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Bert Heinrichs
MORALISCHE INTUITIONUND ETHISCHE RECHTFERTIGUNG
Eine Untersuchungzum ethischen Intuitionismus
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Lange Zeit war der Verweis auf intuitiv erfassbare Prinzipien das vor-herrschende Begründungsverfahren in der Moralphilosophie. Während der sogenannte „ethische Intuitionismus“ noch zu Beginn des 20. Jahr-hunderts zumindest in der britischen Moralphilosophie die dominante Strömung darstellte, galt er seit der Mitte des Jahrhunderts aufgrund vielfältiger Probleme als nicht mehr theoriefähig und geriet nahezu in Vergessenheit. In den vergangenen zehn Jahren ist ein gewisses Revival des ethischen Intuitionismus zu beobachten, nicht zuletzt im Kontext der angewandten Ethik.Vor diesem Hintergrund bietet das vorliegende Buch eine umfassende Analyse des ethischen Intuitionismus. Dazu werden frühe Ansätze aus dem 17. und 18. Jahrhundert wie auch die klassischen Positionen aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ausführlich rekonstruiert. Auf dieser historisch informierten Grundlage werden zeitgenössische Ansät-ze zur Fortentwicklung des ethischen Intuitionismus kritisch diskutiert. Schließlich wird mit einer an Kant anknüpfenden Ethik der Person ein systematischer Vorschlag unterbreitet, der sich als Variante des ethischen Intuitionismus verstehen lässt und der unmittelbar auf aktuelle Diskus-sionen in der Metaethik bezogen ist.
ISBN 978-3-89785-325-6
Heinrichs · Moralische Intuition und ethische Rechtfertigung
ethica
Herausgegeben vonDieter Sturma und Michael Quante
Bert Heinrichs
Moralische Intuitionund ethische
Rechtfertigung
Eine Untersuchung zum ethischenIntuitionismus
mentisMÜNSTER
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaftder VG Wort
Einbandgestaltung unter Verwendung eines Fotos von Christina Güldenring
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.dnb.de abrufbar.
= ethica, Band 28
Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtemund alterungsbeständigem Papier©∞ ISO 9706
© 2013 mentis Verlag GmbHEisenbahnstraße 11, 48143 Münster, Germanywww.mentis.de
Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlichgeschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherigeZustimmung des Verlages nicht zulässig.
Printed in GermanyEinbandgestaltung: Anna Braungart, TübingenDruck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, KemptenISBN 978-3-89785-325-6
Für Anna und Matthias
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
1. Einleitung: Das Revival des ethischenIntuitionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
2. Vorbemerkungen zur Begriffsgeschichte und zurVerwendungsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
2.1 Begriffsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292.2 Verwendungsweisen des Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
3. Metaethische Einordnung des ethischenIntuitionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
3.1 Vorbemerkungen: Probleme metaethischer Begriffe . . . . . 373.2 Grundlegende metaethische Unterscheidungen . . . . . . . . . 403.2.1 Die semantische Ebene: Deskriptivismus –
Emotivismus – Präskriptivismus, Kognitivismus –Nonkognitivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
3.2.2 Die ontologische Ebene I: Realismus –Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
3.2.3 Die ontologische Ebene II: Nicht-naturalistischerRealismus – Naturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
3.2.4 Eine alternative Einteilung: Subjektivismus –Intersubjektivismus – Objektivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
3.2.5 Die epistemologische Ebene I: Unmittelbarer –mittelbarer Erkenntniszugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
3.2.6 Die epistemologische Ebene II: EthischerIntuitionismus – ›moral sense‹-Theorien . . . . . . . . . . . . . . 64
3.2.7 Die motivationale Ebene: Internalismus – Externalismus . . 663.3 Die metaethische Verortung des ethischen
Intuitionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693.4 Formen des klassischen Intuitionismus als Variationen
eines epistemologischen Themas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723.4.1 Ontologische Variationen: Generalismus –
Partikularismus; Monismus – Pluralismus . . . . . . . . . . . . . 723.4.2 Normative Variationen: Deontologie –
Konsequentialismus – Tugendethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
8 Inhaltsverzeichnis
