast zum Denken des spaumlten Wittgenstein Diese Haltung wird in seinem Kommentar zu den Philosophischen Untersu-chungen deutlich besonders eklatant jedoch in dem (gemeinsam mit Gordon Baker ver-faszligten) gegen Dummetts Fregedeutung geschriebenen Frege Logical Excavations (Oxford 1984) Das Auftreten der resoluten Lesart gibt Hacker daher nicht den Grund zu seiner Ablehnung des fruumlhen Wittgenstein sondern vor allem den Anlaszlig seine Gruumlnde zu buumln-deln und erneut vorzubringen (Der verstorbene Gordon Baker der zunaumlchst gemeinsam mit Hacker mehrere Baumlnde zum spaumlten Wittgenstein verfaszligte dann aber seinen Ansatz weiterentwickelte und dabei in einigen Punkten der resoluten Lesart nahekam sei hier noch erwaumlhnt vgl Baker Wittgensteinrsquos Method Neglected Aspects Oxford 2004)

117Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

leisten will Hacker sieht einen eklatanten Gegensatz zwischen Wittgen-steins Erklaumlrung nichts lehren zu wollen und seinem tatsaumlchlichen Vor-gehen seine Gegner versuchen gerade diese Aumluszligerungen Wittgensteins zu verstehen und ihnen entsprechend den Text so zu lesen daszlig er keine raquoLehrenlaquo enthaumllt sondern auf andere Art und Weise arbeitet

Hacker versucht entsprechend auch nicht Diamond und Conant ge-recht zu werden sondern listet vor allem eine Reihe von Kritikpunkten auf Zum einen weist er auf eine gewisse hermeneutische Willkuumlr hin mit der nur relativ wenige insgesamt unzusammenhaumlngende Partien herange-zogen werden wobei einige Passagen doch wieder als ganz gewoumlhnlich und sinnvoll gelesen werden ohne daszlig eine klare Abgrenzung nach Kri-terien gegeben wuumlrde Die haumlufi g verwendete Rede vom raquoRahmenlaquo des Buches im Unterschied zum raquoHauptteillaquo bleibt ihm zufolge unklar abge-grenzt da zum Rahmen auch Bemerkungen wie 4112 aus der Mitte des Textes gezaumlhlt werden73 Im Zusammenhang damit weist er darauf hin daszlig zwischen den Arten von Unsinn doch ein Unterschied gemacht wer-de wenigstens nach der Wirkung auf den Leser74 Und schlieszliglich ver-sucht er nachzuweisen daszlig Wittgenstein selbst weder in seiner fruumlheren noch in seiner spaumlteren Zeit eine solche radikale Lesart seiner eigenen Ar-beit vorgetragen oder unterstuumltzt habe

Eine spezielle Streitfrage liegt darin ob es nach Wittgenstein raquoUumlbertre-tungen der logischen Syntaxlaquo geben koumlnne Diamond und Conant be-haupten nein Hacker versucht an Beispielen aufzuzeigen daszlig Wittgen-stein dies wiederholt anspricht (S 365ndash367)75 Der grundlegende Dissens betrifft hier die Frage ob Wittgenstein sich vorrangig um den Begriff und die Festlegung einer logischen Syntax als Einfuumlhrung sinnvoller Rede be-muumlht denn wenn es um die Festlegung und ggf die Erweiterung und Ver-aumlnderung von Sinn geht dann gibt es nichts was uumlbertreten oder verfehlt werden koumlnnte ndash oder aber ob Wittgenstein wie Hacker ihn liest jemand ist der vor allem schon bestehende syntaktische Systeme betrachtet und dabei die Moumlglichkeiten behandelt sich gegenuumlber den Vorschriften be-

73 Conants Auskunft daszlig nicht der Ort im Text sondern die Funktion der Bemerkung daruumlber entscheide ob es zu Rahmen oder Hauptteil gehoumlre vermag als Gegenargument nicht wirklich zu uumlberzeugen

74 Dies leugnen Conant und Diamond keineswegs nur kommt es ihnen gerade auf den Unterschied zwischen logischen und anderen Einteilungsgruumlnden an

75 Dieser Punkt ist auch deswegen zentral weil fuumlr Hacker Unsinn genau dadurch ent-steht daszlig man die logische Syntax verletzt (Was he Trying S 367) waumlhrend fuumlr Conant und Diamond Unsinn dann vorliegt wenn wir mit einer Zeichenreihe schlicht nichts anfangen koumlnnen also kein Symbol darin erkennen Dieser Frage widmet Hacker den Aufsatz Wittgenstein Carnap and the New American Wittgensteinians in Philosophical Quar-terly 53 (2003) S 1ndash23 und Diamond die Entgegnung Logical Syntax in Wittgensteinrsquos Tractatus in Philosophical Quartely 55 (2005) S 78ndash88

118 Wolfgang Kienzler PhR

stimmter Systeme abweichend zu verhalten und ihre Regeln zu verletzen Die Frage ist ob Wittgenstein die Syntax mit einem bestehenden Spiel analog setzt oder nicht76 Fuumlr beide Aspekte gibt es Belege im Text77

Eine gewisse Uumlbereinstimmung zwischen Hacker und seinen Gegnern liegt ironischerweise darin daszlig keine der beiden Seiten eine durchge-hende Interpretation der Abhandlung anstrebt Hacker haumllt dies aufgrund der Inkonsistenz fuumlr uninteressant (wenn auch theoretisch moumlglich) Dia-mond ist vorrangig an Einzelfragen und am methodischen Standard des spaumlten Wittgenstein interessiert (wozu sie in der Abhandlung letztlich doch nur eine Vorstufe fi ndet) und Conant ist hauptsaumlchlich damit beschaumlftigt vorgaumlngige Kriterien fuumlr eine uumlberzeugende Lektuumlre zu entwickeln78

Als zentrale unbeantwortete Frage bleibt daruumlber hinaus das Problem bestehen wie man Wittgensteins Sprache und die Art seiner Behaup-tungen im Text konsequent aufzufassen hat denn hier weist Hacker auf deutliche Inkonsistenzen der resoluten Leser hin Zum einen wird von raquobloszligem Unsinnlaquo gesprochen dann wieder werden Passagen so gelesen wie gewoumlhnliche behauptende Prosa zum einen ist von Ironie die Rede dann wieder scheint alles ganz woumlrtlich aufzufassen zu sein79

8 Marie McGinn hat den bisher ehrgeizigsten Versuch unternommen die Staumlrken beider konkurrierender Ansaumltze zu verbinden und die jewei-

76 Vgl Diamond (wie die vorige Anm) S 86 Hacker vertritt hier einen eher kantischen Ansatz der die Grenzen der Vernunft bereits abgesteckt vorfi ndet (ein fuumlr Hacker wichtiges Buch ist P Strawsons Kantdeutung in The Bounds of Sense) Diamond und Conant sehen Wittgenstein als radikaleren Denker nach dem diese Grenzen immer wieder neu bestimmt werden muumlssen bzw nach dem es genau genommen keine Grenzen gibt da das Entschei-dende die Moumlglichkeit neuer Begriffsbildungen ist ohne daszlig man sich an irgendeiner Vorgabe (oder Grenze) orientieren kann die man entweder trifft oder verfehlt

77 Zum einen schreibt Wittgenstein raquoWir koumlnnen einem Zeichen nicht den unrechten Sinn gebenlaquo (54733) also bei der Bedeutungsfestsetzung nichts verfehlen zum anderen erklaumlrt er schlicht Saumltze wie raquo1 ist eine Zahllaquo (41272) die sich auf unsere bestehende Spra-che beziehen fuumlr unsinnig weil darin das Wort raquoZahllaquo als gewoumlhnliches Begriffswort statt als raquoformaler Begrifflaquo und also falsch verwendet wird Daszlig 1 eine Zahl ist ist schon da-durch klar daszlig wir das Zahlzeichen 1 verwenden und gerade deshalb koumlnnen wir dies nicht noch zusaumltzlich behaupten Es ist allerdings richtig daszlig Wittgenstein im letzteren Fall strenggenommen nicht von der raquoVerletzung der logischen Syntaxlaquo spricht sondern das Gebilde einfach raquounsinniglaquo nennt da fuumlr solche Faumllle gar keine logische Syntax im exakten Sinn verfuumlgbar ist Die gesamte Abhandlung ist in dieser Hinsicht nirgends der Versuch eine vorliegende Syntax zu treffen aber auch nicht eine neue Syntax festzulegen sondern sie befaszligt sich vielmehr mit den Bedingungen der Moumlglichkeit von Syntax uumlberhaupt Insofern verfehlen sowohl Hacker auch Diamond und Conant diesen Kernpunkt des Buches

78 So etwa im Abschnitt What makes a Reading resolute in Mono-Wittgensteinianism S 42ndash47

79 Vgl dazu W Kienzler Die Sprache des Tractatus Klar oder deutlich Karl Kraus Witt-genstein und die Frage der Terminologie in F GoumlppelsriederJ Volbers (Ed) Philosophie als Lebensform Muumlnchen 2008 (im Erscheinen)

119Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

ligen Schwaumlchen zu vermeiden80 Sie will Wittgenstein keine metaphy-sischen Lehren zuschreiben81 aber doch sicherstellen daszlig wir aus dem Buch etwas Konstruktives lernen koumlnnen Dazu nimmt sie den Begriff der Klaumlrung als Orientierungspunkt Die Aufgabe des Buches ist es demnach die Logik der Sprache aufzuklaumlren Wenn dies aber ohne die Verwendung positiver Lehren geschehen soll muszlig es indirekt geschehen naumlmlich da-durch daszlig die Sprache sich indirekt selbst klaumlrt das heiszligt daszlig eine solche Klaumlrung nicht auf etwas auszligerhalb der Sprache Bezug nimmt denn das waumlre Kennzeichen einer metaphysischen Auffassung McGinn schreibt et-was kryptisch raquoEs ist ein Werk in dem die Natur des Satzes die schon klar ist obwohl wir sie noch nicht klar sehen sich selbst fuumlr uns klaumlrtlaquo82

Sie betont jedoch sehr zu Recht daszlig Wittgenstein in seiner Abhandlung die eine groszlige Frage loumlsen wollte raquoDas Wesen des Satzes angeben heiszligt das Wesen aller Beschreibung angeben also das Wesen der Weltlaquo (54711)83

Damit aber waumlren alle (oder raquodielaquo) philosophischen Probleme geloumlst Ohne eine solche Voraussetzung die Wittgenstein offenbar als grundle-gende Einsicht erschien ist seine Handlungsweise gar nicht nachvollzieh-bar naumlmlich ein uumlberaus kurzes Buch zu verfassen in dem alle philoso-phischen Fragen im Prinzip jedenfalls beantwortet sind Dies ist nur moumlglich wenn diese Fragen so eng zusammenhaumlngen daszlig die Loumlsung der einen zugleich die Loumlsung der anderen bedeutet Dieser Grundgedanke strukturiert McGinns Buch und gibt ihm eine klare Linie84 Sie untersucht die besonders von Conant behandelten Fragen nach den Bedingungen einer angemessenen Lektuumlre fast gar nicht und antwortet insofern nicht durch Gegenargumente sondern durch die Tat durch einen Gang durch das Buch Es uumlberrascht dabei daszlig sie den Anfang zunaumlchst weglaumlszligt und nach Einleitungskapiteln zur Abgrenzung gegen Frege und Russell gleich mit dem Begriff des Bildes und dann des Satzes beginnt Tatsaumlchlich zeigt McGinn uumlberzeugend auf daszlig die Eingangspassagen am besten als Hin-fuumlhrungen zur raquoTheorie des Satzeslaquo aufgefaszligt werden und nicht als eigen-staumlndiges Theoriestuumlck einer vorangestellten Ontologie (sei diese nur scheinbar als Illusion aufgebaut oder ernst gemeint vgl etwa Diamond

80 Marie McGinn Elucidating the Tractatus81 Marie McGinn Between Metaphysics and Nonsense Elucidation in Wittgensteinrsquos Tracta-

tus In Philosophical Quarterly 49 (1999) S 491ndash513 hier S 107)82 Damit bleibt McGinn nahe an Aumluszligerungen von Diamond und Conant (etwa Method

S 424)83 Zit in McGinn Elucidating S 24084 Das erste Kapitel The Single Great Problem behandelt diese Frage zeigt aber bereits

daszlig sich McGinn nicht vollstaumlndig auf den Text einlaumlszligt sondern ihn von Anfang an stark aus der Perspektive der Philosophischen Untersuchungen her deutet (die im letzen Kapitel er-neut den Maszligstab der Betrachtung bilden)

120 Wolfgang Kienzler PhR

Ethics S 160) Vor dem Hintergrund der Auffassung des sinnvollen Satzes wird der Anfang dann relativ leicht verstaumlndlich In der Darstellung von McGinn wird die Abhandlung wieder zu einer Abhandlung einer nuumlch-ternen Darlegung uumlber die Voraussetzungen sinnvollen Sprechens und Ausdruumlckens uumlber die Unterschiede der Satzarten und die allgemeine Form des Satzes Allerdings ruumlcken so die Einzelheiten der Sprachlogik ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit und die Fragen nach der Natur der Philosophie aber auch die nach der Einheit des Buches treten ganz in den Hintergrund Das Buch enthaumllt kein Kapitel zum Philosophiebegriff des fruumlhen Wittgenstein und kaum Erlaumluterungen zur spezifi schen Form der Darstellung oder zur Strategie der Praumlsentation Einige Themen wie die Ethik Arithmetik oder die Naturgesetze werden ganz uumlbergangen dabei waumlre an diesen Beispielen die angestrebte Einheitlichkeit erst richtig aufzuzeigen gewesen In dieser Hinsicht erklaumlrt McGinn die Abhandlung in der Form die sie 1916 noch hatte bevor Wittgenstein die Schluszligpassa-gen einarbeitete und als sie noch staumlrker eine Abhandlung in raquophiloso-phischer Logiklaquo war85 Gegen Diamond und Conant stellt sie klar heraus daszlig das Ziel der Klaumlrung raquodurch Einsicht in das Funktionieren der Spra-chelaquo erreicht werden soll und nicht indirekt dadurch daszlig raquodie Versuche philosophische Saumltze zu bilden als Unsinn erkannt werdenlaquo (S 254 Anm 6) Die sehr nuumlchterne Art McGinns zeigt einen Wittgenstein der ganz unironisch seine logisch-philosophische Konzeption Schritt fuumlr Schritt entwickelt86

85 Vgl Brian McGuinness Wittgensteinrsquos 1916 Abhandlung in R HallerK Puhl (Hg) Wittgenstein and the Future of Philosophy Wien 2002 S 272ndash282 Die grundlegenden philologischen Arbeiten von McGuinness werden in der gegenwaumlrtigen Debatte leider wenig fruchtbar gemacht

86 Das stark gestiegene Interesse am fruumlhen Wittgenstein hat eine ganze Reihe von Monographien hervorgebracht die jedoch nur selten das gelassene exegetische Niveau McGinns erreichen sondern in der Regel mehr oder weniger exzentrische Deutungen in den Mittelpunkt stellen

M Ostrow Wittgenstein and the Liberating Word CambridgeMass 2002 (eine Zusam-menfassung in Reck From Frege to Wittgenstein) versucht eine an Floyd orientierte raquodialek-tische Interpretationlaquo die sich am Leitmotiv des raquoerloumlsenden Worteslaquo orientiert aber ins-gesamt zu vage bleibt zumal sich die Differenz zum spaumlteren Wittgenstein ganz aufzuloumlsen scheint und wichtige Passagen unberuumlcksichtigt bleiben

E Friedlander Signs of Sense Reading Wittgensteinrsquos Tractatus Cambridge Mass 2001 scheint das Raumltselhafte geradezu zu genieszligen und nennt als sein Ziel raquonicht das Raumltsel des Buches zu loumlsen sondern seinen raumltselhaften Charakter auf eine wahrhaft zum Denken herausfordernde Art aufzuzeigenlaquo (S XV) und will geradezu raquoseinen raumltselhaften Charak-ter rechtfertigenlaquo (16)

U Nordmann Wittgensteinrsquos Tractatus An Introduction Cambridge 2005 faszligt das Buch als ein Gedankenexperiment und eine groszlige Reductio ad Absurdum auf zu der er einige Praumlmissen ergaumlnzt Er deutet das Buch als im Konjunktiv geaumluszligert wodurch der Behaup-

121Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Ausblick

Die Arbeiten von Diamond und Conant haben zu einer neuen Welle des Interesses an Wittgensteins Fruumlhwerk gefuumlhrt und die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten vor allem aber auch das Potential seiner Abhandlung gelenkt Im Zentrum steht dabei die Natur der Philosophie als Erlaumlute-rung die selbst nicht in die Gestalt einer Lehre gebracht werden kann oder anders ausgedruumlckt der entscheidende Unterschied zwischen einer philosophischen und einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Untersu-chung

