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Mannheimer Beiträge zurWirtschafts- und
Organisationspsychologie
Sonderheft 1998
„Zukunft der Kognitionspsychologie“Kolloquium am 21.11.1997 anläßlich der Verabschiedung
von Prof. Dr. Theo Herrmann
Herausgeber:
Prof. Dr. Walter Bungard
Universität Mannheim
Lehrstuhl für Wirtschafts- und Organi-
sationspsychologieTel: 0621 / 292 5506
Fax: 0621 / 292 5708
E-mail: [email protected]
Internet: www.psychologie.uni-mannheim.de/psycho1/psycho1.htm
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 1
Inhalt
Vorbemerkungen ........................................................................................ 2
Über den Gegenstand der Psychologie: Perspektiven einer
nomothetischen Psychologie
Prof. Dr. R. Mausfeld ................................................................................. 3
Bewußtsein und Ich-Konstitution1
Prof. Dr. W. Prinz .................................................................................... 16
Sprache und Denken
Prof. Dr. D. Dörner.................................................................................. 40
Drei Wünsche an die Kognitionspsychologie
Prof. Dr. Th. Herrmann............................................................................ 60
1 Erschienen in: Gerhard Roth & Wolfgang Prinz (Hrsg.). (1996). Kopf-Arbeit. Gehirnfunktionen und ko-
gnititve Leistungen (S. 451-467). Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 2
Vorbemerkungen
Zur Emeritierung des langjährigen Kollegen Prof. Dr. Theo Herrmann hat die Fachgruppe
Psychologie der Universität Mannheim am 21.11.1997 ein wissenschaftliches Kolloquium
veranstaltet. Aufgrund der großen Resonanz der Veranstaltung und des hohen Interesses an
den Vorträgen der Professoren Mausfeld, Prinz, Dörner und Herrman, haben wir uns ent-
schlossen diesem Kolloquium im Rahmen unserer Mannheimer Beiträge ein Sonderheft zu
widmen.
Wir möchten uns bei den Referenten ganz herzlich bedanken, daß sich sich bereit gefunden
haben, einen Beitrag für diese Veröffentlichung zu schreiben.
An dieser Stelle wollen wir auch die Gelegenheit nochmals nutzen, Herrn Prof. Herrmann
für die vertrauensvolle und kollegiale Zusammenarbeit zu danken. Es war immer ein enga-
gierter, höchstkompetenter und geradliniger Hochschullehrer. Zum Glück können wir auch
nach seiner Emeritierung weiterhin seinen Rat einholen, da er weiterhin in der Forschung
aktiv ist.
Mannheim, im November 1998 Prof. Dr. Walter Bungard
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 3
Über den Gegenstand der Psychologie:
Perspektiven einer nomothetischen Psychologie.Prof. Dr. R. Mausfeld
„Soviele Psychologien nebeneinander wie heute, soviele Ansätze auf eigene Faust sind wohl
noch nie gleichzeitig beisammen gewesen. Man wird mitunter an die Geschichte vom Turm-
bau zu Babel erinnert.“
Seit 1929, als Karl Bühler mit diesem Satz sein Buch „Die Krise der Psychologie“ ein-
leitete, scheint es zur Selbstverständlichkeit geworden zu sein, eine Krise der Psychologie
zu konstatieren. Wie keine andere Disziplin in der Geschichte der Wissenschaften ist die
Entwicklung der Psychologie durch Probleme ihrer Selbstbestimmung begleitet. Von den
einen wurde sie - vor allem hinsichtlich ihrer sozialwissenschaftlichen Bereiche - als eine für
wissenschaftsexterne Zwecke funktionalisierte soft science bezeichnet, die einem cargo cult
magischer und im Oberflächlichen verbleibenden Nachahmung von Wissenschaftsriten ver-
fallen sei. In ihren naturwissenschaftlich orientierten Bereichen, die sich mit der Erforschung
von Prinzipien des Geistes beschäftigen, habe sie sich zudem als präwissenschaftliche Vor-
bereitungsstufe überlebt und habe nun den echten Wissenschaften, den Neurowissenschaf-
ten, Platz zu machen. Der Gegenstand, für dessen Behandlung die Psychologie ihre Eigen-
ständigkeit beansprucht, sei ihr durch die Entwicklung der modernen Wissenschaft abhan-
den gekommen, ebenso wie durch die Chemie das Phlogiston. Kurz: Die Zukunft der Ko-
gnitionspsychologie liege gerade in ihrer Aufhebung, in ihrer Reduktion auf grundlegendere
Wissenschaften.
Das Thema dieses Kolloquiums ist also wohlgewählt. 1956 - vor mehr als 40 Jahren also
- beschäftigte sich ein damals sehr junger Psychologe - wir ehren ihn heute durch dieses
Kolloquium – in einer von der österreichen Akademie der Wissenschaften preisgekrönten
Arbeit mit der Frage nach einer angemessenen Begrifflichkeit der Psychologie, mit der Fra-
ge also nach dem Gegenstand der Psychologie. Er gelangt zu dem Schluß, daß auch eine
naturwissenschaftlich orientierte Psychologie die - so würden wir es heute formulieren -
'natürlichen Arten' des Mentalen zu berücksichtigen habe und daß eine atomistische, ele-
mentaristische Zerlegung des Mentalen, die sich an den natürlichen Arten anderer Naturwis-
senschaften orientiert, eine wissenschaftliche Einsicht in die Natur des Mentalen verstellt.
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Das war, zumindest hinsichtlich der dominanten angelsächischen Psychologie, gegen den
Zeitgeist gedacht. Einige Jahre später erst wurde mit dem Aufkommen des Funktionalismus
die theoretische Eigenständigkeit des Mentalen wiederentdeckt. In den vier Dekaden vom
Erscheinen der genannten Arbeit bis heute ist viel geschehen. Aus der Denkpsychologie
wurde die Kognitionspsychologie, das perzeptuell-kognitive System wurde als ein informa-
tionsverarbeitendes begriffen, Subparadigmen entstanden und vergingen mit ihren oftmals
ebenso großartigen wie überzogenen Versprechungen, und die Kognitionspsychologie wei-
tete sich mit der Einbeziehung von Neurophysiologie, Philosophie des Geistes und For-
schungen zur 'Künstlichen Intelligenz' zur Kognitionsforschung. Zudem begannen auch
Evolutionsbiologie, Molekularbiologie und Biophysik an den Rändern der Kognitionsfor-
schung eine zunehmende Bedeutung zu gewinnen. So sind die ganz unterschiedlichen
Stimmen, die sich der Erforschung des Geistes und seiner biologischen Grundlagen widmen,
in den 40 Jahren seit Erscheinen der Herrmannschen Arbeit zu einem mächtigen Chor ange-
schwollen. Daß dennoch - und trotz der in der Zwischenzeit erlangten Fülle an Detailwissen
- diese Arbeit erstaunlich aktuell anmutet, zeigt, daß keineswegs Übereinstimmung darüber
besteht, welchen Part die Kognitionspsychologie in diesem Chor zu spielen hat und ob ihr
für die Zukunft überhaupt ein Part darin eingeräumt wird.
Brauchen wir eigentlich, so ist oft zu vernehmen, innerhalb der Kognitionsforschung
noch eine naturwissenschaftliche Psychologie, oder läßt sich nicht vielmehr alles, was sich
über die Prinzipien des Geistes naturwissenschaftlich sagen läßt, bereits in anderen, vorgeb-
lich härteren Disziplinen der Kognitionsforschung erfassen? Derartigen Auffassungen zufol-
ge hat sich eine naturwissenschaftliche Psychologie nach der Bereitstellung einiger interes-
santer Heuristiken überflüssig gemacht und ist durch grundlegendere Zugangsweisen zu
ersetzten. Pointiert und vergröbernd will ich diese als Neuroreduktion und Computersimu-
lation bezeichnen. Für diese sich als eigentlich wissenschaftlich verstehenden Zugangswei-
sen zur Natur des Geistes stellt sich die Psychologie oftmals als das dar, was die Alchemie
für die Chemie war: als eine ideengeschichtlich notwendige, doch nunmehr abgschlossene
Vorbereitungsphase.
Gegen solche Mißverständnisse einer naturwissenschaftlichen Erforschung des Geistes
erscheint es erneut notwendig zu sein, die Eigenständigkeit einer naturwissenschaftlichen
Psychologie zu verteidigen. Doch lassen Sie mich, bevor ich detaillierter auf diese Versuche,
die Kognitionspsychologie überflüssig zu machen, zurückkomme am Anfang beginnen, mit
der Frage nach dem Gegenstand der Psychologie? Vordergründig läßt sie sich rasch beant-
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worten: Sie ist die Wissenschaft vom Geist, Geisteswissenschaft im wörtlichen Sinne. Ver-
wendet scheint das Wort erstmals - vor fast 500 Jahren – Philipp Melanchton zu haben, der
damit jenen Teil der Naturforschung bezeichnete, der sich auf die menschliche Seele bezog;
die Psychologie war Teil der Pneumatologie.
Überspringen wir die Jahrhunderte, in der die Naturwissenschaften ihre heutige Gestalt
annahmen. 1894 kommen in zwei einflußreichen Arbeiten - nämlich Diltheys Ideen über eine
beschreibende und zergliedernde Psychologie sowie Windelbands Straßburger Rektoratsre-
de Geschichte und Naturwissenschaft – Unterscheidungen auf, welche die Diskussionen
über den Gegenstand der Psychologie lange prägten. Erklären und Verstehen werden in
einen Gegensatz gebracht und der nomothetischen Methode der Naturwissenschaften die
idiographische Methode der Behandlung einzigartiger, und in ihrer geschichtlichen Gewor-
denheit einmaliger Vorgänge gegenübergestellt. Die Nuancen dieser Debatte sind heute nur
noch von historischem Interesse. In ihrem Kern berührt sie jedoch etwas, das auch heute
noch als Spannungsverhältnis in der Psychologie fortbesteht. Windelband beschließt in sei-
ner Rede den Absatz, in dem er nomothetische und idiographische Wissenschaft gegenüber-
stellt, mit der Feststellung, daß „die Psychologie durchaus zu den Naturwissenschaften zu
zählen ist“, daß die Psychologie also nomothetisch ist.
Von der idiographischen Zugangsweise der angemessenen Behandlung des in seinen
spezifischen historischen Entwicklungs- und Verstehenszusammenhang eingebundenen Ein-
zelnen führt eine ideengeschichtliche Kontinuität vom Konzept der Geisteswissenschaften
zu dem der Sozial- oder Gesellschaftswissenschaften. In der angloamerikanischen Gegen-
überstellung von social sciences und cognitive sciences spiegelt sich Windelbands Unter-
scheidung von idiographischen und nomothetischen Wissenschaften wider. Nun beschäftigt
sich freilich der weit überwiegende Teil der gegenwärtigen akademischen Psychologie mit
Fragen, die an einen psycho- oder sozio-historischen Entstehungszusammenhang gebunden
sind und zudem häufig an sozial-technologische Probleme gekoppelt ist. Für die Psycholo-
gie als universitärer Ausbildungsgang sind mit diesem Spannungsfeld von social sciences
und cognitive sciences eine Reihe von Problemen verbunden, zu denen ich hier nur soviel
anmerken möchte, daß ich nicht glaube, daß die Kognitionspsychologie eine Zukunft im
Rahmen der gegenwärtigen akademischen Psychologie hat.
Die Kognitionspsychologie zielt, ganz im Sinne von Windelbachs Verständnis von no-
mothetisch, nicht auf eine theoretische Erfassung dessen, was durch die individuelle Ge-
schichte oder die spezifische Entwicklung sozialer Bedingungen hervorgebracht wurde; sie
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ist weder an den spezifischen durch genetische Variation bedingten, quantitativen Variatio-
nen interessiert, noch an den das Individuum konstituierenden individuellen Lerngeschichten
von Neuronen. Ihr geht es vielmehr um das, was über alle Erfahrungsmodifikationen hinaus
allen normalen Menschen gemeinsam ist, sie zielt gleichsam auf das 'basic design', das ko-
gnitiven Prozessen unterliegt. Kognitionspsychologie ist im Wortsinne Allgemeine Psycho-
logie oder auch universelle Psychologie.
Windelbachs Klassifikation der Psychologie als nomothetisch erscheint also durchaus
konsequent vor dem Hintergrund der Entwicklungen, die insbesondere von Fechner und
Helmholtz so konsequent betrieben worden waren: nämlich zu zeigen, daß auch die Unter-
suchung der Funktionsweise des Geistes einer solchen Forschungsperspektive zugänglich
sei, wie sie in den Naturwissenschaften entwickelt worden war.
In den Naturwissenschaften hatte sich eine Reihe metatheoretischer Prinzipien etabliert
und ein eigener Erklärungsbegriff konstituiert, der sich mit einer solchen Macht entfaltete,
daß Erklärung geradezu gleichbedeutend mit Erklärung innerhalb dieser naturwissenschaft-
lichen Perspektive wurde. In dieses einheitliche Weltbild, dessen Konturen von der Physik
vorgezeichnet wurden, galt es nach Helmholtz auch die naturwissenschaftliche Psychologie
einzugliedern, wollte man sich nicht überhaupt eines Anspruches auf Erklärung im Bereiche
des Psychischen begeben.
Helmholtz sah es, wie er schrieb, als Recht und Pflicht wissenschaftlichen Denkens, „die
Anwendung dieser (naturwissenschaftlichen) Methode auf alles Vorkommende auszudeh-
nen“, auch auf die Psychologie. Und was bereits für die neuzeitliche Physik galt, sah Helm-
holtz auch für die Psychologie als gültig an: Wahrheit sei nicht unmittelbar auf der Ebene
der Phänomene zu suchen und die Alltagssprache sei ungeeignet, die tiefere Ordnung hinter
den Phänomenen zu erkennen. Die theoretische Begreifbarkeit der Welt ist - Helmholtz hat
dies als erster auch für die Psychologie ausgesprochen - auf das beschränkt, was in der
Sprache der Naturwissenschaften formulierbar ist. Freilich handelt es sich - Helmholtz war
sich dessen sehr wohl bewußt - bei einem naturwissenschaftlichen Verständnis schon vom
Ansatz her um eine ganz bestimmte Form des theoretischen Verstehens. Folglich schließt
eine naturwissenschaftliche Psychologie - als der Versuch, die Natur des Mentalen im Rah-
men einer objektiven, d.h. perspektiveunabhängigen Konzeption der Welt zu verstehen - in
keiner Weise andere Arten des Verstehens aus. Viel von dem, was wir als Erkenntnis und
Verstehen ansehen, ist nicht an eine perspektivenunabhängige Konzeption der Realität ge-
bunden und dennoch gleichwohl Erkenntnis, denken wir beispielsweise an Ausdrucksweisen
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des menschlichen Geistes, wie sie uns in Dichtkunst, Literatur, Malerei und Musik entge-
gentreten. Doch haben diese anderen Arten mit der naturwissenschaftlichen Zugangsweise
nichts zu tun. Insbesondere können wir diese Zugangsweisen nicht gegeneinander ausspie-
len, denn es gibt kein tertium comparationis, auf dessen Grundlage sich überhaupt formulie-
ren ließe, daß ein Verstehen innerhalb einer naturwissenschaftlichen Psychologie und ein
Verstehen innerhalb einer Psychologie des betrachterabhängigen Erlebens miteinander kon-
kurrieren. Daß die Natur des Menschen durch physikalische Erklärungen nicht erfaßt wer-
den könne, ist keine tiefe Einsicht in die Natur des Menschen, sondern schlicht Ausdruck
unserer Konzeption von Objektivität, auf welcher die Naturwissenschaft beruht.
Ein wesentliches Merkmal einer naturwissenschaftlichen Zugangsweise ist es, daß es
keine a priori privilegierten Kategorien von Evidenzen gibt, seien es Introspektion, Verhal-
ten oder neurophysiologische Daten. Vielmehr wird eine naturwissenschaftliche Psychologie
alles an Daten heranziehen, was sie für interessant und relevant für die Bildung von Theori-
en über die Struktur des Mentalen ansieht. Hierzu können neurophysiologische Daten eben-
so gehören wie entwicklungspsychologische Beobachtung zur Wahrnehmungs- und
Denkentwicklung bei Säuglingen, Beobachtungen bei Läsionen des Gehirns, introspektive
Berichte der Versuchspersonen etc. Eine naturwissenschaftliche Psychologie hat ein gleich-
sam opportunistisches Verhältnis sowohl introspektiven wie auch neurophysiologischen
Beobachtungen gegenüber. Obwohl uns zwar das Endprodukt kognitiver Prozesse oftmals
im Bewußtsein zugänglich ist, haben wir dennoch keinen privilegierten Zugang zu den in-
ternen Prinzipien, die unser Wissen, unsere Wahrnehmung, unsere Gefühle, die Form, Be-
deutung oder den Gebrauch von Sätzen, die Beziehungen zwischen unterschiedlichen
Wahrnehmungsmodulen oder zwischen Wahrnehmung und Sprache determinieren. Eben-
sowenig wie introspektive Beobachtungen haben auch neurophysiologische Beobachtungen
für die Psychologie keine epistemische Superiorität. Damit kehre ich an den Anfang - d.h.
zu den Versuchen, die naturwissenschaftliche Psychologie innerhalb der Naturwissenschaf-
ten überflüssig zu machen - zurück. Ich hatte sie grob klassifiziert als Neuroreduktionismus
und Computersimulation.
Der Neuroreduktionismus, mit dem ich mich zunächst beschäftigen möchte, stellt in sei-
nen vielfältigen Varianten und Schattierungen die gegenwärtig in der Kognitionsforschung
einflußreichste Position dar. Er ist geradezu zur gegenwärtigen Orthodoxie geworden. Im
wesentlichen besagt er, daß die eigentliche Erklärungsebene für mentale Prozesse auf
neuraler Ebene liege, daß psychologische Theorien bestenfalls vorübergehende Hilfkon-
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struktionen seien, bis man auf neuraler Ebene die eigentliche Erklärung für die betrachteten
psychologischen Phänomene gefunden habe. Da das Mentale schließlich nichts mehr als eine
komplexe Erscheinungsweise von Eigenschaften des Gehirnes sei, erledige sich sein Ver-
ständnis mit zunehmendem Verständnis des Gehirnes. Es ist freilich eine ganz und gar
witzlose Bemerkung, daß die Neurone die Grundlage des Verhaltens oder geistiger Prozes-
se seien, denn mit gleichem Recht kann man bemerken, daß die Atome die Grundlage der
Neurone seien, die Quarks die Grundlage der Atome und die Superstrings die Grundlage
der Quarks. Wenn Reduktion auf eine grundlegendere Wissenschaft wirklich ein zentrales
Merkmal der Naturwissenschaft wäre - was sie nicht ist -, welche Gründe könnte der Neu-
roreduktionismus dafür anführen, daß er nur ein sehr halbherziger Reduktionismus ist, der
bei einer rein phänomenal bestimmten und physikalisch völlig arbiträren Zwischenebene von
Neuronen stehen bleibt, statt konsequent mentale Prozesse auf die Physik zu reduzieren -
und Verhalten beispielsweise in terminis von Quarks zu erklären? Hier wird deutlich, daß
das neuroreduktionistische Credo in der Psychologie nicht mehr darstellt als die dogmati-
sche Behauptung darüber, auf welcher Ebene die Antwort zur Natur des Geistes zu finden
sei. Damit ist der Neuroreduktionismus - und dies ist wichtig festzuhalten – eine Hypothese
der Neurophysiologie, nicht der Psychologie. Für eine naturwissenschaftliche Psychologie
ist er kaum von Belang.
In seinem Verständnis von Reduktion beruht der Neuroreduktionismus auf einem Miß-
verständnis der Geschichte der Theorieentwicklung in den Naturwissenschaften. Die Re-
duktion einer Wissenschaft auf eine vorgegebene grundlegendere ist wenig typisch für die
Entwicklung der Naturwissenschaft. Reduktion ist und war, wie die Wissenschaftsge-
schichte lehrt, niemals vorrangiges Ziel der Naturwissenschaft. Vielmehr ist die Geschichte
der Naturwissenschaft dadurch gekennzeichnet, daß man unterschiedliche Phänomenberei-
che miteinander in Beziehung zu setzen sucht: Beispiele sind Wärmelehre und Mechanik,
Elektrodynamik und Quantentheorie, Quantentheorie und Gravitationstheorie, Physik und
Chemie, Biologie und Chemie, usw. Das Verhältnis von Chemie und Physik genügt, um den
Unterschied von Reduktion und explanatorischer Vereinheitlichung zu verdeutlichen: Nie-
mand wäre im vergangenen Jahrhundert auf die Idee gekommen, die Gesetzmäßigkeiten der
Chemie deshalb für weniger gültig und angemessen anzusehen, weil sie sich nicht auf physi-
kalische Gesetzmäßigkeiten reduzieren lassen. Die Beschreibungen und Gesetzmäßigkeiten
der Chemie haben bis heute Gültigkeit, und es war die Physik, die sich ändern mußte, um
eine explanatorische Vereinheitlichung zu erlauben. Gleiches gilt für andere Bereiche: War
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etwa das Konzept des Gen solange von zweifelhaftem Status, wie man es noch nicht als
DNS-Molekül beschreiben konnte? Oder wurde das Prinzip der natürlichen Selektion als
unnaturwissenschaftlich angesehen, weil man es nicht aus den Prinzipien der Newtonschen
Mechanik herleiten kann? Hinzu kommt, daß die Tatsache der Reduzierbarkeit beziehungs-
weise der Irreduzierbarkeit als solche wenig interessant ist: Auch elektromagnetische Eigen-
schaften sind nicht auf mechanische zu reduzieren. Was also die Naturwissenschaft seit jeher
antreibt ist keineswegs die Reduzierung auf eine grundlegendere Wissenschaft, sondern die
Entwicklung phänomenadäquater Theorien und die explanatorische Vereinheitlichung der
Prinzipien, auf denen unterschiedliche Klassen von Theorien beruhen.
Auffassungen, wie sie im sog. 'eliminativen Materialismus' formuliert werden, daß men-
tale Zustände 'in Wirklichkeit' nicht existierten, da sie keinen Platz in der durch die Physik
beschriebenen Welt hätten, und daß folglich das Sprechen über alltagspsychologische Phä-
nomene durch ein Sprechen über neurale Dinge ersetzt werden müsse, sind ebenso sinnvoll,
wie es etwa die Forderung wäre, in der Biologie ein Sprechen über DNS durch ein Sprechen
über Quarks zu ersetzen.
Die Attraktivität des Neuroreduktionismus für viele Kognitionsforscher scheint darin zu
liegen, daß er vorgibt, in besonderer Weise naturwissenschaftliche Prinzipien zu verkörpern,
dar etwas Nebulöses, Mysteriöses seines geheimnisvollen Charakters entkleidet und es auf
etwas Klares und Wohlbekanntes zurückzuführen sucht. Doch der metaphysische Dualis-
mus, den er dadurch zu vermeiden sucht, ist ohne den klaren mechanistischen Materiebegriff
des 17. Jahrhunderts gar nicht mehr formulierbar. Mit der Entwicklung der Physik ist uns
die Materie abhanden gekommen.
Nicht die Materie ist Gegenstand der Physik, sondern all das, was durch gültige physi-
kalische Theorien beschrieben wird. Wenn der Neuroreduktionismus dennoch glaubt, in
gewissen materiellen Dingen, die von uns phänomenal als Neurone klassifiziert werden, eine
materielle Basis des Psychischen zu finden, so bleibt er damit den naturwissenschaftlichen
Kategorien des 17. Jahrhunderts verhaftet.
Somit bleibt jenseits eines metaphysischen Neuroreduktionismus nur die empirische Fra-
ge, inwieweit Kenntnisse über das Gehirn unsere Theoriebildung über mentale Prozesse
restringieren - und sie somit bereichern können. Ziel einer naturwissenschaftlichen Psycho-
logie ist es, Theorien über die Struktur des Mentalen zu formulieren und somit letztlich über
Eigenschaften des Gehirns - wobei wir nicht vergessen sollten, daß auch dies selbst schon
eine abstrahierende Idealisierung ist(z.B. vom Stoffwechselsystem und vom Immunsystem).
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Daß in manchen Fällen neurophysiologische Daten zu einer Verfeinerung der psychologi-
schen Theoriebildung beitragen können und beigetragen haben, steht völlig außer Zweifel,
doch ebenso außer Zweifel steht, daß neurophysiologische Daten keinen privilegierten Sta-
tus als eigentliche Grundlage des Mentalen haben. „Eine physiologische Hirntheorie“, so
betonte Theo Herrmann in der eingangs genannten Arbeit, „verlangt als Richtigkeitskriteri-
um auch immer die Vereinbarkeit mit psychologischen Tatsachen.“ Das Feuern von Neuro-
nen, die Lokalisation metabolischer oder elektrischer Hirnaktivität oder das Verhalten einer
Person sind einige von vielen möglichen Indikatoren für innere Prozesse, jedoch keineswegs
ein Substitut für diese.