4. Der klassische ethische Intuitionismus . . . . . . . . . . . 774.1 Vorläufer des klassischen Intuitionismus . . . . . . . . . . . . . . 774.1.1 Edward Herbert of Cherbury . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 774.1.2 Ralph Cudworth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 844.1.3 Richard Price . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
Exkurs: Die Unterscheidung von Intuitionismus undInduktivismus bei Mill . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
4.2 Der klassische Intuitionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1134.2.1 Henry Sidgwick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1134.2.2 George Edward Moore . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1294.2.3 Harold Arthur Prichard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1484.2.4 William David Ross . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1614.3 Zwischenergebnis: Systematische und historische
Bezüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1784.4 Die Kritik am klassischen ethischen Intuitionismus . . . . . . 186
5. Aktuelle Versuche einer Fortentwicklung desethischen Intuitionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
5.1 Jonathan Dancys ethischer Partikularismus . . . . . . . . . . . . 2025.2 Sabine Roesers ›affectual intuitionism‹ . . . . . . . . . . . . . . . . 2065.3 Michael Huemers Intuitionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2105.4 Robert Audis ›value-based Kantian intuitionism‹ . . . . . . . 2135.5 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
6. Grundzüge einer Ethik der Person . . . . . . . . . . . . . . . . . 2256.1 Der ontologische Zuschnitt einer Ethik der Person . . . . . . 2276.1.1 Minimalrealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2276.1.2 Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2406.2 Der epistemologische Zuschnitt einer Ethik der Person . . . 2586.3 Das Problem moralischer Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . 2846.4 Ein kurzer Vergleich mit Audis ›Kantian intuitionism‹ . . . 2906.5 Die Anforderungen der angewandten Ethik . . . . . . . . . . . 2926.6 Schlussüberlegungen: Probleme hybrider
Theoriekonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293
7. Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
Vorwort
Die vorliegende Arbeit ist im Wintersemester 2012/2013 von der Philoso-phischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonnals Habilitationsschrift angenommen worden. Den Gutachtern sowie denübrigen Mitgliedern des Fakultätsrats danke ich für ihr konstruktives En-gagement im Rahmen des Verfahrens. Mein besonderer Dank gilt ProfessorDieter Sturma, der mein Habilitationsgesuch gegenüber der Fakultät ver-treten hat. Darüber hinaus hat er mir in seiner Funktion als Direktor desDeutschen Referenzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften (DRZE)die Möglichkeit eröffnet, die Arbeit neben meinen anderen Verpflichtungenüber einen längeren Zeitraum kontinuierlich voranzutreiben.
Inhaltlich habe ich enorm von Anregungen und Diskussionen von un-terschiedlicher Seite profitiert. Mein Hauptdank gilt wiederum ProfessorSturma, der mein Interesse an metaethischen Fragestellungen geweckt hatund der mir wichtige Impulse für die inhaltliche Ausrichtung der Arbeitgegeben hat. Dr. Jörg Löschke und Dr. Lisa Tambornino haben frühere Fas-sungen des Manuskripts gelesen und wertvolle Hinweise zur Verbesserunggegeben. Auch meine übrigen (derzeitigen und früheren) Kolleginnen undKollegen am DRZE sowie am Institut für Wissenschaft und Ethik (IWE)haben durch viele Diskussionen die Überlegungen, die ich in dieser Arbeitanstelle, wesentlich beeinflusst. Besonders erwähnen möchte ich ProfessorDietmar Hübner (jetzt Universität Hannover), mit dem ich in zahllosen Ge-sprächen viele Probleme, die in dieser Arbeit zur Sprache kommen, intensivdiskutieren konnte. Sein argumentativer Scharfsinn hat mich vor etlichenIrrtümern bewahrt. Den Studierenden, die in den vergangenen Jahren anmeinen Seminaren zu ethischen und metaethischen Themen teilgenommenhaben, danke ich für ihr beharrliches Nachfragen, das mich dazu gebrachthat, meine philosophischen Auffassungen zu präzisieren. Dankbar bin ichauch dafür, dass ich Teile dieser Arbeit auf Konferenzen bzw. im Rahmen vonInstitutskolloquien in Den Haag, Hannover und Bern präsentieren durfte.Die kritischen Einwände der Zuhörer waren für die Finalisierung der Arbeitsehr hilfreich.