Gerade dadurch daszlig sie die Abhandlung stellenweise sehr nah an den spaumlten Wittgenstein heranruumlcken eroumlffnen Conant und Diamond Moumlg-lichkeiten die Souveraumlnitaumlt und Subtilitaumlt des Buches erst richtig zu wuumlr-digen Dies geschieht jedoch um den Preis daszlig einige Teile des Buches herausgegriffen andere dagegen kaum beruumlcksichtigt werden

Nicht hinreichend geklaumlrt scheint auch die Frage nach dem sprachlichen Grundton des Buches Diamond geht immer wieder von einem nahe an der Alltagssprache stehenden Redegestus aus (aumlhnlich wie der spaumlte Wittgen-stein) waumlhrend Conant aus der weiteren Perspektive ironische Zuumlge be-schreibt87 Gemeinsam ist den resoluten Lesern daszlig sie Wittgensteins Saumltze in der Abhandlung auf doppelte Weise auffassen Sie unterscheiden an vielen Stellen einen buchstaumlblichen naheliegenden Sinn der sich bei naumlherer Be-trachtung als inkohaumlrent erweist und der so zerfaumlllt88 Daher wird in ihrer

tungscharakter eingeklammert die Klaumlrungsfunktion jedoch trotzdem ermoumlglicht wird Er gewinnt so eine Kategorie von Saumltzen die raquounsinnig aber bedeutungsvolllaquo (176) sind

L Gunnarsson Wittgensteins Leiter Bodenheim 2002 greift einen Gedanken Conants auf daszlig wir naumlmlich den Hauptteil des Buches wegwerfen und den Rahmen behalten sollen (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 286) und entwickelt daraus die Fik-tion es waumlre tatsaumlchlich nur das Vorwort und der Schluszlig der Abhandlung erhalten ndash und will daraus den Gehalt des Buches ohne Verlust rekonstruieren Diese Veranschaulichung zeigt besonders klar auf wie verfehlt dieser Ansatz ist wenn man ihn auf die konkrete Interpretationspraxis bezieht

87 Die Parallele zwischen Wittgenstein und Kierkegaard scheint in zentralen Punkten gerade nicht zu bestehen denn Wittgenstein distanziert sich gerade nicht von seinem Buch sondern erklaumlrt seine Auffassungen fuumlr defi nitiv richtig und alternativlos ganz ent-gegen dem verwirrenden Spiel Kierkegaards mit unterschiedlichen Pseudonymen und Perspektiven Ein passenderer Vergleich waumlre etwa mit Hume moumlglich der am Ende seiner Untersuchung uumlber die Prinzipien der Moral (Abschnitt 9 Teil 1) seine Ergebnisse fuumlr derart einfach klar kohaumlrent und uumlberzeugend haumllt daszlig dem nichts hinzuzufuumlgen ist so daszlig er selbst geradezu in Versuchung kommen koumlnnte dogmatisch davon uumlberzeugt zu sein

88 So fuumlhrt Diamond (in Ethics wie Anm 37) folgende Beispiele dafuumlr an 1 das woruuml-ber man schweigen muszlig (aber das kann es doch nicht geben weil es kein raquodaruumlberlaquo ist S 149) 2 die Saumltze der Abhandlung die zu verstehen seien (oder doch raquoer selbstlaquo wie Witt-genstein dann uumlberraschenderweise sagt S 149) 3 die Anfangssaumltze uumlber die Welt (aber daruumlber kann es doch keine Saumltze geben S 160) 4 der Schein daszlig ab 64 Saumltze uumlber Ethik

122 Wolfgang Kienzler PhR

Perspektive das Buch durchgehend doppelboumldig und loumlst sich schlieszliglich in Nichts auf wobei in der Aufl oumlsung gerade die Absicht des Buches bestehen soll89 Demgegenuumlber kann festgehalten werden daszlig Wittgenstein nir-gends von Ironie spricht wohl aber davon daszlig er das Wesentliche in Kuumlr-ze klar ausdruumlcken will Eine wichtige Differenz innerhalb der resoluten Lesart liegt weiter darin welche Wichtigkeit man den eher technischen Aspekten der Abhandlung zuschreibt Ricketts und Goldfarb sehen viele Zuumlge des Buches von technischen Erwaumlgungen motiviert und gepraumlgt waumlhrend Diamond und Conant den Sinn der symbolischen Notation vor allem darin sehen wesentliche Unterschiede klarzustellen90

Das Motto erklaumlrt daszlig man raquoalles was man weiszliglaquo schlieszliglich raquoin drei Worten sagenlaquo kann Viele der scheinbaren Widerspruumlche und Doppelt-heiten die resolute Leser beobachten koumlnnten sich von daher moumlglicher-weise der Absicht verdanken im Buch logisch praumlzise Saumltze zu erwarten eine Absicht die bestaumlndig getaumluscht wird91 Wuumlrde man die Saumltze eher als Instrumente verstehen die allmaumlhlich entsprechend den Stufen der Lei-ter zur Klarheit anleiten ohne daszlig der Leser in die selbstrefl exive Geste verwickelt werden soll dann koumlnnte eine einfachere und klarere Lesart entstehen die auch mehr Sinn fuumlr den Zusammenhang und die spezi-fi schen Darstellungsmittel des Buches entwickeln wuumlrde ndash wenn denn eine solche zusammenhaumlngende Erlaumluterung als gemeinsames Ziel fest-staumlnde92 Auch Fragen der Textkritik die derzeit nur sehr sporadisch ge-streift werden koumlnnten dann eine groumlszligere Rolle spielen

Wolfgang Kienzler (ChemnitzJena)

vorkommen (die es doch gar nicht geben kann S 164) 5 der Schein daszlig im Buch Saumltze raquouumlber Logiklaquo vorkommen (die es ebenfalls nicht geben kann S 164) In allen Beispielen kann man die Situation natuumlrlicher so darstellen daszlig man die Saumltze der Abhandlung von vornherein zwar woumlrtlich aber nicht buchstaumlblich nimmt sondern sich von ihren zur Klarheit die sich erst allmaumlhlich einstellen kann fuumlhren laumlszligt

89 Diese Doppeltheit der Lesart ist den resoluten Lesern und ihren Kritikern gemein-sam sie ist aber keineswegs selbstverstaumlndlich und widerspricht dem Grundgedanken der Klarheit

90 Dies ist das Thema von Diamond What Does a Concept-Script Do in The Realistic Spirit S 115ndash144 Sie sieht darin ein raquoWerkzeug geistiger Befreiunglaquo (143) deutet damit aber tendenziell wieder einen Gedanken der Abhandlung in Frege hinein der zunaumlchst die Umgangssprache ganz zugunsten der exakteren Begriffsschrift verbannen wollte

91 In weiten Teilen der resoluten Beitraumlge kann man auch eine gewisse Vergegenstaumlnd-lichung mancher von Wittgenstein verwendeter Woumlrter wahrnehmen die dazu fuumlhren daszlig die Rede von raquoUnsinnlaquo raquoErlaumluterunglaquo u a zunaumlchst gegenstaumlndlich miszligverstanden und anschlieszligend als Gegenstaumlndlichkeit leugnend gedeutet wird Eine Beachtung von Wittgensteins ungezwungenem und unterminologischem Sprachgebrauch koumlnnte viele dieser Schleifen uumlberfl uumlssig machen

92 Das Buch von McGinn kann dazu als erster wichtiger konstruktiver Schritt angese-hen werden auch wenn es insgesamt etwas zu additiv verfaumlhrt

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116 Wolfgang Kienzler PhR

siven Kommentieung des spaumlten Wittgenstein und zugleich des philo-sophischen Common Sense heraus Er sieht in der Abhandlung raquoeine ver-bluumlffende Lehre auf verbluumlffende Weise dargebotenlaquo (S 353) ndash diese Charakterisierung entnimmt er jedoch nicht erst seinen neuen Gegnern sondern einer eher traditionellen realistisch-metaphysischen Deutung von David Pears Hacker versteht das Buch als einen gescheiterten Versuch wesentliche Wahrheiten die nicht gesagt werden koumlnnen dennoch zu zeigen Dies sieht er als gesichertes Faktum an dessen Vorhandensein er mit Energie gegen Versuche es zu leugnen untermauert Dazu zaumlhlt er zehn Beispiele solcher Versuche auf von logischen Beziehungen zwischen Saumltzen bis zur Harmonie zwischen Gedanke Sprache und Wirklichkeit (S 353ndash355) und stellt sich ganz auf die Seite schon der fruumlhen Kritiker besonders des Wiener Kreises die den Schluszlig des Buches raquoganz unglaub-wuumlrdig fandenlaquo (S 355)71 Er nennt den Ansatz von Diamond und Conant raquopostmodernlaquo offenbar darauf berechnet zu provozieren jedoch frei von ernsthaften Absichten nicht aber das Buch richtig einschaumltzen zu wollen (S 356)72

Hacker sieht das Buch als offensichtlich inkonsistent an und beruft sich dabei auf Wittgensteins spaumltere Meinung zur Bestaumltigung dieses Faktums (S 370) Von daher fallen alle Versuche das Buch insgesamt nachzuvoll-ziehen zwangslaumlufi g ebenfalls der Inkonsistenz anheim Als Maszligstab der Inkonsistenz dient ihm dabei die Unvereinbarkeit und Widerspruumlchlich-keit der im Buch vorgetragenen (raquogesagtenlaquo oder raquogezeigtenlaquo) Lehren Da-mit aber stellt sich Hacker explizit auf einen Standpunkt den Wittgenstein fuumlr sein eigenes Werk ablehnt das ja explizit raquokein Lehrbuchlaquo (Vorwort) sein will Hacker reduziert das Buch auf einen Lehrinhalt den er unzurei-chend fi ndet ndash der Gegensatz zu Diamond und Conant liegt bereits hier denn beide Seiten differieren vor allem darin was das Buch eigentlich

71 In dieser Hinsicht stimmt seine Einschaumltzung mit derjenigen Conants uumlberein der seinerseits Hacker in die Naumlhe Carnaps plaziert (Two Conceptions of Die Uumlberwindung S 14 ff) Ohne Hacker sofort zu nennen schreibt Conant Carnap (wie spaumlter Hacker) eine substantielle Auffassung von Unsinn zu

72 Hacker lehnt sowohl die Abhandlung als auch Freges philosophische Grundkonzepti-on ab und setzt sie als verfehlten Versuch in scharfen Kontrast zum Denken des spaumlten Wittgenstein Diese Haltung wird in seinem Kommentar zu den Philosophischen Untersu-chungen deutlich besonders eklatant jedoch in dem (gemeinsam mit Gordon Baker ver-faszligten) gegen Dummetts Fregedeutung geschriebenen Frege Logical Excavations (Oxford 1984) Das Auftreten der resoluten Lesart gibt Hacker daher nicht den Grund zu seiner Ablehnung des fruumlhen Wittgenstein sondern vor allem den Anlaszlig seine Gruumlnde zu buumln-deln und erneut vorzubringen (Der verstorbene Gordon Baker der zunaumlchst gemeinsam mit Hacker mehrere Baumlnde zum spaumlten Wittgenstein verfaszligte dann aber seinen Ansatz weiterentwickelte und dabei in einigen Punkten der resoluten Lesart nahekam sei hier noch erwaumlhnt vgl Baker Wittgensteinrsquos Method Neglected Aspects Oxford 2004)

117Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

leisten will Hacker sieht einen eklatanten Gegensatz zwischen Wittgen-steins Erklaumlrung nichts lehren zu wollen und seinem tatsaumlchlichen Vor-gehen seine Gegner versuchen gerade diese Aumluszligerungen Wittgensteins zu verstehen und ihnen entsprechend den Text so zu lesen daszlig er keine raquoLehrenlaquo enthaumllt sondern auf andere Art und Weise arbeitet

Hacker versucht entsprechend auch nicht Diamond und Conant ge-recht zu werden sondern listet vor allem eine Reihe von Kritikpunkten auf Zum einen weist er auf eine gewisse hermeneutische Willkuumlr hin mit der nur relativ wenige insgesamt unzusammenhaumlngende Partien herange-zogen werden wobei einige Passagen doch wieder als ganz gewoumlhnlich und sinnvoll gelesen werden ohne daszlig eine klare Abgrenzung nach Kri-terien gegeben wuumlrde Die haumlufi g verwendete Rede vom raquoRahmenlaquo des Buches im Unterschied zum raquoHauptteillaquo bleibt ihm zufolge unklar abge-grenzt da zum Rahmen auch Bemerkungen wie 4112 aus der Mitte des Textes gezaumlhlt werden73 Im Zusammenhang damit weist er darauf hin daszlig zwischen den Arten von Unsinn doch ein Unterschied gemacht wer-de wenigstens nach der Wirkung auf den Leser74 Und schlieszliglich ver-sucht er nachzuweisen daszlig Wittgenstein selbst weder in seiner fruumlheren noch in seiner spaumlteren Zeit eine solche radikale Lesart seiner eigenen Ar-beit vorgetragen oder unterstuumltzt habe

Eine spezielle Streitfrage liegt darin ob es nach Wittgenstein raquoUumlbertre-tungen der logischen Syntaxlaquo geben koumlnne Diamond und Conant be-haupten nein Hacker versucht an Beispielen aufzuzeigen daszlig Wittgen-stein dies wiederholt anspricht (S 365ndash367)75 Der grundlegende Dissens betrifft hier die Frage ob Wittgenstein sich vorrangig um den Begriff und die Festlegung einer logischen Syntax als Einfuumlhrung sinnvoller Rede be-muumlht denn wenn es um die Festlegung und ggf die Erweiterung und Ver-aumlnderung von Sinn geht dann gibt es nichts was uumlbertreten oder verfehlt werden koumlnnte ndash oder aber ob Wittgenstein wie Hacker ihn liest jemand ist der vor allem schon bestehende syntaktische Systeme betrachtet und dabei die Moumlglichkeiten behandelt sich gegenuumlber den Vorschriften be-

73 Conants Auskunft daszlig nicht der Ort im Text sondern die Funktion der Bemerkung daruumlber entscheide ob es zu Rahmen oder Hauptteil gehoumlre vermag als Gegenargument nicht wirklich zu uumlberzeugen

74 Dies leugnen Conant und Diamond keineswegs nur kommt es ihnen gerade auf den Unterschied zwischen logischen und anderen Einteilungsgruumlnden an

75 Dieser Punkt ist auch deswegen zentral weil fuumlr Hacker Unsinn genau dadurch ent-steht daszlig man die logische Syntax verletzt (Was he Trying S 367) waumlhrend fuumlr Conant und Diamond Unsinn dann vorliegt wenn wir mit einer Zeichenreihe schlicht nichts anfangen koumlnnen also kein Symbol darin erkennen Dieser Frage widmet Hacker den Aufsatz Wittgenstein Carnap and the New American Wittgensteinians in Philosophical Quar-terly 53 (2003) S 1ndash23 und Diamond die Entgegnung Logical Syntax in Wittgensteinrsquos Tractatus in Philosophical Quartely 55 (2005) S 78ndash88

118 Wolfgang Kienzler PhR

stimmter Systeme abweichend zu verhalten und ihre Regeln zu verletzen Die Frage ist ob Wittgenstein die Syntax mit einem bestehenden Spiel analog setzt oder nicht76 Fuumlr beide Aspekte gibt es Belege im Text77

Eine gewisse Uumlbereinstimmung zwischen Hacker und seinen Gegnern liegt ironischerweise darin daszlig keine der beiden Seiten eine durchge-hende Interpretation der Abhandlung anstrebt Hacker haumllt dies aufgrund der Inkonsistenz fuumlr uninteressant (wenn auch theoretisch moumlglich) Dia-mond ist vorrangig an Einzelfragen und am methodischen Standard des spaumlten Wittgenstein interessiert (wozu sie in der Abhandlung letztlich doch nur eine Vorstufe fi ndet) und Conant ist hauptsaumlchlich damit beschaumlftigt vorgaumlngige Kriterien fuumlr eine uumlberzeugende Lektuumlre zu entwickeln78

Als zentrale unbeantwortete Frage bleibt daruumlber hinaus das Problem bestehen wie man Wittgensteins Sprache und die Art seiner Behaup-tungen im Text konsequent aufzufassen hat denn hier weist Hacker auf deutliche Inkonsistenzen der resoluten Leser hin Zum einen wird von raquobloszligem Unsinnlaquo gesprochen dann wieder werden Passagen so gelesen wie gewoumlhnliche behauptende Prosa zum einen ist von Ironie die Rede dann wieder scheint alles ganz woumlrtlich aufzufassen zu sein79

8 Marie McGinn hat den bisher ehrgeizigsten Versuch unternommen die Staumlrken beider konkurrierender Ansaumltze zu verbinden und die jewei-