So, wie sich Chemie, Biologie und andere Bereiche der Naturwissenschaft als eigenstän-
dige Gebiete entwickelten und eine phänomenangemessene Beschreibungssprache für die
Formulierung ihrer Gesetzmäßigkeiten entwickelten, ohne dabei durch reduktionistische
Mißverständnisse gefährdet zu sein, kann auch eine naturwissenschaftliche Psychologie ge-
treu den metatheoretischen Prinzipien der Naturwissenschaft eine eigenständige phänome-
nadäquate Theoriebildung betreiben; sie ist keineswegs eine epistemologische Magd der
Neurowissenschaft. Mehr noch: Die gegenwärtig dominanten Varianten des Neuroreduk-
tionismus stehen, wie ich versucht habe deutlich zu machen, geradezu in Gegensatz zu die-
sen Prinzipien, sie stellen ein Mißverständnis der Anwendung naturwissenschaftlicher Prin-
zipien auf die Untersuchung des Geistes dar.
Neuroreduktionistische Positionen können also, da sie für die Kognitionspsychologie
bedeutungslos sind, keinen Einwand gegen eine eigenständige, genuin psychologische Theo-
riebildung darstellen. Nun basiert ja die Kognitionswissenschaft auf der grundlegenden Idee,
daß Wahrnehmung und Denken auf Transformationen von Repräsentationen beruhen, die
durch abstrakte interne Codes konstituiert werden. Wie nun, wenn wir statt gleichsam von
unten die Kognitionspsychologie von oben her überflüssig zu machen suchen, indem wir
behaupten, eine Einsicht in die Struktur des Geistes könne bereits dadurch zu gewinnen
sein, daß wir ein Computermodell konstruieren, das hinsichtlich bestimmter Aspekte unun-
terscheidbar vom Verhalten von Personen ist. Wie beim Neuroreduktionismus der Erklä-
rungsbegriff an die Reduktion auf vermeintlich Grundlegenderes gebunden wird, so wird er
hier an einen Erfolg der Simulation - zumeist im Sinne irgendeines jeweils gewählten 'Un-
unterscheidbarkeits'-Kriteriums - gebunden. Die Beweggründe für eine sich an der Simulati-
on orientierende Zugangsweise lassen sich ideengeschichtlich ebenfalls auf das 16. und 17.
Jahrhundert zurückführen: nämlich auf die Gleichsetzung von verum und factum als Kriteri-
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um der Erkenntnis; wahr ist, was sich technisch reproduzieren läßt, denn die - von Descar-
tes geforderte Klarheit und Bestimmtheit - ist allein dem Einsichtsverhältnis des Schöpfers
zu seinem Werk vorbehalten.
Kann aber das Bemühen um eine Simulation mentaler Prozesse etwas zur Kognition-
spsychologie beitragen? Kann die Betrachtung von Maschinen als solche bereits Einsicht in
die Natur mentaler Prozesse erlauben? Ich meine 'nein', und der Grund ist ein sehr einfacher.
Auch hier, wie schon im Falle des Neuroreduktionismus, hat dies Theo Herrmann - in einer
Schrift zur Verteidigung der Experimentalmethodik - in aller Klarheit ausgesprochen. Wie
nämlich - schreibt er zur Computersimulation kognitiver Phänomene - „sieht das Original
aus, das in diesem Modell abgebildet werden soll?“ Und fährt in Beantwortung dieser Frage
mit der Feststellung fort: „Da werden wir Psychologen, aber auch wohl Linguisten, Neuro-
wissenschaftler und Analytische Philosophie sagen müssen, daß wir darüber nur höchst
bruchstückhafte und vage Kenntnisse besitzen.“ Wenn also die eigentliche Aufgabe der Ko-
gnitionspsychologie -nämlich eine phänomenadäquate Theoriebildung über mentale Prozes-
se- erst noch zu leisten ist, welchen Nutzen könnte dann eine Simulation haben?
Ihre vermeintliche Faszination bezieht die Simulationsperspektive aus einer stillschwei-
gend metaphorischen Übertragung psychologischer Sprechweisen. Die Idee, durch Simula-
tion etwas über die Natur des Mentalen zu erfahren, ist so irrig wie die Vorstellung, - um
ein Beispiel Richard Rortys anzuführen - wir könnten in Erfahrung bringen, ob wir Robo-
tern bürgerliche Rechte gewähren sollen, indem wir ihre Funktionsweise besser erforschen.
Wüßten wir nämlich nicht bereits, was Gedanken und Gefühle sind, so könnten wir es auch
durch Untersuchung von Artefakten nicht herausfinden.
Denn Begriffe wie Denken, Fühlen, Sehen beziehen ihre Bedeutung ausschließlich aus
einem menschlichen Kontext und können bei Artefakten nur eine metaphorische Bedeutung
haben. Somit ist die Frage, ob Maschinen denken oder fühlen können, eine für die Kogniti-
onsforschung inhaltlich bedeutungslose Frage, die lediglich den Sprachgebrauch betrifft; mit
gleichem Recht, wie wir sagen können „Flugzeuge fliegen“ - und damit einen Begriff aus
biologischen Zusammenhängen metaphorisch auf Artefakte übertragen, können wir auch
sagen, Roboter laufen, Maschinen sehen oder Computer denken. Ein Problem des Sprach-
gebrauchs also und keinesfalls eine Frage nach einem durch Untersuchungen herauszufin-
denden Faktum. Denn die Attribution von Erfahrungen und Gefühlen gründet sich nicht auf
wissenschaflicher Analyse, sondern resultiert aus einer gemeinsamen Natur und einem Tei-
len von Erfahrungen. Ebenso bedeutungslos für die Kognitionsforschung ist die Frage, ob
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sich technisch irgendwelche arbiträren und kontextspezifischen 'Ununterscheidbarkeits'-
Kriterien (wie der Turing-Test) erfüllen lassen.
In der Kognitionspsychologie gleicht der sich an der Simulation orientierende Zugang
dem Neuroreduktionsmus in seinem Bemühen, unter dem Banner einer konsequenten Na-
turwissenschaftlicheit das Mentale loszuwerden. Wie wenig aber beispielsweise die konse-
quent mechanistisch gedachten Versuche des 17. Jahrhundert, biologische Systeme in Form
von Tiermaschinen zu simulieren, für die Entwicklung der Biologie beigetragen haben, ist
bekannt – nämlich nichts.
In Diderots Enzyclopdie finden wir unter dem Stichwort 'Androide': „Automat von
menschlicher Gestalt, der vermittels gut angebrachter Federn etc. sich bewegt und Funktio-
nen ausführt, die jenen eines Menschen äußerlich ähnlich sind.“ Eine deutsche Bildungsen-
zyklopädie von 1820 schreibt zum Stichwort 'Automat': „Je täuschender und naturgemäßer
der Automat die Bewegungen und Verrichtungen belebter Wesen nachahmt, und je ver-
steckter und dauernder die verborgenen Kräfte die Thätigkeit desselben unterhalten, desto
vollkommener ist diese Maschine.“ Hier finden wir im wesentlichen bereits das behaviorale
Turing-Kriterium. Zugleich wird erkennbar, daß dieses vieldiskutierte Kriterium seine ver-
meintliche Faszination nur im Kontext eines Simulationszieles erhalten kann. Wie in der
Biologie erlaubt auch in der Kognitionspsychologie die Betrachtung von Maschinen oder
Programmen keine neuen Einsichten in die Natur der untersuchten Prozesse.
Simulation ist - wie schon zuvor Reduktion - weder als Erkenntnisinstrument noch als
Erkenntnisziel wesentliches Merkmal einer naturwissenschaftlichen Zugangsweise. Oftmals
steht sie geradezu in Gegensatz zu einer naturwissenschaftlichen Perspektive. Denn sie zielt
ihrem Charakter nach auf etwas ganz anderes als auf kumulative Theoriebildung über ab-
strakte und hochidealisierte Prinzipien, welche den jeweils betrachteten Phänomenen zu-
grunde liegen. Zur Simulation greift man dort, wo die Auswirkungen die Effekte der dyna-
mischen Interaktion von wohlverstandenen Elementarkomponenten gleichsam kombinato-
risch explodieren und nicht mehr analytisch handhabbar sind, oder wenn die Effekte einer
unendlich großen Zahl von Randbedingungen - wie in der Meteorologie - nicht mehr mit der
eigentlichen Theorie in Beziehung gesetzt werden können. Ihrem Charakter nach zielt Si-
mulation also auf eine technische Beherrschung von Oberflächenphänomenen, während die
Naturwissenschaft auf die abstrakten und hochgradig idealisierten Prinzipien zielt, die den
Oberflächenphänomenen zugrunde liegen. Der Versuch, in der Kognitionsforschung auf
dem Wege der Erforschung des Geistes gleichsam eine Abkürzung – vorbei an den Ker-
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nelementen naturwissenschaftlicher Theoriebildung, nämlich 'Experiment, Isolation, Ideali-
sierung und Abstraktion', zu suchen, indem man gewissermaßen gleich aufs Ganze geht,
dieser Versuch unterscheidet sich - was sein Erklärungskonzept betrifft – so sehr von einem
naturwissenschaftlichen Zugang wie die babylonische Wissenschaft von der griechischen,
und er beruht zudem - was seinen vermeintlichen psychologischen Gehalt betrifft - darauf,
daß man sich die Alltagsbedeutung psychologischer Begriffe wie Denken oder Wahrnehmen
stillschweigend zunutze macht.
Simulation als ingenieurwissenschaftliche Herangehensweise kann also - dies wurde
vielfach von Vertretern aller Bereiche der Kognitionsforschung überzeugend festgestellt -
weder einen eigenständigen Beitrag zu den eigentlichen Aufgaben der Kognitionsforschung
leisten, noch gar in Konkurrenz zu ihr treten.
Mit diesen Betrachtungen zu Neuroreduktionismus und Simulation habe ich versucht
deutlich zu machen, daß die Feststellung, die Kognitionspsychologie habe einen eigenstän-
digen Gegenstand, für dessen theoretische Erfassung sie als eine eigenständige Wissenschaft
zuständig ist, in keiner Weise in einem Spannungsverhältnis zu naturwissenschaftlichen
Prinzipien steht.
Wenn man nun sagt, dieser Gegenstand sei das Mentale, so geht mit einer solchen Fest-
stellung keine tiefe Einsicht in die wahre Natur des Mentalen einher, sondern sie besagt
nicht mehr als etwa die Feststellung, daß das Biologische Gegenstand der Biologie und das
Chemische Gegenstand der Chemie ist. Hier wird keine ontologische Kategorie bestimmt,
sondern nur eine bestimmte Gruppierung von Phänomenen vorgenommen, die im Rahmen
einer eigenständigen theoretischen Sprache behandelt werden müssen.
Wenn es sich nun - was die grundlegende Eigenständigkeit einer naturwissenschaftlichen
Kognitionspsychologie angeht - so verhält, wie ich es in Auseinandersetzung mit den ge-
nannten Positionen darzulegen versucht habe, dann wird man auch Belege dafür erwarten,
daß sich eine solche Perspektive bereits als fruchtbar an wissenschaftlichen Einsichten er-
wiesen hat.
Für meinen Arbeitsbereich, die Wahrnehmungspsychologie, kann ich dies ohne Zweifel
behaupten, und wohl auch für die Sprachpsychologie. Doch möchte ich - statt mit Einzel-
heiten hierzu - mit allgemeineren, wenn auch sicherlich noch nicht allgemein akzeptierten
Einsichten schließen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten über die kognitive Architek-
tur haben gewinnen lassen.
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Die wichtigste Entwicklung scheint mir zu sein, daß wir eine Reihe von Vorstellungen
zunehmend überwunden zu haben scheinen, die statt auf eine eigene - genuin psychologi-
sche – phänomenadäquate Theoriebildung zu zielen, Theoriebildung durch entliehene
Strukturen aus anderen Bereichen ersetzt haben - durch die man also die 'natural kinds' - sei
es der Physik, der Logik oder anderer Bereiche – als 'natural kinds', als natürliche Arten des
Mentalen betrachtet. In der Wahrnehmungspsychologie war dies die Auffassung, daß die
Sinne gleichsam Meßinstrumente für physikalische Variablen seien, eine Auffassung, die
vom Konzept der 'optischen Täuschung' bis zu gegenwärtigen Ansätzen im Bereich des Ma-
schinensehens, etwa der sog. Inverse Optik, die Geschichte der Wahrnehmungspsychologie
durchzieht. In der Denkpsychologie war dies ein Logizismus, der - auf der Annahme einer
übergreifenden und weitgehend einheitlichen kognitiven Architektur - propositionales Wis-
sen als wesentliche Grundlage intelligenten Verhaltens ansah und glaubte, Kognition, Wahr-
nehmung und Motorik getrennt untersuchen zu können, unabhängig zudem von Fragen der
ontogenetischen und phylogenetischen Entwicklung.
Mit der Überwindung dieser Vorstellungen und auf der Basis einer Fülle neuer Phäno-
mene und Beobachtungen entstand ein neues Bild perzeptuell-kognitiver Architektur, ein
Bild, dem zufolge es hochgradig bereichsspezifische und überaus reichhaltige interne
Strukturen gibt, welche die Grundlage darstellen für all die erstaunlichen Leistungen, welche
die Basis unseres geistigen Lebens bilden. In der Wahrnehmungspsychologie finden wir eine
solche Spezifität innerer Strukturen etwa für die Orientierung im Raume, das Tiefensehen,
die Wahrnehmung von Oberflächen, die Erfassung einer Melodie unabhängig von ihrer
Transposition oder die Identifikation von Gesichtern. Spezifität finden wir darüber hinaus
bei kognitiven Strukturen, die uns zur Ausbildung von Sozialstrukturen befähigen, die uns
befähigen, aus Mimik und Gestik anderen Personen Intentionen zuzuschreiben und Persön-
lichkeitszüge zu erkennen, die uns ermöglichen, Musik zu verstehen oder Mathematik zu
betreiben, und die uns befähigen, motorisch mit unserer physikalischen Umwelt zu interagie-
ren.
Diese bereichsspezifischen internen Strukturen in ihren Eigengesetzlichkeiten phänome-
nadäquat zu isolieren, experimentell zu studieren, in ihren Beziehungen zueinander und ihrer
evolutionsgeschichtlichen Genese zu verstehen, kurz: sie theoretisch zu erfassen, ist Gegen-
stand und Ziel der Kognitionspsychologie. Wie sehr sie einer solchen Aufgabe gerecht wird,
wird sich nicht zuletzt darin zeigen, ob es ihr gelingt, die historische akademische Zergliede-
rung des Faches in Kategorien wie Wahrnehmung, Denken, Motivation, Gedächtnis, Emo-
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 15
tion, Sozialpsychologie oder Entwicklungspsychologie durch eine solche zu ersetzen, die
der internen Struktur und den natürlichen Arten des menschlichen Geistes besser Rechnung
trägt.
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 16
Bewußtsein und Ich-KonstitutionProf. Dr. Wolfgang Prinz
Inhalt
1 Vorbemerkungen........................................................................................................... 16
2 Falsche Dogmen............................................................................................................ 18
2.1 Bewußtseinsnaturalismus............................................................................................ 18
2.2 Bewußtseinsfundamentalismus ................................................................................... 20
2.3 Fazit........................................................................................................................... 22
3 Allgegenwart des Ich..................................................................................................... 23
4 Konstitution des Ich ...................................................................................................... 26
4.1 Kognitive Grundlagen: Gedanken............................................................................... 27
4.2 Dynamische Grundlagen: Pläne .................................................................................. 31
4.3 Ich-Pathologie............................................................................................................ 34
5 Explizites Ich ................................................................................................................ 36
6 Literatur........................................................................................................................ 38
1 Vorbemerkungen
Daß in der wissenschaftlichen Diskussion über die Natur des Bewußtseins und über die
Beziehungen zwischen Bewußtseinsvorgängen und Hirnprozessen immer wieder einmal ein
Ignorabimus!-Ruf erschallt, ist verwunderlich und beunruhigend. Sollen wir wirklich
glauben, daß wir hier auf prinzipielle Grenzen der wissenschaftlichen
Erklärungsmöglichkeiten stoßen? Natürlich kann man grundsätzlich nicht ausschließen, daß
es derartige Grenzen gibt. Bevor wir aber diese weitreichende Schlußfolgerung ziehen,
sollten wir uns zuvor sorgfältig vergewissern, ob wirklich schon alle
Erklärungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind, die die Wissenschaft zu bieten hat.
Was „die Bewußtseinsfrage“ angeht -- einen ganzen Komplex von Fragen, die sich auf
die Natur von Bewußtseinserscheinungen, auf ihre Funktionsgrundlagen und ihre Rolle be-
ziehen --, sind in der Tat noch einige Erklärungsoptionen offen, und zwar solche, die genuin
psychologischer Natur sind. Für die herkömmliche mind-brain-Debatte ist nämlich charak-
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 17
teristisch, daß sie überwiegend zwischen Philosophen und Neurobiologen geführt wird. Die
Philosophen richten ihren professionellen Blick auf die Bewußtseinserscheinungen und fra-
gen sich (und die Neurobiologie), wie das Gehirn es wohl fertigbringen könnte, diese Er-
scheinungen zu erzeugen. Die Neurobiologen richten ihren professionellen Blick umgekehrt
auf die Struktur und Funktion von Gehirnprozessen und fragen sich (und die Philosophie),
wie die Tätigkeit dieses Organs in Bewußtseinserscheinungen münden könnte.
Vielleicht scheitern diese Fragen deshalb, weil die Kluft zwischen Geist und Gehirn viel
zu tief und zu breit ist, als daß sie sich in einem einzigen Schritt überbrücken ließe. Viel-
leicht ergeben sich neue Chancen für eine erfolgreiche Überbrückung dann, wenn unterwegs
noch ein zusätzlicher Stützpfeiler eingezogen wird. Vermittelnde Funktion könnte er wo-
möglich dann übernehmen, wenn er weder in der Sprache des Geistes noch in der Sprache
des Gehirns formuliert wird, sondern in einer dritten Sprache, die sich in diese beiden Spra-
chen übersetzen läßt. Diese dritte Sprache müßte sich dazu eignen, Strukturen und Prozesse
zu charakterisieren, die auf der einen Seite den Bewußtseinserscheinungen zugrunde liegen
und zugleich auf der anderen Seite durch Gehirnprozesse realisiert werden. Um es in einem
Bild zu sagen: Zwei Personen, die deshalb nicht miteinander reden können, weil die eine nur
Englisch, aber nicht Französisch und die andere nur Französisch, aber nicht Englisch spre-
chen kann, können dennoch miteinander ins Gespräch kommen, wenn sie beide eine dritte
Sprache sprechen -- Esperanto, Latein oder auch Deutsch.
Mit der dritten Sprache, von der hier die Rede ist, meine ich die Sprache der theoreti-
schen Psychologie, d.h. die Begrifflichkeit, die die Psychologie verwendet, um kognitive
Leistungen theoretisch zu rekonstruieren (vgl. hierzu Eimer, Kapitel 12, in diesem Band).
Diese Perspektive ist es, aus der ich im folgenden einen Blick auf die Frage richte, wie Be-
wußtseinserscheinungen entstehen und welche Rolle ihnen im kognitiven System zukommt.
Meine Überlegungen werden im Grunde die Form einer psychohistorischen Spekulation
annehmen, in deren Mittelpunkt die Rekonstruktion der naturgeschichtlichen Voraussetzun-
gen und der kulturgeschichtlichen Bedingungen der Konstitution des Ich steht (Abschnitt 4).
Zuvor sage ich mich von zwei Dogmen los, die ich für falsch halte und die die Klärung
der hier anstehenden Fragen nach meiner Überzeugung mehr behindert als gefördert haben
(Abschnitt 2), und ich begründe, warum ich glaube, daß die Frage nach der Natur des Be-
wußtseins nur durch eine Aufklärung des kognitiven Status des Ich gelöst werden kann
(Abschnitt 3). Im Anschluß an den zentralen Abschnitt, der die Skizze des Erklärungsansat-
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 18
zes enthält (Abschnitt 4), schließe ich mit einer Bemerkung über den Unterschied zwischen
explizitem und implizitem Ich (Abschnitt 5).
2 Falsche Dogmen
2.1 Bewußtseinsnaturalismus
Unter Bewußtseinsnaturalismus verstehe ich die vor allem in der Neurobiologie verbreitete
Auffassung, daß Bewußtsein eine Qualität ist, die von Gehirnen produziert wird. Wer immer
dieses Dogma akzeptiert (stillschweigend oder ausdrücklich), legt sich auf ein
Forschungsprogramm fest, das an drei Leitfragen orientiert ist: 1) Welche Tiere besitzen
Gehirne, die mit dieser Fähigkeit ausgezeichnet sind? Nur Menschen? Nur Primaten? Nur
Säugetiere? usw. 2) Welche Strukturen und Prozesse in diesen Gehirnen sind für die
Ausbildung von Bewußtsein kritisch? Corticale Strukturen im Vorderhirn? Cortical-
subcorticale Schaltkreise unter Einbeziehung des Thalamus und des Hippocampus?
Modulationsprozesse an Synapsen? usw. 3) Unter welchen Bedingungen produzieren diese
Strukturen und Prozesse Bewußtsein, und unter welchen Bedingungen nicht? Unter allen
Umständen? Im Anschluß an Orientierungsreaktionen? Nicht bei hoch überlernten
Tätigkeiten? usw. Darüber hinaus möchte man noch gern eine vierte Frage stellen, die
allerdings innerhalb dieses Forschungsprogramm kaum diskutiert wird: 4) Wie hängen die
einzelnen Eigenschaften von Bewußtseinserscheinungen mit einzelnen Eigenschaften dieser
Strukturen und Prozesse im Gehirn zusammen? Anders formuliert: Sind die Gehirnprozesse
nur Träger von Bewußtseinserscheinungen -- oder stellen sie zugleich deren konkrete
inhaltliche Grundlage dar?
Das bewußtseinsnaturalistische Dogma ist so alt wie die moderne Gehirnforschung
selbst. Seine bis heute markanteste Formulierung erhielt es durch Carl Vogt, einen Natur-
forscher und Philosophen des mittleren 19. Jahrhunderts, der sich in der Rolle eines mate-
rialistischen Bürgerschrecks gefiel. Vogts populären Vorträgen wird der Satz zugeschrie-
ben, daß die Gedanken zum Gehirn in demselben Verhältnis stehen wie die Galle zur Leber
oder der Urin zu den Nieren: Das eine ist das Organ, das andere sein Produkt (um nicht zu
sagen: sein Sekret). Ganz ähnlich versichert uns der amerikanische Gegenwartsphilosoph
John Searle, daß das Gehirn die Milch des menschlichen Bewußtseins absondert -- was im-
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 19
mer das heißen mag. Subtrahiert man aus diesen Floskeln die auf Wirkung bedachte Pole-
mik und reduziert sie auf ihren gedanklichen Kern, ist das, was bleibt, nichts anderes als die
Grundüberzeugung des Bewußtseinsnaturalismus: Bestimmte Gehirnprozesse erzeugen
Bewußtseinserscheinungen, und zwar in dem Sinne, daß diese Gehirnprozesse notwendige
und hinreichende Grundlage für das Auftreten dieser Bewußtseinserscheinungen sind.
>>Das Bewußtsein kann ... nur durch die Biologie erklärt werden<< -- so dekretierte
noch kürzlich der amerikanische Neurobiologe Gerald Edelman in einem Interview (Edel-
man, 1995), ein Satz, der sich als Leitsatz des Bewußtseinsnaturalismus lesen läßt und der
das Arbeitsmodell der modernen neurobiologischen Forschung auf den Begriff bringt. Sie
lebt von der Hoffnung, daß es eines Tages gelingen wird, die Trägerprozesse von Bewußt-
sein eindeutig zu identifizieren. Die von Flohr (1995) vorgelegte Theorie ist ein prägnantes
Beispiel für diesen Forschungsansatz.