Maike Gersdorff, Lorina Buhr und Nermeen Bashier sowie das Biblio-theks-Team des DRZE – Claudia Leuker, Stefan Gellner, Frank Weber undKlaus Lehmkuhl – haben mich bei der Literaturrecherche tatkräftig unter-stützt; Dr. Ulrich Marder und Markus Franke von der Digitalen Abteilungdes DRZE haben unschätzbaren IT-Support geleistet. Hanna Schmitt hatmich bei der Durchsicht der Druckfahnen unterstützt. Allen Genannten gilt
10 Vorwort
mein Dank dafür, dass ihre Unterstützung es mir ermöglicht hat, mich ganzauf den Inhalt der Arbeit zu konzentrieren.
Schließlich möchte ich mich bei meinen Kolleginnen und Kollegen vomDRZE und IWE für die einzigartige Arbeitsatmosphäre bedanken, die zumGelingen des Projekts ganz wesentlich beigetragen hat. Es ist nicht zuletztden Geschäftsführern, Herrn PD Dr. Dirk Lanzerath (DRZE) und Herrn PDDr. Michael Fuchs (IWE), zu verdanken, dass die beiden Bonner Institute einso förderliches Umfeld für die philosophische Auseinandersetzung bieten.Beiden bin ich darüber hinaus für ihre langjährige Unterstützung zutiefstverbunden.
Den Herausgebern, Professor Sturma und Professor Quante, danke ichfür die Aufnahme der Arbeit in die Reihe ethica, dem mentis Verlag für diegute Zusammenarbeit im Rahmen der Drucklegung.
Auch meinem privaten Umfeld, insbesondere meiner Frau sowie meinenEltern und Schwiegereltern, möchte ich für die Anteilnahme und die Hilfedanken, ohne die ich diese Arbeit niemals hätte zu Ende bringen können. Zu-letzt danke ich Christina Güldenring für die Erlaubnis, eine ihrer Fotografienals Titelbild für dieses Buch verwenden zu dürfen.
1.Einleitung: Das Revival
des ethischen Intuitionismus
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich innerhalb der Moralphilosophie eineTeildisziplin entwickelt, die sich mit metatheoretischen Fragen befasst. Indieser Perspektive steht nicht die Frage im Zentrum, welche moralischenUrteile sich rechtfertigen lassen, sondern ob bzw. wie sich ethische Rechtfer-tigungsansprüche überhaupt einlösen lassen. Diese Teildisziplin der Moral-philosophie wird als Metaethik bezeichnet.1 Die Metaethik ist also, wie manauch sagen kann, mit »second order questions« befasst, während sich die nor-mative Ethik mit »first order questions« beschäftigt.2 Theorieansätze werdendabei daraufhin untersucht, auf welche Weise sie Rechtfertigungsansprü-che zu befriedigen versuchen.3 Die Metaethik bemüht sich näherhin darum,Theorietypen anhand von semantischen, ontologischen, epistemischen undmotivationalen Annahmen zu klassifizieren und auf ihre Leistungsfähigkeitzu prüfen. Ein wesentliches Ergebnis dieser Bemühungen ist, dass mit Hilfekategorialer Begriffe Typen ethischer Theorien unterschieden werden kön-nen.4
Einen Theorietyp dieser Art stellt der ethische Intuitionismus dar, wobeizwischen einem engeren und einem weiteren Verständnis von Intuitionismusunterschieden werden muss. Legt man ein engeres Verständnis zugrunde,dann besteht das spezifische Charakteristikum dieses Theorietyps – vereinfa-chend und lediglich in erster Näherung – in der epistemologischen These, dass
1 Vgl. Frankena (1951, 44).2 Vgl. Mackie (1977, 9, 15–25).3 Vgl. Darwall /Gibbard/Railton (1992, 125–126).4 Einen kurzen, aber überaus informativen Abriss der Entwicklung der Metaethik – ausgehend