76 Vgl Diamond (wie die vorige Anm) S 86 Hacker vertritt hier einen eher kantischen Ansatz der die Grenzen der Vernunft bereits abgesteckt vorfi ndet (ein fuumlr Hacker wichtiges Buch ist P Strawsons Kantdeutung in The Bounds of Sense) Diamond und Conant sehen Wittgenstein als radikaleren Denker nach dem diese Grenzen immer wieder neu bestimmt werden muumlssen bzw nach dem es genau genommen keine Grenzen gibt da das Entschei-dende die Moumlglichkeit neuer Begriffsbildungen ist ohne daszlig man sich an irgendeiner Vorgabe (oder Grenze) orientieren kann die man entweder trifft oder verfehlt

77 Zum einen schreibt Wittgenstein raquoWir koumlnnen einem Zeichen nicht den unrechten Sinn gebenlaquo (54733) also bei der Bedeutungsfestsetzung nichts verfehlen zum anderen erklaumlrt er schlicht Saumltze wie raquo1 ist eine Zahllaquo (41272) die sich auf unsere bestehende Spra-che beziehen fuumlr unsinnig weil darin das Wort raquoZahllaquo als gewoumlhnliches Begriffswort statt als raquoformaler Begrifflaquo und also falsch verwendet wird Daszlig 1 eine Zahl ist ist schon da-durch klar daszlig wir das Zahlzeichen 1 verwenden und gerade deshalb koumlnnen wir dies nicht noch zusaumltzlich behaupten Es ist allerdings richtig daszlig Wittgenstein im letzteren Fall strenggenommen nicht von der raquoVerletzung der logischen Syntaxlaquo spricht sondern das Gebilde einfach raquounsinniglaquo nennt da fuumlr solche Faumllle gar keine logische Syntax im exakten Sinn verfuumlgbar ist Die gesamte Abhandlung ist in dieser Hinsicht nirgends der Versuch eine vorliegende Syntax zu treffen aber auch nicht eine neue Syntax festzulegen sondern sie befaszligt sich vielmehr mit den Bedingungen der Moumlglichkeit von Syntax uumlberhaupt Insofern verfehlen sowohl Hacker auch Diamond und Conant diesen Kernpunkt des Buches

78 So etwa im Abschnitt What makes a Reading resolute in Mono-Wittgensteinianism S 42ndash47

79 Vgl dazu W Kienzler Die Sprache des Tractatus Klar oder deutlich Karl Kraus Witt-genstein und die Frage der Terminologie in F GoumlppelsriederJ Volbers (Ed) Philosophie als Lebensform Muumlnchen 2008 (im Erscheinen)

119Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

ligen Schwaumlchen zu vermeiden80 Sie will Wittgenstein keine metaphy-sischen Lehren zuschreiben81 aber doch sicherstellen daszlig wir aus dem Buch etwas Konstruktives lernen koumlnnen Dazu nimmt sie den Begriff der Klaumlrung als Orientierungspunkt Die Aufgabe des Buches ist es demnach die Logik der Sprache aufzuklaumlren Wenn dies aber ohne die Verwendung positiver Lehren geschehen soll muszlig es indirekt geschehen naumlmlich da-durch daszlig die Sprache sich indirekt selbst klaumlrt das heiszligt daszlig eine solche Klaumlrung nicht auf etwas auszligerhalb der Sprache Bezug nimmt denn das waumlre Kennzeichen einer metaphysischen Auffassung McGinn schreibt et-was kryptisch raquoEs ist ein Werk in dem die Natur des Satzes die schon klar ist obwohl wir sie noch nicht klar sehen sich selbst fuumlr uns klaumlrtlaquo82

Sie betont jedoch sehr zu Recht daszlig Wittgenstein in seiner Abhandlung die eine groszlige Frage loumlsen wollte raquoDas Wesen des Satzes angeben heiszligt das Wesen aller Beschreibung angeben also das Wesen der Weltlaquo (54711)83

Damit aber waumlren alle (oder raquodielaquo) philosophischen Probleme geloumlst Ohne eine solche Voraussetzung die Wittgenstein offenbar als grundle-gende Einsicht erschien ist seine Handlungsweise gar nicht nachvollzieh-bar naumlmlich ein uumlberaus kurzes Buch zu verfassen in dem alle philoso-phischen Fragen im Prinzip jedenfalls beantwortet sind Dies ist nur moumlglich wenn diese Fragen so eng zusammenhaumlngen daszlig die Loumlsung der einen zugleich die Loumlsung der anderen bedeutet Dieser Grundgedanke strukturiert McGinns Buch und gibt ihm eine klare Linie84 Sie untersucht die besonders von Conant behandelten Fragen nach den Bedingungen einer angemessenen Lektuumlre fast gar nicht und antwortet insofern nicht durch Gegenargumente sondern durch die Tat durch einen Gang durch das Buch Es uumlberrascht dabei daszlig sie den Anfang zunaumlchst weglaumlszligt und nach Einleitungskapiteln zur Abgrenzung gegen Frege und Russell gleich mit dem Begriff des Bildes und dann des Satzes beginnt Tatsaumlchlich zeigt McGinn uumlberzeugend auf daszlig die Eingangspassagen am besten als Hin-fuumlhrungen zur raquoTheorie des Satzeslaquo aufgefaszligt werden und nicht als eigen-staumlndiges Theoriestuumlck einer vorangestellten Ontologie (sei diese nur scheinbar als Illusion aufgebaut oder ernst gemeint vgl etwa Diamond

80 Marie McGinn Elucidating the Tractatus81 Marie McGinn Between Metaphysics and Nonsense Elucidation in Wittgensteinrsquos Tracta-

tus In Philosophical Quarterly 49 (1999) S 491ndash513 hier S 107)82 Damit bleibt McGinn nahe an Aumluszligerungen von Diamond und Conant (etwa Method

S 424)83 Zit in McGinn Elucidating S 24084 Das erste Kapitel The Single Great Problem behandelt diese Frage zeigt aber bereits

daszlig sich McGinn nicht vollstaumlndig auf den Text einlaumlszligt sondern ihn von Anfang an stark aus der Perspektive der Philosophischen Untersuchungen her deutet (die im letzen Kapitel er-neut den Maszligstab der Betrachtung bilden)

120 Wolfgang Kienzler PhR

Ethics S 160) Vor dem Hintergrund der Auffassung des sinnvollen Satzes wird der Anfang dann relativ leicht verstaumlndlich In der Darstellung von McGinn wird die Abhandlung wieder zu einer Abhandlung einer nuumlch-ternen Darlegung uumlber die Voraussetzungen sinnvollen Sprechens und Ausdruumlckens uumlber die Unterschiede der Satzarten und die allgemeine Form des Satzes Allerdings ruumlcken so die Einzelheiten der Sprachlogik ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit und die Fragen nach der Natur der Philosophie aber auch die nach der Einheit des Buches treten ganz in den Hintergrund Das Buch enthaumllt kein Kapitel zum Philosophiebegriff des fruumlhen Wittgenstein und kaum Erlaumluterungen zur spezifi schen Form der Darstellung oder zur Strategie der Praumlsentation Einige Themen wie die Ethik Arithmetik oder die Naturgesetze werden ganz uumlbergangen dabei waumlre an diesen Beispielen die angestrebte Einheitlichkeit erst richtig aufzuzeigen gewesen In dieser Hinsicht erklaumlrt McGinn die Abhandlung in der Form die sie 1916 noch hatte bevor Wittgenstein die Schluszligpassa-gen einarbeitete und als sie noch staumlrker eine Abhandlung in raquophiloso-phischer Logiklaquo war85 Gegen Diamond und Conant stellt sie klar heraus daszlig das Ziel der Klaumlrung raquodurch Einsicht in das Funktionieren der Spra-chelaquo erreicht werden soll und nicht indirekt dadurch daszlig raquodie Versuche philosophische Saumltze zu bilden als Unsinn erkannt werdenlaquo (S 254 Anm 6) Die sehr nuumlchterne Art McGinns zeigt einen Wittgenstein der ganz unironisch seine logisch-philosophische Konzeption Schritt fuumlr Schritt entwickelt86

85 Vgl Brian McGuinness Wittgensteinrsquos 1916 Abhandlung in R HallerK Puhl (Hg) Wittgenstein and the Future of Philosophy Wien 2002 S 272ndash282 Die grundlegenden philologischen Arbeiten von McGuinness werden in der gegenwaumlrtigen Debatte leider wenig fruchtbar gemacht

86 Das stark gestiegene Interesse am fruumlhen Wittgenstein hat eine ganze Reihe von Monographien hervorgebracht die jedoch nur selten das gelassene exegetische Niveau McGinns erreichen sondern in der Regel mehr oder weniger exzentrische Deutungen in den Mittelpunkt stellen

M Ostrow Wittgenstein and the Liberating Word CambridgeMass 2002 (eine Zusam-menfassung in Reck From Frege to Wittgenstein) versucht eine an Floyd orientierte raquodialek-tische Interpretationlaquo die sich am Leitmotiv des raquoerloumlsenden Worteslaquo orientiert aber ins-gesamt zu vage bleibt zumal sich die Differenz zum spaumlteren Wittgenstein ganz aufzuloumlsen scheint und wichtige Passagen unberuumlcksichtigt bleiben

E Friedlander Signs of Sense Reading Wittgensteinrsquos Tractatus Cambridge Mass 2001 scheint das Raumltselhafte geradezu zu genieszligen und nennt als sein Ziel raquonicht das Raumltsel des Buches zu loumlsen sondern seinen raumltselhaften Charakter auf eine wahrhaft zum Denken herausfordernde Art aufzuzeigenlaquo (S XV) und will geradezu raquoseinen raumltselhaften Charak-ter rechtfertigenlaquo (16)

U Nordmann Wittgensteinrsquos Tractatus An Introduction Cambridge 2005 faszligt das Buch als ein Gedankenexperiment und eine groszlige Reductio ad Absurdum auf zu der er einige Praumlmissen ergaumlnzt Er deutet das Buch als im Konjunktiv geaumluszligert wodurch der Behaup-

121Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Ausblick

Die Arbeiten von Diamond und Conant haben zu einer neuen Welle des Interesses an Wittgensteins Fruumlhwerk gefuumlhrt und die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten vor allem aber auch das Potential seiner Abhandlung gelenkt Im Zentrum steht dabei die Natur der Philosophie als Erlaumlute-rung die selbst nicht in die Gestalt einer Lehre gebracht werden kann oder anders ausgedruumlckt der entscheidende Unterschied zwischen einer philosophischen und einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Untersu-chung

Gerade dadurch daszlig sie die Abhandlung stellenweise sehr nah an den spaumlten Wittgenstein heranruumlcken eroumlffnen Conant und Diamond Moumlg-lichkeiten die Souveraumlnitaumlt und Subtilitaumlt des Buches erst richtig zu wuumlr-digen Dies geschieht jedoch um den Preis daszlig einige Teile des Buches herausgegriffen andere dagegen kaum beruumlcksichtigt werden

Nicht hinreichend geklaumlrt scheint auch die Frage nach dem sprachlichen Grundton des Buches Diamond geht immer wieder von einem nahe an der Alltagssprache stehenden Redegestus aus (aumlhnlich wie der spaumlte Wittgen-stein) waumlhrend Conant aus der weiteren Perspektive ironische Zuumlge be-schreibt87 Gemeinsam ist den resoluten Lesern daszlig sie Wittgensteins Saumltze in der Abhandlung auf doppelte Weise auffassen Sie unterscheiden an vielen Stellen einen buchstaumlblichen naheliegenden Sinn der sich bei naumlherer Be-trachtung als inkohaumlrent erweist und der so zerfaumlllt88 Daher wird in ihrer

tungscharakter eingeklammert die Klaumlrungsfunktion jedoch trotzdem ermoumlglicht wird Er gewinnt so eine Kategorie von Saumltzen die raquounsinnig aber bedeutungsvolllaquo (176) sind

L Gunnarsson Wittgensteins Leiter Bodenheim 2002 greift einen Gedanken Conants auf daszlig wir naumlmlich den Hauptteil des Buches wegwerfen und den Rahmen behalten sollen (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 286) und entwickelt daraus die Fik-tion es waumlre tatsaumlchlich nur das Vorwort und der Schluszlig der Abhandlung erhalten ndash und will daraus den Gehalt des Buches ohne Verlust rekonstruieren Diese Veranschaulichung zeigt besonders klar auf wie verfehlt dieser Ansatz ist wenn man ihn auf die konkrete Interpretationspraxis bezieht

87 Die Parallele zwischen Wittgenstein und Kierkegaard scheint in zentralen Punkten gerade nicht zu bestehen denn Wittgenstein distanziert sich gerade nicht von seinem Buch sondern erklaumlrt seine Auffassungen fuumlr defi nitiv richtig und alternativlos ganz ent-gegen dem verwirrenden Spiel Kierkegaards mit unterschiedlichen Pseudonymen und Perspektiven Ein passenderer Vergleich waumlre etwa mit Hume moumlglich der am Ende seiner Untersuchung uumlber die Prinzipien der Moral (Abschnitt 9 Teil 1) seine Ergebnisse fuumlr derart einfach klar kohaumlrent und uumlberzeugend haumllt daszlig dem nichts hinzuzufuumlgen ist so daszlig er selbst geradezu in Versuchung kommen koumlnnte dogmatisch davon uumlberzeugt zu sein

88 So fuumlhrt Diamond (in Ethics wie Anm 37) folgende Beispiele dafuumlr an 1 das woruuml-ber man schweigen muszlig (aber das kann es doch nicht geben weil es kein raquodaruumlberlaquo ist S 149) 2 die Saumltze der Abhandlung die zu verstehen seien (oder doch raquoer selbstlaquo wie Witt-genstein dann uumlberraschenderweise sagt S 149) 3 die Anfangssaumltze uumlber die Welt (aber daruumlber kann es doch keine Saumltze geben S 160) 4 der Schein daszlig ab 64 Saumltze uumlber Ethik

122 Wolfgang Kienzler PhR

Perspektive das Buch durchgehend doppelboumldig und loumlst sich schlieszliglich in Nichts auf wobei in der Aufl oumlsung gerade die Absicht des Buches bestehen soll89 Demgegenuumlber kann festgehalten werden daszlig Wittgenstein nir-gends von Ironie spricht wohl aber davon daszlig er das Wesentliche in Kuumlr-ze klar ausdruumlcken will Eine wichtige Differenz innerhalb der resoluten Lesart liegt weiter darin welche Wichtigkeit man den eher technischen Aspekten der Abhandlung zuschreibt Ricketts und Goldfarb sehen viele Zuumlge des Buches von technischen Erwaumlgungen motiviert und gepraumlgt waumlhrend Diamond und Conant den Sinn der symbolischen Notation vor allem darin sehen wesentliche Unterschiede klarzustellen90

Das Motto erklaumlrt daszlig man raquoalles was man weiszliglaquo schlieszliglich raquoin drei Worten sagenlaquo kann Viele der scheinbaren Widerspruumlche und Doppelt-heiten die resolute Leser beobachten koumlnnten sich von daher moumlglicher-weise der Absicht verdanken im Buch logisch praumlzise Saumltze zu erwarten eine Absicht die bestaumlndig getaumluscht wird91 Wuumlrde man die Saumltze eher als Instrumente verstehen die allmaumlhlich entsprechend den Stufen der Lei-ter zur Klarheit anleiten ohne daszlig der Leser in die selbstrefl exive Geste verwickelt werden soll dann koumlnnte eine einfachere und klarere Lesart entstehen die auch mehr Sinn fuumlr den Zusammenhang und die spezi-fi schen Darstellungsmittel des Buches entwickeln wuumlrde ndash wenn denn eine solche zusammenhaumlngende Erlaumluterung als gemeinsames Ziel fest-staumlnde92 Auch Fragen der Textkritik die derzeit nur sehr sporadisch ge-streift werden koumlnnten dann eine groumlszligere Rolle spielen

Wolfgang Kienzler (ChemnitzJena)

vorkommen (die es doch gar nicht geben kann S 164) 5 der Schein daszlig im Buch Saumltze raquouumlber Logiklaquo vorkommen (die es ebenfalls nicht geben kann S 164) In allen Beispielen kann man die Situation natuumlrlicher so darstellen daszlig man die Saumltze der Abhandlung von vornherein zwar woumlrtlich aber nicht buchstaumlblich nimmt sondern sich von ihren zur Klarheit die sich erst allmaumlhlich einstellen kann fuumlhren laumlszligt

89 Diese Doppeltheit der Lesart ist den resoluten Lesern und ihren Kritikern gemein-sam sie ist aber keineswegs selbstverstaumlndlich und widerspricht dem Grundgedanken der Klarheit