Andererseits lebt sie aber zugleich auch mit der Befürchtung, daß dieses Projekt schei-
tern und am Ende doch wieder zu einem neuen Ignorabimus! führen könnte. Die Ambiva-
lenz zwischen Hoffnung und Befürchtung hat kürzlich Hubert Markl in einer Gedenkrede
zum 100. Todestag Herrmann von Helmholtz' wie folgt formuliert:
„Es bleibt ... unseren Glaubensvorstellungen anheim gestellt, ob wir davon überzeugt
sind, daß letztlich auch das Rätsel unserer subjektiven inneren Erfahrung, unseres
Denkens, Fühlens, Wünschens und unserer Willensentscheidung ... dem Ansturm des
naturwissenschaftlichen Forschens, dem Zugriff der Methoden der >Physik des Le-
bendigen< erliegen. Oder ob Physik und Chemie, Physiologie und Biophysik zwar am
Ende aller Eigenschaften und Leistungen der Körperlichkeit aller Lebewesen ... erklä-
ren mögen, dann aber immer noch etwas bleibt, was wir ... eigentlich als das Aller-
wichtigste, nämlich das uns einzig zweifelsfrei Sichere erkennen, die Existenz unseres
bewußten Selbst: unreduzierbar auf physische Wirklichkeit .... Mag auch sein, daß wir
niemals eine endgültig abschließende Antwort darauf ...“
Wie aber, wenn das Dogma des Bewußtseinsnaturalismus falsch wäre und das For-
schungsprogramm, das auf ihm aufbaut, deshalb die falschen Fragen stellt? Eine radikale
Kritik stellt den Bewußtseinsnaturalismus insgesamt in Frage. Sie geht oft mit der Ableh-
nung jeglicher Form von naturwissenschaftlicher Erklärung von Bewußtseinserscheinungen
einher und läuft häufig auf die Begründung einer dualistischen Position hinaus. In diesem
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 20
prinzipiellen und radikalen Sinn stelle ich den Bewußtseinsnaturalismus hier keineswegs zur
Disposition.
Eine weniger radikale Kritik stellt dagegen nur die starke Version der bewußtseinsnatu-
ralistischen Position in Frage -- die Überzeugung nämlich, daß Gehirnprozesse die notwen-
dige und hinreichende Grundlage von Bewußtseinserscheinungen bilden. Dies ist die Kritik,
die ich mir im folgenden zu eigen mache. Das heißt, ich bin sehr wohl davon überzeugt, daß
die Ausbildung von Bewußtsein an bestimmte neurobiologische Bedingungen als notwendi-
ge Voraussetzung gebunden ist. Ich bin aber zugleich davon überzeugt, daß diese Bedin-
gungen nicht hinreichend sind, um die Ausbildung von Bewußtsein zu erklären. Vielmehr
müssen nach meiner Überzeugung für eine hinreichende Erklärung neben bestimmten neu-
robiologischen Voraussetzungen auch bestimmte gesellschaftlich-politische Bedingungen
veranschlagt werden. Mit anderen Worten: Die Entstehung von Bewußtsein kann nicht rein
naturgeschichtlich erklärt werden, sondern erfordert eine Verbindung von naturgeschichtli-
chen und kulturgeschichtlichen Erklärungsansätzen.
2.2 Bewußtseinsfundamentalismus
Als Bewußtseinsfundamentalismus möchte ich eine Position bezeichnen, die für Teile der
philosophischen bzw. philosophisch inspirierten Diskussion über Natur und Funktion des
Bewußtseins charakteristisch ist und die in gewisser Weise das spiegelbildliche Gegenstück
zum Naturalismus der Biologie bildet. Das bewußtseinsfundamentalistische Dogma lehrt,
daß Bewußtseinserscheinungen fundamentale Gegebenheiten sind, zu denen wir
unmittelbaren, unvermittelten Zugang haben - im Unterschied zu Erscheinungen der äußeren
Welt, die uns durch Wahrnehmungsprozesse vermittelt sind. Unsere
Bewußtseinserscheinungen - unsere Gedanken, Gefühle, Absichten - sind uns unmittelbar
zugänglich, und deshalb haben sie für unsere Erkenntnis sogar einen höheren Rang als die
Erscheinungen der Außenwelt: sie sind, wie es in dem oben zitierten Ausschnitt der Rede
Hubert Markls zum Gedenken Herrmann von Helmholtz' heißt >>... eigentlich das
allerwichtigste, nämlich, daß uns einzig zweifelsfrei Sichere....<< Bewußtseinserscheinungen
haben danach eine höhere erkenntnistheoretische Dignität als die Erscheinungen der
Außenwelt. Sie stellen das ursprüngliche Fundament aller Erkenntnis dar. Denn in ihnen
wird sich das Subjekt seiner eigenen geistigen Tätigkeit inne, statt -- wie z.B. in der
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 21
Wahrnehmung der Außenwelt -- irgendwelchen äußeren Objekten fremd
gegenüberzustehen.
Dieses Dogma ist vor allem durch Descartes' Lehre befördert worden, daß als einziger
unbezweifelbarer Verankerungspunkt für eine Theorie der menschlichen Erkenntnis nur das
reflexive Selbstbewußtsein des Geistes -- das Cogito -- in Betracht kommen kann. Descartes
war der Überzeugung, daß der Zugang zu den eigenen Bewußtseinstatsachen ein Prozeß
von viel einfacherer Struktur ist als der Zugang zur Außenwelt. Beim Zugang zum eigenen
Bewußtsein ist das Psychische gleichsam bei sich selbst; es muß nicht irgendwelchen physi-
schen Sachverhalten gegenübertreten, die ihm wesensfremd sind. Dementsprechend ist das,
was wir über unsere psychischen Vorgänge wissen, stets notwendigerweise wahr: Es ist ein
Vorgang des Innewerdens des wirklichen Sachverhalts selbst, und keineswegs ein Abbil-
dungs- und Transformationsvorgang, bei dem man die Frage nach der Beziehung zwischen
wirklichem und wahrgenommenem Sachverhalt sinnvoll stellen könnte.
Was aber, wenn auch dieses Dogma falsch wäre und wenn es unzulässig wäre, die
Struktur unserer Bewußtseinsinhalte ohne weiteres mit der Struktur der Prozesse zu identi-
fizieren, die sie erzeugen? Dann würden wir, wenn wir nach den Beziehungen zwischen
Bewußtseinserscheinungen und Gehirnprozessen fragen, vielleicht abermals eine Frage stel-
len, die zu weit greift und sich in dieser Form nicht beantworten läßt. Falls es nämlich
Gründe gibt, die bewußtseinsfundamentalistische Doktrin zu bezweifeln, daß Bewußtsein-
serscheinungen die ihnen zugrundeliegenden kognitiven Prozesse direkt widerspiegeln, wäre
es erforderlich, nicht nur zwei, sondern drei Instanzen zu unterscheiden. Man müßte dann
zwischen Bewußtseinserscheinungen, kognitiven Prozessen und Gehirnprozessen unter-
scheiden und hätte die Ausgangsfrage nach der Beziehung zwischen Bewußtsein und Gehirn
in zwei Teilfragen aufzuspalten: die nach der Beziehung zwischen kognitiven Prozessen und
ihrer bewußten Repräsentation und die nach der Realisierung kognitiver Prozesse durch
Gehirnprozesse.
Für eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem bewußtseinsfundamentalistischen
Dogma ist hier kein Raum (vgl. Lutz, 1992; Mead, 1934; Prinz, im Druck a, b; Wilkes,
1988). Für den gegenwärtigen Zweck mag es ausreichend sein festzustellen, daß sich die
moderne psychologische Forschung längst von diesem Dogma verabschiedet hat und dazu
übergegangen ist, Berichte, die Personen über ihre Bewußtseinserscheinungen geben, ge-
nauso zu behandeln wie Berichte, die sie über Vorgänge in der Außenwelt geben: als Be-
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 22
richte über die Wahrnehmung ihrer kognitiven Prozesse, und keineswegs als Berichte über
diese Prozesse selbst.
Nach diesem Arbeitsmodell stehen die Bewußtseinserscheinungen zu den zugrundelie-
genden kognitiven Prozessen in genau dem gleichen indirekten Vermittlungsverhältnis wie
die Wahrnehmungseindrücke, die wir über die Außenwelt haben, zur Außenwelt selbst: Hier
wie da enthalten die Bewußtseinseindrücke nur eine hochgradig selektive und kategorial
überformte Repräsentation einzelner Aspekte der zugrundeliegenden Verarbeitungsprozesse
-- und keineswegs eine Repräsentation dieser Prozesse selbst.
Der Status der Bewußtseinserscheinungen ist jetzt ein ganz anderer: Sie sind nicht die
kognitiven Prozesse selbst, deren Realisierung durch das Gehirn erklärt werden muß, son-
dern Produkte einer Interpretation dieser Prozesse. Nimmt man hinzu, daß das kategoriale
Gerüst für diese Interpretation nicht von jedem Individuum neu entwickelt, sondern aus der
kulturellen Umgebung übernommen wird, wird deutlich, daß die Abdankung des Bewußt-
seinsfundamentalismus zu einem ähnlichen Ergebnis führt wie die Abdankung des (starken)
Bewußtseinsnaturalismus: Sie schafft Raum für die Einbeziehung gesellschaftlich-kultureller
Faktoren in Theorien über die Konstitution von Bewußtsein.
2.3 Fazit
Diesen zusätzlichen Erklärungsraum haben wir dadurch gewonnen, daß wir die Beziehung
zwischen Bewußtseinserscheinungen und Gehirnprozessen in zwei Teilbeziehungen
aufgelöst haben. Die eine ist eine Instantiierungsbeziehung; sie betrifft die Realisierung von
(verborgenen) kognitiven Prozessen durch das Gehirn -- und damit die Beziehung zwischen
zwei verschiedenen Ebenen der Beschreibung eines Systems, das kognitive Leistungen
erbringt. Die andere ist eine Wahrnehmungsbeziehung; sie betrifft das Verhältnis zwischen
(verborgenen) kognitiven Prozessen und den mit ihnen verbundenen
Bewußtseinserscheinungen. Diese Beziehung ist der Ort, an dem soziale
Konstruktionsprozesse wirksam werden können.
3 Allgegenwart des Ich
Daß wir uns vom Bewußtseinsfundamentalismus verabschieden, bedeutet nicht, daß wir
einer Wissenschaft das Wort reden, die Bewußtseinserscheinungen überhaupt nicht mehr
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 23
zur Kenntnis nimmt. Im Gegenteil: Daß wir sie jetzt anders verstehen -- nicht als
unmittelbare Korrelate von Gehirnprozessen, sondern als Ergebnisse einer kulturell
vermittelten Interpretation der Resultate von kognitiven Prozessen --, bedeutet ja
keineswegs, daß sie wissenschaftlich unergiebig sind.
Wie also läßt sich die allgemeine Struktur von Bewußtseinserscheinungen charakterisie-
ren? Wir wollen uns dieser Frage nicht durch eine vergleichende Diskussion verschiedener
Definitionen nähern (vgl. dazu Marcel, 1988; Natsoulas, 1978a, b; Wilkes, 1988), sondern
durch Rückgriff auf eine klassische Autorität der phänomenanalytisch fundierten Psycholo-
gie und der psychologisch fundierten Philosophie. Der österreichische Philosoph Franz
Brentano legte 1874 eine Untersuchung zur Grundlegung der Psychologie vor, in der er sich
ausführlich mit der Natur psychischer Phänomene und der Abgrenzung zwischen psychi-
schen und physischen Phänomenen auseinandersetzte (Brentano 1874/1924). Dabei entwik-
kelte er die Lehre von den psychischen Akten, die zugleich eine Lehre über die Struktur
elementarer Bewußtseinstatsachen ist.
In diesem Buch erörtert Brentano die Natur psychischer Akte über viele Seiten hinweg
an einem denkbar einfachen Beispiel: Was geschieht eigentlich, wenn wir einen Ton hören?
Nach Brentanos Analyse sind dann in einem einzigen psychischen Akt zwei Inhalte mitein-
ander verwoben: Der Ton, den wir hören und die Tatsache, daß wir ihn hören. Allerdings
sind diese beiden Inhalte nicht in gleicher Weise repräsentiert: Der Ton ist das primäre Ob-
jekt des Hörens; ihn können wir im psychischen Akt direkt beobachten. Das Hören selbst ist
dagegen (etwas paradox formuliert) das sekundäre Objekt des Hörens. Von ihm sagt Bren-
tano, daß es im psychischen Akt nicht beobachtet werden kann, wohl aber in ihm zu Be-
wußtsein gelangt: >>Die Töne, die wir hören, können wir beobachten, das Hören der Töne
können wir nicht beobachten; denn nur im Hören der Töne wird das Hören selbst mit er-
faßt.<< (1874/1924, S. 181)
Bewußtseinserscheinungen -- für Brentano ein Synonym für psychische Akte -- zeichnen
sich demnach durch ihren zweifachen Inhalt aus: Sie enthalten den Gegenstand, auf den sie
sich richten (Ton) und die Art und Weise, in der dieser Gegenstand gegeben ist (Hören),
wobei, wie wir modern sagen würden, der Gegenstand (das primäre Objekt) explizit, die Art
seiner Gegebenheit (das sekundäre Objekt) dagegen implizit bewußt ist.
Man kann diese Analyse -- über Brentano hinaus -- noch einen Schritt weiter treiben --
und muß es wohl auch, wenn man die Struktur psychischer Akte wirklich erschöpfend cha-
rakterisieren will. Wenn nämlich zutrifft, daß im Hören eines Tons nicht nur der Ton, son-
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 24
dern auch das Hören implizit enthalten ist, dann muß auch das Subjekt des Hörens -- mein
Ich -- in abermaliger Verschachtelung im Akt enthalten sein. Denn das Hören ist nicht vor-
stellbar ohne ein Subjekt, das hört (ebensowenig wie vorstellbar wäre, daß es gar kein Ob-
jekt gäbe, das gehört würde).
In diesem Sinne ist das Subjekt des Aktes in jedem psychischen Akt implizit gegenwär-
tig. Die psychischen Akte einer Person unterscheiden sich nach ihren sekundären Objekten
(sie hört, sieht, denkt, glaubt, hofft, befürchtet, fühlt, daß etwas der Fall ist) oder natürlich
auch nach ihren primären Objekten (sie hört einen Ton, ein Geräusch, eine Stimme) --, aber
sie gleichen sich darin, daß in allen Akten im Hintergrund das gleiche Subjekt anwesend ist.
Wenn ich einen Ton höre, ist das Hören mein Hören, wenn ich über etwas nachdenke, sind
es meine Gedanken, und wenn ich etwas tun will, ist es mein Wille, dessen ich gewahr wer-
de. Mit anderen Worten: Mein Ich ist in meinen Bewußtseinserscheinungen implizit anwe-
send; es bildet die gemeinsame Klammer, durch die meine psychischen Akte zusammenhän-
gen.
Dem entspricht, daß die bewußte Repräsentanz einer Situation genau dann endet, wenn
das Ich sich aus ihr verabschiedet. Der klassische Fall, an dem man dies verdeutlichen kann,
ist die Art und Weise, in der wir unsere Umgebung wahrnehmen, wenn wir etwa während
eines Spaziergangs in ein Gespräch verwickelt werden, das unsere ganze Aufmerksamkeit
beansprucht. Unsere bewußte Wahrnehmung ist dann ganz auf den Inhalt des Gesprächs
und auf die Gesprächssituation selbst konzentriert; dies sind, um mit Brentano zu sprechen,
die primären Objekte, auf die unser implizit anwesendes Ich sich richtet. Nur sie sind es, die
wir dementsprechend bewußt wahrnehmen. Andere Merkmale der Situation -- der Weg, den
wir begehen und die Szenerie, die wir dabei durchschreiten -- nehmen wir nicht mit Be-
wußtsein zur Kenntnis. Natürlich kann kein Zweifel daran bestehen, daß diese Informatio-
nen verarbeitet werden, denn andernfalls wäre nicht zu erklären, daß wir, obwohl tief im
Gespräch versunken, voll in der Lage sind, unsere Schritte umgebungsgerecht zu steuern.
Die Verarbeitung erzeugt aber keine bewußte Repräsentation, d.h. keine Repräsentation, die
auf das implizit anwesende Ich bezogen ist (vgl. z.B. Prinz, 1983).
Diese Beobachtungen führen zu der Schlußfolgerung, daß die Bezogenheit auf ein im-
plizit anwesendes Ich offensichtlich die konstituierende Bedingung für die Ausbildung be-
wußter Repräsentationen darstellt: Zur bewußten Repräsentation gelangen Sachverhalte
dann, wenn (bzw. dadurch, daß) sie in ihrer Beziehung zum Ich repräsentiert werden.
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 25
Diese These ist für die weiteren Überlegungen von entscheidender Bedeutung. Sie hat
gegenüber vielen anderen bewußtseinstheoretischen Maximen einen entscheidenden Vor-
zug. Sie kann nämlich nicht nur erklären, unter welchen Bedingungen Bewußtsein entsteht,
sondern auch, warum die Bewußtseinserscheinungen so sind, wie sie sind. Die implizite
Anwesenheit des Ich bildet nicht nur die Entstehungsgrundlage für das Auftreten bewußter
Repräsentationen, sondern auch die inhaltliche Grundlage für ihre Beschaffenheit. Mit an-
deren Worten: Die Qualität der Bewußtheit entsteht nicht nur dann, wenn die Bedingung
der impliziten Gegenwart des Ich erfüllt ist, sondern sie besteht auch darin, daß diese Be-
zogenheit auf das Ich als ein zentrales Merkmal im Inhalt der Repräsentation in Erscheinung
tritt. Diese inhaltliche Beziehung legt klar, daß der bewußte Charakter von Repräsentatio-
nen sich unmittelbar aus ihrer Bezogenheit auf das Ich ergibt (im Grunde mit ihr zusam-
menfällt) -- und daß nicht etwa umgekehrt Ich-Bezogenheit aus einer (irgendwie anders
fundierten) Bewußtheit resultiert.
Wenn dies zutrifft, müssen alle Fragen, die sich auf die Natur und Funktion des Bewußt-
seins beziehen, in Fragen nach der Natur und Funktion des implizit anwesenden Ich über-
führt werden, und die Frage nach der Geschichte des Bewußtseins wird zu der Frage nach
der Konstituierung des impliziten Ich.2
4 Konstitution des Ich
Der Gedanke, das eine Theorie des Bewußtseins zugleich eine Theorie des Ich sein muß, ist
keineswegs neu. Er findet sich in verschiedenen Ausprägungen in einflußreichen modernen
Bewußtseinstheorien wie z.B. in Edelmans Konzept der higher-order consciousness
(Edelman, 1989, Kapitel 11), in Dennetts Theorie des Ich als eines narrativen Zentrums
(Dennett, 1990, 1992) oder zuletzt in Metzingers Theorie des Selbstmodells (Metzinger,
1993). Der gleiche Gedanke ist ferner implizit in allen Definitionsansätzen enthalten, die --
in der Nachfolge des Philosophen Ludwig Wittgenstein -- davon ausgehen, daß die
Perspektive der ersten Person für Bewußtseinserscheinungen konstitutiv ist (Ich-
2 Allerdings darf die Bewußtseinskonzeption, die den folgenden Überlegungen zugrunde liegt, nicht mit anderen Konzeptionen verwechselt
werden, die Bewußtsein als reflexives Selbstbewußtsein definieren. Das definierende Merkmal unserer Bewußtseinskonzeption besteht inder impliziten Anwesenheit des Ich in der Repräsentation von Ich-fremden Sachverhalten -- und nicht in der expliziten Repräsentation desIch oder Ich-naher Inhalte (vgl. hierzu Abschnitt 14.4). Natürlich wird eine vollständige Bewußtseinstheorie auch erklären müssen, wieSelbstbewußtsein -- explizite bewußte Ich-Repräsentation also -- möglich ist und von welcher Art das Subjekt ist, das bei derartig expliziterIch-Repräsentation implizit anwesend ist. Allerdings ist dies ein Spezialproblem, dessen Lösung nicht am Anfang, sondern am Ende einerumfassenden Bewußtseinstheorie stehen kann.
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 26
Perspektive im Gegensatz zu Er-Sie-Es-Perspektive; z.B. Marcel, 1988; vgl. Eimer, Kapitel
12, in diesem Band). Allerdings unterscheiden sich die Überlegungen dieser Autoren zum
Teil sehr grundlegend darin, welche Prozesse sie für die Konstitution des Ich verantwortlich
machen und wie sie das Verhältnis zwischen Ich-Konstitution und Bewußtheit bestimmen.
Die Konzeption, die ich im folgenden skizziere, greift eine Reihe von Überlegungen dieser
Autoren auf, setzt aber das Gesamtpuzzle anders zusammen als jeder einzelne dieser
Autoren es getan hat.
Im folgenden skizziere ich ein psychohistorisches Szenario, das dazu bestimmt ist, die
Konstitution des Ich zu rekonstruieren. Seinen Ausgangspunkt bestimme ich (ähnlich wie
Edelman und Metzinger) idealtypisch wie folgt: Wir betrachten ein Lebewesen vom kogniti-
ven Organisationsniveau von Primaten, und zwar in einem Ausgangszustand, in dem sym-
bolische Kommunikation und Repräsentation noch keine nennenswerte Rolle spielen. Mit
Hilfe von Edelmans Theorie des primären Bewußtseins läßt sich ein grobes Bild der kogni-
tiven Leistungsfähigkeit derartiger Organismen zeichnen, zugleich aber auch ein Bild der
Grenzen ihrer Leistungsmöglichkeiten.
Auf der Haben-Seite können wir diesen Lebewesen -- verkürzt gesagt -- die Fähigkeit
zuschreiben, die verhaltensrelevanten Implikationen der jeweils aktuellen Reizsituation zu
bewerten. Die Bewertung erfolgt auf der Grundlage komplexer Algorithmen, die in langfri-
stigen Lernprozessen entstanden sind. Weitere Algorithmen sorgen dafür, daß die Ergebnis-
se dieser Bewertungen gegen die aktuellen Prioritäten des Lebewesens abgeglichen werden
und daß dieser Abgleich in Handlungsentscheidungen umgesetzt wird. So komplex die Be-
rechnungen sein mögen, die der Verhaltenssteuerung zugrunde liegen, unterliegen sie doch
der prinzipiellen Beschränkung der Kopplung an die jeweils aktuelle Situation: Sie nehmen
ihren Ausgang von der aktuellen Reizinformation, und sie bewerten Handlungsoptionen, die
sich auf die aktuelle Situation beziehen. Keine bzw. kaum eine Rolle spielen demgegenüber
Prozesse, die symbolische Repräsentation voraussetzen wie z.B. die Vergegenwärtigung
vergangener oder die Planung zukünftiger Ereignisse.
Vor dem Hintergrund dieses (idealtypisch vereinfachten) Leistungsprofils läßt sich die
These, die im folgenden begründet und plausibel gemacht werden soll, wie folgt formulie-
ren: Ich-bezogene Repräsentationsmodi können sich aus dieser (zunächst Ich-losen) Aus-
gangssituation dann entwickeln, wenn 1) die Fähigkeit zunimmt, wahrgenommene und ver-
gegenwärtigte Information nebeneinander zu verarbeiten (Duale Repräsentation) und 2)
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 27
Erklärungsmodelle ausgebildet sind, die das Auftreten von Vergegenwärtigungen auf perso-
nale Instanzen zurückführen (Personale Attribution).
Die erste dieser beiden Voraussetzungen betrifft die Naturgeschichte der Verhaltens-
steuerung und ihrer Realisierung des Gehirns, die zweite dagegen die Kulturgeschichte der
Spezies homo sapiens. Im folgenden elaboriere ich diese These im Hinblick auf die kogniti-
ven und die dynamischen Grundlagen der Ich-Konstitution.
4.1 Kognitive Grundlagen: Gedanken
Duale Repräsentation. Wir erweitern jetzt den Lebenshorizont unseres hypothetischen
Organismus um einen entscheidenden Schritt, indem wir annehmen, daß der soziale
Verband, in dem er lebt, einfache Formen symbolischer Kommunikation entwickelt. Für den
ersten Schritt reicht es aus, wenn wir ihn lediglich bei der Rezeption symbolischer
Kommunikation betrachten. Soweit diese Mitteilungen sich auf Sachverhalte beziehen, die
außerhalb des aktuellen Wahrnehmungshorizonts des Rezipienten liegen, wird er sie nur
verstehen können, wenn er über die Fähigkeit verfügt, kommunikationsinduzierte
Vergegenwärtigungen (= Repräsentationen von abwesenden Sachverhalten) auszubilden --,
und zwar so, daß sie für die Handlungssteuerung in der aktuellen Situation unschädlich sind.