von George Edward Moores Principia Ethica (1903) über die Hochzeiten des Nonkognitivismusin den 1930er und 40er Jahren, das maßgeblich durch John Rawls beeinflusste Wiedererstarkender normativen Ethik zu Beginn der 1970er Jahre, die danach einsetzende Diversifizierung derDebatte bis hin zum Revival der Metaethik seit den späten 1970er Jahren, vor allem aber den1980er und 90er Jahren – geben Darwall /Gibbard/Railton (1992, 115–125). In der deutsch-sprachigen moralphilosophischen Debatte hat die Metaethik lange Zeit keine besondere Rollegespielt. Und auch wenn sie heute sicher nicht mehr als »fremd« angesehen wird und auch nichtgrundsätzlich in einem »schlechten philosophischen Ruf« steht – wie Monika Hofmann-Rie-dinger im Jahr 1992 noch konstatiert hat –, hat sie nach wie vor nicht annährend den Stellenwert,der ihr im angelsächsischen Raum zukommt; vgl. Hofmann-Riedinger (1992, 55).
12 1. Einleitung: Das Revival des ethischen Intuitionismus
sich ethische Rechtfertigungsansprüche nicht inferentiell einlösen lassen, son-dern dass sie zumindest in letzter Instanz nur durch Rekurs auf ›moralischeTatsachen‹ – wobei dieser Begriff hier zunächst in einem weitest möglichenSinne zu verstehen ist, d. h. ohne irgendwelche ontologischen Festlegungen –zu einem Ende gebracht werden können, die intuitiv erfasst werden.5 Dabeivariiert die Bedeutung, die inferentiellen Begründungsmethoden eingeräumtwird. Einigkeit besteht jedenfalls darüber, dass solche Begründungsmethodengrundsätzlich nicht als ausreichend angesehen werden. Weitgehende Einig-keit besteht des Weiteren darüber, dass die intuitiv erfassten moralischenTatsachen den besonderen epistemischen Status der Selbstevidenz haben undsie damit ein Fundament für moralische Urteile bilden.6 Selbstevidenz kanndabei im Sinne von ›a priori‹ verstanden werden.7 Der Intuitionismus istinsofern eine Spielart des ›foundationalism‹.8 Einem weiteren Verständniszufolge beinhaltet der ethische Intuitionismus neben der epistemologischenauch noch eine ontologische These, nämlich dass es sich bei den Tatsachen,die intuitiv erfasst werden, um Tatsachen sui generis handelt, die nicht vomMenschen ›gemacht‹, sondern ›vorgefunden‹ werden und die zudem nichtvollständig mit Hilfe eines reduktionistischen Verfahrens auf empirische Tat-sachen zurückgeführt werden können.9 Dieser Auffassung nach handelt essich also auch um eine Variante des nicht-natürlichen Realismus (›non-naturalrealism‹). Schließlich wird mit dem Intuitionismus häufig noch die zusätzlicheThese verbunden, dass es eine irreduzible Pluralität von moralischen Prinzi-pien oder Werten gibt, es sich also um eine Spielart des ethischen Pluralismushandelt.
5 Es gibt zahlreiche andere, zum Teil sehr unpräzise Definitionen des ethischen Intuitionismus. Soschreibt Donald Hudson beispielsweise in seiner kurzen Einführung in den ethischen Intuitio-nismus des 18. Jahrhunderts, dass das charakteristische Merkmal dieser Position die Annahmeeiner »immediate awarness of moral values« beim Menschen sei; vgl. Hudson (1967, 1). SolcheBeschreibungen haben sicher Missverständnissen mit Blick auf den ethischen Intuitionismusals ethischem Theorietyp Vorschub geleistet.
6 Genau genommen können nicht moralische Tatsachen selbstevident sein, sondern nur Proposi-tionen. Die Rede von ›selbstevidenten‹ moralischen Tatsachen, Prinzipien oder dergleichen istetwas unpräzise, aber durchaus gebräuchlich.