90 Dies ist das Thema von Diamond What Does a Concept-Script Do in The Realistic Spirit S 115ndash144 Sie sieht darin ein raquoWerkzeug geistiger Befreiunglaquo (143) deutet damit aber tendenziell wieder einen Gedanken der Abhandlung in Frege hinein der zunaumlchst die Umgangssprache ganz zugunsten der exakteren Begriffsschrift verbannen wollte

91 In weiten Teilen der resoluten Beitraumlge kann man auch eine gewisse Vergegenstaumlnd-lichung mancher von Wittgenstein verwendeter Woumlrter wahrnehmen die dazu fuumlhren daszlig die Rede von raquoUnsinnlaquo raquoErlaumluterunglaquo u a zunaumlchst gegenstaumlndlich miszligverstanden und anschlieszligend als Gegenstaumlndlichkeit leugnend gedeutet wird Eine Beachtung von Wittgensteins ungezwungenem und unterminologischem Sprachgebrauch koumlnnte viele dieser Schleifen uumlberfl uumlssig machen

92 Das Buch von McGinn kann dazu als erster wichtiger konstruktiver Schritt angese-hen werden auch wenn es insgesamt etwas zu additiv verfaumlhrt

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117Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

leisten will Hacker sieht einen eklatanten Gegensatz zwischen Wittgen-steins Erklaumlrung nichts lehren zu wollen und seinem tatsaumlchlichen Vor-gehen seine Gegner versuchen gerade diese Aumluszligerungen Wittgensteins zu verstehen und ihnen entsprechend den Text so zu lesen daszlig er keine raquoLehrenlaquo enthaumllt sondern auf andere Art und Weise arbeitet

Hacker versucht entsprechend auch nicht Diamond und Conant ge-recht zu werden sondern listet vor allem eine Reihe von Kritikpunkten auf Zum einen weist er auf eine gewisse hermeneutische Willkuumlr hin mit der nur relativ wenige insgesamt unzusammenhaumlngende Partien herange-zogen werden wobei einige Passagen doch wieder als ganz gewoumlhnlich und sinnvoll gelesen werden ohne daszlig eine klare Abgrenzung nach Kri-terien gegeben wuumlrde Die haumlufi g verwendete Rede vom raquoRahmenlaquo des Buches im Unterschied zum raquoHauptteillaquo bleibt ihm zufolge unklar abge-grenzt da zum Rahmen auch Bemerkungen wie 4112 aus der Mitte des Textes gezaumlhlt werden73 Im Zusammenhang damit weist er darauf hin daszlig zwischen den Arten von Unsinn doch ein Unterschied gemacht wer-de wenigstens nach der Wirkung auf den Leser74 Und schlieszliglich ver-sucht er nachzuweisen daszlig Wittgenstein selbst weder in seiner fruumlheren noch in seiner spaumlteren Zeit eine solche radikale Lesart seiner eigenen Ar-beit vorgetragen oder unterstuumltzt habe

Eine spezielle Streitfrage liegt darin ob es nach Wittgenstein raquoUumlbertre-tungen der logischen Syntaxlaquo geben koumlnne Diamond und Conant be-haupten nein Hacker versucht an Beispielen aufzuzeigen daszlig Wittgen-stein dies wiederholt anspricht (S 365ndash367)75 Der grundlegende Dissens betrifft hier die Frage ob Wittgenstein sich vorrangig um den Begriff und die Festlegung einer logischen Syntax als Einfuumlhrung sinnvoller Rede be-muumlht denn wenn es um die Festlegung und ggf die Erweiterung und Ver-aumlnderung von Sinn geht dann gibt es nichts was uumlbertreten oder verfehlt werden koumlnnte ndash oder aber ob Wittgenstein wie Hacker ihn liest jemand ist der vor allem schon bestehende syntaktische Systeme betrachtet und dabei die Moumlglichkeiten behandelt sich gegenuumlber den Vorschriften be-

73 Conants Auskunft daszlig nicht der Ort im Text sondern die Funktion der Bemerkung daruumlber entscheide ob es zu Rahmen oder Hauptteil gehoumlre vermag als Gegenargument nicht wirklich zu uumlberzeugen

74 Dies leugnen Conant und Diamond keineswegs nur kommt es ihnen gerade auf den Unterschied zwischen logischen und anderen Einteilungsgruumlnden an

75 Dieser Punkt ist auch deswegen zentral weil fuumlr Hacker Unsinn genau dadurch ent-steht daszlig man die logische Syntax verletzt (Was he Trying S 367) waumlhrend fuumlr Conant und Diamond Unsinn dann vorliegt wenn wir mit einer Zeichenreihe schlicht nichts anfangen koumlnnen also kein Symbol darin erkennen Dieser Frage widmet Hacker den Aufsatz Wittgenstein Carnap and the New American Wittgensteinians in Philosophical Quar-terly 53 (2003) S 1ndash23 und Diamond die Entgegnung Logical Syntax in Wittgensteinrsquos Tractatus in Philosophical Quartely 55 (2005) S 78ndash88

118 Wolfgang Kienzler PhR

stimmter Systeme abweichend zu verhalten und ihre Regeln zu verletzen Die Frage ist ob Wittgenstein die Syntax mit einem bestehenden Spiel analog setzt oder nicht76 Fuumlr beide Aspekte gibt es Belege im Text77

Eine gewisse Uumlbereinstimmung zwischen Hacker und seinen Gegnern liegt ironischerweise darin daszlig keine der beiden Seiten eine durchge-hende Interpretation der Abhandlung anstrebt Hacker haumllt dies aufgrund der Inkonsistenz fuumlr uninteressant (wenn auch theoretisch moumlglich) Dia-mond ist vorrangig an Einzelfragen und am methodischen Standard des spaumlten Wittgenstein interessiert (wozu sie in der Abhandlung letztlich doch nur eine Vorstufe fi ndet) und Conant ist hauptsaumlchlich damit beschaumlftigt vorgaumlngige Kriterien fuumlr eine uumlberzeugende Lektuumlre zu entwickeln78

Als zentrale unbeantwortete Frage bleibt daruumlber hinaus das Problem bestehen wie man Wittgensteins Sprache und die Art seiner Behaup-tungen im Text konsequent aufzufassen hat denn hier weist Hacker auf deutliche Inkonsistenzen der resoluten Leser hin Zum einen wird von raquobloszligem Unsinnlaquo gesprochen dann wieder werden Passagen so gelesen wie gewoumlhnliche behauptende Prosa zum einen ist von Ironie die Rede dann wieder scheint alles ganz woumlrtlich aufzufassen zu sein79

8 Marie McGinn hat den bisher ehrgeizigsten Versuch unternommen die Staumlrken beider konkurrierender Ansaumltze zu verbinden und die jewei-

76 Vgl Diamond (wie die vorige Anm) S 86 Hacker vertritt hier einen eher kantischen Ansatz der die Grenzen der Vernunft bereits abgesteckt vorfi ndet (ein fuumlr Hacker wichtiges Buch ist P Strawsons Kantdeutung in The Bounds of Sense) Diamond und Conant sehen Wittgenstein als radikaleren Denker nach dem diese Grenzen immer wieder neu bestimmt werden muumlssen bzw nach dem es genau genommen keine Grenzen gibt da das Entschei-dende die Moumlglichkeit neuer Begriffsbildungen ist ohne daszlig man sich an irgendeiner Vorgabe (oder Grenze) orientieren kann die man entweder trifft oder verfehlt

77 Zum einen schreibt Wittgenstein raquoWir koumlnnen einem Zeichen nicht den unrechten Sinn gebenlaquo (54733) also bei der Bedeutungsfestsetzung nichts verfehlen zum anderen erklaumlrt er schlicht Saumltze wie raquo1 ist eine Zahllaquo (41272) die sich auf unsere bestehende Spra-che beziehen fuumlr unsinnig weil darin das Wort raquoZahllaquo als gewoumlhnliches Begriffswort statt als raquoformaler Begrifflaquo und also falsch verwendet wird Daszlig 1 eine Zahl ist ist schon da-durch klar daszlig wir das Zahlzeichen 1 verwenden und gerade deshalb koumlnnen wir dies nicht noch zusaumltzlich behaupten Es ist allerdings richtig daszlig Wittgenstein im letzteren Fall strenggenommen nicht von der raquoVerletzung der logischen Syntaxlaquo spricht sondern das Gebilde einfach raquounsinniglaquo nennt da fuumlr solche Faumllle gar keine logische Syntax im exakten Sinn verfuumlgbar ist Die gesamte Abhandlung ist in dieser Hinsicht nirgends der Versuch eine vorliegende Syntax zu treffen aber auch nicht eine neue Syntax festzulegen sondern sie befaszligt sich vielmehr mit den Bedingungen der Moumlglichkeit von Syntax uumlberhaupt Insofern verfehlen sowohl Hacker auch Diamond und Conant diesen Kernpunkt des Buches

78 So etwa im Abschnitt What makes a Reading resolute in Mono-Wittgensteinianism S 42ndash47

79 Vgl dazu W Kienzler Die Sprache des Tractatus Klar oder deutlich Karl Kraus Witt-genstein und die Frage der Terminologie in F GoumlppelsriederJ Volbers (Ed) Philosophie als Lebensform Muumlnchen 2008 (im Erscheinen)

119Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

ligen Schwaumlchen zu vermeiden80 Sie will Wittgenstein keine metaphy-sischen Lehren zuschreiben81 aber doch sicherstellen daszlig wir aus dem Buch etwas Konstruktives lernen koumlnnen Dazu nimmt sie den Begriff der Klaumlrung als Orientierungspunkt Die Aufgabe des Buches ist es demnach die Logik der Sprache aufzuklaumlren Wenn dies aber ohne die Verwendung positiver Lehren geschehen soll muszlig es indirekt geschehen naumlmlich da-durch daszlig die Sprache sich indirekt selbst klaumlrt das heiszligt daszlig eine solche Klaumlrung nicht auf etwas auszligerhalb der Sprache Bezug nimmt denn das waumlre Kennzeichen einer metaphysischen Auffassung McGinn schreibt et-was kryptisch raquoEs ist ein Werk in dem die Natur des Satzes die schon klar ist obwohl wir sie noch nicht klar sehen sich selbst fuumlr uns klaumlrtlaquo82

Sie betont jedoch sehr zu Recht daszlig Wittgenstein in seiner Abhandlung die eine groszlige Frage loumlsen wollte raquoDas Wesen des Satzes angeben heiszligt das Wesen aller Beschreibung angeben also das Wesen der Weltlaquo (54711)83

Damit aber waumlren alle (oder raquodielaquo) philosophischen Probleme geloumlst Ohne eine solche Voraussetzung die Wittgenstein offenbar als grundle-gende Einsicht erschien ist seine Handlungsweise gar nicht nachvollzieh-bar naumlmlich ein uumlberaus kurzes Buch zu verfassen in dem alle philoso-phischen Fragen im Prinzip jedenfalls beantwortet sind Dies ist nur moumlglich wenn diese Fragen so eng zusammenhaumlngen daszlig die Loumlsung der einen zugleich die Loumlsung der anderen bedeutet Dieser Grundgedanke strukturiert McGinns Buch und gibt ihm eine klare Linie84 Sie untersucht die besonders von Conant behandelten Fragen nach den Bedingungen einer angemessenen Lektuumlre fast gar nicht und antwortet insofern nicht durch Gegenargumente sondern durch die Tat durch einen Gang durch das Buch Es uumlberrascht dabei daszlig sie den Anfang zunaumlchst weglaumlszligt und nach Einleitungskapiteln zur Abgrenzung gegen Frege und Russell gleich mit dem Begriff des Bildes und dann des Satzes beginnt Tatsaumlchlich zeigt McGinn uumlberzeugend auf daszlig die Eingangspassagen am besten als Hin-fuumlhrungen zur raquoTheorie des Satzeslaquo aufgefaszligt werden und nicht als eigen-staumlndiges Theoriestuumlck einer vorangestellten Ontologie (sei diese nur scheinbar als Illusion aufgebaut oder ernst gemeint vgl etwa Diamond

80 Marie McGinn Elucidating the Tractatus81 Marie McGinn Between Metaphysics and Nonsense Elucidation in Wittgensteinrsquos Tracta-

tus In Philosophical Quarterly 49 (1999) S 491ndash513 hier S 107)82 Damit bleibt McGinn nahe an Aumluszligerungen von Diamond und Conant (etwa Method

S 424)83 Zit in McGinn Elucidating S 24084 Das erste Kapitel The Single Great Problem behandelt diese Frage zeigt aber bereits

daszlig sich McGinn nicht vollstaumlndig auf den Text einlaumlszligt sondern ihn von Anfang an stark aus der Perspektive der Philosophischen Untersuchungen her deutet (die im letzen Kapitel er-neut den Maszligstab der Betrachtung bilden)

120 Wolfgang Kienzler PhR

Ethics S 160) Vor dem Hintergrund der Auffassung des sinnvollen Satzes wird der Anfang dann relativ leicht verstaumlndlich In der Darstellung von McGinn wird die Abhandlung wieder zu einer Abhandlung einer nuumlch-ternen Darlegung uumlber die Voraussetzungen sinnvollen Sprechens und Ausdruumlckens uumlber die Unterschiede der Satzarten und die allgemeine Form des Satzes Allerdings ruumlcken so die Einzelheiten der Sprachlogik ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit und die Fragen nach der Natur der Philosophie aber auch die nach der Einheit des Buches treten ganz in den Hintergrund Das Buch enthaumllt kein Kapitel zum Philosophiebegriff des fruumlhen Wittgenstein und kaum Erlaumluterungen zur spezifi schen Form der Darstellung oder zur Strategie der Praumlsentation Einige Themen wie die Ethik Arithmetik oder die Naturgesetze werden ganz uumlbergangen dabei waumlre an diesen Beispielen die angestrebte Einheitlichkeit erst richtig aufzuzeigen gewesen In dieser Hinsicht erklaumlrt McGinn die Abhandlung in der Form die sie 1916 noch hatte bevor Wittgenstein die Schluszligpassa-gen einarbeitete und als sie noch staumlrker eine Abhandlung in raquophiloso-phischer Logiklaquo war85 Gegen Diamond und Conant stellt sie klar heraus daszlig das Ziel der Klaumlrung raquodurch Einsicht in das Funktionieren der Spra-chelaquo erreicht werden soll und nicht indirekt dadurch daszlig raquodie Versuche philosophische Saumltze zu bilden als Unsinn erkannt werdenlaquo (S 254 Anm 6) Die sehr nuumlchterne Art McGinns zeigt einen Wittgenstein der ganz unironisch seine logisch-philosophische Konzeption Schritt fuumlr Schritt entwickelt86

85 Vgl Brian McGuinness Wittgensteinrsquos 1916 Abhandlung in R HallerK Puhl (Hg) Wittgenstein and the Future of Philosophy Wien 2002 S 272ndash282 Die grundlegenden philologischen Arbeiten von McGuinness werden in der gegenwaumlrtigen Debatte leider wenig fruchtbar gemacht

86 Das stark gestiegene Interesse am fruumlhen Wittgenstein hat eine ganze Reihe von Monographien hervorgebracht die jedoch nur selten das gelassene exegetische Niveau McGinns erreichen sondern in der Regel mehr oder weniger exzentrische Deutungen in den Mittelpunkt stellen

M Ostrow Wittgenstein and the Liberating Word CambridgeMass 2002 (eine Zusam-menfassung in Reck From Frege to Wittgenstein) versucht eine an Floyd orientierte raquodialek-tische Interpretationlaquo die sich am Leitmotiv des raquoerloumlsenden Worteslaquo orientiert aber ins-gesamt zu vage bleibt zumal sich die Differenz zum spaumlteren Wittgenstein ganz aufzuloumlsen scheint und wichtige Passagen unberuumlcksichtigt bleiben

E Friedlander Signs of Sense Reading Wittgensteinrsquos Tractatus Cambridge Mass 2001 scheint das Raumltselhafte geradezu zu genieszligen und nennt als sein Ziel raquonicht das Raumltsel des Buches zu loumlsen sondern seinen raumltselhaften Charakter auf eine wahrhaft zum Denken herausfordernde Art aufzuzeigenlaquo (S XV) und will geradezu raquoseinen raumltselhaften Charak-ter rechtfertigenlaquo (16)

U Nordmann Wittgensteinrsquos Tractatus An Introduction Cambridge 2005 faszligt das Buch als ein Gedankenexperiment und eine groszlige Reductio ad Absurdum auf zu der er einige Praumlmissen ergaumlnzt Er deutet das Buch als im Konjunktiv geaumluszligert wodurch der Behaup-

121Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Ausblick

Die Arbeiten von Diamond und Conant haben zu einer neuen Welle des Interesses an Wittgensteins Fruumlhwerk gefuumlhrt und die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten vor allem aber auch das Potential seiner Abhandlung gelenkt Im Zentrum steht dabei die Natur der Philosophie als Erlaumlute-rung die selbst nicht in die Gestalt einer Lehre gebracht werden kann oder anders ausgedruumlckt der entscheidende Unterschied zwischen einer philosophischen und einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Untersu-chung