Die Fähigkeit zur Ausbildung von Vergegenwärtigungen hat also zwei Seiten: Einerseits
bietet sie die Grundlage für eine Entkopplung von der aktuellen Situation (Edelman:
freedom from the present). Andererseits darf diese Entkopplung aber keineswegs
vollständig sein. Die Inhalte der Vergegenwärtigung dürfen die Inhalte der aktuellen
Wahrnehmung nicht ersetzen; deren handlungssteuernde Wirkung muß vielmehr voll
erhalten bleiben.
Die gleichzeitige Verarbeitung von vergegenwärtigten neben wahrgenommenen Inhalten
macht deshalb eine tiefgreifende Umorganisation der bis dahin zur Verfügung stehenden
Verarbeitungsarchitektur erforderlich. Erforderlich ist jetzt eine Architektur, die zwischen
Vordergrund- und Hintergrundverarbeitung unterscheidet und die es erlaubt, vorübergehend
vergegenwärtigte Information im Vordergrund zu verarbeiten und gleichzeitig im Hinter-
grund die Verarbeitung der aktuellen Wahrnehmungsinformation fortzusetzen --, jedenfalls
so weit, daß elementare Grundfunktionen intakt bleiben wie z.B. die Orientierungsreaktion
(= Entdeckung überraschender Information) oder die Bewegungssteuerung.
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 28
Den Repräsentationsmodus, der mit dieser neuen Organisation der Informationsverar-
beitung verbunden ist, will ich im folgenden als duale Repräsentation bezeichnen. Darunter
verstehe ich die Fähigkeit, wahrgenommene Inhalte und vergegenwärtigte Inhalte nebenein-
ander und funktional getrennt zu unterhalten. Die Trennung stellt sicher, daß zwischen
Wahrgenommenem und Vergegenwärtigtem jederzeit unterschieden werden kann und daß
vor allem die aktuelle Handlungskontrolle unter der Regie der aktuell wahrgenommenen
Information verbleibt. Außerdem sichert die Trennung der beiden Repräsentationsbereiche
die Möglichkeit, Vordergrund- und Hintergrundverarbeitung jeweils nach Bedarf zu vertei-
len.3
Über die neurobiologische Realisierung der dualen Repräsentationsarchitektur soll hier
nicht spekuliert werden. Wichtig ist lediglich, daß sie das kognitive Organisationspotential
der mit ihr ausgestatteten Lebewesen in vieler Hinsicht erweitert.4 Eine dieser Erweiterun-
gen ist die Geburt des Ich.
Gedankenattribution. Wir haben bisher nur Vergegenwärtigungen betrachtet, die durch
die Rezeption sprachlicher Mitteilungen angestoßen werden und insofern von außen indu-
ziert sind. Sobald eine duale Repräsentationsarchitektur ausgebildet ist, bietet sie aber auch
Raum für die handlungsunschädliche Erzeugung systeminduzierter Vergegenwärtigungen
wie z.B. Gedanken, Erinnerungen oder Phantasien. Der Kürze halber verwende ich im fol-
genden den Ausdruck Gedanken stellvertretend für alle systeminduzierten Vergegenwärti-
gungen.
Gedanken unterscheiden sich von den von außen induzierten Vergegenwärtigungen in
einem wichtigen Merkmal. Das Auftreten von Vergegenwärtigungen, die durch sprachliche
Mitteilungen angestoßen sind, ist stets von der Wahrnehmung einer Kommunikationshand-
lung begleitet, die in der aktuellen Situation stattfindet, d.h. es gibt stets eine Person, die
aktuell wahrnehmbar ist, und diese Person ist die Quelle einer Mitteilung über einen Sach-
verhalt, der lediglich zu vergegenwärtigen ist. Wenn dagegen systeminduzierte Gedanken
3 Daß die Ausbildung von Vergegenwärtigungen neben Wahrnehmung eine duale Repräsentationsarchitektur voraussetzt, muß nicht not-
wendigerweise bedeuten, daß ohne eine derartige Architektur Vergegenwärtigungen überhaupt nicht ausgebildet werden können. DualeRepräsentation ist nämlich nur dann erforderlich, wenn Vergegenwärtigungen „in der Arbeitszeit“ des Systems erzeugt werden sollen, d.h.während das System mit der aktuellen Situation on-line verkoppelt ist. Ist es jedoch abgekoppelt, können Vergegenwärtigungen erzeugtwerden, ohne Schaden anzurichten: Träumen können möglicherweise auch solche Lebewesen, die nicht über ein duales Repräsentationssy-stem verfügen.
4 Eine andere wichtige Erweiterung des kognitiven Organisationspotentials betrifft die Möglichkeit der Generierung umfassender Modellevon Ereignis- und Handlungszusammenhängen, d.h. von organisierten Realitätsausschnitten. Derartige Modelle können sich dannentwickeln, wenn vergegenwärtigte Information räumlich, zeitlich oder semantisch integriert werden. Einmal etabliert, dienen sie dann alsBezugsrahmen für die Einordnung der jeweils aktuellen Situation.
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 29
auftreten, fehlt ein entsprechendes Gegenstück in der aktuellen Situation, so daß sie nicht
ohne weiteres auf eine personale Quelle zurückgeführt werden können, die in der aktuellen
Situation lokalisiert ist. Hier entsteht ein Interpretationsproblem: Wie können die Gedanken
mit der aktuellen Situation verknüpft werden? Woher kommen sie, und welche Instanzen
erzeugen sie? Es ist naheliegend, auch hier personale Quellen für die auftretenden Verge-
genwärtigungen verantwortlich zu machen -- Quellen, die in der aktuellen Situation wirk-
sam sind.
Die Konstituierung solcher Quellen kann in verschiedener Form erfolgen. Eine mögliche
Lösung besteht darin, das Auftreten von Gedanken auf die Stimmen von Göttern, Priestern
oder Königen zurückzuführen -- auf Stimmen personaler Autoritäten also, von denen ange-
nommen wird, daß sie in der aktuellen Wahrnehmungssituation unsichtbar gegenwärtig sind.
Eine andere Lösung lokalisiert die Quelle der Gedanken dagegen in einer eigenständigen
personalen Instanz, die an den Körper des Akteurs selbst gebunden ist (z.B. in ihm wohnt):
dem Ich.
Diese beiden Lösungen des Attributionsproblems unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht:
historisch, politisch und psychologisch. Historisch dürfte die erste deutlich älter als die
zweite Lösung sein. Der Übergang zwischen den beiden Lösungen und der mit ihnen ver-
bundenen Mentalitäten ist Gegenstand der spekulativen Bewußtseinstheorie des amerikani-
schen Psychohistorikers Julian Jaynes (1976). Folgt man Jaynes, ist dieser Übergang in hi-
storischer Zeit geschehen: zwischen Ilias und Odyssee. In der Ilias ist nach Jaynes die Gei-
stesverfassung der Protagonisten durchweg, wie er sich ausdrückt, bicameral strukturiert.
Das heißt, die Gedanken, Gefühle und Absichten, die in ihnen auftauchen, stammen nicht
von ihnen selbst, sondern von Göttern, die sie ihnen eingeben. Anders in der Odyssee:
Odysseus verfügt über ein Ich, und dieses Ich ist es, das denkt und handelt. Jaynes ist der
Überzeugung, daß das einheitliche Bewußtsein des Odysseus erst entstehen konnte, als die
bicamerale Struktur zusammenbrach und das Ich die Nachfolge der Götter antrat. Auch
wenn man bezweifelt, daß sich die Geistesverfassung der mediterranen Kriegerelite in der
kurzen Spanne zwischen Ilias und Odyssee so tiefgreifend verändert haben soll, ist dennoch
nicht unplausibel, daß wir es hier mit einem literarischen Nachklang einer psychohistori-
schen Entwicklung zu tun haben, die (jedenfalls in diesem Teil der Welt) dazu führte, daß
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 30
das Ich die göttlichen Stimmen ablöste. In anderen Teilen der Welt mag diese Entwicklung
später oder aber auch überhaupt nicht eingetreten sein.5
Daß ferner die politischen Implikationen der beiden Lösungen sehr unterschiedlich sind,
liegt auf der Hand. Gesellschaften, deren Akteure ihre Gedanken den Stimmen weltlicher
oder überweltlicher Autoritäten zuschreiben, werden dazu neigen, Priester- und Adelseliten
auszubilden, die für sich die Rolle natürlicher Autoritäten bzw. authentischer Interpreten
solcher Autoritäten in Anspruch nehmen und daraus die Legitimation zur Ausübung von
Herrschaft ableiten. In dem Maße, in dem das Ich an die Stelle der Götter tritt, werden diese
Eliten obsolet, und autoritäre Konstruktionen werden durch Organisationsformen abgelöst,
die die Legitimität ihres Handelns in den personalen Ich-Kernen ihrer Akteure verankern
(vgl. hierzu Abschnitt 14.3.2).
Ein wichtiger psychologischer Unterschied besteht schließlich darin, daß die Entwick-
lung eines Ich-Konzepts die Voraussetzung dafür schafft, daß Individuen in der Lage sind,
sich (und andere) als zeitlich überdauernde personale Instanzen zu konzipieren. Einmal kon-
stituiert, ist das Ich in jedem Vergegenwärtigungsvorgang als implizite personale Quelle
gegenwärtig, und ähnlich wie es immer der gleiche Körper ist, der in jeder Wahrnehmungs-
situation anwesend ist, ist es in der Regel auch die gleiche Ich-Instanz, die in diesem Körper
wohnt und über Zeit und Situationen hinweg mit sich selbst identisch bleibt.
Daß das Ich als Quelle der Gedanken konstituiert wird, bedeutet, daß es nicht Be-
standteil der Gedanken selbst ist, sondern außerhalb steht -- eine Instanz, auf die die Ge-
danken bezogen sind.6 Damit begegnen wir im Bereich der Gedanken genau dem gleichen
Grundmuster, das wir zuvor unter Brentanos Anleitung für den Bereich der Wahrnehmung
ausgemacht haben. Allerdings sehen wir jetzt, daß dieses Grundmuster dort nicht funda-
mental, sondern abgeleitet ist. Zunächst entwickelt sich die implizite Gegenwart des Ich im
5 Überhaupt wird man sich den historischen Übergang von den Stimmen externer Autoritäten zu der Stimme des internen Ich natürlich nicht
so vorzustellen haben, daß ganze Kulturen in bestimmten Zeiträumen von der einen in die andere Geistesverfassung kippen. Sehr vielrealistischer dürfte die Auffassung sein, daß dieser Wechsel im Attributionsmodus zunächst auf der Ebene der Führungseliten eintritt -- undzwar mit der politischen Folge, daß diese Eliten daraufhin zu verhindern versuchen werden, daß der ich-förmige Attributionsmodus in dengesellschaftlichen Schichten um sich greift, die unter ihrer Führung stehen. Anders formuliert: Ein realistisches Modell despsychohistorischen Übergangs zwischen den beiden Attributionsmodi wird annehmen müssen, daß dieser Übergang für verschiedeneGesellschaftsschichten zeitversetzt erfolgt und daß er dort, wo er stattfindet, politische Mechanismen in Gang setzt, die darauf ausgerichtetsind, seine Weitergabe „nach unten“ so weit wie möglich zu verhindern. In modernen westlichen Gesellschaften ist dieser Prozeß amunteren Ende angekommen (im Prinzip jedenfalls -- vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit überhaupt). Darüber, wanner in den Führungseliten in den Kulturen unserer Vorfahren begonnen hat -- ob vor 300'000, 30'000 oder 3'000 Jahren --, soll hier nichtspekuliert werden.
6 Diese Bezogenheit der Gedanken auf das Ich kann im übrigen aktiven oder passiven Charakter tragen. Gefühle, Stimmungen oder auchIdeen, von denen jemand besessen ist, haben den Charakter von Widerfahrnissen. Willensimpulse oder zielgerichtete Überlegungen habendemgegenüber den Charakter von aktiv gesteuerten Vorgängen, in denen das Ich nicht nur als Repräsentationszentrum, sondern auch alsSteuerungszentrum in Erscheinung tritt (vgl. Abschnitt 14.3.2).
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 31
Kontext der Interpretation der Herkunft von Gedanken, und erst in einem zweiten Schritt
wird dieses so konstituierte Ich auch in gleicher Weise im Bereich der Wahrnehmung wirk-
sam. Ermöglicht wird seine Allgegenwart eben dadurch, daß es nicht als Bestandteil der
vergegenwärtigten oder wahrgenommenen Inhalte konstituiert wird, sondern als eine Re-
präsentations- und Steuerungsinstanz, die diesen Inhalten gegenübersteht.
4.2 Dynamische Grundlagen: Pläne
Handlungsziele sind eine Unterklasse von Vergegenwärtigungen, die psychologisch ebenso
wie politisch von besonderer Bedeutung sind. Aus der psychologischen Tatsache, daß
Handlungsziele an der Steuerung von Handlungen beteiligt sind, ergibt sich zugleich ein
besonderes politisches Interesse an ihrer Erklärung und Bewertung -- sowie an der
Regulierung von gesellschaftlichen Konventionen zur Handlungserklärung und -bewertung.
Die Einbeziehung von Handlungszielen in den Prozeß der Ich-Konstitution führt zur
Ausbildung eines Ich, das nicht nur als Repräsentations- und Gedankenzentrum fungiert,
sondern zugleich auch als Entscheidungs- und Steuerungszentrum für Handlungen.
Um diese Überlegung verständlich zu machen, gehen wir noch einmal auf das Aus-
gangsszenario zurück, in dem wir einen idealtypischen Organismus betrachten, der noch
nicht über die Fähigkeit zur dualen Repräsentation verfügt. Wie wir schon sahen, beruht
seine Verhaltenssteuerung darauf, daß er eingehende Information laufend auf ihre Verhal-
tensrelevanz hin bewertet, und zwar auf der Grundlage komplexer Algorithmen, die dafür
Sorge tragen, daß in dem Bewertungsprozeß seine gespeicherten Lernerfahrungen umfas-
send berücksichtigt werden. Unklar ist aber geblieben, wie aktuelle Bedürfnisse in einem
derartigen Organismus installiert sein können. Die landläufigen motivationspsychologischen
Vorstellungen versagen hier. Wenn keine duale Repräsentation möglich ist, gibt es keine
Möglichkeit, Ziele auszubilden, d.h. explizite Vergegenwärtigungen von Sollzuständen zu
unterhalten, die neben die Wahrnehmung der aktuellen Situation treten. Noch weniger be-
steht die Möglichkeit, Bedürfnisse als Motive zu interpretieren, d.h. als gerichtete Zustände
eines Ich.
Die einzige Möglichkeit besteht darin, die Bedürfnisse in der aktuellen Wahrnehmungs-
situation wirksam werden zu lassen -- dadurch nämlich, daß bedürfniskonforme Handlungs-
anreize in der aktuellen Situation selbst zur Wahrnehmung gelangen. Auf diese Weise wird
die Wahrnehmung gleichsam dynamisiert: Die Wahrnehmungsinhalte sind mit Valenzen
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 32
ausgestattet, die ihre jeweilige Eignung zur Befriedigung aktueller Bedürfnisse spezifizieren:
Speisen sind verlockend, Partner attraktiv, Rivalen widerwärtig, Freßfeinde bedrohlich. Der
Organismus ist Kräften ausgesetzt, die in der Außenwelt ansetzen und auf ihn einwirken,
und sein Verhalten ist das Resultat des Spiels dieser Kräfte.
Duale Repräsentation. Die Situation ändert sich grundlegend, sobald die Fähigkeit der
dualen Repräsentation ausgebildet ist. Neben das Spiel der Kräfte tritt jetzt das Spiel der
Gedanken -- und mit ihm die Fähigkeit, Ziele auszubilden und aufrechtzuerhalten, die nicht
in der aktuellen Wahrnehmungssituation lokalisiert sind, sondern neben und getrennt von ihr
repräsentiert werden. Es ist offensichtlich, daß die Fähigkeit zur Implementierung von Zie-
len völlig neue Möglichkeiten zur bedürfnisgerechten Steuerung von Handlungen bietet,
weil sie die Repräsentation von Zielen abkoppelt von der Repräsentation der aktuellen
Wahrnehmungssituation -- mit der Folge, daß bedürfnisgesteuerte Zielsetzungen auch unab-
hängig von der aktuellen Wahrnehmungssituation aufrechterhalten und verhaltenswirksam
werden können.
Duale Repräsentation schafft somit die Grundlage für einen neuartigen Mechanismus der
bedürfniskonformen Handlungssteuerung, der auf dem Vergleich von wahrgenommenen Ist-
Zuständen mit explizit repräsentierten Soll-Zuständen beruht und in der Lage ist, Handlun-
gen so zu planen, daß sie eine Annäherung von Ist- an Soll-Zustände bewirken. Wie dieser
Mechanismus funktioniert, kann hier nicht im einzelnen erörtert werden. Für den gegenwär-
tigen Zusammenhang kommt es nicht darauf an, wie Handlungsziele in Handlungen umge-
setzt werden (vgl. hierzu Müsseler et al), sondern nur darauf, daß Vergegenwärtigungen
von Zielzuständen ausgebildet werden und daß sie verhaltenswirksam sind.7
Zielattribution. Wenn Ziele Handlungen steuern, ist die Frage, woher die Ziele kommen,
mehr als ein nur psychologisch interessantes Attributionsproblem. Sie ist eine Frage von
höchster politischer Brisanz, denn die Antwort entscheidet darüber, wo die eigentlichen
Ursachen des Handelns von Personen liegen -- und damit auch darüber, wie die gesell-
schaftlichen Sanktions- und Gratifikationssysteme einzurichten sind, die darauf einwirken,
daß dieses Handeln sich im Spielraum der jeweiligen Normen bewegt.
7 Mit der Entwicklung eines neuen Mechanismus der Handlungssteuerung, der auf der Auswertung von Diskrepanzen von Ist- und Soll-
Werten beruht, muß übrigens keineswegs verbunden sein, daß der ältere Mechanismus, der auf der Dynamisierung der wahrgenommenenSituation beruht, verschwindet oder auch nur an Bedeutung verliert. Vorstellbar ist z.B., daß unmittelbare bedürfnisgerechte Reaktionenauf aktuelle Situationsmomente nach wie vor durch den älteren Mechanismus vermittelt werden, während der neuere Mechanismus dielängerfristige, situationsentkoppelte Handlungsplanung besorgt.
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 33
Natürlich tritt das Attributionsproblem auch hier nur dann auf, wenn Handlungsziele
ausgebildet werden, die nicht durch andere Akteure in kommunikativen Akten vorgegeben
werden: in diesen Fällen bedarf es ja keiner attributiven Ergänzung, weil die personale
Quelle der Zielvorgabe in der aktuellen Situation wahrnehmbar ist. Ein Attributionsproblem
entsteht auch hier nur dann, wenn Zielrepräsentationen auftauchen, die nicht von außen in-
duziert sind.
Im Prinzip sind die Lösungen für dieses Problem hier die gleichen wie zuvor -- mit dem
Unterschied, daß die politischen Implikationen hier noch schärfer zutage treten als dort und
mit der Folge, daß das Interesse an einer gesellschaftlichen Regulierung der betreffenden
Attributionsgewohnheiten hier wesentlich deutlicher ausgeprägt ist: schließlich geht es hier
nicht nur um Gedanken, sondern um Handlungen. Die eine (ältere) Lösung führt die Entste-
hung von Handlungszielen auf den Willen von unsichtbar anwesenden personalen oder qua-
si-personalen Autoritäten zurück, auf äußere Instanzen also, die dem Akteur auf die ein
oder andere Weise eingeben, was zu tun ist und kraft ihrer Autorität Gehorsam verlangen.8
Die andere (neuere) Lösung führt die Entstehung von Handlungszielen dagegen auf das
Ich zurück, eine in jeder Wahrnehmungssituation anwesende innere Instanz, die eigenstän-
dig entscheidet, was sie tut, so daß Gehorsam durch Autonomie abgelöst wird.
Kulturen (bzw. Eliten; vgl. Anm. 4), in denen das Ich an die Stelle von Göttern oder Köni-
gen tritt, konstituieren damit also nicht nur ein kognitives Gedankenzentrum,
sondern auch ein dynamisches Handlungszentrum -- ein Zentrum also, das Handlungsziele
setzt und auf dieser Grundlage Handlungen plant und steuert. Aufgrund seiner Doppelrolle
als kognitives und dynamisches Zentrum ist das Ich zugleich das Integrationszentrum für die
psychische und physische Tätigkeit der Person. Dem entspricht, daß in einigen theoretischen
Ansätzen eine wichtige Funktion des Bewußtseins in der Integration von Verhalten gesehen
wird (z.B. Allport, 1988).
Ebenso wie das kognitive Ich ist das dynamische Ich in den betreffenden psychischen Akten
nicht explizit, sondern nur implizit anwesend: Eine Person, die Handlungen plant oder
Handlungsentscheidungen trifft, ist in der Regel „ganz bei der Sache“, genauso wie dann,
wenn sie etwas beobachtet oder über etwas nachdenkt. Auch hier ist die implizite Anwesen-
8 In Betracht kommen hierfür nicht nur Götter, Priester, Könige oder Ahnen, sondern auch andere Naturerscheinungen, denen Intentionen
zugeschrieben werden (insbesondere Tiere, aber auch Pflanzen oder Steine). Die Zuschreibung von Intentionen ist dabei nichtnotwendigerweise gleichbedeutend mit der Zuschreibung von dualer Repräsentation: Diese Instanzen müssen nicht notwendigerweisewahrnehmen können, was der Fall ist. Sie müssen lediglich wollen können, daß etwas Bestimmtes der Fall sein soll.
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 34
heit des Ich konstitutiv für die bewußte Qualität der betreffenden Akte: Die Sache, bei der
die planende Person ist, existiert nicht an und für sich selbst, sondern als eine Sache, die von
ihr betrieben wird --, und genau in diesem Sinne ist sie bewußt.
4.3 Ich-Pathologie
Allerdings kann der Prozeß der Ich-Konstitution im Einzelfall auch andere Wege gehen --
Wege, die als pathologisch gelten. Wir sprechen hier allerdings nicht von exotischen
Attributionsgewohnheiten fremder Kulturen, die sich von den unsrigen so nachhaltig
unterscheiden, daß wir sie als pathologisch empfinden, sondern ausschließlich von
abweichenden Entwicklungen, die einzelne Individuen innerhalb eines gegebenen
normativen Attributionsrahmens nehmen können. Zwei Beispiele mögen genügen, um das
Gemeinte anzudeuten.
Ein erstes Beispiel, das in diesen Zusammenhang gestellt werden kann, ist die Ausbil-
dung von Wahnsymptomen bei verschiedenen psychotischen Erkrankungen, besonders bei
Schizophrenien. Folgt man der in den letzten Jahren entwickelten Schizophrenietheorie des
Londoner Psychiaters Chris Frith (1992; Frith & Done, 1988), lassen sich diese Symptome
nach genau dem gleichen Grundmuster erklären, das auch in Jaynes' Konzept des bicamera-
len Geistes enthalten ist: Wahnpatienten leiden darunter, daß sie außerstande sind, die Her-
kunft ihrer Ideen nach dem konventionellen Attributionsschema zu erklären, das die Quellen
der Ideen im Ich lokalisiert. Sie verfügen gewissermaßen über kein Ich, das sie als implizite
Quelle ihrer Gedanken erleben und sind deshalb darauf angewiesen, die Gedanken, die ihnen
kommen, auf andere Weise zu erklären.9
Ein anderes Beispiel nicht normgerechter Ich-Konstitution liefert das in letzter Zeit auch
in der populärpsychologischen Presse ausführlich diskutierte Syndrom der multiplen Per-
sönlichkeit. Von multiplen Persönlichkeiten ist dann die Rede, wenn in einer Person zwei
oder mehr voneinander relativ unabhängige Persönlichkeiten ausgebildet sind, die in sich
integriert und strukturiert sind und von denen jede eine Art eigenes Leben führt (vgl. Confer
& Ables, 1983; Stern, 1984). So bizarr sich dieses Syndrom auf dem Hintergrund unseres
9 Das geschieht typischerweise dadurch, daß zum einen Gedanken auf personale Quellen zurückgeführt werden, die unsichtbar anwesend
sind (Angehörige, Ärzte, historische Personen, Außerirdische), und zum anderen dadurch, daß Wirkungsmechanismen konstruiert werden,über die die von diesen Quellen ausgehenden Gedanken übertragen werden (Stimmen, Visionen, aber auch Strahlen, Drähte und techni-sche Kommunikationseinrichtungen wie Telefone, Funkgeräte oder Computer).