7 Vgl. Stratton-Lake »For a proposition to be self-evident is for it to be knowable on the basisof an understanding of it. So understood, there is no difference between a proposition’s beingself-evident and it being knowable a priori.« (Stratton-Lake (2002b, 18)).
8 Die gelegentlich anzutreffende deutsche Übersetzung ›Fundamentalismus‹ ist wenig glücklich.Im Folgenden wird daher durchgehend der englische Begriff ›foundationalism‹ verwendet. Zum›foundationalism‹, speziell in der Ethik vgl. Timmons (1987).
9 Die eher naive Rede von ›gemachten‹ und ›vorgefundenen‹ Tatsachen wird im weiteren Verlaufpräzisiert; vgl. unten Abschnitt 3.2.2.
1. Einleitung: Das Revival des ethischen Intuitionismus 13
Wie unübersichtlich die Lage tatsächlich ist, wird deutlich, wenn maneinschlägige Handbuch- bzw. Lexikonartikel zum Begriff ›Intuitionismus‹auswertet: David McNaughton kennzeichnet den Intuitionismus als deon-tologische, pluralistische Theorie, die sich dadurch auszeichnet, dass sie inepistemologischer Hinsicht den begründungstheoretischen Gedanken selbst-evidenter Pflichten ins Zentrum rückt und sich insofern von anderen deon-tologischen Theorien unterscheidet.10 Walter Sinnott-Armstrong hingegenbetont, dass die epistemologische These nicht-inferentiellen moralischen Wis-sens das alleinige Merkmal des Intuitionismus sei. Pluralismus und nicht-naturalistischer Realismus seien hingegen nicht notwendig mit dem Intuitio-nismus verbunden.11 Jonathan Dancy weist auf eine historische Entwicklunghin: Zwischen den 1860er und 1920er Jahren sei ›Intuitionismus‹ schlicht einanderer Name für ›Pluralismus‹ gewesen.12 Dies habe sich dann aber geändertund nun werde der Begriff für eine epistemologische Position verwendet.Philip Stratton-Lake versucht Klarheit zu schaffen, indem er eine termi-nologische Differenzierung vornimmt: Er nennt die pluralistische Variante»methodological intuitionism«, während er das engere, auf epistemologischeAspekte beschränkte Verständnis von Intuitionismus als »epistemologicalintuitionism« bezeichnet.13 Die vor allem vor Henry Sidgwick gebräuchlicheVerbindung von Intuitionismus und Pluralismus hat John Rawls wiederbe-lebt. Er kennzeichnet in A Theory of Justice den Pluralismus nämlich alseigentliches Merkmal des Intuitionismus, räumt indes ein, dass es sich dabeium eine allgemeinere Redeweise als üblich handele.14 Robert Audi hingegenvertritt die Auffassung, dass das, was Moralphilosophen heute zumeist vor
10 Vgl. McNaughton (2000, 269–270). An anderer Stelle verneint McNaughton sogar, dass der In-tuitionismus durch eine »distinctive epistemology« von rivalisierenden Theorien unterschiedensei. Bezugnehmend auf James Urmson macht er geltend, der Intuitionismus – wobei er nahe-liegenderweise nur Prichard und Ross als Repräsentanten nennt – sei durch einen Pluralismuscharakterisiert; vgl. McNaughton (2002, 76); dazu Urmson (1974/75, 111–112).
11 Vgl. Sinnott-Armstrong (1992, 628).12 Vgl. Dancy (1993, 411); so auch Williams (1993, 101). Vgl. auch die kurzen »Historical Re-
marks«, in denen Urmson berichtet, dass im Umfeld von Prichard der ethische Intuitionismusals Theorietyp verstanden worden sei, der sowohl dem Utilitarismus als auch dem Kantianis-mus entgegen stehe und nicht etwa dem Emotivismus oder dem Präskriptivismus oder gar demRelativismus. Im Zentrum des Intuitionismus steht diesem Verständnis nach also ein normativerPluralismus und nicht eine spezifische Moralepistemologie; vgl. Urmson (1974/75, 111–112).