Gerade dadurch daszlig sie die Abhandlung stellenweise sehr nah an den spaumlten Wittgenstein heranruumlcken eroumlffnen Conant und Diamond Moumlg-lichkeiten die Souveraumlnitaumlt und Subtilitaumlt des Buches erst richtig zu wuumlr-digen Dies geschieht jedoch um den Preis daszlig einige Teile des Buches herausgegriffen andere dagegen kaum beruumlcksichtigt werden

Nicht hinreichend geklaumlrt scheint auch die Frage nach dem sprachlichen Grundton des Buches Diamond geht immer wieder von einem nahe an der Alltagssprache stehenden Redegestus aus (aumlhnlich wie der spaumlte Wittgen-stein) waumlhrend Conant aus der weiteren Perspektive ironische Zuumlge be-schreibt87 Gemeinsam ist den resoluten Lesern daszlig sie Wittgensteins Saumltze in der Abhandlung auf doppelte Weise auffassen Sie unterscheiden an vielen Stellen einen buchstaumlblichen naheliegenden Sinn der sich bei naumlherer Be-trachtung als inkohaumlrent erweist und der so zerfaumlllt88 Daher wird in ihrer

tungscharakter eingeklammert die Klaumlrungsfunktion jedoch trotzdem ermoumlglicht wird Er gewinnt so eine Kategorie von Saumltzen die raquounsinnig aber bedeutungsvolllaquo (176) sind

L Gunnarsson Wittgensteins Leiter Bodenheim 2002 greift einen Gedanken Conants auf daszlig wir naumlmlich den Hauptteil des Buches wegwerfen und den Rahmen behalten sollen (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 286) und entwickelt daraus die Fik-tion es waumlre tatsaumlchlich nur das Vorwort und der Schluszlig der Abhandlung erhalten ndash und will daraus den Gehalt des Buches ohne Verlust rekonstruieren Diese Veranschaulichung zeigt besonders klar auf wie verfehlt dieser Ansatz ist wenn man ihn auf die konkrete Interpretationspraxis bezieht

87 Die Parallele zwischen Wittgenstein und Kierkegaard scheint in zentralen Punkten gerade nicht zu bestehen denn Wittgenstein distanziert sich gerade nicht von seinem Buch sondern erklaumlrt seine Auffassungen fuumlr defi nitiv richtig und alternativlos ganz ent-gegen dem verwirrenden Spiel Kierkegaards mit unterschiedlichen Pseudonymen und Perspektiven Ein passenderer Vergleich waumlre etwa mit Hume moumlglich der am Ende seiner Untersuchung uumlber die Prinzipien der Moral (Abschnitt 9 Teil 1) seine Ergebnisse fuumlr derart einfach klar kohaumlrent und uumlberzeugend haumllt daszlig dem nichts hinzuzufuumlgen ist so daszlig er selbst geradezu in Versuchung kommen koumlnnte dogmatisch davon uumlberzeugt zu sein

88 So fuumlhrt Diamond (in Ethics wie Anm 37) folgende Beispiele dafuumlr an 1 das woruuml-ber man schweigen muszlig (aber das kann es doch nicht geben weil es kein raquodaruumlberlaquo ist S 149) 2 die Saumltze der Abhandlung die zu verstehen seien (oder doch raquoer selbstlaquo wie Witt-genstein dann uumlberraschenderweise sagt S 149) 3 die Anfangssaumltze uumlber die Welt (aber daruumlber kann es doch keine Saumltze geben S 160) 4 der Schein daszlig ab 64 Saumltze uumlber Ethik

122 Wolfgang Kienzler PhR

Perspektive das Buch durchgehend doppelboumldig und loumlst sich schlieszliglich in Nichts auf wobei in der Aufl oumlsung gerade die Absicht des Buches bestehen soll89 Demgegenuumlber kann festgehalten werden daszlig Wittgenstein nir-gends von Ironie spricht wohl aber davon daszlig er das Wesentliche in Kuumlr-ze klar ausdruumlcken will Eine wichtige Differenz innerhalb der resoluten Lesart liegt weiter darin welche Wichtigkeit man den eher technischen Aspekten der Abhandlung zuschreibt Ricketts und Goldfarb sehen viele Zuumlge des Buches von technischen Erwaumlgungen motiviert und gepraumlgt waumlhrend Diamond und Conant den Sinn der symbolischen Notation vor allem darin sehen wesentliche Unterschiede klarzustellen90

Das Motto erklaumlrt daszlig man raquoalles was man weiszliglaquo schlieszliglich raquoin drei Worten sagenlaquo kann Viele der scheinbaren Widerspruumlche und Doppelt-heiten die resolute Leser beobachten koumlnnten sich von daher moumlglicher-weise der Absicht verdanken im Buch logisch praumlzise Saumltze zu erwarten eine Absicht die bestaumlndig getaumluscht wird91 Wuumlrde man die Saumltze eher als Instrumente verstehen die allmaumlhlich entsprechend den Stufen der Lei-ter zur Klarheit anleiten ohne daszlig der Leser in die selbstrefl exive Geste verwickelt werden soll dann koumlnnte eine einfachere und klarere Lesart entstehen die auch mehr Sinn fuumlr den Zusammenhang und die spezi-fi schen Darstellungsmittel des Buches entwickeln wuumlrde ndash wenn denn eine solche zusammenhaumlngende Erlaumluterung als gemeinsames Ziel fest-staumlnde92 Auch Fragen der Textkritik die derzeit nur sehr sporadisch ge-streift werden koumlnnten dann eine groumlszligere Rolle spielen

Wolfgang Kienzler (ChemnitzJena)

vorkommen (die es doch gar nicht geben kann S 164) 5 der Schein daszlig im Buch Saumltze raquouumlber Logiklaquo vorkommen (die es ebenfalls nicht geben kann S 164) In allen Beispielen kann man die Situation natuumlrlicher so darstellen daszlig man die Saumltze der Abhandlung von vornherein zwar woumlrtlich aber nicht buchstaumlblich nimmt sondern sich von ihren zur Klarheit die sich erst allmaumlhlich einstellen kann fuumlhren laumlszligt

89 Diese Doppeltheit der Lesart ist den resoluten Lesern und ihren Kritikern gemein-sam sie ist aber keineswegs selbstverstaumlndlich und widerspricht dem Grundgedanken der Klarheit

90 Dies ist das Thema von Diamond What Does a Concept-Script Do in The Realistic Spirit S 115ndash144 Sie sieht darin ein raquoWerkzeug geistiger Befreiunglaquo (143) deutet damit aber tendenziell wieder einen Gedanken der Abhandlung in Frege hinein der zunaumlchst die Umgangssprache ganz zugunsten der exakteren Begriffsschrift verbannen wollte

91 In weiten Teilen der resoluten Beitraumlge kann man auch eine gewisse Vergegenstaumlnd-lichung mancher von Wittgenstein verwendeter Woumlrter wahrnehmen die dazu fuumlhren daszlig die Rede von raquoUnsinnlaquo raquoErlaumluterunglaquo u a zunaumlchst gegenstaumlndlich miszligverstanden und anschlieszligend als Gegenstaumlndlichkeit leugnend gedeutet wird Eine Beachtung von Wittgensteins ungezwungenem und unterminologischem Sprachgebrauch koumlnnte viele dieser Schleifen uumlberfl uumlssig machen

92 Das Buch von McGinn kann dazu als erster wichtiger konstruktiver Schritt angese-hen werden auch wenn es insgesamt etwas zu additiv verfaumlhrt

Page 24: Neue Lektüren von Wittgensteins Logisch-Philosophischer ... · 10 E. Stenius : Wittgensteins Traktat [1960], Frankfurt/M. 1969, nennt den Schluß »keine echte Verdammung [. . .]

118 Wolfgang Kienzler PhR

stimmter Systeme abweichend zu verhalten und ihre Regeln zu verletzen Die Frage ist ob Wittgenstein die Syntax mit einem bestehenden Spiel analog setzt oder nicht76 Fuumlr beide Aspekte gibt es Belege im Text77

Eine gewisse Uumlbereinstimmung zwischen Hacker und seinen Gegnern liegt ironischerweise darin daszlig keine der beiden Seiten eine durchge-hende Interpretation der Abhandlung anstrebt Hacker haumllt dies aufgrund der Inkonsistenz fuumlr uninteressant (wenn auch theoretisch moumlglich) Dia-mond ist vorrangig an Einzelfragen und am methodischen Standard des spaumlten Wittgenstein interessiert (wozu sie in der Abhandlung letztlich doch nur eine Vorstufe fi ndet) und Conant ist hauptsaumlchlich damit beschaumlftigt vorgaumlngige Kriterien fuumlr eine uumlberzeugende Lektuumlre zu entwickeln78

Als zentrale unbeantwortete Frage bleibt daruumlber hinaus das Problem bestehen wie man Wittgensteins Sprache und die Art seiner Behaup-tungen im Text konsequent aufzufassen hat denn hier weist Hacker auf deutliche Inkonsistenzen der resoluten Leser hin Zum einen wird von raquobloszligem Unsinnlaquo gesprochen dann wieder werden Passagen so gelesen wie gewoumlhnliche behauptende Prosa zum einen ist von Ironie die Rede dann wieder scheint alles ganz woumlrtlich aufzufassen zu sein79

8 Marie McGinn hat den bisher ehrgeizigsten Versuch unternommen die Staumlrken beider konkurrierender Ansaumltze zu verbinden und die jewei-

76 Vgl Diamond (wie die vorige Anm) S 86 Hacker vertritt hier einen eher kantischen Ansatz der die Grenzen der Vernunft bereits abgesteckt vorfi ndet (ein fuumlr Hacker wichtiges Buch ist P Strawsons Kantdeutung in The Bounds of Sense) Diamond und Conant sehen Wittgenstein als radikaleren Denker nach dem diese Grenzen immer wieder neu bestimmt werden muumlssen bzw nach dem es genau genommen keine Grenzen gibt da das Entschei-dende die Moumlglichkeit neuer Begriffsbildungen ist ohne daszlig man sich an irgendeiner Vorgabe (oder Grenze) orientieren kann die man entweder trifft oder verfehlt

77 Zum einen schreibt Wittgenstein raquoWir koumlnnen einem Zeichen nicht den unrechten Sinn gebenlaquo (54733) also bei der Bedeutungsfestsetzung nichts verfehlen zum anderen erklaumlrt er schlicht Saumltze wie raquo1 ist eine Zahllaquo (41272) die sich auf unsere bestehende Spra-che beziehen fuumlr unsinnig weil darin das Wort raquoZahllaquo als gewoumlhnliches Begriffswort statt als raquoformaler Begrifflaquo und also falsch verwendet wird Daszlig 1 eine Zahl ist ist schon da-durch klar daszlig wir das Zahlzeichen 1 verwenden und gerade deshalb koumlnnen wir dies nicht noch zusaumltzlich behaupten Es ist allerdings richtig daszlig Wittgenstein im letzteren Fall strenggenommen nicht von der raquoVerletzung der logischen Syntaxlaquo spricht sondern das Gebilde einfach raquounsinniglaquo nennt da fuumlr solche Faumllle gar keine logische Syntax im exakten Sinn verfuumlgbar ist Die gesamte Abhandlung ist in dieser Hinsicht nirgends der Versuch eine vorliegende Syntax zu treffen aber auch nicht eine neue Syntax festzulegen sondern sie befaszligt sich vielmehr mit den Bedingungen der Moumlglichkeit von Syntax uumlberhaupt Insofern verfehlen sowohl Hacker auch Diamond und Conant diesen Kernpunkt des Buches

78 So etwa im Abschnitt What makes a Reading resolute in Mono-Wittgensteinianism S 42ndash47

79 Vgl dazu W Kienzler Die Sprache des Tractatus Klar oder deutlich Karl Kraus Witt-genstein und die Frage der Terminologie in F GoumlppelsriederJ Volbers (Ed) Philosophie als Lebensform Muumlnchen 2008 (im Erscheinen)

119Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

ligen Schwaumlchen zu vermeiden80 Sie will Wittgenstein keine metaphy-sischen Lehren zuschreiben81 aber doch sicherstellen daszlig wir aus dem Buch etwas Konstruktives lernen koumlnnen Dazu nimmt sie den Begriff der Klaumlrung als Orientierungspunkt Die Aufgabe des Buches ist es demnach die Logik der Sprache aufzuklaumlren Wenn dies aber ohne die Verwendung positiver Lehren geschehen soll muszlig es indirekt geschehen naumlmlich da-durch daszlig die Sprache sich indirekt selbst klaumlrt das heiszligt daszlig eine solche Klaumlrung nicht auf etwas auszligerhalb der Sprache Bezug nimmt denn das waumlre Kennzeichen einer metaphysischen Auffassung McGinn schreibt et-was kryptisch raquoEs ist ein Werk in dem die Natur des Satzes die schon klar ist obwohl wir sie noch nicht klar sehen sich selbst fuumlr uns klaumlrtlaquo82

Sie betont jedoch sehr zu Recht daszlig Wittgenstein in seiner Abhandlung die eine groszlige Frage loumlsen wollte raquoDas Wesen des Satzes angeben heiszligt das Wesen aller Beschreibung angeben also das Wesen der Weltlaquo (54711)83

Damit aber waumlren alle (oder raquodielaquo) philosophischen Probleme geloumlst Ohne eine solche Voraussetzung die Wittgenstein offenbar als grundle-gende Einsicht erschien ist seine Handlungsweise gar nicht nachvollzieh-bar naumlmlich ein uumlberaus kurzes Buch zu verfassen in dem alle philoso-phischen Fragen im Prinzip jedenfalls beantwortet sind Dies ist nur moumlglich wenn diese Fragen so eng zusammenhaumlngen daszlig die Loumlsung der einen zugleich die Loumlsung der anderen bedeutet Dieser Grundgedanke strukturiert McGinns Buch und gibt ihm eine klare Linie84 Sie untersucht die besonders von Conant behandelten Fragen nach den Bedingungen einer angemessenen Lektuumlre fast gar nicht und antwortet insofern nicht durch Gegenargumente sondern durch die Tat durch einen Gang durch das Buch Es uumlberrascht dabei daszlig sie den Anfang zunaumlchst weglaumlszligt und nach Einleitungskapiteln zur Abgrenzung gegen Frege und Russell gleich mit dem Begriff des Bildes und dann des Satzes beginnt Tatsaumlchlich zeigt McGinn uumlberzeugend auf daszlig die Eingangspassagen am besten als Hin-fuumlhrungen zur raquoTheorie des Satzeslaquo aufgefaszligt werden und nicht als eigen-staumlndiges Theoriestuumlck einer vorangestellten Ontologie (sei diese nur scheinbar als Illusion aufgebaut oder ernst gemeint vgl etwa Diamond

80 Marie McGinn Elucidating the Tractatus81 Marie McGinn Between Metaphysics and Nonsense Elucidation in Wittgensteinrsquos Tracta-

tus In Philosophical Quarterly 49 (1999) S 491ndash513 hier S 107)82 Damit bleibt McGinn nahe an Aumluszligerungen von Diamond und Conant (etwa Method

S 424)83 Zit in McGinn Elucidating S 24084 Das erste Kapitel The Single Great Problem behandelt diese Frage zeigt aber bereits

daszlig sich McGinn nicht vollstaumlndig auf den Text einlaumlszligt sondern ihn von Anfang an stark aus der Perspektive der Philosophischen Untersuchungen her deutet (die im letzen Kapitel er-neut den Maszligstab der Betrachtung bilden)

120 Wolfgang Kienzler PhR

Ethics S 160) Vor dem Hintergrund der Auffassung des sinnvollen Satzes wird der Anfang dann relativ leicht verstaumlndlich In der Darstellung von McGinn wird die Abhandlung wieder zu einer Abhandlung einer nuumlch-ternen Darlegung uumlber die Voraussetzungen sinnvollen Sprechens und Ausdruumlckens uumlber die Unterschiede der Satzarten und die allgemeine Form des Satzes Allerdings ruumlcken so die Einzelheiten der Sprachlogik ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit und die Fragen nach der Natur der Philosophie aber auch die nach der Einheit des Buches treten ganz in den Hintergrund Das Buch enthaumllt kein Kapitel zum Philosophiebegriff des fruumlhen Wittgenstein und kaum Erlaumluterungen zur spezifi schen Form der Darstellung oder zur Strategie der Praumlsentation Einige Themen wie die Ethik Arithmetik oder die Naturgesetze werden ganz uumlbergangen dabei waumlre an diesen Beispielen die angestrebte Einheitlichkeit erst richtig aufzuzeigen gewesen In dieser Hinsicht erklaumlrt McGinn die Abhandlung in der Form die sie 1916 noch hatte bevor Wittgenstein die Schluszligpassa-gen einarbeitete und als sie noch staumlrker eine Abhandlung in raquophiloso-phischer Logiklaquo war85 Gegen Diamond und Conant stellt sie klar heraus daszlig das Ziel der Klaumlrung raquodurch Einsicht in das Funktionieren der Spra-chelaquo erreicht werden soll und nicht indirekt dadurch daszlig raquodie Versuche philosophische Saumltze zu bilden als Unsinn erkannt werdenlaquo (S 254 Anm 6) Die sehr nuumlchterne Art McGinns zeigt einen Wittgenstein der ganz unironisch seine logisch-philosophische Konzeption Schritt fuumlr Schritt entwickelt86