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 35
modernen Persönlichkeitskonzepts ausmacht10, so nahtlos fügt es sich in die theoretische
Vorstellung ein, daß das Ich nicht als ein fundamentales Naturphänomen anzusehen ist, son-
dern ein kulturelles Artefakt, das in einem gesellschaftlich gesteuerten Attributionsprozeß
zustandekommt. Die Einheitlichkeit und Konsistenz des Ich ist somit keine natürliche Not-
wendigkeit, sondern lediglich eine kulturelle Üblichkeit, und wenn Individuen besonderen
Entwicklungs- und Lebensbedingungen ausgesetzt sind, mag es durchaus sein, daß sie ande-
re als die üblichen Attributionsmuster entwickeln -- z.B. solche, die mehrere unabhängige
Attributionsquellen für ihre Gedanken unterscheiden.
Das bedeutet allerdings keineswegs notwendigerweise, daß in diesen beiden Fällen die
Ursache für die ungewöhnliche Entwicklung notwendigerweise in einer Störung des Attri-
butionsprozesses liegen muß. Denn die Tatsache, daß die Störung in ungewöhnlichen Attri-
butionen zum Ausdruck kommt, sagt über die Verursachung der Störung nichts Eindeutiges
aus. Die Ursache kann in einer Störung der Attributionsprozesse selbst liegen, sie kann aber
ebensogut auf eine Störung der neurobiologischen Prozesse zurückgehen, auf denen die
Fähigkeit zur dualen Repräsentation beruht. Es sind eben biologische und gesellschaftliche
Bedingungen, die in die Ich-Konstitution eingehen, und wenn sie anders als gewohnt ver-
läuft, können die Ursachen dafür in beiden Bereichen liegen.
5 Explizites Ich
Aus all dem folgt: Das Ich ist eine Erfindung zur Lösung eines Attributionsproblems. Es
wird zunächst als Quelle systeminduzierter Vergegenwärtigungen konstitutiert. Sobald es in
dieser Rolle konstitutiert ist, bildet seine implizite Anwesenheit in allen psychischen Akten
die funktionale und auch die inhaltliche Grundlage für den bewußten Charakter ihrer
Repräsentanz.
Das Ich wird sozial konstruiert, d.h. konkret im sozialen Austausch erzeugt. Diese Aus-
tauschprozesse spielen sich in einem kulturell genormten Interpretationsrahmen ab, der die
Sozialisation der Individuen steuert. Der Interpretationsrahmen schreibt den Individuen eine
10 Das gilt nicht in gleichem Maße für die Theorie der postmodernen Persönlichkeit, die sich von modernen Konzepten durch die wesentlich
stärkere Betonung der Pluralität der Person unterscheidet (vgl. z.B. Gergen, 1990; Glass, 1993; Keupp, 1994; Welsch, 1990). Theori-en.der postmodernen Persönlichkeit reagieren auf die Beobachtung, daß sich die gesellschaftlichen Verhältnisse extrem differenzieren, sodaß homogene Lebensentwürfe und -verläufe kaum mehr gelingen. Die Vielfalt der Lebensstile, Arbeitsformen, Konsumchancen oder so-zialen Kontakte erfordert im Gegenteil Subjekte, die Pluralitäten und Ambivalenzen ertragen. Die Autoren unterscheiden sich zwar darin,ob sie bedauern oder begrüßen, daß es ein „mit sich selbst identisches Ich“ nicht mehr gibt, allerdings hält niemand diese Entwicklung fürpathologisch -- und niemand vertritt die Auffassung, daß das Konzept der postmodernen Persönlichkeit mit dem pathologischen Konzeptder multiplen Persönlichkeit zusammenfällt. Dennoch: Die Analogie ist auffällig.
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 36
ich-förmige Organisation ihrer mentalen Struktur zu, d.h. ein kognitives und dynamisches
Zentrum.
Die sozialisationswirksame Vermittlung eines derartigen Interpretationsangebots kann
auf verschiedene Weise erfolgen. Die elementarsten Vermittlungsmechanismen stützen sich
auf unmittelbare face-to-face-Interaktionen im mikrosozialen Bereich und sind nicht einmal
notwendigerweise an sprachliche Kommunikation gebunden. Wenn in einer gegebenen so-
zialen Gruppierung sämtliche sozialen Akteure den Umgang miteinander so organisieren,
daß sie ich-förmige Organisation bei allen Kommunikationspartnern voraussetzen, trifft je-
der Akteur -- auch jeder neu hinzutretende -- auf eine Situation, in der durch das Handeln
der anderen eine ich-förmige Rolle für ihn bereitgehalten wird. In einer solchen Situation
wird es nicht lange dauern, bis die Fremdzuschreibung von sozial konstruierten Eigenschaf-
ten zur Selbstzuschreibung führt und die Person sich die ihr zugeschriebene Ich-Rolle zu
eigen macht.11
Komplexere Vermittlungsmechanismen stützen sich demgegenüber auf sprachlich ge-
bundene Diskurse im makrosozialen Bereich. Zu nennen ist hier zunächst der Diskurs des
psychologischen Common Sense, d.h. der alltagspsychologischen Konstrukte, die Kulturen
oder Sprachgemeinschaften verwenden, um das Verhalten ihrer Akteure zu erklären. So
operiert z.B. die moderne Alltagspsychologie mit einer Theorie der menschlichen Persön-
lichkeit, dessen Kern ein explizites, lebenslänglich identisches Ich bildet -- ein Ich, das als
organisatorischer Kern aller Erfahrungen und Handlungen fungiert. Ebenso einschlägig sind
die Diskurse der Moral und des Rechts (vgl. Prinz, im Druck b). In diesen Diskursen wird
persönliche Verantwortung von Akteuren für ihr Handeln daraus konstruiert, daß ihr Ich als
autonome Quelle von Handlungsentscheidungen konzipiert wird. Für all diese Diskurse gilt,
daß in ihnen die dynamischen Grundlagen des Ich deutlich stärker als die kognitiven
Grundlagen thematisiert werden -- eine Schwerpunktsetzung, die verständlich ist, wenn man
bedenkt, daß ihre primäre gesellschaftliche Diskussion darauf ausgerichtet ist, einen Rahmen
für gesellschaftliche Mechanismen der Handlungskontrolle zu liefern.
Den Abschluß dieser Überlegungen sollen zwei Gedankenspiele bilden. Sie beziehen sich
beide auf die klassische Frage, ob oder wie weit andere Lebewesen als Menschen über eine
ich-förmige mentale Organisation verfügen und damit über Bewußtsein:
11 Vielleicht wird dieser Prozeß zusätzlich dadurch unterstützt, daß eine analoge Selbstanwendung der Interpretation des Verhaltens anderer
Personen stattfindet -- derart, daß eine Person nach längerer Interaktion dazu übergeht, auch sich selbst so zu verstehen, wie sie andere Per-sonen schon zu einem früheren Zeitpunkt verstanden hat: als ich-förmig organisierte Subjekte.
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 37
1) Entwickelt sich bei Tieren Bewußtsein in dem Maße, in dem wir es ihnen zuschrei-
ben? Würde z.B. mein Hund eine ich-förmige Organisation ausbilden, wenn ich ihn so be-
handele, als hätte er eine?
Hinter diesem Gedankenspiel verbirgt sich die Frage, ob das Angebot einer expliziten
Ich-Konzeption hinreichend ist für die Ausbildung einer ich-förmigen mentalen Organisati-
on. Aufgrund unserer psychohistorischen Skizze müssen wir diese Frage mit Nein beant-
worten -- jedenfalls so lange wir nicht annehmen, daß auch die zweite hierfür notwendige
Voraussetzung bei Hunden ausgebildet ist, nämlich die Fähigkeit zur dualen Repräsentation.
(2) Können Menschen zu bewußtseinslosen Zombies werden, wenn ihnen alle Interak-
tionen und Diskurse vorenthalten werden, die explizite Angebote für die Ausbildung einer
ich-förmigen mentalen Struktur enthalten?
Diese Frage beantwortet die Theorie mit Ja, denn sie nimmt an, daß ohne sozial vermit-
telte Attributionen weder ich-förmige Organisation noch Bewußtsein entsteht. Danach
scheint es, als wäre es wohl möglich, daß Menschen bewußtseinslos leben, nicht aber, daß
Tiere Bewußtsein entwickeln. Zombies mag es geben, aber Bambi und Lassie und Flipper
bleiben wohl auf immer eine schöne Illusion.
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Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 40
Sprache und DenkenProf. Dr. Dietrich Dörner1
Der Zusammenhang von „Sprache und Denken“ ist ein altes Thema für die Wissenschaften,
die sich mit dem menschlichen Geist befassen; Kommentare dazu finden sich bei Platon
(z.B. im Dialog Sophistes) und bei Aristoteles (s. z.B. ‘Über die Seele’, Buch III, 11). Wil-
helm von Humboldt (1988, S. 426) meinte, daß die „Sprache das bildende Organ der Ge-
danken“ sei. Und Lurija (1992, S. 90) stellte fest: „Das Wort ist jedoch nicht nur ein Werk-
zeug der Erkenntnis, sondern auch ein Mittel zur Steuerung der höheren psychischen Pro-
zesse, ... Während die vergleichsweise einfachen Formen organischer Tätigkeit ... ohne Be-
teiligung der Sprache gesteuert werden können, finden die höheren psychischen Vorgänge
auf der Basis sprachlicher Tätigkeit statt.“
Merkwürdigerweise aber macht die neue Wissenschaft vom menschlichen Geist, die Ko-
gnitionswissenschaft, wenig Aufhebens von dieser Beziehung; Denkpsychologie und (Psy-
cho)Linguistik existieren fast parallel zueinander und ihr Überschneidungsbereich ist klein.
Das hat seinen Grund in der Art und Weise, wie die Kognitionswissenschaft mit geistigen
Prozessen umgeht. Prozesse des Schlußfolgerns, der Gedächtnissuche, des Umgangs mit
Analogien, usw. kann man wunderbar mit Computerprogrammen nachbauen; die Umgangs-
sprache braucht man für solche Unternehmungen nicht. Dementsprechend verwendet An-
derson (1996) in seinem Lehrbuch der kognitiven Psychologie viel Mühe darauf, nachzu-
weisen, daß die Sprache beim Denken keine Rolle spiele, er meint sogar, daß das Denken
der Sprache seine Konturen vorschreibe.
Ich will in diesem Aufsatz zeigen, daß „Sprache“ und „Denken“ eng zusammenhängen
und zwar andersherum als Anderson meint. Weiterhin will ich zeigen, daß die mangelnde
Berücksichtigung dieses Zusammenhanges zu einem ganz falschen Bild vom menschlichen
Denken geführt hat, nämlich zu der „Programmhypothese“ des Denkens. Mit dieser Hypo-
these wird behauptet, daß menschliches Denken dem Ablauf eines Computerprogramms zu
vergleichen sei. Wir haben (erworbene oder ererbte) Computerprogramme im Kopf, wie
z.B. den GPS (General Problem Solver) von Newell & Simon (1972). So nimmt es wieder-
um Anderson (1996, S. 250) an. Und Denken besteht im Aufruf solcher Programme. — Die
1 Lehrstuhl Psychologie II, Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 41
Programmhypothese hatte zur Folge, daß man dem Zusammenhang „Sprache und Denken“
keine Beachtung schenkte; warum auch, wenn die Sprache dem Denken folgt und man die
Struktur des Denkens (Newell & Simon sei Dank!) kennt, braucht man diesen Zusammen-
hang nicht zu erforschen. Zusätzlich aber verschwand – man mag es kaum glauben, aber es
ist wahr! – das Thema „Denken“ aus der Kognitionspsychologie, aber auch das ist eigentlich
logisch: warum sollte man etwas untersuchen, was man kennt.
Die Schlußfolgerung dieses Aufsatzes möchte ich nun vorwegnehmen. Sie lautet:
Ohne Sprache gibt es kein Denken!
Die Frage nach dem Zusammenhang von Sprache und Denken wollen wir nicht histo-
risch ergründen und auch nicht analytisch aufgrund von Ergebnissen empirischer Forschung
untersuchen. Wir gehen vielmehr synthetisch vor. Wir fragen uns, von welcher Beschaffen-
heit ein System sein muß, welches Sprache verstehen und produzieren kann. Wir werden
zeigen, daß man dadurch, daß man ein System baut, welches Sprache verstehen kann, zu-
gleich ein System baut, welches denken kann.
Sprachverstehen
Ich möchte mich also zunächst damit beschäftigen, auf welche Art und Weise Sätze und
ganze Diskurse verstanden werden. Meine Hypothese über die Natur des Verstehensprozes-
ses ist einfach. Verstehen besteht darin, daß man sich ein Bild von einer Sache macht. Ge-
nauer gesagt: Verstehen besteht darin, daß man ein Schema von einem Sachverhalt aufbaut,
welches aus verschiedenen Komponenten besteht, die zueinander verschiedene Relationen
aufweisen. Wenn ich höre „Albert gibt Berta Geld!“, so wird der Verständnisprozeß darin
bestehen, daß ein internes Schema erzeugt wird, welches Albert und Berta bei dieser Trans-
aktion zeigt; es entsteht ein in die Zeit sich erstreckendes Geschehnisschema. Ein solches
Schema kann, muß aber nicht, in ein Bild, ein Vorstellungsbild, umgewandelt werden. Übri-
gens: oft erzeugt man nicht nur ein Schema, sondern eine ganze Reihe davon; es gibt sehr
verschiedene Formen der Geldübergabe. — Wie das Schema im Gedächtnis tatsächlich be-
schaffen ist, wollen wir an dieser Stelle nicht genau darstellen. Ein Schema ist eine Art Vor-
schrift zur Herstellung eines Bildes, s. hierzu Dörner, 1998, Kapitel 3.
Abb. 1 zeigt ein solches durch einen Verstehensprozeß entstandenes Schema als Bild; so
schön scharf aber ist es in unserem Gedächtnis nie, es ist schemenhafter, unschärfer, verwa-
schener.
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 42
Nomen1 Nomen2 Nomen3Geben
Albert gibt Berta Geld
Abb. 1: Die Umsetzung von Sprache in ein Geschehnisschema.
Abb. 1 zeigt außerdem, wie man sich das Programm vorstellen kann, das aus Sätzen Sche-
mata macht. Der Prozeß startet mit dem Aufruf des allgemeinen Schemas für „geben“. Dies
Schema sieht man oben in der Abbildung. Es besteht aus einer zeitlichen Abfolge von drei
Subschemata, die jeweils Ereignisse darstellen. Diese Ereignisse bringen drei Komponenten
in einen Zusammenhang, nämlich einen Akteur, einen Rezipienten und ein Objekt, welches
den Besitzer wechselt. In dem allgemeinen Schema für „geben“ sind diese drei Komponen-
ten nur als „Hohlstellen“ vorhanden. Das Schema legt aber fest, welche räumlich-zeitlichen
Relationen zwischen den Komponenten bestehen.
In dieses Schema wird nun gemäß der in dem Satz vorhandenen Symbole eingesetzt.
Das, worauf das Wortsymbol vor dem Verb zeigt (der Sinn des Wortes sensu Frege, 1966),
wird an die Stelle des Akteurs eingesetzt, der Sinn des Wortsymbols unmittelbar nach „ge-
ben“ wird an die Stelle des Rezipienten eingesetzt und an die Stelle des Objektes wird der
Sinn des zweiten Wortsymbols nach „geben“ eingesetzt. Und so entsteht ein konkretes
Schema. Die Konstruktion beginnt also mit dem, was Klix (1984, 1992) den „Ereigniskern“
nennt – dieser ist gewöhnlich im Verb festgelegt – und dann wird eben in das Hohlschema
des Geschehnisses, welches durch das Verb vorgegeben wird, eingesetzt.
Daß Sprache in Schemata umgesetzt wird aus denen man Vorstelklungen machen kann, ist nicht verträg-
lich mit einer Kernannahme der augenblicklichen kognitiven Psychologie, die darin besteht, daß angenom-
men wird, daß Sprache in propositionale Gefüge umgesetzt wird. Kintsch (z.B. 1978) hat in dieser Bezie-
hung mehrere Theorien vorgelegt. Man kann zeigen, daß die Annahme eines propositionalen Gedächtnisses
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 43
gänzlich unnötig ist. Ich neige dazu, sie für ein methodisches Artefakt zu halten; mit Propositionen läßt
sich in einem Computer gut arbeiten; dafür gibt es vorgefertigte Programme und deshalb neigen die kogni-
tiven Psychologen und Linguisten dazu, mit Propositionen zu operieren. Auf diese Art und Weise kommt
etwas in die Welt, was überhaupt nicht wirklich existiert. — Über die Ungültigkeit der Annahme eines
propositionalen Gedächtnisses möchte ich aber hier nicht weiter sprechen; siehe hierzu Dörner 1997. Also:
Sprache wird in Bilder umgesetzt und umgekehrt wird bei der Sprachproduktion aus Bildern Sprache.
Die Schwierigkeit, die spracherkennende Systeme heutzutage oft haben, sind darauf zurückzuführen, daß
sie diese Umsetzung von Sprache in Bilderschemata und die damit verbundenen Prüfprozesse nicht ausfüh-
ren. So kommen die merkwürdigen Produkte zustande, die man mit heutzutage im Handel befindlichen
Spracherkennungssystemen hervorbringen kann. Ich möchte Ihnen eine kleine Kostprobe davon nicht vor-
enthalten:
Ich habe diktiert:
Mein lieber Freund, ich rat’ euch drum
Zuerst Collegium Logicum!
Dort wird der Geist Euch fein dressiert,
In span’sche Stiefel eingeschnürt,
Daß er bedächtiger fortan
Hinschleiche die Gedankenbahn
Und nicht etwa die kreuz und quer
Irrlichteliere hin und her.
Und das machte ein Programm namens ‘Voice Pad’ daraus:
Meine liebe Freunde, ich hart Oldie Dorn
Zerknirschten Kollegium Logik Rollen
dort wird der heißesten ohnehin kein appellierte,
den Anschein Klienten Einschnitte Klinikum
Gasse der DDR fordern
hin Schläuche die genannten Waren
unter Nichte Ecke war Geräusch und quer
gerichtet Lire hin unter der.
Es ist offensichtlich, daß sich der Computer, als er versuchte, Mephisto zu „verstehen“, kein „Bild“ der
ganzen Angelegenheit gemacht hat. Er hat das, was er aufnahm in Verbindung gebracht mit ähnlich klin-
genden Silben und Wörtern in seinem Gedächtnis.
Das Verstehen eines Satzes bedeutet die Konstruktion eines Schemas durch Einsetzung in
die Hohlstellen eines Ereigniskerns. Allerdings ist diese Einsetzung gewöhnlich alles andere
als unproblematisch. Denn sehr oft ist durch die Begrifflichkeit der Worte eines Satzes gar
nicht festgelegt, was oder wie etwas in ein Hohlschema eingesetzt werden soll. Der Sinn
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 44
vieler Worte der Umgangssprache ist unklar; die Worte der Umgangssprache haben sehr oft
gar keine feste Bedeutung, sondern sie sind „synchytisch“ (von Kries nach Bühler, 1934, S.
221); synchytisch bedeutet „zusammengehäuft“).
Welche Bedeutung hat das Wort „Institut“? In dem Satz „er hat das Institut vor fünf
Minuten verlassen“ eine andere als in dem Satz „er hat das Institut vor zwei Jahren verlas-
sen“. Auch „verlassen“ bedeutet in beiden Fällen etwas verschiedenes. Und in dem Satz „das
Institut verläßt die Stadt zu einem Ausflug“ ist „Institut“ wieder etwas ganz anderes. In den
Wort ‘Institut’ sind also eine ganze Menge verschiedener Bedeutungen zusammenge-
häuft.— Erstaunlicherweise haben wir mit den verschiedenen Bedeutungen von „Institut“
gewöhnlich überhaupt keine Schwierigkeiten, denken keine Sekunde bewußt über die Be-
deutung nach; irgendetwas in uns setzt „automatisch“ das richtige ein.
Parsing zur Ermittlung dereinzusetzenden Elemente.
Einsetzung eines "Sinnes" der Worte in die Hohlstellen des Schemas.
Paßt das konkretisierteSchema in das Weltbild?
Paßt das konkretisierte Schema zum übergreifen-
den Schema?
Fragen!
Fragen!
Albert gibt Berta Geld
+
+
-
-
Abb. 2: Ein Programm für die Erstellung von Schemata.
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 45
Das Programm zum Verstehen von Sätzen verfügt also über eine ganze Menge an „Ein-
sicht“ und „Intelligenz“, von der wir aber gar nichts merken. Wichtig ist: das „Verste-
hensprogramm“, welches aus Sprache Schemata macht, ist ein Konstruktionsprogramm; es
werden nicht irgendwelche Bedeutungen aufgerufen, sondern es werden Schemata konstru-
iert. Die verschiedenen Bedeutungen der Begriffe werden so kombiniert, daß sich ein
„stimmiges“ Schema ergibt, welches zum Kontext oder allgemein zum Weltbild paßt.
Abb. 2 zeigt eine mögliche Form des Programmes, welches aus einem Satz ein Schema
erzeugt. Input für den Prozeß ist der Satz. Die Schemakonstruktion verläuft so, daß zu-
nächst, ausgehend vom Verb, ein „hohles“ Geschehnisschema konstruiert wird. Dieses hohle
Geschehnisschema haben wir schon in Abbildung 1 gesehen. Als nächstes folgt dann die
Einsetzung in die Hohlstellen entsprechend den Regeln, die für das Verb gelten. Für ‘geben’
lautet eine Regel: Der Akteur steht vor dem Verb, der Rezipient unmittelbar hinter dem
Verb und das Objekt folgt dann. Dementsprechend wird also eingesetzt.
Damit aber ist der Konstruktionsprozeß keineswegs zu Ende. Das so konstruierte
Schema wird vielmehr noch in zweifacher Weise überprüft. Die erste Überprüfung ist die
„allgemeine“ Weltbildkonformität des Schemas. Paßt das Schema, welches neu entstanden
ist, zu den bekannten Schemata im Gedächtnis des Individuums? „Albert gibt Berta Geld“
paßt zweifellos. „Der Hund fliegt um die Kirchturmspitze“ paßt nicht zu der allgemeinen
Welterfahrung eines gewöhnlichen Individuums. Wie findet diese Prüfung auf allgemeine
Weltbildkonformität statt? Die einfachste Form dieser Prüfung wäre, alle Geschehnissche-
mata, die mit den Verben ‘geben’ bzw. ‘fliegen’ verbunden sind, aufzurufen und dann zu
prüfen, ob das neu konstruierte Schema mit den anderen Schemata kompatibel ist. Wenn
z.B. in den „fliegen“-Schemata alles mögliche vorkommt, nur nie ein Hund als Akteur, dann
sollte der Hund als Einsetzung zurückgewiesen werden. Oder aber es sollte eine Nachfrage
erfolgen: „ein Hund?“
Als letztes folgt nun die Prüfung auf spezifische Passung. Gewöhnlich steht ein Satz
natürlich im Rahmen eines Diskurses, einer längeren Erzählung oder einer Unterhaltung.
„Alleinstehende“ Sätze sind selten. Also wird jetzt noch geprüft, ob die Information, die das
neu gebildete Schema enthält, zu der Information paßt, die bislang schon vorhanden ist.
Wenn z.B. eine Geschichte erzählt wird, in der ein Hund einen Abfallhaufen durchwühlt und
dann zwei Katzen, viel kleiner als der Hund, den Hund attackieren und verjagen, dann paßt
die Fortsetzung „der Hund flog um die Kirchturmspitze“ nicht zu dem gesamten Gescheh-
nis. Es würde erwartet werden, daß der Hund flüchtet, sich zu einem sicheren Platz zurück-
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 46
zieht, oder daß der Hund vielleicht ein paar Kumpel sucht, als Verstärkung im Kampf gegen
die Katzen, oder daß der Hund zu seinem Herren flüchtet und sich – auf Hunde Art – über
die Katzen beschwert, oder sonst irgend etwas, was mit allgemeinen Geschehnisschemata
kompatibel ist, die sich mit Flucht oder Vertreibung beschäftigen.
Wenn diese Operationen durchlaufen sind und wenn die beiden Prüfprozesse auf „allge-
meine“ und „spezielle“ Konformität positiv ausgegangen sind, wird das Schema akzeptiert.