13 Vgl. Stratton-Lake (2002a, xii – xiii); Stratton-Lake (2002b, 2). Die Unterscheidung zwischen»methodologischem« und »epistemologischem« Intuitionismus geht auf Bernard Williamszurück, der in einem Beitrag das Verhältnis beider Varianten analysiert hat; vgl. Williams (1995).
14 Vgl. Rawls (1999, 30); anders dagegen die Charakterisierung in Rawls (1980, 557).
14 1. Einleitung: Das Revival des ethischen Intuitionismus
Augen hätten, wenn sie von ›Intuitionismus‹ sprächen, ein Theorietyp sei,der drei Haupteigenschaften aufweise, nämlich erstens einen Pluralismus –Rawls liegt demnach entweder falsch oder, was wohl zutreffender ist, er hatmit seiner Auffassung prägenden Einfluss gehabt15 –, zweitens eine spezifi-sche Auffassung von Abhängigkeit zwischen natürlichen und moralischenTatsachen und drittens einen intuitiven Zugang zu moralischen Tatsachen.Anders gewendet zeichnet sich der Intuitionismus demnach also durch einestrukturell-logische, durch eine ontologische und durch eine epistemologischeThese aus.16 Ein nicht-natürlicher Realismus sei – wie Audi explizit betont –durch diese drei Eigenschaften nicht impliziert. Auch sei der Intuitionismusnicht – wie Kritiker gelegentlich unterstellten – zu der starken These ver-pflichtet, dass die Intuition als rationales Vermögen unanfechtbares Wissenvon selbstevidenten Wahrheiten liefere. Zentral für den Intuitionismus seivielmehr nur die schwächere These, dass Intuition eine Verstandesleistungdarstelle und ›Verstand‹ schlicht diejenige mentale Fähigkeit bezeichne, dieentscheidend für das Verstehen logischer und mathematischer Wahrheitensei, eine Fähigkeit also, die sich wesentlich von sinnlicher Wahrnehmung undanderen möglichen Zugängen zu nicht-inferentiellem Wissen unterscheide.17
Im Übrigen macht Audi William David Ross dafür verantwortlich, dass mitdem Begriff ›Intuitionismus‹ nicht nur eine (enger oder weiter gefasste) me-taethische Theorie bezeichnet wird, sondern auch eine umfassende ethischeKonzeption angesprochen wird, die zusätzlich spezifisch normative Inhalteumfasst.18
Ethische Theorien, die unter dem weiten Begriff des ethischen Intuitionis-mus zusammengefasst werden, weisen eine Reihe von theoretischen Vorzügenauf, die sie zumindest auf den ersten Blick attraktiv erscheinen lassen: Ein
15 Vgl. Williams (1995, 182).16 Vgl. Audi (2004, 21). Später formuliert er insgesamt vier Bedingungen, die ein Intuitionismus
seiner Meinung nach erfüllen muss; vgl. Audi (2004, 33–36); siehe dazu ausführlich untenAbschnitt 4.2.4 sowie 5.4. Neuerdings spricht Audi auch von »generic intuitionism« als me-taethischem Konzept in Abgrenzung zu »an intuitionism«, als konkreter Theorie, die einbestimmtes Set grundlegender moralischer Regeln enthält, die direkt auf alltägliche Situationenanwendbar sind; vgl. Audi (2008, 476).
17 »Reason is often conceived as a rational, intuitive ›faculty‹, but it is not confined to apprehen-sion of self-evident truths. It may be better understood in language that is relatively neutralpsychologically: as the mental capacity crucial for understanding logical and mathematicaltruths, a capacity viewed as differing in crucial ways from sense perception and other possibleroutes to non-inferential knowledge or justification. A number of writers, particularly criticsof intuitionism, take it to imply the stronger thesis that the intuitive faculty in question yieldsindefeasible knowledge of self-evident moral truths.« (Audi (2004, 22)).
18 Vgl. Audi (2004, 20).