85 Vgl Brian McGuinness Wittgensteinrsquos 1916 Abhandlung in R HallerK Puhl (Hg) Wittgenstein and the Future of Philosophy Wien 2002 S 272ndash282 Die grundlegenden philologischen Arbeiten von McGuinness werden in der gegenwaumlrtigen Debatte leider wenig fruchtbar gemacht

86 Das stark gestiegene Interesse am fruumlhen Wittgenstein hat eine ganze Reihe von Monographien hervorgebracht die jedoch nur selten das gelassene exegetische Niveau McGinns erreichen sondern in der Regel mehr oder weniger exzentrische Deutungen in den Mittelpunkt stellen

M Ostrow Wittgenstein and the Liberating Word CambridgeMass 2002 (eine Zusam-menfassung in Reck From Frege to Wittgenstein) versucht eine an Floyd orientierte raquodialek-tische Interpretationlaquo die sich am Leitmotiv des raquoerloumlsenden Worteslaquo orientiert aber ins-gesamt zu vage bleibt zumal sich die Differenz zum spaumlteren Wittgenstein ganz aufzuloumlsen scheint und wichtige Passagen unberuumlcksichtigt bleiben

E Friedlander Signs of Sense Reading Wittgensteinrsquos Tractatus Cambridge Mass 2001 scheint das Raumltselhafte geradezu zu genieszligen und nennt als sein Ziel raquonicht das Raumltsel des Buches zu loumlsen sondern seinen raumltselhaften Charakter auf eine wahrhaft zum Denken herausfordernde Art aufzuzeigenlaquo (S XV) und will geradezu raquoseinen raumltselhaften Charak-ter rechtfertigenlaquo (16)

U Nordmann Wittgensteinrsquos Tractatus An Introduction Cambridge 2005 faszligt das Buch als ein Gedankenexperiment und eine groszlige Reductio ad Absurdum auf zu der er einige Praumlmissen ergaumlnzt Er deutet das Buch als im Konjunktiv geaumluszligert wodurch der Behaup-

121Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Ausblick

Die Arbeiten von Diamond und Conant haben zu einer neuen Welle des Interesses an Wittgensteins Fruumlhwerk gefuumlhrt und die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten vor allem aber auch das Potential seiner Abhandlung gelenkt Im Zentrum steht dabei die Natur der Philosophie als Erlaumlute-rung die selbst nicht in die Gestalt einer Lehre gebracht werden kann oder anders ausgedruumlckt der entscheidende Unterschied zwischen einer philosophischen und einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Untersu-chung

Gerade dadurch daszlig sie die Abhandlung stellenweise sehr nah an den spaumlten Wittgenstein heranruumlcken eroumlffnen Conant und Diamond Moumlg-lichkeiten die Souveraumlnitaumlt und Subtilitaumlt des Buches erst richtig zu wuumlr-digen Dies geschieht jedoch um den Preis daszlig einige Teile des Buches herausgegriffen andere dagegen kaum beruumlcksichtigt werden

Nicht hinreichend geklaumlrt scheint auch die Frage nach dem sprachlichen Grundton des Buches Diamond geht immer wieder von einem nahe an der Alltagssprache stehenden Redegestus aus (aumlhnlich wie der spaumlte Wittgen-stein) waumlhrend Conant aus der weiteren Perspektive ironische Zuumlge be-schreibt87 Gemeinsam ist den resoluten Lesern daszlig sie Wittgensteins Saumltze in der Abhandlung auf doppelte Weise auffassen Sie unterscheiden an vielen Stellen einen buchstaumlblichen naheliegenden Sinn der sich bei naumlherer Be-trachtung als inkohaumlrent erweist und der so zerfaumlllt88 Daher wird in ihrer

tungscharakter eingeklammert die Klaumlrungsfunktion jedoch trotzdem ermoumlglicht wird Er gewinnt so eine Kategorie von Saumltzen die raquounsinnig aber bedeutungsvolllaquo (176) sind

L Gunnarsson Wittgensteins Leiter Bodenheim 2002 greift einen Gedanken Conants auf daszlig wir naumlmlich den Hauptteil des Buches wegwerfen und den Rahmen behalten sollen (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 286) und entwickelt daraus die Fik-tion es waumlre tatsaumlchlich nur das Vorwort und der Schluszlig der Abhandlung erhalten ndash und will daraus den Gehalt des Buches ohne Verlust rekonstruieren Diese Veranschaulichung zeigt besonders klar auf wie verfehlt dieser Ansatz ist wenn man ihn auf die konkrete Interpretationspraxis bezieht

87 Die Parallele zwischen Wittgenstein und Kierkegaard scheint in zentralen Punkten gerade nicht zu bestehen denn Wittgenstein distanziert sich gerade nicht von seinem Buch sondern erklaumlrt seine Auffassungen fuumlr defi nitiv richtig und alternativlos ganz ent-gegen dem verwirrenden Spiel Kierkegaards mit unterschiedlichen Pseudonymen und Perspektiven Ein passenderer Vergleich waumlre etwa mit Hume moumlglich der am Ende seiner Untersuchung uumlber die Prinzipien der Moral (Abschnitt 9 Teil 1) seine Ergebnisse fuumlr derart einfach klar kohaumlrent und uumlberzeugend haumllt daszlig dem nichts hinzuzufuumlgen ist so daszlig er selbst geradezu in Versuchung kommen koumlnnte dogmatisch davon uumlberzeugt zu sein

88 So fuumlhrt Diamond (in Ethics wie Anm 37) folgende Beispiele dafuumlr an 1 das woruuml-ber man schweigen muszlig (aber das kann es doch nicht geben weil es kein raquodaruumlberlaquo ist S 149) 2 die Saumltze der Abhandlung die zu verstehen seien (oder doch raquoer selbstlaquo wie Witt-genstein dann uumlberraschenderweise sagt S 149) 3 die Anfangssaumltze uumlber die Welt (aber daruumlber kann es doch keine Saumltze geben S 160) 4 der Schein daszlig ab 64 Saumltze uumlber Ethik

122 Wolfgang Kienzler PhR

Perspektive das Buch durchgehend doppelboumldig und loumlst sich schlieszliglich in Nichts auf wobei in der Aufl oumlsung gerade die Absicht des Buches bestehen soll89 Demgegenuumlber kann festgehalten werden daszlig Wittgenstein nir-gends von Ironie spricht wohl aber davon daszlig er das Wesentliche in Kuumlr-ze klar ausdruumlcken will Eine wichtige Differenz innerhalb der resoluten Lesart liegt weiter darin welche Wichtigkeit man den eher technischen Aspekten der Abhandlung zuschreibt Ricketts und Goldfarb sehen viele Zuumlge des Buches von technischen Erwaumlgungen motiviert und gepraumlgt waumlhrend Diamond und Conant den Sinn der symbolischen Notation vor allem darin sehen wesentliche Unterschiede klarzustellen90

Das Motto erklaumlrt daszlig man raquoalles was man weiszliglaquo schlieszliglich raquoin drei Worten sagenlaquo kann Viele der scheinbaren Widerspruumlche und Doppelt-heiten die resolute Leser beobachten koumlnnten sich von daher moumlglicher-weise der Absicht verdanken im Buch logisch praumlzise Saumltze zu erwarten eine Absicht die bestaumlndig getaumluscht wird91 Wuumlrde man die Saumltze eher als Instrumente verstehen die allmaumlhlich entsprechend den Stufen der Lei-ter zur Klarheit anleiten ohne daszlig der Leser in die selbstrefl exive Geste verwickelt werden soll dann koumlnnte eine einfachere und klarere Lesart entstehen die auch mehr Sinn fuumlr den Zusammenhang und die spezi-fi schen Darstellungsmittel des Buches entwickeln wuumlrde ndash wenn denn eine solche zusammenhaumlngende Erlaumluterung als gemeinsames Ziel fest-staumlnde92 Auch Fragen der Textkritik die derzeit nur sehr sporadisch ge-streift werden koumlnnten dann eine groumlszligere Rolle spielen

Wolfgang Kienzler (ChemnitzJena)

vorkommen (die es doch gar nicht geben kann S 164) 5 der Schein daszlig im Buch Saumltze raquouumlber Logiklaquo vorkommen (die es ebenfalls nicht geben kann S 164) In allen Beispielen kann man die Situation natuumlrlicher so darstellen daszlig man die Saumltze der Abhandlung von vornherein zwar woumlrtlich aber nicht buchstaumlblich nimmt sondern sich von ihren zur Klarheit die sich erst allmaumlhlich einstellen kann fuumlhren laumlszligt

89 Diese Doppeltheit der Lesart ist den resoluten Lesern und ihren Kritikern gemein-sam sie ist aber keineswegs selbstverstaumlndlich und widerspricht dem Grundgedanken der Klarheit

90 Dies ist das Thema von Diamond What Does a Concept-Script Do in The Realistic Spirit S 115ndash144 Sie sieht darin ein raquoWerkzeug geistiger Befreiunglaquo (143) deutet damit aber tendenziell wieder einen Gedanken der Abhandlung in Frege hinein der zunaumlchst die Umgangssprache ganz zugunsten der exakteren Begriffsschrift verbannen wollte

91 In weiten Teilen der resoluten Beitraumlge kann man auch eine gewisse Vergegenstaumlnd-lichung mancher von Wittgenstein verwendeter Woumlrter wahrnehmen die dazu fuumlhren daszlig die Rede von raquoUnsinnlaquo raquoErlaumluterunglaquo u a zunaumlchst gegenstaumlndlich miszligverstanden und anschlieszligend als Gegenstaumlndlichkeit leugnend gedeutet wird Eine Beachtung von Wittgensteins ungezwungenem und unterminologischem Sprachgebrauch koumlnnte viele dieser Schleifen uumlberfl uumlssig machen

92 Das Buch von McGinn kann dazu als erster wichtiger konstruktiver Schritt angese-hen werden auch wenn es insgesamt etwas zu additiv verfaumlhrt

Page 25: Neue Lektüren von Wittgensteins Logisch-Philosophischer ... · 10 E. Stenius : Wittgensteins Traktat [1960], Frankfurt/M. 1969, nennt den Schluß »keine echte Verdammung [. . .]

119Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

ligen Schwaumlchen zu vermeiden80 Sie will Wittgenstein keine metaphy-sischen Lehren zuschreiben81 aber doch sicherstellen daszlig wir aus dem Buch etwas Konstruktives lernen koumlnnen Dazu nimmt sie den Begriff der Klaumlrung als Orientierungspunkt Die Aufgabe des Buches ist es demnach die Logik der Sprache aufzuklaumlren Wenn dies aber ohne die Verwendung positiver Lehren geschehen soll muszlig es indirekt geschehen naumlmlich da-durch daszlig die Sprache sich indirekt selbst klaumlrt das heiszligt daszlig eine solche Klaumlrung nicht auf etwas auszligerhalb der Sprache Bezug nimmt denn das waumlre Kennzeichen einer metaphysischen Auffassung McGinn schreibt et-was kryptisch raquoEs ist ein Werk in dem die Natur des Satzes die schon klar ist obwohl wir sie noch nicht klar sehen sich selbst fuumlr uns klaumlrtlaquo82

Sie betont jedoch sehr zu Recht daszlig Wittgenstein in seiner Abhandlung die eine groszlige Frage loumlsen wollte raquoDas Wesen des Satzes angeben heiszligt das Wesen aller Beschreibung angeben also das Wesen der Weltlaquo (54711)83

Damit aber waumlren alle (oder raquodielaquo) philosophischen Probleme geloumlst Ohne eine solche Voraussetzung die Wittgenstein offenbar als grundle-gende Einsicht erschien ist seine Handlungsweise gar nicht nachvollzieh-bar naumlmlich ein uumlberaus kurzes Buch zu verfassen in dem alle philoso-phischen Fragen im Prinzip jedenfalls beantwortet sind Dies ist nur moumlglich wenn diese Fragen so eng zusammenhaumlngen daszlig die Loumlsung der einen zugleich die Loumlsung der anderen bedeutet Dieser Grundgedanke strukturiert McGinns Buch und gibt ihm eine klare Linie84 Sie untersucht die besonders von Conant behandelten Fragen nach den Bedingungen einer angemessenen Lektuumlre fast gar nicht und antwortet insofern nicht durch Gegenargumente sondern durch die Tat durch einen Gang durch das Buch Es uumlberrascht dabei daszlig sie den Anfang zunaumlchst weglaumlszligt und nach Einleitungskapiteln zur Abgrenzung gegen Frege und Russell gleich mit dem Begriff des Bildes und dann des Satzes beginnt Tatsaumlchlich zeigt McGinn uumlberzeugend auf daszlig die Eingangspassagen am besten als Hin-fuumlhrungen zur raquoTheorie des Satzeslaquo aufgefaszligt werden und nicht als eigen-staumlndiges Theoriestuumlck einer vorangestellten Ontologie (sei diese nur scheinbar als Illusion aufgebaut oder ernst gemeint vgl etwa Diamond

80 Marie McGinn Elucidating the Tractatus81 Marie McGinn Between Metaphysics and Nonsense Elucidation in Wittgensteinrsquos Tracta-

tus In Philosophical Quarterly 49 (1999) S 491ndash513 hier S 107)82 Damit bleibt McGinn nahe an Aumluszligerungen von Diamond und Conant (etwa Method

S 424)83 Zit in McGinn Elucidating S 24084 Das erste Kapitel The Single Great Problem behandelt diese Frage zeigt aber bereits

daszlig sich McGinn nicht vollstaumlndig auf den Text einlaumlszligt sondern ihn von Anfang an stark aus der Perspektive der Philosophischen Untersuchungen her deutet (die im letzen Kapitel er-neut den Maszligstab der Betrachtung bilden)

120 Wolfgang Kienzler PhR

Ethics S 160) Vor dem Hintergrund der Auffassung des sinnvollen Satzes wird der Anfang dann relativ leicht verstaumlndlich In der Darstellung von McGinn wird die Abhandlung wieder zu einer Abhandlung einer nuumlch-ternen Darlegung uumlber die Voraussetzungen sinnvollen Sprechens und Ausdruumlckens uumlber die Unterschiede der Satzarten und die allgemeine Form des Satzes Allerdings ruumlcken so die Einzelheiten der Sprachlogik ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit und die Fragen nach der Natur der Philosophie aber auch die nach der Einheit des Buches treten ganz in den Hintergrund Das Buch enthaumllt kein Kapitel zum Philosophiebegriff des fruumlhen Wittgenstein und kaum Erlaumluterungen zur spezifi schen Form der Darstellung oder zur Strategie der Praumlsentation Einige Themen wie die Ethik Arithmetik oder die Naturgesetze werden ganz uumlbergangen dabei waumlre an diesen Beispielen die angestrebte Einheitlichkeit erst richtig aufzuzeigen gewesen In dieser Hinsicht erklaumlrt McGinn die Abhandlung in der Form die sie 1916 noch hatte bevor Wittgenstein die Schluszligpassa-gen einarbeitete und als sie noch staumlrker eine Abhandlung in raquophiloso-phischer Logiklaquo war85 Gegen Diamond und Conant stellt sie klar heraus daszlig das Ziel der Klaumlrung raquodurch Einsicht in das Funktionieren der Spra-chelaquo erreicht werden soll und nicht indirekt dadurch daszlig raquodie Versuche philosophische Saumltze zu bilden als Unsinn erkannt werdenlaquo (S 254 Anm 6) Die sehr nuumlchterne Art McGinns zeigt einen Wittgenstein der ganz unironisch seine logisch-philosophische Konzeption Schritt fuumlr Schritt entwickelt86

85 Vgl Brian McGuinness Wittgensteinrsquos 1916 Abhandlung in R HallerK Puhl (Hg) Wittgenstein and the Future of Philosophy Wien 2002 S 272ndash282 Die grundlegenden philologischen Arbeiten von McGuinness werden in der gegenwaumlrtigen Debatte leider wenig fruchtbar gemacht

86 Das stark gestiegene Interesse am fruumlhen Wittgenstein hat eine ganze Reihe von Monographien hervorgebracht die jedoch nur selten das gelassene exegetische Niveau McGinns erreichen sondern in der Regel mehr oder weniger exzentrische Deutungen in den Mittelpunkt stellen