Gewöhnlich verläuft der Konstruktionsprozeß unbewußt. Kommt er zu einem ordentli-
chen Ende, so haben wir es eben verstanden; wenn nicht, so erfolgt eine Frage. „Die Tanne
steht neben dem Haus!“ – Das ist in Ordnung. „Der Hund fliegt um die Kirchturmspitze!“ –
Das ist keineswegs in Ordnung und erzeugt eine Frage. „Sagten Sie ‘Hund’?“
Übrigens: Menschen machen sich auch durchaus aus sehr merkwürdigen sprachlichen
Gebilden noch ihr „Bild“. Es gibt kaum etwas, was Menschen nicht irgendwie verstehen
könnten. Nehmen wir z.B. das Gedicht „Das Gleichnis“ von Robert Gernhardt (1997):
Wie wenn da einer, und er hielte
Ein früh gereiftes Kind, das schielte,
Hoch in den Himmel und er bäte:
„Du hörst jetzt auf den Namen Käthe!“ –
Wär’ dieser nicht dem Elch vergleichbar,
Der tief im Sumpf und unerreichbar,
Nach Wurzeln, Halmen, Stauden sucht
Und dabei stumm den Tag verflucht,
An dem er dieser Erde Licht ...
Nein? Nicht vergleichbar? Na, dann nicht!
Natürlich setzen beim Lesen dieses Gedichtes sofort Prozesse ein, die den ‘einen’, ‘Käthe’
und den ‘Elch’ auf irgendeine Weise in ein kommensurables System bringen. Und meist
findet man schon Beziehungen: Käthe nach oben, der Elch nach unten, Kind bekommt Na-
men, Elch bekommt Staude; Name ist Symbol, Staude Ding, daher Kind errettet, Elch ver-
flucht im Sumpf zu bleiben (Hingabe an das Materielle, Dingliche gegen den geistig symbo-
lischen Bereich); man kriegt eine ganz Menge „Tiefsinn“ zusammen, wenn man die Gedan-
ken ein bißchen laufen läßt. (Die Analogisierung von Käthe mit dem Elch ist – nebenbei
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 47
gesagt – natürlich falsch; es heißt ja ‘dieser’ und nicht ‘diese’. — Also, noch einmal, an-
ders!)
Sprachverstehen ist mehr als die Aufnahme von Information. Gewöhnlich ist es vielmehr
Produktion und Veränderung von Information. Sprache ist nicht nur ein Kommunikations-
system; damit Sprache als Kommunikationssystem funktioniert müssen vielmehr mit dem
Verstehen und dem Produzieren von Sprache recht komplizierte Konstruktionsprozesse
verbunden sein. Die Fähigkeit, Sätze zu verstehen, beinhaltet die Fähigkeit, Schemata – und
damit mögliche Realitäten – zu konstruieren.
Wenn nun Denken die Konstruktion von Wirklichkeit oder von „Möglichkeit“ ist, so ist
allein schon das Verstehen von Sätzen eine Tätigkeit , die schwer vom Denken zu trennen
ist.
Das Verstehen und das Beantworten von Fragen
Das Verstehen von Sätzen ist ein Konstruktionsprozeß. Dies trifft noch mehr auf die Tätig-
keit des Verstehens und des Beantwortens von Fragen zu. Man unterscheidet gewöhnlich
zwei Arten von Fragen, ja/nein– Fragen, bei denen es um die Existenz oder Nichtexistenz
eines Sachverhaltes geht, und Fragen, in denen es um die spezifische Form eines Sachver-
haltes geht. Diese Fragen werden im Deutschen gewöhnlich mit den W-Frageworten ‘war-
um’, ‘weshalb’, ‘wozu’, ‘wie’, ‘wer’, ‘was’, usw. eingeleitet.
Ja/nein- Fragen werden beantwortet, indem festgestellt wird, ob das, wonach gefragt
wird, der Fall ist (oder war oder sein könnte) oder nicht. Wenn man das Verstehen, das Be-
antworten von ja/nein- Fragen nachbilden will, dann kann das so geschehen, daß man ein
System in seinem Situations- oder aber in seinem Protokollgedächtnis nachprüfen läßt, ob
sich dort der Sachverhalt, nach dem gefragt wird, tatsächlich vorfindet. „Ist das Fenster
geschlossen?“ Um diese Frage zu beantworten kann man entweder hingucken oder man
kann in dem internen Abbild der Situation, welches man mit sich trägt, nachprüfen, ob das
Fenster geschlossen ist. „Hattest Du die Tür abgeschlossen?“ Um diese Frage zu beantwor-
ten, kann man das Protokollgedächtnis als Logbuch der unmittelbaren und der mittelbaren
Vergangenheit durchsehen, um dort die Tätigkeit des Abschließens der Tür zu finden oder
auch nicht. Ja/nein-Fragen sind sehr wichtig, um Lücken und Unklarheiten in Bildern der
Realität aufzuspüren, um dann gegebenenfalls weitere Explorationsprozesse zu starten.
Auch ja/nein- Fragen sind also nicht nur – wie es auf den ersten Blick scheinen mag – In-
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 48
formationsabfragen. Vielmehr können sie mit umfangreichen Recherchen und Explorations-
prozessen verbunden sein. „Hatte ich die Tür nun wirklich abgeschlossen? – auf jeden Fall
habe ich den Schlüssel in der Tasche! Das heißt immerhin, daß ich ihn nicht zu Hause liegen
gelassen habe und daß ich prinzipiell die Möglichkeit gehabt hätte, die Tür abzuschließen.
Aber habe ich es auch wirklich getan? Wie war das eigentlich genau, als ich das Haus ver-
ließ? ...“
In dieser Weise kann eine ja/nein- Frage einen ganzen Prozeß der Rekonstruktion der
Vergangenheit einleiten (der nicht notwendigerweise zu einem wahrheitsgetreuen Bild der-
selben führen muß). Auch die Beantwortung von ja/nein- Fragen ist also oftmals verbunden
mit Prozessen der Konstruktion von Wirklichkeit und kein System wäre ohne solche Pro-
gramme zur Konstruktion von Schemata in der Lage, in differenzierter Weise ja/nein- Fra-
gen zu beantworten .
In verstärkter Weise trifft das gleiche zu für W Fragen. Aus diesem Grunde wollen wir
uns jetzt ausgiebig mit diesen Fragen beschäftigen. Man kann zeigen, daß diese Fragen im-
mer auf eine Rekonstruktion eines unvollständigen Schemas abzielen.
Wenden wir uns zunächst dem Verstehen von W-Fragen zu. Das Verstehen von Sätzen
bedeutet die Konstruktion eines Schemas. Was bedeutet aber das Verstehen von W-Fragen?
Man kann es auffassen als das Konstruieren eines Schemas mit einer Hohlstelle. Abb. 3
zeigt, was damit gemeint ist.
warum?woher? wohin?
wann?wo?
loc
loc loc
temp
A B C D E
Abb. 3: Bezüge der Frageworte auf verschiedene Arten von Hohlstellen in einem Schema.
In der Abbildung 3 sieht man in der Mitte angedeutet eine Kette von Ereignissen A-B-C-D-
E. Um diese Ereigniskette herum gruppiert sich eine Reihe von Frageworten. Frageworte
wie ‘warum’, ‘wohin’, ‘woher’, ‘wo’, usw. haben immer einen zweifachen Bezug. Zum
einen markieren sie ein Ereignis, eine Situation oder ein Objekt in einem komplexeren Ge-
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 49
schehen oder in einem Geschehnisschema. Zum anderen weisen sie auf eine Hohlstelle oder
eine Leerstelle in dem Schema hin. Das Fragewort ‘warum’ z.B. bezieht sich auf ein be-
stimmtes Ereignis und fragt nach den Antecedentien des entsprechenden Ereignisses. Was
ist dem Ereignis vorausgegangen und hat zu dem Ereignis geführt? „Warum gibt Albert
Berta Geld?“ — „Weil Berta Albert ein Bild verkauft hat!“ (‘Warum’ muß aber nicht not-
wendigerweise nach den Antecedentien fragen; oft fragt es auch nach der Finalität. „Warum
gibt Albert Berta Geld?“ — „Damit sie ihm Milch mitbringt!“ — Auch die Bedeutung von
Fragewörtern ist in der natürlichen Sprache polymorph.)
In der gleichen Weise, wie ‘warum’ auf eine bestimmte Hohlstelle in einem Geschehnis-
schema hinweist, weisen auch die anderen Frageworte auf bestimmte Arten von Hohlstellen
im Geschehnisschema hin. ‘Woher’ fragt nach der früheren Position eines Objektes, ‘wohin’
nach der zukünftigen. ‘Wie’ fragt (gewöhnlich) nach der Instrumentalität; nach der Art und
Weise, wie eine bestimmte Überführung ablaufen kann. In ähnlicher Weise kann man für alle
Frageworte die Hohlstelle oder die verschiedenartigen Hohlstellen angeben, die gemeint
sind. So besteht also das Verständnis einer W-Frage aus der Konstruktion eines Schemas
mit Leer- oder Hohlstellen. Es reicht aber nicht, daß eine Frage nur verstanden wird; sie
muß auch beantwortet werden.
In der Frage „wer hat dir das gegeben?“ ist das Ereignis genannt, welches stattgefunden
hat, irgendwer hat einer bestimmten Person etwas bestimmtes gegeben. Aber offen ist, wer
das war. Das gesagte Schema hat also eine Hohlstelle; „wer“ indiziert (meist), daß die Ak-
teurstelle in einem Schema offen ist. Die verschiedenen Frageworte („wer“, „was“, „wozu“,
„warum“, „wohin“, „woher“, ...) beziehen sich auf verschiedene Formen von offenen Stel-
len. „Wer“ fragt nach dem Akteur, „was“ fragt nach einem Objekt, „warum“ fragt nach der
Ursache, „wozu“ fragt nach dem angezielten Endergebnis, usw..
Eine Frage wird verstanden, indem gleichfalls, wie bei gewöhnlichen Sätzen ein Schema
aufgebaut wird; eine Frage aber unterscheidet sich von einem gewöhnlichen Satz darin, daß
dieses eine Hohlstelle aufweist.
Eine Frage wird umgewandelt in ein Schema mit einer Leerstelle. Und dann? Wie wer-
den Fragen beantwortet? Nun, natürlich in der Weise, daß auf irgendeine Weise eine Einset-
zung für die Leerstelle gesucht wird. Einen Konstruktionsprozeß dafür kann man sich leicht
vorstellen. Es gibt ein Schema mit einer Leerstelle; nunmehr findet im Gedächtnis ein Mu-
stervergleichsprozeß statt, der nach einem gleichen oder ähnlichen Schema sucht in wel-
chem diese Leerstelle ausgefüllt ist. Wenn es sich also bei dem oben erwähnten Beschenkten
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 50
um einen 10-jährigen Knaben namens Hans handelt, und wenn dieser ein fernlenkbares Mo-
dellauto geschenkt bekommen hat, so mag sich als Antwort auf die Frage „wer hat Hans das
Modellauto geschenkt?“ bei Kennern der Verhältnisse die Antwort einstellen „Onkel Er-
win!“, da im Familienumfeld Onkel Erwin als Fan technischen Spielzeugs und außerdem als
generös bekannt ist. Die Antwort auf eine Frage bedeutet also die Komplettierung eines
Schemas aufgrund eines Mustervergleichs; aufgrund der Suche nach gleichen, ähnlichen
oder analogen Strukturen im Gedächtnis.
"warum" - Suche mit verringerten Verträg-
lichkeitsbedingungen
Substitution
"Warum gibt Albert Berta Geld?"
Warum - Leerstelle
"Weil sie ihm ein Bild verkauft hat!"
Abb. 4: Die Beantwortung einer ‘Warum’ - Frage.
Abbildung 4 zeigt den Ablauf der Beantwortung einer ‘Warum’ - Frage. Am Anfang steht
das Schema mit der Hohlstelle. Man sieht das Schema der Geldübergabe zwischen Albert
und Berta und davor fehlt etwas; das gesamte Geschehnisschema weist eine Leerstelle auf.
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 51
Wie kann diese Leerstelle aufgefüllt werden? Dies kann einfach dadurch geschehen, daß zu
dem Muster, welches das Ausgangsschema darstellt, also das Schema mit der Leerstelle, ein
mit diesem Muster verträgliches Muster gefunden wird. Beispielsweise geht man in seinem
Gedächtnis auf die Suche nach anderen Geldübergaben, die dieser Geldübergabe zwischen
Albert und Berta möglichst ähnlich sein sollten. (Wenn man aber nichts Ähnliches findet,
dann können sukzessive die ‘Verträglichkeitsbedingungen’ zwischen dem Suchbild und dem
zu Suchenden gelockert werden und man sucht dann vielleicht nur noch nach irgendwelchen
Geldübergaben.)
Wenn nun eine Geldübergabe gefunden worden ist und wenn diese Geldübergabe außer-
dem ein Antecedenz aufweist, eine vorausgehende Ereignisfolge, die ein Grund oder eine
Ursache für die nachfolgende Folge ist, wie es in der Abbildung 4 in der Mitte gezeigt ist,
dann kann nun eine Substitution stattfinden. Die Ereignisfolge in der Mitte zeigt wie eine
Frau einem Mann ein Bild gibt und daraufhin der Mann der Frau Geld gibt; wir haben also
einen Verkaufsprozeß vor uns. Diese zweite Szene ist der ersten Szene partiell analog. Die
Relationen in dem zweiten Teil der Szene entsprechen den -Relationen in dem zweiten Teil
der Ausgangsszene; in beiden Fällen geht es um eine Geldübergabe von einem Mann zu
einer Frau. (Die Szenen sind aber nicht nur analog; sie sind sich außerdem noch ziemlich
ähnlich, weil die Akteure und das Objekt der Szenen zwar nicht miteinander gleich aber
ähnlich sind. Dennoch: streng genommen handelt es sich um eine Analogie.)
Der letzte Schritt, der jetzt noch notwendig ist, ist die „Substitution“. In das aufgefun-
dene, partiell analoge Schema, müssen nun die Ursprungselemente eingesetzt werden. In der
Abbildung 4 sieht man das unten. Und dieses neu konstruierte Schema kann dann in die
sprachliche Äußerung umgesetzt werden „vielleicht hat sie ihm ein Bild verkauft!“ (Das
kann natürlich auch anders aussehen; vielleicht wird nicht nur eine partielle Analogie gefun-
den, sondern mehrere und dann kann das System mit mehreren Möglichkeiten als Hypothe-
sen für die Gründe der Geldübergabe von Albert an Berta reagieren. Der Kern der Prozedur
für die Beantwortung von W-Fragen ist also das Suchen nach ähnlichen oder analogen
Schemata für ein vorgegebenes Schema mit einer Hohlstelle und die nachfolgende Auffül-
lung der Hohlstelle entsprechend dem aufgefundenen Schema. Bei anderen Frageworten
sind die Hohl- bzw. Leerstellen andere als bei dem Fragewort ‘warum’; ansonsten aber kann
der Prozeß gleichartig ablaufen.
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 52
erfolgreich?
Erstellung eines Suchschemasmit Hohlstellen entsprechend
dem W- Fragewort
Suche (unter Aussparung der Hohl-stellen) nach einem mit dem Such-schema verträglichen Gedächtnis-
schema
Erneute Suche (unter Aussparungder Hohlstellen) mit herabgesetzten
Verträglichkeitsbedingungen
Einsetzung der Elemente des Such-schemas an die entsprechenden
Stellen des gefundenen Schemas
erfolgreich?
Antwort auf die Frage wird,was an den Stellen der Hohlstellen
im gefundenen Schema steht+
+
-
-Frage kann nicht
beantwortet werden!
1
2
3
4
5
6
7
Abb. 5: Informationsverarbeitung bei der Beantwortung von Fragewort-Fragen.
Abbildung 5 zeigt ein Flußdiagramm mit den Informationsverarbeitungsprozessen, die not-
wendig sind, um Fragewort- Fragen zu beantworten.
Das Verstehen von Aufforderungen
Sprache besteht aus drei Grundelementen, Aussagen oder Urteilen, Fragen und Aufforde-rungen. Mit Urteilen und Fragen haben wir uns bereits beschäftigt. Wie kann man ein Sy-stem bauen, welches Aufforderungen versteht? Eine Aufforderung führt beim Menschen,wenn sie akzeptiert wird, zur Ausbildung einer motivationalen Struktur. Wenn mich jemandauffordert „hol’ mir ein Glas Wasser!“ dann mache ich es mir zum Ziel, dem Aufforderndenein Glas Wasser zu bringen; das ist dann mein handlungsleitendes Motiv. (Es entsteht natür-lich die Frage, unter welchen Bedingungen Aufforderungen akzeptiert werden und unterwelchen Bedingungen nicht. Letzten Endes muß sich eine Aufforderung immer in die „Mo-tivationslandschaft“ des Aufgeforderten einfügen lassen. Beispielsweise muß die Bitte umein Glas Wasser verstanden werden als ein „Bindungssignal“ („der erwartet, daß ich ihm
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 53
Wasser bringe, also hat er Vertrauen zu mit, also wird er mir auch helfen, wenn es einmalnotwendig ist, also ist es im Interesse der Aufrechterhaltung der sozialen Bindung, ihm einGlas Wasser zu bringen!“ — So etwas wird natürlich nicht so explizit gesagt oder auch nurgedacht, wie ich es eben dargestellt habe.)
Es gibt auch Selbstaufforderungen. Aus einer bestimmten Datenlage kann sich ergeben,
daß man irgend etwas bestimmtes tun sollte. Vielleicht ist es z.B. vernünftig, zunächst ein-
mal die Gründe eines Ereignisses zu erforschen, ehe man Überlegungen darüber anstellt, wie
man die Folgen des Ereignisses vermeiden kann. Dann mag man sich auffordern: „Du mußt
dir überlegen, wie es zu diesem Ereignis kommen kann!“ Diese Aufforderung mündet dann
z.B. in einer Folge von Warum-Fragen. — Solche Selbstaufforderungen sind im Denkablauf
sehr häufig; der Denkende steuert sein Denken oder verändert es, indem er sich selbst sol-
che Aufforderungen gibt. Wir kommen unten noch auf diesen Punkt zurück, wenn wir über
die Selbstreflexivität des Denkens sprechen. Selbstaufforderungen ergeben sich oftmals aus
einer kritischen Analyse erfolgloser Denkprozesse.
Denkabläufe als „innere Dialoge“
Aus den soeben dargestellten Teilstücken läßt sich sehr wohl eine Theorie des Denkens ab-
leiten. Man kann zeigen, daß sich ein solches Strukturschema für den Problemlöseprozeß,
wie der ‘General Problem Solver’, als Folge von Fragen und (Selbst-) Aufforderungen dar-
stellen läßt. Folgendermaßen sieht ein solches Schema aus:
• Welches sind die Unterschiede zwischen Start- und Zielsituation? (→ Unterschiedsliste
xyz)
• Wie kann man den Unterschied xyz beseitigen? (→ Operator I)
• Ist der Operator I anwendbar? (→ ja!/nein!)
• Wenn der Operator I nicht anwendbar ist: Selbstaufforderung: Setze dir als Ziel, die
Anwendbarkeit des Operators I zu erreichen. (→ neue Absicht)
• Wenn aber der Operator I anwendbar ist, so wende ihn an! (→ neuer Startpunkt)
• Selbstaufforderung: Setze als neuen Startpunkt das Produkt der Anwendung des Ope-
rators.
Man kann auch andere Problemlöseprozeduren in der gleichen Weise als Frage-
Aufforderungs-Sequenzen darstellen. Wir wollen darauf aber hier nicht weiter eingehen.
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 54
Ein Denkvorgang kann also beschrieben werden als ein innerer Dialog. Wenn das aber rich-
tig ist, dann ist die Sprache das gedankenleitende System, genau wie Wilhelm von Hum-
boldt meinte. Diese Konzeption bedeutet nun nicht unbedingt, daß alles im Denken nur über
die Sprache geschieht. Natürlich können sich zu den aufgrund von Sätzen konstruierten
Schemata Assoziationen einstellen. Und diese bringen unter Umständen neue Elemente in
den Denkablauf hinein. Die Sprache aber ist der Dirigent des gesamten Prozesses; die je-
weils gestellten Fragen geben dem Denken hauptsächlich die Richtung.
Nebenbei: Die Fähigkeit zur Sprache, die Fähigkeit Sprache zu verstehen, Fragen zu
verstehen, Fragen zu beantworten, Aufforderungen in motivationale Schemata zu überfüh-
ren, bedeutet keineswegs, daß Sprechen auch immer Denken ist. Es gibt vielmehr durchaus
Leute, denen mit großer Geschwindigkeit muntere Sprachbäche entquellen, ohne daß man
bei näherer Analyse den Eindruck hat, daß sie dabei viel gedacht haben. Der Sprachfluß soll
das nur vorspiegeln. Und es gibt ein Sprechen, welches nur noch die Funktion hat, soziale
Bindungen zu indizieren und zu sichern, und damit eigentlich nicht so sehr Sprechen, son-
dern der Austausch von Zeichen (Zeichen z.B. für das wechselseitige Wohlwollen). Wenn
mir in Bamberg einer sagt „Grüß Gott!“ dann meint er keineswegs, daß ich in Gott gegrüßt
sein soll. Und wenn einer zu mir sagt „Einen Guten Tag noch!“ dann wünscht er mir kei-
neswegs einen guten Tag und wäre baß erstaunt, wenn ich ihn fragen würde, was er denn
bitte mit „einem guten Tag“ meint; sondern er indiziert mit diesem Zeichen lediglich soziale
Bindung. Mit Denken hat das alles nichts zu tun.
Die Steuerung des Denkens
Wenn man Denken auffaßt als eine Abfolge von Fragen, Antworten, Selbstaufforderungen,
dann löst sich ein anderes Problem der Denkpsychologie, nämlich das der Selbstreflexivität
des Denkens. Dieses Problem ist gleichfalls leider nicht im Blickfeld der modernen Kogniti-
onspsychologie. Betrachtet man Protokolle des ‘lauten Denkens’, so findet man darin fast
immer selbstbezügliche Elemente, also Äußerungen der jeweiligen Versuchspersonen, die
sich nicht auf das zu lösende Problem, sondern auf den Problemlöseprozeß beziehen. Eine
Versuchsperson äußert bei einem Problemlöseprozeß also z.B.: „Ich weiß gar nicht, was ich
hier so mache! Ich glaube, ich mach das einfach falsch! Ich fang immer von vorn an, versu-
che mich von vorn zum Ziel durchzuarbeiten. Eigentlich könnte man das ja auch mal an-
dersherum machen! Man könnte vom Ziel aus vorgehen!“
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 55
Diese Äußerung enthält eine Umprogrammierung des eigenen Denkens; die Ver-
suchsperson ändert ihren Denkstil. Statt weiter ‘vorwärtsplanend’ vorzugehen, statt zu ver-
suchen, vom Startpunkt zum Ziel zu kommen, beschloß sie, in Zukunft ‘rückwärtsplanend’
vorzugehen; also einen Weg zum Ziel zu ersinnen, indem sie sich überlegt, was denn un-
mittelbar vor der Erreichung des Zielzustandes der Fall sein müßte und was davor und was
davor. Auch so kann man planen; oftmals ist diese Form des Planens sogar sehr effektiv.
Nachdenken über das Denken? Wie ist das möglich? Wenn man Denken als inneren
Dialog betrachtet, so macht die Konzeption eines Systems, welches seine eigenen Gedanken
zum Gegenstand des Denkens macht, überhaupt keine Schwierigkeiten. Denn in der Erinne-
rung des Denkenden gibt es ja ein mehr oder minder vollständiges Protokoll des bisherigen
Denkablaufs ganz einfach als Protokoll des inneren Dialogs. Die Form des eigenen Denkens
zeigt sich in den Abfolgen der Aussagen, der Fragen, der Selbstaufforderungen. Dieses Mu-
ster der Sprachelemente kann selbst Objekt eines Denkablaufs werden; auf diese Weise kann
sich das Denken selbst zum Objekt machen und sich selbst verändern.
Eine Form einer solchen kritischen Selbstanalyse ist das von Duncker (1935) so ge-
nannte Verfahren des „Ausfällens des Gemeinsamen“. Diese Methode besteht darin, daß der
Denkende die bisherigen erfolglosen Denkabläufe auf gemeinsame Elemente untersucht und
dann diese ‘gemeinsamen Elemente’ durch andere ersetzt oder herausläßt.
Das oben angeführte Beispiel zeigt, wie so etwas aussehen kann. Die Versuchsperson
stellt fest, daß sie bei allen bisherigen, erfolglosen Lösungsansätzen vom Start zum Ziel hin
gearbeitet hat. Und das macht sie jetzt anders! Die Konzeption der Selbstreflexivität als
Analyse des eigenen Denkprotokolls befreit von der Notwendigkeit, mehrere Ebenen der
psychischen Regulation annehmen zu müssen. Solche ‘Ebenenmodelle’ sind in kognitiven
Psychologie nicht ungebräuchlich, um die Tatsache zu beschreiben, daß das menschliche
Denken und überhaupt die menschliche Verhaltensregulation nicht nur einfach ablaufen,
sondern ihrerseits gesteuert werden. Das Denken kann geändert und gesteuert werden; und
dafür erfindet man gewöhnlich eine weitere Instanz der „Metakognition“.
Die Annahme solcher mehrfach ineinander geschachtelter Instanzen bringt das Problem
mit sich, daß man eigentlich mit dieser Schachtelung bis ins Unendliche fortfahren müßte.
Denn zweifellos ist es dem Menschen möglich, nicht nur sein Denken beim Problemlösen
zum Objekt seiner Betrachtung zu machen; er kann auch über das Nachdenken über das
Denken nachdenken. Wenn man mit Mehrebenenmodellen operiert, muß man also letzten
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 56
Endes eine unendliche Menge von ineinander geschachtelten Instanzen annehmen, die sich
jeweils zum Objekt der Betrachtung machen.
Die Konzeption, die ich gerade eben vorgestellt habe, vermeidet dieses Problem. Es
reicht, daß wir eine Denkinstanz annehmen (und das ist der ‘innere Dialog’), die fallweise
ihr Objekt wechselt. Mal wird das Problem ‘bedacht’, mal eben die Form des eigenen Den-
kens. Natürlich auch wieder in der Form eines inneren Dialogs.
Wenn man Denken wesentlich als ‘inneren Dialog’ ansieht, dann wird man allerdings ak-
zeptieren müssen, daß es „das“ Denken gar nicht gibt. Ebenso, wie es unendlich vielfältige
Formen innerer Dialoge gibt, gibt es unendlich vielfältige Formen des Denkens. Eigentlich
ist das leicht einzusehen; aber das leichte fällt vielen Psychologen schwer. Und so suchen
denn immer noch viele nach den Gesetzen des Problemlösens, des Planens, des Konzept-
erwerbs, des Analogiebildens. Solche Gesetze gibt es nicht. Zu Analogien kann man in ver-
schiedener Weise kommen, abstrakte Konzepte ergeben sich mal so, mal so; das hängt vom
Denkenden, seiner Erfahrung mit dem Denken, seiner Flexibilität, seiner sprachlichen Ge-
wandtheit ab. Auch hängt es von der Form der Sprache ab. Wenn z.B. eine Sprache über
relativ wenig abstrakte Oberbegriffe verfügt, wie es für viele primitive Sprachen charakteri-
stisch ist, so fällt es schwer, Analogien zu bilden, weil das Analogienbilden über abstrakte
Oberbegriffe laufen muß.
So konnte man z.B. zeigen (s. Hallpike, 1984, S. 157), daß der Erwerb einer europäi-
schen Sprache (es handelte sich dabei um das Französische) schlagartig dazu führte, daß
Jugendliche eines westafrikanischen Stammes erheblich flexibler wurden und besser mit
Problemen umgehen konnten als ihre Eltern. Die entsprechende afrikanische Sprache hatte –
wie es bei vielen der primitiven Sprachen der Fall ist – wenig Oberbegriffe; es gab z.B. kei-
nen gemeinsamen Begriff für Körperteile, für Schwanz, Hals oder Beine. Vielmehr wurde
das Bein einer Giraffe mit einem anderen Wort bezeichnet als das Bein eines Affen oder
eines Menschen. Das Fehlen von Oberbegriffen macht den Sprung von einer Koadjunktion
zur anderen sehr schwer, ganz einfach weil die Begriffe nicht als Koadjunktionen, als be-
griffliche Nebenordnungen verstanden werden können.
Wenn dem Indianer die Birkenrinde für den Kanubau fehlt, so könnte er statt dessen
z.B. Plastiktüten verwenden. Diese sind durchaus gut geeignet. Um aber auf diese Idee zu
kommen, muß man die Birkenrinde dem Oberbegriff „Membran“ unterordnen, um dann
nach anderen möglichen „Membranen“ zu suchen. Verfügt man nicht über den Oberbegriff
„Membran“, so wird man eben auf die Idee mit der Plastiktüte nicht kommen.
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 57
Die Armut oder der Reichtum an Oberbegriffen ist ein Merkmal, welches Sprachen un-
terscheidet. Es gibt andere, auf die ich hier nicht eingehen kann. Die Untersuchung der Un-
terschiede zwischen verschiedenen Sprachen ist aber von großem Interesse, wenn man dar-
an interessiert ist, herauszufinden, welche verschiedenen Denkabläufe möglich sind.
Man kann also zeigen, daß allein durch eine Sequenz von Fragen, Urteilen, Aufforde-
rungen Denken realisiert werden kann. Wohl gemerkt: realisiert, nicht etwa nur beschrieben.
Denn Urteile, Fragen und Aufforderungen sind gewissermaßen die Anstoßpunkte für be-
stimmte Programme, die Schemata konstruieren, modifizieren oder erweitern. Wenn es aber
richtig ist, daß das „innere Gespräch der Seele mit sich selbst“ (Platon, Der Sophist, 263e)
mit Denken gleichgesetzt werden kann, dann wäre es sehr merkwürdig, wenn neben dem
„Apparat“ zur Realisierung des Sprechens noch ein gesonderter Denkapparat existierte, der
auf irgendeine Art und Weise das gleiche macht. Insofern ist es sehr unwahrscheinlich, daß
Anderson (1996, S. 356) recht hat, wenn er meint, daß Denken nichtsprachliche Informati-
onsverarbeitung sei.
Die Tatsache, daß die Fähigkeit zum Sprechen die Fähigkeit zum Denken impliziert, er-
klärt auch zwanglos, warum die fulminante Fortentwicklung der geistigen Fähigkeiten des
Menschen innerhalb der letzten zwei Millionen Jahre wohl mit der Entwicklung der Sprache
einhergeht. Es wäre wirklich interessant, mehr über die Entstehung und die Fortentwicklung
der Sprache von ihrem Urbeginn an zu erfahren und damit auch etwas über die Entwicklung
der Denkfähigkeit.
Literatur
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Verlag.
Aristoteles: Über die Seele. In: Philosphische Schriften in 6 Bänden, Band 6. Darmstadt:
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Duncker, K. (1935): Psychologie des produktiven Denkens. Berlin: Springer.
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 58
Frege, G. (1966): Über Sinn und Bedeutung. In: Patzig, G. (Hg), Frege, G.: Funktion, Be-
griff, Bedeutung. Fünf logische Studien. Göttingen: Vandenhoeck &, Rupprecht.
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Hallpike, Ch.R. (1984): Die Grundlagen primitiven Denkens. Stuttgart: Klett-Cotta.
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tice Hall.
Platon: Der Sophist. In: Platon: Werke in acht Bänden, Band VI. Darmstadt, Wissenschaft-
liche Buchgesellschaft.
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 59
Drei Wünsche an die KognitionspsychologieProf. Dr. Theo Herrmann
Inhalt
1 Vorbemerkungen........................................................................................................... 60
2 Zwei Warnungen vorab ................................................................................................. 62
3 Wünschbarkeiten........................................................................................................... 64
4 Neuropsychologische Verfahren und die Alltagsphänomene........................................... 64
5 Denken und Sprechen.................................................................................................... 67
6 Intentionale Zustände als Forschungsgegenstand der Kognitionspsychologie ................. 71
7 Schluss.......................................................................................................................... 74
8 Literatur........................................................................................................................ 74
1 Vorbemerkungen
Mein Vortrag hat es mit der Zukunft der Kognitionspsychologie zu tun. Die Kogni-
tionspsychologie ist - leicht einsehbar - derjenige Teil der Psychologie, der sich mit Kogni-
tionen befaßt. Was aber sind Kognitionen? Der Einfachheit und Unverdächtigkeit halber
beziehe ich mich auf Phil Zimbardo: Zimbardo, der Lehrbuchguru, dürfte mehr als jeder
andere die Meinung der Herrschenden unserer Zunft transportieren, also vor allem jener
Amerikaner, die derzeit in dominanter Weise die Definitionsmacht haben. Zimbardo defi-
niert mit Hilfe der deutschen Herausgeber seines Werks wie folgt (Zimbardo, 1995, S. 753):
„Kognitionen: Strukturen oder Prozesse des Erkennes und Wissens. Darunter fallen z.B. die
Prozesse des Wahrnehmens, Schlußfolgerns, Erinnerns, Denkens und Entscheidens und die
Strukturen der Begriffe und des Gedächtnisses.“
Und wie steht es mit der Zukunft dieser Kognitionspsychologie? Man sollte eine künftig
real existierende Kognitionspsychologie nicht beschwören wollen. Die Erkenntnisentwick-
lung auch in den Wissenschaften ist nämlich ganz überwiegend das Ergebnis unvorhersehba-
rer Entdeckungen und Erfindungen innerhalb oder außerhalb des jeweiligen Faches. Dieses
plausible Argument gegen Vorhersagen (und große Zukunftskonzeptionen) ist bekanntlich
vor allem von Sir Karl Popper und seinen Schülern vertreten und ausgearbeitet worden.
Und außerdem hängt die Wissenschaftsentwicklung, mehr als wissenschaftstheoretische
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 60
Puristen zugestehen, ab von schlecht vorhersehbaren Methoden- und Theoriemoden, von
politisch-ökonomischen Eingriffen und ohnedies von globalen „Zeitgeist“-Entwicklungen.
Zudem wollen wir hoffen, daß auch die Kognitionspsychologie immer wieder in den Genuß
möglichst spannender Novitäten kommt, die alle versuchten Vorhersagen zunichte machen.
Eine Wissenschaft, deren Zukunft man vorhersagen kann, wäre es kaum wert, sich mit ihr
zu befassen. Ich zumindest habe zur realen Zukunft der Kognitionspsychologie nichts zu
sagen und schließe mich statt dessen Friedrich Schiller an - ich mußte noch in der Schule die
zum Teil frappierend schlechten Reime der „Glocke“ auswendig lernen. Nach Schiller gilt
auch für die Kognitionspsychologie: Ihr „ruhen noch im Zeitenschoße die schwarzen und
die heitern Lose.“
Ein schwarzes Los wäre wohl der Kognitionspsychologie beschieden, wenn sie so blie-
be, wie sie ist. Das sage ich aus einem anderen Grund, als man vielleicht zunächst meinen
möchte. Ich halte nämlich den gegenwärtigen Zustand der Kognitionspsychologie, wie sich
noch zeigen wird, für durchaus zufriedenstellend. Wenn allerdings - wie noch vor einigen
Jahren - die Gefahr bestünde, daß die Kognitionspsychologie, erhitzt durch ein grassieren-
des Cognitive-Science-Fieber, für nicht viel mehr als die Lehre von den regelbasierten Wis-
senssystemen gehalten würde (vgl. dazu Tack, 1995), dann stünde es um diese Teildisziplin
der Psychologie in der Tat so schlecht, daß man ernstlich besorgt sein könnte. Nun hat je-
doch die Kognitionspsychologie in letzter Zeit viele interessante Knospungen erfahren; es
steht nicht mehr zu befürchten, daß ihre namhaften Vertreter, von Silikonprodukten um-
stellt, Geistiges nur noch in Kategorien begreifen, die sie dem programmierbaren Kunststoff
entlehnen. Wenn ich also hoffe, daß die Kognitionspsychologie nicht so bleiben möge, wie
sie ist, meine ich nichts anderes, als daß sie eine möglichst vielfältige Dynamik entwickeln
möge - nicht weil sie so schlecht ist, sondern weil sie nicht stagnieren soll.
Mein gegenwärtiger Vortrag betrifft Wünschbarkeiten. Die Entwicklungen, die ich der
Kognitionspsychologie wünsche, sind mir selbstverständlich nicht allesamt selbst zugefallen.
Es gibt sie bereits fast alle, über sie wird nachgedacht, manches wird bereits zu realisieren
versucht. Ich hätte nur gern, daß diese Gesichtspunkte energisch in die Kognitionspsycho-
logie inkorporiert würden. Ich werde diese Wünschbarkeiten mit großer Willkür behandeln,
in idiosynkratischer Auswahl und ohne nachvollziehbare Ordnung. Eine von mir gewünschte
Kognitionspsychologie ist nichts theoretisch Geschlossenes - das ist nicht einmal die Physik
- und methodologisch Homogenes, sondern - wie jede gute Wissenschaft - etwas Buntes,
ein Blumenstrauß von vielen interessanten Phänomen und deren einfallsreicher theoretischer
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 61
Rekonstruktion in untereinander vernetzten Forschungsprogrammen. Auch die von Zimbar-
do genannten Prozesse und Strukturen des Erkennens und Wissens sind in ihrer Natur viel-
fältig, heterogen, nuanciert. Ich würde es bedauern, wenn man sich nicht mehr der Vielfalt
geistiger Prozesse und Strukturen und dem Nutzen ihrer verschiedenartigen Behandlung
stellte.
2 Zwei Warnungen vorab
Aus meinen Vorbemerkungen ergeben sich zwei Warnungen, die, wie ich fürchte, etwas
schulmeisterlich anmuten können. Sie sind nicht so gemeint, zumal ich mich selbst als einen
ihrer Adressaten verstehe.
Erstens: Kognitionspsychologen sollten nicht die bunte Mannigfaltigkeit der kognitiven
Phänomene ignorieren, auch wenn die Kenntnisnahme dieser Phänomene nicht den Aufbau
des je eigenen, mit Mühe entwickelten Modells des geistigen Lebens oder gar der Seele
fördern; Kognitionspsychologen sollten nicht den Eindruck entstehen lassen, als sei nur
dasjenige erforschenswert, was in ein bestimmtes globales Modell oder auch nur in eine
Modellklasse paßt oder sie stützt. Freilich brauchen wir umfassende, experimentell und an-
derweitig empirisch prüfbare und auf diese Weise miteinander möglichst heftig konkurrie-
rende Modelle - bisher mehr Wunsch als Wirklichkeit! Der Sinn der Wissenschaft besteht
zweifellos auch darin, Komplexes auf möglichst einfache theoretische Strukturen abzubil-
den. Aber nicht weniger wichtig und nicht weniger entscheidend für den Erfolg einer wis-
senschaftlichen Disziplin ist das Finden neuer Fakten, die Entdeckung neuartiger empiri-
scher Sachverhalte oder Effekte. Wir brauchen wieder so etwas wie die Mentalität des neu-
gierigen und beharrlichen Naturforschers. (Als solche sind mir, um zwei Beispiele zu nen-
nen, immer der junge Wolfgang Metzger und Ivo Kohler erschienen.)
Vielleicht fanden wir in den letzten Jahrzehnten weniger neue empirische Effekte als un-
sere wissenschaftlichen Vorgänger, weil wir, immer mehr geblendet durch unsere modell-
spezifischen Abstraktionen, an den unbemerkt am Wege liegenden Phänomenen vorbei-
stolperten. Und viele von uns haben nicht mehr das Sitzfleisch, vielleicht Jahrzehnte lang an
der Hebung eines einzigen Schatzes zu arbeiten. Jedenfalls haben die Demonstration eines
neuen Effekts und der Erweis seiner Replizierbarkeit unter definierten Randbedingungen
ihre eigene Rechtfertigung; der Effektnachweis bleibt per se unberührt davon, wie gut der
Effekt in irgendeine Theorie- bzw. Modellbildung inkorporierbar ist. - Umgekehrt: Der Mo-
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 62
dellbauer sollte sich angesichts des Aufweises von neuen empirischen Sachverhalten, und
handele es sich auch um sehr spezifische Effekte, fragen, ob sein Modell durch den neuen
empirischen Befund herausgefordert ist. Gute Modelle bewähren sich nämlich gerade bei
der Vorhersage und Erklärung sehr spezifischer Effekte; das zeigt ebenso die Physik wie die
Linguistik. Und der psychologische Modellbauer sollte ernstlich ins Grübeln geraten, wenn
sein Modell so gar nicht von empirischen Befunden tangiert wird und immer richtig bleibt.
Zweitens: Man sollte die Entwicklung der Kognitionspsychologie nicht zu sehr von den
jeweils gerade vorhandenen und attraktiven Methoden und Verfahren, den „tools“, abhängig
sein lassen. Auch wenn es - um es am Beispiel zu verdeutlichen - jetzt wirkungsvolle neu-
rowissenschaftliche Verfahren der Bildgebung gibt, sollte dies nicht dazu führen, weniger
intensiv als bisher etwa Evozierte Potentiale zu messen oder Priming-Untersuchungen
durchzuführen - je nachdem, was das jeweils problematisierte Phänomen verlangt. Die Er-
findung der Bildgebenden Verfahren rechtfertigt also per se keinen opportunistischen
Wechsel des Probleminteresses. Und man sollte sich - horribile dictu - auch für Phänomene
interessieren, die mit den uns vorliegenden Methoden noch gar nicht erforschbar sind. Die
Entwicklung der Kognitionspsychologie sollte also - ich bin da allerdings höchst pessimi-
stisch - nicht methodengetrieben, sondern phänomengetrieben und auch durch den Impetus
innovativer Theorieentwicklungen vorangebracht werden.
Wir Kognitionspsychologen sollten uns nach allem nicht wie jener oft zitierte Junge be-
nehmen, der ein Hämmerchen geschenkt bekommen hat, handele es sich bei unserem Psy-
chologenhämmerchen wie einst um die Faktorenanalyse oder das Semantische Differential
oder später um die MDS, um die Rasch-Skalen oder um Strukturgleichungsmodelle, um die
neuesten Programmiersprachen, um verfeinerte Reaktionszeitmessung, eben um die Bildge-
benden Verfahren, um relativ leicht herstellbare Virtual Reality oder was auch immer. Wenn
der Junge ein solches Hämmerchen geschenkt bekommen hat, so behämmert er erfahrungs-
gemäß, wenn man nicht aufpaßt, alles und jedes wahllos mit diesem so attraktiven neuen
„tool“. Ein solches Verhalten verrät vielleicht die Geschicklichkeit eines modebewußten
Wissenschaftskaufmanns, aber wenig wissenschaftliche Kompetenz. Nehmen wir uns ein
Beispiel an unseren evolutionären Vorfahren: Diese verwendeten Werkzeuge und stellten
sie her, um ihre Probleme zu lösen; der Homo sapiens sapiens existierte gar nicht, wenn sich
unsere Vorfahren nur für dasjenige interessiert und dasjenige problematisiert hätten, für
dessen Bearbeitung sie bereits ein Werkzeug besaßen. Auch der Kognitionspsychologe mö-
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 63
ge also in dieser Hinsicht nicht - wenn ich so sagen darf - hinter den Homo habilis oder so-
gar den Zwergschimpansen zurückfallen.
3 Wünschbarkeiten
Nun zu meinen Wünschen: Ich werde, obwohl mich das reizt, nicht über einzelne kognitive
Phänomene berichten, deren Erforschung ich für wünschbar halte. Zu meinen Lieb-
lingsphänomenen gehört beispielseise das früher intensiv behandelte und erst neuerdings
wieder etwas stärker beachtete Phänomen der intermodalen Qualitäten. (Wieso denken wir
bei hohen Trompetentönen eher an ein äi“ als an ein äu“ und eher an Gold als an Kohle? Ist
das bei allen Menschen so; wovon hängen solche fast obligatorischen Assoziationen ab?
Handelt es sich dabei überhaupt um Assoziationen?) - Ich mache also nicht auf einzelne
kognitive Phänomene aufmerksam, sondern befasse mich ziemlich pauschal, wie im gegebe-
nen Rahmen nicht anders möglich, mit drei theoretischen Gesichtspunkten, die ich gern in
die Kognitionspsychologie integriert sähe. Daß ich mich dabei im Laufe meiner nachfolgen-
den Erwägungen zunehmend vom Mainstream entferne, macht mir Freude; ich kann mir und
sollte mir provokante und exotische Auslassungen zumindest jetzt als Emeritus erlauben
dürfen.
4 Neuropsychologische Verfahren und dieAlltagsphänomene
Die Kognitionspsychologie bedient sich seit dem Beginn ihrer Geschichte mit gutem Erfolg
psychophysiologischer und, noch nicht sehr lange und mit großer Intensität, neuro-
psychologischer Verfahren. Die bereits genannten Bildgebenden Verfahren sind schon we-
gen der schönen bunten Flecken im graphisch dargestellten Gehirn sehr schnell auch in
weiten Laienkreisen bekannt geworden. Die sich zum Teil hervorragend entwickelnde Ko-
operation vor allem mit der medizinischen Neurologie hat für uns, wie aber auch für die
Neurologie, enorme Vorteile, eben weil auch an dieser Schnittstelle zweier Wissenschaften
beträchtliche Synergieeffekte wirken.
Worauf ich hinaus will, ist folgendes: Mit Hilfe der vorhandenen Techniken, zum Bei-
spiel beim Einsatz der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) oder der Funktionellen
Magnetresonanztomographie, kann man, trotz einer Reihe bekannter Mängel und Schwä-
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 64
chen, darstellen, welche Hirnareale bei kurz andauernden, oft wiederholten und möglichst
kontextfreien geistigen Tätigkeiten aktiviert sind. So wird es beispielsweise irgendwo bunt,
wenn die in ihrer Röhre befindliche Versuchsperson nacheinander viele gewöhnliche Buch-
staben liest, und an anderen Stellen wird es bunt, wenn die vielen Buchstaben als Spiegelbil-
der exponiert werden. Es läßt sich mit mehr als einer einzigen Körper-Geist-Doktrin verein-
baren - wer aber denkt darüber nach ? - , daß man mit dem Erkennen prozeßabhängig akti-
vierter Hirnregionen stark verbesserte Aufschlüsse über kognitive Prozesse und Strukturen
erhalten kann. Neuropsychologische Befunde können in meiner Sicht sogar durchaus geeig-
net sein, hinreichend gut explizierte kognitionstheoretische Annahmen als falsch zu erwei-
sen.
Die Beschränkung der Methode liegt in der fast stets erforderlichen häufigen Wieder-
holung vieler gleicher, kleiner, gegen Kontexteinflüsse möglichst resistenter geistiger Tätig-
keiten, deren jeweilige Verortung in einem Hirnareal wegen des geringen Signal-Rausch-
Abstands bei der Auswertung kumuliert und mit einer ebenfalls kumulierten Baseline-
Messung in Beziehung gesetzt wird. Dies ist - neben der immer noch zu geringen, wenn
auch inzwischen wachsenden zeitlichen Auflösung - eine entscheidende Beschränkung der
Einsatzmöglichkeit von Bildgebenden Verfahren genau in denjenigen Bereichen, für die sich
möglichst viele Kognitionspsychologen interessieren sollten.
Auch die traditionelle Messung Evozierter Potentiale kommt zu guten, das heißt: ziem-
lich zuverlässigen und dabei zeitlich hochaufgelösten experimentellen Befunden, wenn man
die Zeitstruktur der Aktivation von Hirnarealen beim wiederholten Ablauf kleiner, wenig
kontext-abhängiger geistiger Prozesse kumuliert und wiederum mit kumulierten Baseline-
Messungen ins Verhältnis setzt. Zum Beispiel erhebt man die genauen Zeitpunkte, zu denen
bestimmte Hirnteile aktiv werden, wenn man einer Versuchsperson isolierte Sätze ihrer
Muttersprache mit planmäßig variierten grammatischen oder semantischen Fehlern zum
Lesen vorgibt. Wieder geht es um oft wiederholte, zirkumskripte, kontextfreie Reizdarbie-
tungen, deren psycho-physiologische Effekte man bei der Auswertung des EEG übereinan-
derlegt und auf Baseline-Messungen normiert (Rösler, Friederici, Putz & Hahne, 1993).
Doch - so stellt sich die Frage - wer hört schon im Alltagsleben, beim Fehlen eines defi-
nierten Kommunikationspartners, isolierte, fehlerhafte Sätze, die in keinen situativen Kon-
text, zum Beispiel in keinen Diskurszusammenhang eingebettet sind und mit keiner vom
Hörer nachvollziehbaren alltäglichen Absicht des Kommunikationspartners einhergehen?
Zumindest wird hier mit dem EEG keineswegs der Normalfall menschlichen Sprachverste-
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 65
hens untersucht (vgl. auch allgemein Altmann, Garnham & Dennis, 1992; Coles, 1989). So
verhält es sich durchgängig mit den psychophysiologischen und neuropsychologischen Be-
funden zur Erforschung von Kognitionen. Der Psychologe untersucht dasjenige, was die für
ihn erreichbaren Techniken hergeben, und unterdrückt zu oft, daß Verallgemeinerungen auf
das alltägliche kognitive Funktionieren des Menschen halsbrecherisch bis nachweislich
falsch sind.