M Ostrow Wittgenstein and the Liberating Word CambridgeMass 2002 (eine Zusam-menfassung in Reck From Frege to Wittgenstein) versucht eine an Floyd orientierte raquodialek-tische Interpretationlaquo die sich am Leitmotiv des raquoerloumlsenden Worteslaquo orientiert aber ins-gesamt zu vage bleibt zumal sich die Differenz zum spaumlteren Wittgenstein ganz aufzuloumlsen scheint und wichtige Passagen unberuumlcksichtigt bleiben

E Friedlander Signs of Sense Reading Wittgensteinrsquos Tractatus Cambridge Mass 2001 scheint das Raumltselhafte geradezu zu genieszligen und nennt als sein Ziel raquonicht das Raumltsel des Buches zu loumlsen sondern seinen raumltselhaften Charakter auf eine wahrhaft zum Denken herausfordernde Art aufzuzeigenlaquo (S XV) und will geradezu raquoseinen raumltselhaften Charak-ter rechtfertigenlaquo (16)

U Nordmann Wittgensteinrsquos Tractatus An Introduction Cambridge 2005 faszligt das Buch als ein Gedankenexperiment und eine groszlige Reductio ad Absurdum auf zu der er einige Praumlmissen ergaumlnzt Er deutet das Buch als im Konjunktiv geaumluszligert wodurch der Behaup-

121Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Ausblick

Die Arbeiten von Diamond und Conant haben zu einer neuen Welle des Interesses an Wittgensteins Fruumlhwerk gefuumlhrt und die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten vor allem aber auch das Potential seiner Abhandlung gelenkt Im Zentrum steht dabei die Natur der Philosophie als Erlaumlute-rung die selbst nicht in die Gestalt einer Lehre gebracht werden kann oder anders ausgedruumlckt der entscheidende Unterschied zwischen einer philosophischen und einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Untersu-chung

Gerade dadurch daszlig sie die Abhandlung stellenweise sehr nah an den spaumlten Wittgenstein heranruumlcken eroumlffnen Conant und Diamond Moumlg-lichkeiten die Souveraumlnitaumlt und Subtilitaumlt des Buches erst richtig zu wuumlr-digen Dies geschieht jedoch um den Preis daszlig einige Teile des Buches herausgegriffen andere dagegen kaum beruumlcksichtigt werden

Nicht hinreichend geklaumlrt scheint auch die Frage nach dem sprachlichen Grundton des Buches Diamond geht immer wieder von einem nahe an der Alltagssprache stehenden Redegestus aus (aumlhnlich wie der spaumlte Wittgen-stein) waumlhrend Conant aus der weiteren Perspektive ironische Zuumlge be-schreibt87 Gemeinsam ist den resoluten Lesern daszlig sie Wittgensteins Saumltze in der Abhandlung auf doppelte Weise auffassen Sie unterscheiden an vielen Stellen einen buchstaumlblichen naheliegenden Sinn der sich bei naumlherer Be-trachtung als inkohaumlrent erweist und der so zerfaumlllt88 Daher wird in ihrer

tungscharakter eingeklammert die Klaumlrungsfunktion jedoch trotzdem ermoumlglicht wird Er gewinnt so eine Kategorie von Saumltzen die raquounsinnig aber bedeutungsvolllaquo (176) sind

L Gunnarsson Wittgensteins Leiter Bodenheim 2002 greift einen Gedanken Conants auf daszlig wir naumlmlich den Hauptteil des Buches wegwerfen und den Rahmen behalten sollen (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 286) und entwickelt daraus die Fik-tion es waumlre tatsaumlchlich nur das Vorwort und der Schluszlig der Abhandlung erhalten ndash und will daraus den Gehalt des Buches ohne Verlust rekonstruieren Diese Veranschaulichung zeigt besonders klar auf wie verfehlt dieser Ansatz ist wenn man ihn auf die konkrete Interpretationspraxis bezieht

87 Die Parallele zwischen Wittgenstein und Kierkegaard scheint in zentralen Punkten gerade nicht zu bestehen denn Wittgenstein distanziert sich gerade nicht von seinem Buch sondern erklaumlrt seine Auffassungen fuumlr defi nitiv richtig und alternativlos ganz ent-gegen dem verwirrenden Spiel Kierkegaards mit unterschiedlichen Pseudonymen und Perspektiven Ein passenderer Vergleich waumlre etwa mit Hume moumlglich der am Ende seiner Untersuchung uumlber die Prinzipien der Moral (Abschnitt 9 Teil 1) seine Ergebnisse fuumlr derart einfach klar kohaumlrent und uumlberzeugend haumllt daszlig dem nichts hinzuzufuumlgen ist so daszlig er selbst geradezu in Versuchung kommen koumlnnte dogmatisch davon uumlberzeugt zu sein

88 So fuumlhrt Diamond (in Ethics wie Anm 37) folgende Beispiele dafuumlr an 1 das woruuml-ber man schweigen muszlig (aber das kann es doch nicht geben weil es kein raquodaruumlberlaquo ist S 149) 2 die Saumltze der Abhandlung die zu verstehen seien (oder doch raquoer selbstlaquo wie Witt-genstein dann uumlberraschenderweise sagt S 149) 3 die Anfangssaumltze uumlber die Welt (aber daruumlber kann es doch keine Saumltze geben S 160) 4 der Schein daszlig ab 64 Saumltze uumlber Ethik

122 Wolfgang Kienzler PhR

Perspektive das Buch durchgehend doppelboumldig und loumlst sich schlieszliglich in Nichts auf wobei in der Aufl oumlsung gerade die Absicht des Buches bestehen soll89 Demgegenuumlber kann festgehalten werden daszlig Wittgenstein nir-gends von Ironie spricht wohl aber davon daszlig er das Wesentliche in Kuumlr-ze klar ausdruumlcken will Eine wichtige Differenz innerhalb der resoluten Lesart liegt weiter darin welche Wichtigkeit man den eher technischen Aspekten der Abhandlung zuschreibt Ricketts und Goldfarb sehen viele Zuumlge des Buches von technischen Erwaumlgungen motiviert und gepraumlgt waumlhrend Diamond und Conant den Sinn der symbolischen Notation vor allem darin sehen wesentliche Unterschiede klarzustellen90

Das Motto erklaumlrt daszlig man raquoalles was man weiszliglaquo schlieszliglich raquoin drei Worten sagenlaquo kann Viele der scheinbaren Widerspruumlche und Doppelt-heiten die resolute Leser beobachten koumlnnten sich von daher moumlglicher-weise der Absicht verdanken im Buch logisch praumlzise Saumltze zu erwarten eine Absicht die bestaumlndig getaumluscht wird91 Wuumlrde man die Saumltze eher als Instrumente verstehen die allmaumlhlich entsprechend den Stufen der Lei-ter zur Klarheit anleiten ohne daszlig der Leser in die selbstrefl exive Geste verwickelt werden soll dann koumlnnte eine einfachere und klarere Lesart entstehen die auch mehr Sinn fuumlr den Zusammenhang und die spezi-fi schen Darstellungsmittel des Buches entwickeln wuumlrde ndash wenn denn eine solche zusammenhaumlngende Erlaumluterung als gemeinsames Ziel fest-staumlnde92 Auch Fragen der Textkritik die derzeit nur sehr sporadisch ge-streift werden koumlnnten dann eine groumlszligere Rolle spielen

Wolfgang Kienzler (ChemnitzJena)

vorkommen (die es doch gar nicht geben kann S 164) 5 der Schein daszlig im Buch Saumltze raquouumlber Logiklaquo vorkommen (die es ebenfalls nicht geben kann S 164) In allen Beispielen kann man die Situation natuumlrlicher so darstellen daszlig man die Saumltze der Abhandlung von vornherein zwar woumlrtlich aber nicht buchstaumlblich nimmt sondern sich von ihren zur Klarheit die sich erst allmaumlhlich einstellen kann fuumlhren laumlszligt

89 Diese Doppeltheit der Lesart ist den resoluten Lesern und ihren Kritikern gemein-sam sie ist aber keineswegs selbstverstaumlndlich und widerspricht dem Grundgedanken der Klarheit

90 Dies ist das Thema von Diamond What Does a Concept-Script Do in The Realistic Spirit S 115ndash144 Sie sieht darin ein raquoWerkzeug geistiger Befreiunglaquo (143) deutet damit aber tendenziell wieder einen Gedanken der Abhandlung in Frege hinein der zunaumlchst die Umgangssprache ganz zugunsten der exakteren Begriffsschrift verbannen wollte

91 In weiten Teilen der resoluten Beitraumlge kann man auch eine gewisse Vergegenstaumlnd-lichung mancher von Wittgenstein verwendeter Woumlrter wahrnehmen die dazu fuumlhren daszlig die Rede von raquoUnsinnlaquo raquoErlaumluterunglaquo u a zunaumlchst gegenstaumlndlich miszligverstanden und anschlieszligend als Gegenstaumlndlichkeit leugnend gedeutet wird Eine Beachtung von Wittgensteins ungezwungenem und unterminologischem Sprachgebrauch koumlnnte viele dieser Schleifen uumlberfl uumlssig machen

92 Das Buch von McGinn kann dazu als erster wichtiger konstruktiver Schritt angese-hen werden auch wenn es insgesamt etwas zu additiv verfaumlhrt

Page 26: Neue Lektüren von Wittgensteins Logisch-Philosophischer ... · 10 E. Stenius : Wittgensteins Traktat [1960], Frankfurt/M. 1969, nennt den Schluß »keine echte Verdammung [. . .]

120 Wolfgang Kienzler PhR

Ethics S 160) Vor dem Hintergrund der Auffassung des sinnvollen Satzes wird der Anfang dann relativ leicht verstaumlndlich In der Darstellung von McGinn wird die Abhandlung wieder zu einer Abhandlung einer nuumlch-ternen Darlegung uumlber die Voraussetzungen sinnvollen Sprechens und Ausdruumlckens uumlber die Unterschiede der Satzarten und die allgemeine Form des Satzes Allerdings ruumlcken so die Einzelheiten der Sprachlogik ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit und die Fragen nach der Natur der Philosophie aber auch die nach der Einheit des Buches treten ganz in den Hintergrund Das Buch enthaumllt kein Kapitel zum Philosophiebegriff des fruumlhen Wittgenstein und kaum Erlaumluterungen zur spezifi schen Form der Darstellung oder zur Strategie der Praumlsentation Einige Themen wie die Ethik Arithmetik oder die Naturgesetze werden ganz uumlbergangen dabei waumlre an diesen Beispielen die angestrebte Einheitlichkeit erst richtig aufzuzeigen gewesen In dieser Hinsicht erklaumlrt McGinn die Abhandlung in der Form die sie 1916 noch hatte bevor Wittgenstein die Schluszligpassa-gen einarbeitete und als sie noch staumlrker eine Abhandlung in raquophiloso-phischer Logiklaquo war85 Gegen Diamond und Conant stellt sie klar heraus daszlig das Ziel der Klaumlrung raquodurch Einsicht in das Funktionieren der Spra-chelaquo erreicht werden soll und nicht indirekt dadurch daszlig raquodie Versuche philosophische Saumltze zu bilden als Unsinn erkannt werdenlaquo (S 254 Anm 6) Die sehr nuumlchterne Art McGinns zeigt einen Wittgenstein der ganz unironisch seine logisch-philosophische Konzeption Schritt fuumlr Schritt entwickelt86

85 Vgl Brian McGuinness Wittgensteinrsquos 1916 Abhandlung in R HallerK Puhl (Hg) Wittgenstein and the Future of Philosophy Wien 2002 S 272ndash282 Die grundlegenden philologischen Arbeiten von McGuinness werden in der gegenwaumlrtigen Debatte leider wenig fruchtbar gemacht

86 Das stark gestiegene Interesse am fruumlhen Wittgenstein hat eine ganze Reihe von Monographien hervorgebracht die jedoch nur selten das gelassene exegetische Niveau McGinns erreichen sondern in der Regel mehr oder weniger exzentrische Deutungen in den Mittelpunkt stellen

M Ostrow Wittgenstein and the Liberating Word CambridgeMass 2002 (eine Zusam-menfassung in Reck From Frege to Wittgenstein) versucht eine an Floyd orientierte raquodialek-tische Interpretationlaquo die sich am Leitmotiv des raquoerloumlsenden Worteslaquo orientiert aber ins-gesamt zu vage bleibt zumal sich die Differenz zum spaumlteren Wittgenstein ganz aufzuloumlsen scheint und wichtige Passagen unberuumlcksichtigt bleiben

E Friedlander Signs of Sense Reading Wittgensteinrsquos Tractatus Cambridge Mass 2001 scheint das Raumltselhafte geradezu zu genieszligen und nennt als sein Ziel raquonicht das Raumltsel des Buches zu loumlsen sondern seinen raumltselhaften Charakter auf eine wahrhaft zum Denken herausfordernde Art aufzuzeigenlaquo (S XV) und will geradezu raquoseinen raumltselhaften Charak-ter rechtfertigenlaquo (16)

U Nordmann Wittgensteinrsquos Tractatus An Introduction Cambridge 2005 faszligt das Buch als ein Gedankenexperiment und eine groszlige Reductio ad Absurdum auf zu der er einige Praumlmissen ergaumlnzt Er deutet das Buch als im Konjunktiv geaumluszligert wodurch der Behaup-

121Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Ausblick

Die Arbeiten von Diamond und Conant haben zu einer neuen Welle des Interesses an Wittgensteins Fruumlhwerk gefuumlhrt und die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten vor allem aber auch das Potential seiner Abhandlung gelenkt Im Zentrum steht dabei die Natur der Philosophie als Erlaumlute-rung die selbst nicht in die Gestalt einer Lehre gebracht werden kann oder anders ausgedruumlckt der entscheidende Unterschied zwischen einer philosophischen und einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Untersu-chung

Gerade dadurch daszlig sie die Abhandlung stellenweise sehr nah an den spaumlten Wittgenstein heranruumlcken eroumlffnen Conant und Diamond Moumlg-lichkeiten die Souveraumlnitaumlt und Subtilitaumlt des Buches erst richtig zu wuumlr-digen Dies geschieht jedoch um den Preis daszlig einige Teile des Buches herausgegriffen andere dagegen kaum beruumlcksichtigt werden

Nicht hinreichend geklaumlrt scheint auch die Frage nach dem sprachlichen Grundton des Buches Diamond geht immer wieder von einem nahe an der Alltagssprache stehenden Redegestus aus (aumlhnlich wie der spaumlte Wittgen-stein) waumlhrend Conant aus der weiteren Perspektive ironische Zuumlge be-schreibt87 Gemeinsam ist den resoluten Lesern daszlig sie Wittgensteins Saumltze in der Abhandlung auf doppelte Weise auffassen Sie unterscheiden an vielen Stellen einen buchstaumlblichen naheliegenden Sinn der sich bei naumlherer Be-trachtung als inkohaumlrent erweist und der so zerfaumlllt88 Daher wird in ihrer

tungscharakter eingeklammert die Klaumlrungsfunktion jedoch trotzdem ermoumlglicht wird Er gewinnt so eine Kategorie von Saumltzen die raquounsinnig aber bedeutungsvolllaquo (176) sind

L Gunnarsson Wittgensteins Leiter Bodenheim 2002 greift einen Gedanken Conants auf daszlig wir naumlmlich den Hauptteil des Buches wegwerfen und den Rahmen behalten sollen (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 286) und entwickelt daraus die Fik-tion es waumlre tatsaumlchlich nur das Vorwort und der Schluszlig der Abhandlung erhalten ndash und will daraus den Gehalt des Buches ohne Verlust rekonstruieren Diese Veranschaulichung zeigt besonders klar auf wie verfehlt dieser Ansatz ist wenn man ihn auf die konkrete Interpretationspraxis bezieht

87 Die Parallele zwischen Wittgenstein und Kierkegaard scheint in zentralen Punkten gerade nicht zu bestehen denn Wittgenstein distanziert sich gerade nicht von seinem Buch sondern erklaumlrt seine Auffassungen fuumlr defi nitiv richtig und alternativlos ganz ent-gegen dem verwirrenden Spiel Kierkegaards mit unterschiedlichen Pseudonymen und Perspektiven Ein passenderer Vergleich waumlre etwa mit Hume moumlglich der am Ende seiner Untersuchung uumlber die Prinzipien der Moral (Abschnitt 9 Teil 1) seine Ergebnisse fuumlr derart einfach klar kohaumlrent und uumlberzeugend haumllt daszlig dem nichts hinzuzufuumlgen ist so daszlig er selbst geradezu in Versuchung kommen koumlnnte dogmatisch davon uumlberzeugt zu sein

88 So fuumlhrt Diamond (in Ethics wie Anm 37) folgende Beispiele dafuumlr an 1 das woruuml-ber man schweigen muszlig (aber das kann es doch nicht geben weil es kein raquodaruumlberlaquo ist S 149) 2 die Saumltze der Abhandlung die zu verstehen seien (oder doch raquoer selbstlaquo wie Witt-genstein dann uumlberraschenderweise sagt S 149) 3 die Anfangssaumltze uumlber die Welt (aber daruumlber kann es doch keine Saumltze geben S 160) 4 der Schein daszlig ab 64 Saumltze uumlber Ethik

122 Wolfgang Kienzler PhR

Perspektive das Buch durchgehend doppelboumldig und loumlst sich schlieszliglich in Nichts auf wobei in der Aufl oumlsung gerade die Absicht des Buches bestehen soll89 Demgegenuumlber kann festgehalten werden daszlig Wittgenstein nir-gends von Ironie spricht wohl aber davon daszlig er das Wesentliche in Kuumlr-ze klar ausdruumlcken will Eine wichtige Differenz innerhalb der resoluten Lesart liegt weiter darin welche Wichtigkeit man den eher technischen Aspekten der Abhandlung zuschreibt Ricketts und Goldfarb sehen viele Zuumlge des Buches von technischen Erwaumlgungen motiviert und gepraumlgt waumlhrend Diamond und Conant den Sinn der symbolischen Notation vor allem darin sehen wesentliche Unterschiede klarzustellen90

Das Motto erklaumlrt daszlig man raquoalles was man weiszliglaquo schlieszliglich raquoin drei Worten sagenlaquo kann Viele der scheinbaren Widerspruumlche und Doppelt-heiten die resolute Leser beobachten koumlnnten sich von daher moumlglicher-weise der Absicht verdanken im Buch logisch praumlzise Saumltze zu erwarten eine Absicht die bestaumlndig getaumluscht wird91 Wuumlrde man die Saumltze eher als Instrumente verstehen die allmaumlhlich entsprechend den Stufen der Lei-ter zur Klarheit anleiten ohne daszlig der Leser in die selbstrefl exive Geste verwickelt werden soll dann koumlnnte eine einfachere und klarere Lesart entstehen die auch mehr Sinn fuumlr den Zusammenhang und die spezi-fi schen Darstellungsmittel des Buches entwickeln wuumlrde ndash wenn denn eine solche zusammenhaumlngende Erlaumluterung als gemeinsames Ziel fest-staumlnde92 Auch Fragen der Textkritik die derzeit nur sehr sporadisch ge-streift werden koumlnnten dann eine groumlszligere Rolle spielen

Wolfgang Kienzler (ChemnitzJena)

vorkommen (die es doch gar nicht geben kann S 164) 5 der Schein daszlig im Buch Saumltze raquouumlber Logiklaquo vorkommen (die es ebenfalls nicht geben kann S 164) In allen Beispielen kann man die Situation natuumlrlicher so darstellen daszlig man die Saumltze der Abhandlung von vornherein zwar woumlrtlich aber nicht buchstaumlblich nimmt sondern sich von ihren zur Klarheit die sich erst allmaumlhlich einstellen kann fuumlhren laumlszligt

89 Diese Doppeltheit der Lesart ist den resoluten Lesern und ihren Kritikern gemein-sam sie ist aber keineswegs selbstverstaumlndlich und widerspricht dem Grundgedanken der Klarheit

90 Dies ist das Thema von Diamond What Does a Concept-Script Do in The Realistic Spirit S 115ndash144 Sie sieht darin ein raquoWerkzeug geistiger Befreiunglaquo (143) deutet damit aber tendenziell wieder einen Gedanken der Abhandlung in Frege hinein der zunaumlchst die Umgangssprache ganz zugunsten der exakteren Begriffsschrift verbannen wollte

91 In weiten Teilen der resoluten Beitraumlge kann man auch eine gewisse Vergegenstaumlnd-lichung mancher von Wittgenstein verwendeter Woumlrter wahrnehmen die dazu fuumlhren daszlig die Rede von raquoUnsinnlaquo raquoErlaumluterunglaquo u a zunaumlchst gegenstaumlndlich miszligverstanden und anschlieszligend als Gegenstaumlndlichkeit leugnend gedeutet wird Eine Beachtung von Wittgensteins ungezwungenem und unterminologischem Sprachgebrauch koumlnnte viele dieser Schleifen uumlberfl uumlssig machen

92 Das Buch von McGinn kann dazu als erster wichtiger konstruktiver Schritt angese-hen werden auch wenn es insgesamt etwas zu additiv verfaumlhrt

Page 27: Neue Lektüren von Wittgensteins Logisch-Philosophischer ... · 10 E. Stenius : Wittgensteins Traktat [1960], Frankfurt/M. 1969, nennt den Schluß »keine echte Verdammung [. . .]

121Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung55 (2008)

Ausblick

Die Arbeiten von Diamond und Conant haben zu einer neuen Welle des Interesses an Wittgensteins Fruumlhwerk gefuumlhrt und die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten vor allem aber auch das Potential seiner Abhandlung gelenkt Im Zentrum steht dabei die Natur der Philosophie als Erlaumlute-rung die selbst nicht in die Gestalt einer Lehre gebracht werden kann oder anders ausgedruumlckt der entscheidende Unterschied zwischen einer philosophischen und einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Untersu-chung

Gerade dadurch daszlig sie die Abhandlung stellenweise sehr nah an den spaumlten Wittgenstein heranruumlcken eroumlffnen Conant und Diamond Moumlg-lichkeiten die Souveraumlnitaumlt und Subtilitaumlt des Buches erst richtig zu wuumlr-digen Dies geschieht jedoch um den Preis daszlig einige Teile des Buches herausgegriffen andere dagegen kaum beruumlcksichtigt werden

Nicht hinreichend geklaumlrt scheint auch die Frage nach dem sprachlichen Grundton des Buches Diamond geht immer wieder von einem nahe an der Alltagssprache stehenden Redegestus aus (aumlhnlich wie der spaumlte Wittgen-stein) waumlhrend Conant aus der weiteren Perspektive ironische Zuumlge be-schreibt87 Gemeinsam ist den resoluten Lesern daszlig sie Wittgensteins Saumltze in der Abhandlung auf doppelte Weise auffassen Sie unterscheiden an vielen Stellen einen buchstaumlblichen naheliegenden Sinn der sich bei naumlherer Be-trachtung als inkohaumlrent erweist und der so zerfaumlllt88 Daher wird in ihrer

tungscharakter eingeklammert die Klaumlrungsfunktion jedoch trotzdem ermoumlglicht wird Er gewinnt so eine Kategorie von Saumltzen die raquounsinnig aber bedeutungsvolllaquo (176) sind

L Gunnarsson Wittgensteins Leiter Bodenheim 2002 greift einen Gedanken Conants auf daszlig wir naumlmlich den Hauptteil des Buches wegwerfen und den Rahmen behalten sollen (Putting Two and Two Together wie Anm 60 S 286) und entwickelt daraus die Fik-tion es waumlre tatsaumlchlich nur das Vorwort und der Schluszlig der Abhandlung erhalten ndash und will daraus den Gehalt des Buches ohne Verlust rekonstruieren Diese Veranschaulichung zeigt besonders klar auf wie verfehlt dieser Ansatz ist wenn man ihn auf die konkrete Interpretationspraxis bezieht

87 Die Parallele zwischen Wittgenstein und Kierkegaard scheint in zentralen Punkten gerade nicht zu bestehen denn Wittgenstein distanziert sich gerade nicht von seinem Buch sondern erklaumlrt seine Auffassungen fuumlr defi nitiv richtig und alternativlos ganz ent-gegen dem verwirrenden Spiel Kierkegaards mit unterschiedlichen Pseudonymen und Perspektiven Ein passenderer Vergleich waumlre etwa mit Hume moumlglich der am Ende seiner Untersuchung uumlber die Prinzipien der Moral (Abschnitt 9 Teil 1) seine Ergebnisse fuumlr derart einfach klar kohaumlrent und uumlberzeugend haumllt daszlig dem nichts hinzuzufuumlgen ist so daszlig er selbst geradezu in Versuchung kommen koumlnnte dogmatisch davon uumlberzeugt zu sein

88 So fuumlhrt Diamond (in Ethics wie Anm 37) folgende Beispiele dafuumlr an 1 das woruuml-ber man schweigen muszlig (aber das kann es doch nicht geben weil es kein raquodaruumlberlaquo ist S 149) 2 die Saumltze der Abhandlung die zu verstehen seien (oder doch raquoer selbstlaquo wie Witt-genstein dann uumlberraschenderweise sagt S 149) 3 die Anfangssaumltze uumlber die Welt (aber daruumlber kann es doch keine Saumltze geben S 160) 4 der Schein daszlig ab 64 Saumltze uumlber Ethik

122 Wolfgang Kienzler PhR

Perspektive das Buch durchgehend doppelboumldig und loumlst sich schlieszliglich in Nichts auf wobei in der Aufl oumlsung gerade die Absicht des Buches bestehen soll89 Demgegenuumlber kann festgehalten werden daszlig Wittgenstein nir-gends von Ironie spricht wohl aber davon daszlig er das Wesentliche in Kuumlr-ze klar ausdruumlcken will Eine wichtige Differenz innerhalb der resoluten Lesart liegt weiter darin welche Wichtigkeit man den eher technischen Aspekten der Abhandlung zuschreibt Ricketts und Goldfarb sehen viele Zuumlge des Buches von technischen Erwaumlgungen motiviert und gepraumlgt waumlhrend Diamond und Conant den Sinn der symbolischen Notation vor allem darin sehen wesentliche Unterschiede klarzustellen90

Das Motto erklaumlrt daszlig man raquoalles was man weiszliglaquo schlieszliglich raquoin drei Worten sagenlaquo kann Viele der scheinbaren Widerspruumlche und Doppelt-heiten die resolute Leser beobachten koumlnnten sich von daher moumlglicher-weise der Absicht verdanken im Buch logisch praumlzise Saumltze zu erwarten eine Absicht die bestaumlndig getaumluscht wird91 Wuumlrde man die Saumltze eher als Instrumente verstehen die allmaumlhlich entsprechend den Stufen der Lei-ter zur Klarheit anleiten ohne daszlig der Leser in die selbstrefl exive Geste verwickelt werden soll dann koumlnnte eine einfachere und klarere Lesart entstehen die auch mehr Sinn fuumlr den Zusammenhang und die spezi-fi schen Darstellungsmittel des Buches entwickeln wuumlrde ndash wenn denn eine solche zusammenhaumlngende Erlaumluterung als gemeinsames Ziel fest-staumlnde92 Auch Fragen der Textkritik die derzeit nur sehr sporadisch ge-streift werden koumlnnten dann eine groumlszligere Rolle spielen

Wolfgang Kienzler (ChemnitzJena)

vorkommen (die es doch gar nicht geben kann S 164) 5 der Schein daszlig im Buch Saumltze raquouumlber Logiklaquo vorkommen (die es ebenfalls nicht geben kann S 164) In allen Beispielen kann man die Situation natuumlrlicher so darstellen daszlig man die Saumltze der Abhandlung von vornherein zwar woumlrtlich aber nicht buchstaumlblich nimmt sondern sich von ihren zur Klarheit die sich erst allmaumlhlich einstellen kann fuumlhren laumlszligt

89 Diese Doppeltheit der Lesart ist den resoluten Lesern und ihren Kritikern gemein-sam sie ist aber keineswegs selbstverstaumlndlich und widerspricht dem Grundgedanken der Klarheit

90 Dies ist das Thema von Diamond What Does a Concept-Script Do in The Realistic Spirit S 115ndash144 Sie sieht darin ein raquoWerkzeug geistiger Befreiunglaquo (143) deutet damit aber tendenziell wieder einen Gedanken der Abhandlung in Frege hinein der zunaumlchst die Umgangssprache ganz zugunsten der exakteren Begriffsschrift verbannen wollte

91 In weiten Teilen der resoluten Beitraumlge kann man auch eine gewisse Vergegenstaumlnd-lichung mancher von Wittgenstein verwendeter Woumlrter wahrnehmen die dazu fuumlhren daszlig die Rede von raquoUnsinnlaquo raquoErlaumluterunglaquo u a zunaumlchst gegenstaumlndlich miszligverstanden und anschlieszligend als Gegenstaumlndlichkeit leugnend gedeutet wird Eine Beachtung von Wittgensteins ungezwungenem und unterminologischem Sprachgebrauch koumlnnte viele dieser Schleifen uumlberfl uumlssig machen

92 Das Buch von McGinn kann dazu als erster wichtiger konstruktiver Schritt angese-hen werden auch wenn es insgesamt etwas zu additiv verfaumlhrt

Page 28: Neue Lektüren von Wittgensteins Logisch-Philosophischer ... · 10 E. Stenius : Wittgensteins Traktat [1960], Frankfurt/M. 1969, nennt den Schluß »keine echte Verdammung [. . .]

122 Wolfgang Kienzler PhR

Perspektive das Buch durchgehend doppelboumldig und loumlst sich schlieszliglich in Nichts auf wobei in der Aufl oumlsung gerade die Absicht des Buches bestehen soll89 Demgegenuumlber kann festgehalten werden daszlig Wittgenstein nir-gends von Ironie spricht wohl aber davon daszlig er das Wesentliche in Kuumlr-ze klar ausdruumlcken will Eine wichtige Differenz innerhalb der resoluten Lesart liegt weiter darin welche Wichtigkeit man den eher technischen Aspekten der Abhandlung zuschreibt Ricketts und Goldfarb sehen viele Zuumlge des Buches von technischen Erwaumlgungen motiviert und gepraumlgt waumlhrend Diamond und Conant den Sinn der symbolischen Notation vor allem darin sehen wesentliche Unterschiede klarzustellen90

Das Motto erklaumlrt daszlig man raquoalles was man weiszliglaquo schlieszliglich raquoin drei Worten sagenlaquo kann Viele der scheinbaren Widerspruumlche und Doppelt-heiten die resolute Leser beobachten koumlnnten sich von daher moumlglicher-weise der Absicht verdanken im Buch logisch praumlzise Saumltze zu erwarten eine Absicht die bestaumlndig getaumluscht wird91 Wuumlrde man die Saumltze eher als Instrumente verstehen die allmaumlhlich entsprechend den Stufen der Lei-ter zur Klarheit anleiten ohne daszlig der Leser in die selbstrefl exive Geste verwickelt werden soll dann koumlnnte eine einfachere und klarere Lesart entstehen die auch mehr Sinn fuumlr den Zusammenhang und die spezi-fi schen Darstellungsmittel des Buches entwickeln wuumlrde ndash wenn denn eine solche zusammenhaumlngende Erlaumluterung als gemeinsames Ziel fest-staumlnde92 Auch Fragen der Textkritik die derzeit nur sehr sporadisch ge-streift werden koumlnnten dann eine groumlszligere Rolle spielen

Wolfgang Kienzler (ChemnitzJena)

vorkommen (die es doch gar nicht geben kann S 164) 5 der Schein daszlig im Buch Saumltze raquouumlber Logiklaquo vorkommen (die es ebenfalls nicht geben kann S 164) In allen Beispielen kann man die Situation natuumlrlicher so darstellen daszlig man die Saumltze der Abhandlung von vornherein zwar woumlrtlich aber nicht buchstaumlblich nimmt sondern sich von ihren zur Klarheit die sich erst allmaumlhlich einstellen kann fuumlhren laumlszligt

89 Diese Doppeltheit der Lesart ist den resoluten Lesern und ihren Kritikern gemein-sam sie ist aber keineswegs selbstverstaumlndlich und widerspricht dem Grundgedanken der Klarheit

90 Dies ist das Thema von Diamond What Does a Concept-Script Do in The Realistic Spirit S 115ndash144 Sie sieht darin ein raquoWerkzeug geistiger Befreiunglaquo (143) deutet damit aber tendenziell wieder einen Gedanken der Abhandlung in Frege hinein der zunaumlchst die Umgangssprache ganz zugunsten der exakteren Begriffsschrift verbannen wollte

91 In weiten Teilen der resoluten Beitraumlge kann man auch eine gewisse Vergegenstaumlnd-lichung mancher von Wittgenstein verwendeter Woumlrter wahrnehmen die dazu fuumlhren daszlig die Rede von raquoUnsinnlaquo raquoErlaumluterunglaquo u a zunaumlchst gegenstaumlndlich miszligverstanden und anschlieszligend als Gegenstaumlndlichkeit leugnend gedeutet wird Eine Beachtung von Wittgensteins ungezwungenem und unterminologischem Sprachgebrauch koumlnnte viele dieser Schleifen uumlberfl uumlssig machen

92 Das Buch von McGinn kann dazu als erster wichtiger konstruktiver Schritt angese-hen werden auch wenn es insgesamt etwas zu additiv verfaumlhrt