Ich habe einen vielleicht ganz utopischen Wunsch: Wir sollten, zusammen mit Informati-
kern, Biotechnikern und anderen Mitstreitern, alles tun, um endlich auch dasjenige meßbar
zu machen, was wirklich im Alltagsleben des menschlichen Geistes geschieht. Was ich mei-
ne, verbeispiele ich wie folgt: Ist es wirklich so, daß Sie, um jetzt meine Rede verstehen zu
können, folgendes tun müssen: Sie zerlegen diese Rede zunächst strikt in einzelne Sätze und
speichern jeden Satz einzeln in einem Buffer. Sie analysieren jeden Satz vollständig bezüg-
lich seiner syntaktischen Struktur. Erst dann erkennen Sie die Bedeutung des Satzes unter
Heranziehung Ihres mentalen Lexikons, sozusagen durch Nachschlagen der Bedeutung der
einzelnen Wortformen, deren grammatische Rolle sie zuvor durch die grammatische Analyse
kennengelernt haben. Auf dieser Basis eines solchen konsekutiven Satzverstehens müssen
Sie dann noch die Bedeutung meiner gesamten Rede verstehen und sich ein internes Modell
derjenigen Situation bilden, auf die meine Rede referiert. - Das klingt offensichtlich absurd,
ist aber erstaunlichweise eine dominierende wissenschaftliche Meinung (vgl. z.B. Harley,
1995; S. 139 ff). Nun weiß man bereits recht gut, welches Hirnareal bei der syntaktischen
Analyse gehörter Sätze feuert, und man kennt entsprechend auch andere sprachspezifische
Arealaktivationen. Man sollte nun, so mein noch ziemlich utopischer Wunsch, die soeben
skizzierte Annahme oder ähnliche Annahmen durch zeitlich hochauflösende Analysen von
Hirnarealaktivierungen während des Verstehens umfangreicher, nicht-wiederholbarer, freier
Redebeiträge prüfen können. Zeigen dann die Aktivationsmuster, daß die gehörte Rede
strikt in kurzzeitig gespeicherte Sätze zerlegt werden? Kommt es auch jetzt, Satz für Satz,
zunächst zur Aktivation des Syntaxzentrums und zu vollständigen syntaktischen Analysen,
bevor die anderen Areale feuern können? - Ich bin überzeugt, daß sich die skizzierte Auffas-
sung - wenn man denn könnte - neuropsychologisch schnell widerlegen ließe.
Um Mißverständnisse zu vermeiden: Mein Wunsch nach Neuerung verträgt sich sehr
wohl mit meinem anderen, ebenso ernstgemeinten Wunsch, daß die schon bisher erfolgrei-
chen neuropsychologischen Forschungsarbeiten ständig vermehrt und ausgebaut werden.
Mit der bislang durchgängigen Beschränkung auf die hirntopographischen Äquivalente klei-
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 66
ner und kontextfreier, repetitiver geistiger Tätigkeiten kann man bestimmte kognitionstheo-
retische Probleme erfolgversprechend bearbeiten, andere, sehr wichtige aber eben nicht.
5 Denken und Sprechen
Ich würde es begrüßen, wenn sich die Kognitionspsychologie wieder mit dem Denken be-
faßte. Man sollte nicht verkennen, daß die frühere, so attraktive Psychologie des Denkens
längst einer außerordentlich vielfältigen Psychologie des Problemlösens den Platz überlassen
hat. Doch muß ja das menschliche Denken keineswegs nach Gottes Ratschluß unbedingt
unter dem Gesichtpunkt behandelt werden, daß ein kognizierter Istzustand nicht mit einem
antizipierten Sollzustand übereinstimmt und daß man kognitive Wege vom Ist zum Soll er-
innert und kombiniert oder daß man sie ganz neu entwickelt und daß man gegebenenfalls
außerdem noch ermittelt, worin das Soll eigentlich bestehen soll. Denken kann doch zum
Beispiel auch Erwägen, Nachdenken, Sinnieren oder geistiges Sichgehenlassen sein. Und
soweit das Denken dem Lösen eines Problems dient, kann man die Denkvorgänge doch
auch für sich selbst, im einzelnen eben als Denkvorgänge, betrachten. Was zum Beispiel
bedeutet es, wenn einem Menschen Bedenken kommen, wenn man einen Selbsteinwand
erhebt; welche Arten von Selbsteinwänden lassen sich unterscheiden; unter welchen Bedin-
gungen treten sie auf; unter welchen Bedingungen reagiert man auf sie in welcher Weise?
Oder was bedeutet es und wie kommt es dazu, daß man bisweilen zwar weiß, daß man die
Lösung hat, ohne daß man schon die Lösung explizieren kann? (Das war bekanntlich ein
wichtiges Forschungs-thema des Manheimers Otto Selz.) - Solche Untersuchungsgegen-
stände sind nun in meiner Sicht keine arbiträren Kleinigkeiten, sondern Hilfen beim Gewinn
eines durchgreifend verbesserten Verständnisses sehr fundamentaler kognitiver Prozesse
und Strukturen. - Ich kann hier nicht ausführen, warum ich unter den gegenwärtigen Ge-
sichtspunkten auch eine stärkere Einbeziehung der von Friedhart Klix und seiner Schule zu
kognitiven Strukturen und Operationen gewonnenen Erkenntnisse (Klix, 1992, S. 262 ff.) in
die künftige Analyse des Denkens für wichtig halte.
Das Denken und generell die kognitiven Prozesse und Strukturen sind wesentlich
sprachlich verfaßt. Ich sympathisiere mit Dietrich Dörner (1997), wenn er an Platon und
daran erinnert, daß das Denken, zumindest mit heuristischem Nutzen, als das „innere Ge-
spräch der Seele mit sich selbst“ (Platon, 1990, S.356) verstanden werden kann. Das Den-
ken vollzieht sich eben zum guten Teil darin, daß wir uns selbst Fragen stellen und uns diese
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 67
Fragen beantworten, daß wir etwas konstatieren und daß wir es anschließend bezeifeln, daß
wir Formulierungen lauschen, die uns sozusagen ohne unser Zutun in den Kopf kommen,
und diese bewerten, daß wir also im Gespräch mit uns sind. Hieran lassen sich zumindest
zwei Gedanken knüpfen:
Erstens: Es ergeben sich sogleich interessante Forschungsfragen, wenn man nicht igno-
riert, daß unser Denken, qua Sprechen-mit-sich-selbst, weitgehend sprachlich verfaßt ist.
Ich erinnere an die heute leider weitgehend vergessene Wigotski-Tradition (Wigotski,
1964), die das Denken theoretisch aus dem Sprechen entwickelt. Das Denken ist ebenso
von sprachlichen Repräsentationen durchwoben, wie es von „Bildern“ und von motorischen
Repräsentaten durchdrungen ist (vgl. Engelkamp, 1990; Herrmann, Grabowski, Schweizer
& Graf, 1996).
Wenn sich zum Beispiel die Kognitionspsychologie in den letzten Jahren geradezu schu-
bartig mit demjenigen befaßt, was man als „bewußt“ und als „nicht-bewußt“ bezeichnet,
dann sollte man versuchsweise den eigentlich naheliegenden Gedanken einbeziehen, daß
Bewußtseinsgrade viel damit zu tun haben, in welcher Mischung sprachliche, bildhafte und
andere Repräsentationsmodi an einem Denkvorgang beteiligt sind. Hier können wir übrigens
von den alten Psychiatern lernen, die in psychopathologischen Zusammenhängen feinste
einschlägige Unterscheidungen getroffen haben. Und diese Unterscheidungen sollten sich
zum Beispiel auch neuropsychologisch darstellen und systematisieren lassen.
Allerdings müßte sich die Kognitionspsychologie auch an dieser Stelle aus dem Einheitsgrau
des so beliebten amodalen Kodes befreien (Dörner, 1997). Der amodale Code soll, wie der
Name sagt, nicht einzelsprachlich, nicht bildhaft oder in einer anderen Modalität vorliegen;
er hat gewissermaßen nur abstrakt-propositionale Merkmale. In diesem Code soll nach An-
derson (1976) und anderen unser Wissen gespeichert sein. Diese Vorstellung ist ein Über-
bleibsel der Computer-Metapher des Geistes. Gewiß können und sollten wir für bestimmte
theoretische und auch didaktische Zwecke abstraktiv davon absehen, daß unsere kognitiven
Strukturen und Prozesse in sprachlichem, bildhaftem oder anderem Modus vorliegen. Der
amodale Code ist dann eine bestimmte Art, über Kognitionen zu sprechen, er ist als eine
Façon de parler gut zu gebrauchen. Er impliziert eine vereinfachte Betrachtung, die ich
übrigens später in diesem Vortrag noch ebenfalls benutzen werde. Man darf den amodalen
Code aber nicht ontologisieren, zu einem hinzunehmenden Faktum machen. Bei der Analyse
des Denkens kämen wir weiter, wenn wir sprachliche, bildhafte und andere modale Anteile
von Denkprozessen deskriptiv unterscheiden und ihr jeweiliges Auftreten erklären könnten.
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 68
Hält man mir vor, hier fehlten doch die geeigneten Erfassungsmethoden, so antworte ich:
Man möge sich gefälligst bemühen, solche Methoden in weitgehend vergessenen Winkeln
der Psychologiegeschichte wiederzufinden oder verbesserte Verfahren neu zu entwickeln,
um nicht einen fundamentalen Gesichtspunkt des geistigen Lebens unbeackert zu lassen.
Zweitens: Wenn der Mensch beim Denken sozusagen mit sich selbst spricht, dann möge
dies der Kognitionspsychologe sogar noch etwas wörtlicher nehmen: Man sollte versuchs-
weise annehmen, daß das Gespräch-mit-sich-selbst partiell und in Annäherung in der vom
Menschen jeweils beherrschen, konkreten Einzelsprache geschieht, nicht aber (oder nicht
nur) in Form einer zum Beispiel universellen „Tiefensprache“ oder eines amodalen Proposi-
tions-Codes. Freilich impliziert diese Vorstellung geradezu einen Rückgriff auf den Lingui-
stischen Relativismus Whorfscher Art, der bei Verzicht auf die früheren Übersteigerungen in
der Tat gehöriger Wiederbeachtung würdig ist (vgl. Schlesinger, 1986). Ich bin fest davon
überzeugt, daß interindividuelle Unterschiede des Denkens partiell auf die jeweils erlernte
Sprache zurückführbar sind. Und solche Befunde sollten nicht deshalb ignoriert werden,
weil es sich dabei angeblich nur um Interkulturvergleich oder nur um Differentielle Psycho-
logie handelt. Dem ist entgegenzuhalten: Daß die erlernte Sprache das Denken beeinflußt,
gilt für alle Menschen. Begriffsnetze, auf denen kognitive Operationen arbeiten, sind in Ab-
hängigkeit von der Struktur der jeweils erlernten Sprache verschieden - dafür gibt es bereits
Befunde, und man kann und sollte das genauer untersuchen. Und bestimmte kognitive Ope-
rationen können - eben in der Wigotski-Tradition - versuchsweise als abgekürzte, „interiori-
sierte“ einzelsprachliche Operationen verstanden werden.
Es gibt da nur einen Haken: Um diesen theoretischen Gesichtspunkt angemessen in For-
schungsarbeit umsetzen zu können, braucht man einige sprachpsychologische Kenntnisse.
Nun ist aber die deutsche Sprachpsychologie, die immerhin einen Karl Bühler und einen
Hans Hörmann hervorgebracht hat, heute schwächer als jemals seit ihren Anfängen in
deutschsprachigen Universitäten verankert. Welcher deutschsprachige Lehrstuhl ist noch
mit einem Sprachpsychologen besetzt? Bei der durchaus leicht überschaubaren Schar von
Psychologen, die überhaupt noch psycholinguistisch interessiert sind, mangelt es nach mei-
nem Dafürhalten weit überwiegend am Interesse und partiell auch an der Kompetenz, bei
einer Neubegründung einer Denkpsychologie mitzuwirken. Da das so ist, wird man eine
Neubelebung einer Denkpsychologie, die diesen Namen verdient und die das Denken als
wesentlich sprachlich und auch einzelsprachlich verfaßt versteht, bei uns in Deutschland nur
erwarten können, wenn man geradezu fahrlässig optimistisch ist. Ich wünsche mir aber die
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 69
Hineinnahme des soeben skizzierten Gesichtspunkts in die künftige Entwicklung der Kogni-
tionspsychologie ebenso, wie ich mir die baldige Reanimierung einer Sprachpsychologie in
Deutschland wünsche, die sich, in kontinentaler Tradition, auch für Probleme des Verhält-
nisses von Denken und Sprechen interessiert.
Wenn wir das Menschenbild betrachten, wie es durch das Curriculum unserer deutschen
Diplomprüfungsordnungen und durch die reale Praxis unserer Psychologieausbildung ver-
mittelt wird, so kann dieser durch das Curriculum konstituierte Mensch, dieser curriculäre
Mensch, durchaus allerlei: Er kann besonders gut visuell und auch nicht schlecht auditiv
wahrnehmen; weitaus weniger gut kann er riechen und schmecken; er hat Gefühle oder
doch Emotionen; er ist aktiviert und motiviert; er hat überdauernde Motive und andere Per-
sönlichkeitsdispositionen; er lernt, vor allem erwirbt er Wissen; er hat ein sehr kompli-
ziertes Gedächtnis; er will und entscheidet sich und handelt; er löst Probleme, und soweit er
Probleme löst, denkt er wohl auch. Aber er kann angesichts der Curricula der meisten deut-
schen Hochschulen weder sprechen, noch kann er Sprache verstehen. Die Psychologie in
Deutschland verkauft ihren Studierenden, wie ich seit langem ungehört predige, ihren curri-
culären Menschen weithin als einen Aphatiker. Und dies bleibt nicht ohne Folgen auch für
die Kognitionspsychologie. Ich wünsche mir hier immer noch ohne rechte Zuversicht eine
durchgreifende Änderung.
6 Intentionale Zustände als Forschungsgegenstand derKognitionspsychologie
Ich sah mich bei der Vorbereitung dieses Vortrags der Versuchung gegenüber, als einen
weiteren von mir gewünschten theoretischen Gesichtspunkt nochmals die von mir schon oft
beschworene Blickpunktbezogenheit von Kognitionen zu erörtern. Unsere Untersuchungen
zu diesem Thema kann man nachlesen (z.B. Herrmann, 1996). Ich möchte aber nicht der
Versuchung nachgeben, im gegenwärtigen - generellen - Zusammenhang eigene For-
schungsarbeiten zu erläutern oder gar zu propagieren. Deshalb zu etwas anderem.
Inzwischen ist die Feststellung, der Mensch sei kein Computer, ein Truismus geworden.
Und doch pflegen wir Kognitionspsychologen beim Sprechen über kognitive Prozesse und
Strukturen einen wesentlichen Gesichtspunkt auszusparen, dessen künftige Beachtung ich
mir jedoch wünsche. Eine heute nach meiner Einschätzung überwiegend vertretene kogniti-
onspsychologische Grundannahme kann kurz wie folgt gekennzeichnet werden: Es gibt in
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 70
irgendwelchen internen Datenträgern Gefüge von Prädikat-Argument-Strukturen (Proposi-
tionsstrukturen); in diesen Propositionsstrukturen (stelle man sie sich als semantische Netze,
als Propositionslisten oder wie immer vor) ist die Welt repräsentiert; Prädikate mit ihren
Argumenten sind die Atome des geistigen Lebens; auf ihnen laufen geistige Operationen ab.
- Ist diese kognitionspsychologische Grundauffassung akzeptabel? Ich bin überzeugt, daß
diese Auffassung zumindest nicht ausreicht, falls sie nicht falsch ist. Sie ist, in meiner Sicht,
nicht nur deshalb unzureichend, weil mit ihr die zuvor erörterten Repräsentationsmodalitä-
ten ignoriert werden. Wie vermerkt, kann man durchaus im geeigneten Problemkontext
zeitweilig von der Thematisierung der Modalitäten absehen, und so möchte ich im folgenden
aus Einfachheitsgründen in der Redeweise des amodalen Codes formulieren.
Die Gegenvorstellung zur soeben skizzierten Grundauffassung besteht in folgendem:
Unser Geist bzw. unser kognitives System befindet sich zu jedem Zeitpunkt in einem be-
stimmten mentalen Zustand („mental state“). Wir repräsentieren nicht irgendetwas schlecht-
hin, sondern wir repräsentieren es aus einer mitgegebenen mentalen Einstellung heraus. In
der Terminologie der Analytischen Philosophie formuliert: Wir haben „propositionale Atti-
tüden“ bzw. „propositionale Einstellungen“; wir kognizieren in einem „intentionalen Code“.
Was soll darunter verstanden werden? Üblicherweise liegt für ein kognitives System nicht
irgendwie und irgendwo zum Beispiel lediglich die Information vor, daß Anna Otto liebt.
Vielmehr glauben oder wissen oder behaupten oder wünschen oder wollen oder hoffen oder
fürchten wir, daß Anna Otto liebt. Die Grundeinheit, das Radikal, unseres Denkens und
Wissens ist nicht die einfache wie auch immer intern repräsentierte Proposition von der Art
[Prädikat: LIEBEN (Agent: ANNA, Patient: OTTO)], sondern eine komplexere Einheit: ein
mentaler Zustand, der sich auf einen repräsentierten Sachverhalt bezieht, der also ein inten-
tionaler mentaler Zustand ist. Ein intentionaler Zustand ist zum Beispiel der Zustand des
Wissens oder der Zustand des Wünschens: Zustände des Wissens oder des Wünschens be-
ziehen sich immer auf etwas, was gewußt oder gewünscht wird. Propositionale Einstellun-
gen bestehen erstens aus einem mentalen Prädikat (wissen, wünschen usf.); sie bestehen
zweitens aus einer ersten Argumentstelle X dieses Prädikats, die im elementaren Fall auf das
kognizierende System selbst referiert (ich), und drittens aus einer zweiten Argumentstelle p,
die durch eine weitere, eingebettete Proposition (zum Beispiel, daß es regnet) besetzt ist.
Das Schema einer propositionalen Einstellung sieht also wie folgt aus:
X glaubt, wünscht (usf.), daß p.
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 71
Eine propositionale Einstellung ist im Unterschied zur einfachen Proposition dadurch
gekennzeichnet, daß sie gespaltene Wahrheitswerte besitzt. Die Aussage: „Ich hoffe, daß
Anna Otto liebt.“ kann in viererlei Weise wahr oder falsch sein: Erstens: Es stimmt, daß ich
hoffe, daß Anna Otto liebt. - Zweitens: Zwar liebt Anna Otto, doch hoffe ich das nicht; ich
befürchte es vielmehr. - Drittens: Ich hoffe tatsächlich etwas, aber nicht daß Anna Otto
liebt, sondern daß Anna Mario liebt. - Viertens: Alles ist falsch: Ich hoffe nicht, daß Anna
Otto liebt, sondern ich fürchte, daß Anna Mario liebt. - Schon diese Aufspaltbarkeit der
Wahrheitswerte auf die Matrixproposition sowie die Nebenproposition erweist, daß ele-
mentare propositionale Attitüden etwas anderes sind als die üblichen einfachen Prädikat-
Argument-Strukturen. Nicht alle mentalen Zustände sind indes intentional. Wenn jemand
heiter ist, dann ist er nicht „heiter, daß p“. Ich spreche hier nur über intentionale mentale
Zustände.
Ich wünsche mir, die Kognitionspsychologie möge sich folgende Frage stellen: Wie wäre
es, wenn wir versuchsweise die propositionalen Attitüden als nicht zerlegbare Elemen-
tarkognitionen akzeptieren bzw. wenn wir die mentalen Zustände, in denen sich Systeme
befinden, bei der theoretischen Rekonstruktion kognitiver Strukturen von vornherein mitbe-
rücksichtigen. Dann müßte allerdings einige Fachliteratur umgeschrieben werden, zum Bei-
spiel wären aus propositionalen Einstellungen aufgebaute „mentale Modelle“ etwas anderes
als die heute üblichen Johnson-Lairdschen „mentalen Modelle“.
Mentale Zustände kommen in der Kognitionspsychologie kaum vor. Daß jemand etwas
wünscht oder glaubt, ist für uns Kognitionspsychologen Motivationspsychologie, ist also für
uns sozusagen kein Thema. Eine solche thematische und methodologische Schnittlegung
halte ich aber für dysfunktional. Vielleicht nicht der Computer, aber wir höheren Lebewesen
können gar keine Wissensstrukturen - wie auch immer - „haben“, ohne eine kognitive Ein-
stellung zu ihnen zu besitzen. Es gibt - das ist eine starke These - keine den Menschen cha-
rakterisierenden „state-freien“ Propositionen. Und bei diesen Einstellungen, also beim Un-
terstellen, Fürwahrhalten, Glauben, Meinen oder Wissen oder beim Wünschen, Wollen,
Sollen, Können, Müssen oder Dürfen geht es nicht um irgendwelche zusätzlichen Gefühle
oder Emotionen oder um Motiviertheiten, die wir anderen Subdisziplinen der Psychologie
zuschieben dürften. Ob wir etwas glauben oder wünschen, ob wir es wissen oder annehmen,
bestimmt nämlich die Repräsentation des Geglaubten oder Gewünschten, des Gewußten
oder Angenommenen mit. Theoretische Rekonstruktionen kognitiver Strukturen sollten also
die Fusion von intentionalem mentalem Zustand und intentionalem Objekt, auf das sich der
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 72
Zustand bezieht, hinreichend berücksichtigen. Das hat nur wenig mit der Hineinnahme emo-
tionaler Sachverhalte in die Kognitionspsychologie zu tun, alles aber mit einer angemesse-
nen, vom Denkmodell des Computers abgehobenen Beschreibung kognitiver Strukturen. Es
sei noch daran erinnert, daß man modale Ausdrücke („dürfen“, „nicht müssen“ usf.) modal-
logisch behandeln kann. Die auf diese Weise bestimmbaren „constraints“ könnten beim Auf-
bau von psychologischen Theorien intentionaler Zustände bzw. Einstellungen genutzt wer-
den.
Von dieser Problemlage führt ein nur kurzer Weg zum offensichtlichen Sachverhalt, daß
die übliche mentale Repräsentation von Dingen in der Welt eine Selbstrepräsentation des
kognizierenden Systems impliziert. Die erste Argumentstelle X der Matrixproposition ist ja
in der Regel eben mit dem kognizierenden System belegt. Auf die komplizierte Situation,
daß das insofern meist egozentrisch repräsentierende System auch diffizile allozentrische
propositionale Einstellungen erzeugen kann, gehe ich hier nicht ein. Die Selbstrepräsentati-
on des kognizierenden Systems als Agent oder Rezipient des eigenen Wissens, Wünschens
usf., welches sich auf das im System vorliegende Repräsentat p bezieht, ist der Kognition-
spsychologie bis heute leider Hekuba. Als Agent repräsentiert zu sein, ist zum Beipiel etwas
ganz anderes, als als Träger einer Eigenschaft oder als die Ursache oder der Grund von et-
was repräsentiert zu sein. (Auf solchen Unterscheidungen ist übrigens die Struktur der in-
doeuropäischen Sprachen aufgebaut.) Solche Unterscheidungen sind zudem legitime The-
men der wiederzuerweckenden Denkpsychologie, von der ich zuvor gesprochen habe.
Ich habe - zusammengefaßt - den folgenden Wunsch: Die Kognitionspsychologie möge
das obligatorische Vorliegen intentionaler mentaler Zustände und die unauflösbare Fusion
dieser Zustände mit demjenigen, worauf sie sich beziehen, zum Ausgangspunkt neuartiger
theoretischer Systematisierung kognitiver Strukturen machen.
7 Schluß
Ich habe versucht, in aller gebotenen Kürze drei sehr willkürlich ausgewählte Gesichts-
punkte vorzustellen, deren gesteigerte Beachtung bei der künftigen kognitionspsychologi-
schen Arbeit ich mir wünsche.
Diese drei Wünschbarkeiten sind sehr heterogen. Manche und mancher von Ihnen wird
aber bei ihrer oder seiner, wenn ich so sagen darf, Informationsintegration sehr wohl etliche
argumentative Invarianten gefunden haben. Die Auswahl meiner Wünsche und ihre Dar-
Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 73
stellung sagen nichts über die tatsächliche Zukunft der Kognitionspsychologie aus; das blo-
ße Äußern solcher Wünsche beeinflußt den Lauf der Dinge erfahrungsgemäß kaum. Ich bin
auch nicht geneigt, in meinem gegenwärtigen Vortrag jenen Flügelschlag eines mexikani-
schen Schmetterlings zu erkennen, der auf verschlungenen chaostheoretischen Wegen für
spätere Schneestürme in Alaska verantwortlich ist. Doch sagen meine Wünsche durchaus
etwas über meine wissenschaftliche Denkweise aus.
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