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LOGOTHERAPIE UND SPIRITUALITÄT – DIE GRETCHENFRAGE IN DER LOGOTHERAPIE Master Thesis zur Erlangung des akademischen Grades Master of Science (MSc) im Universitätslehrgang Psychotherapie (Existenzanalyse und Logotherapie) von Mag. (FH) Markus Mitteramskogler Ulrichstraße 95, 4442 Kleinraming Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit an der Donau-Universität Krems Kleinraming, 16.04.2015

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  • LOGOTHERAPIE UND SPIRITUALITÄT – DIE

    GRETCHENFRAGE IN DER LOGOTHERAPIE

    Master Thesis zur Erlangung des akademischen Grades

    Master of Science (MSc)

    im Universitätslehrgang Psychotherapie

    (Existenzanalyse und Logotherapie)

    von

    Mag. (FH) Markus Mitteramskogler

    Ulrichstraße 95, 4442 Kleinraming

    Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit

    an der Donau-Universität Krems

    Kleinraming, 16.04.2015

  • Eidesstattliche Erklärung

    - I -

    EIDESSTATTLICHE ERKLÄRUNG

    Ich, Markus Mitteramskogler, geboren am 16.07.1982 in Steyr erkläre,

    1. dass ich meine Master Thesis selbständig verfasst, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht benutzt und mich auch sonst keiner unerlaubten Hilfen bedient habe,

    2. dass ich meine Master Thesis bisher weder im In- noch im Ausland in irgendeiner Form als Prüfungsarbeit vorgelegt habe,

    3. dass ich, falls die Arbeit mein Unternehmen (Klinik, Beratungszentrum…) betrifft, meinen Arbeitgeber über Titel, Form und Inhalt der Master Thesis unterrichtet und sein Einverständnis eingeholt habe.

    Kleinraming, 16.04.2015 ……….........................................................

    Ort, Datum Unterschrift

  • Danksagungen

    - II -

    DANKSAGUNGEN

    Ich danke allen voran meiner Freundin Evelyn für die aufmunternden Worte, die

    Geduld und Rücksichtnahme während des Schreibprozesses und für die Hinweise,

    die wirklich wichtigen Dinge im Leben nicht zu vernachlässigen.

    Großer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Otmar Wiesmeyr, für sein großes Engagement für

    die Logotherapie, die vielen Anregungen und Hinweise zu meiner Arbeit, die

    motivierenden Worte und nicht zuletzt für das entgegengebrachte Vertrauen und die

    Möglichkeit, die Daten des Abile im Rahmen des empirischen Teils auswerten zu

    dürfen. Danke an Herrn Univ.-Prof. Dr. Alexander Batthyány für die lobenden und

    anregenden Kommentare.

    Besonderen Dank spreche ich meinen Eltern, meinen Geschwistern sowie deren

    männlichen und weiblichen Partnern aus, mit denen ich herrlich-lustige

    Abendstunden zum Kräftesammeln erleben durfte.

    DANKE!

  • Abstract

    - III -

    ABSTRACT

    Im Rahmen des theoretischen Teils dieser Master Thesis wird die Beziehung der

    Religion und Spiritualität zur Psychotherapie allgemein, sowie zur Logotherapie und

    Existenzanalyse Viktor Frankls im Speziellen reflektiert. Es werden verschiedene

    Möglichkeiten der Integration von Spiritualität in psychotherapeutische

    Interventionen diskutiert sowie damit verbundene rechtliche und ethische Fragen

    behandelt, bezugnehmend auf die Richtlinie zur Abgrenzung von Psychotherapie

    von esoterischen, spirituellen und religiösen Methoden.

    Im empirischen Teil werden die verschiedenen Formen der Selbsttranszendenz, die

    explizite Religiosität sowie die Spiritualität von angehenden Logotherapeutinnen und

    Logotherapeuten mithilfe des Fragebogens zu Lebensbedeutungen und Lebenssinn

    (LeBe) untersucht.

    Stichworte für die Bibliothek: Logotherapie, Existenzanalyse, Spiritualität, Religion,

    Selbsttranszendenz

    ABSTRACT

    The theoretical part of this master’s thesis reflects the relationship of religion and

    spirituality to psychotherapy in general and to Viktor Frankl’s Logotherapy in

    particular. Various ways of integrating spirituality in psychotherapeutic interventions

    are discussed and related legal and ethical issues are debated, referring to the

    directive of distinguishing psychotherapy form esoteric, spiritual and religious

    practices.

    The empirical part of this work contains an investigation into various forms of self-

    transcendence, explicit religiosity and spirituality of future Logotherapists conducted

    with The Sources of Meaning and Meaning in Life Questionnaire (SoMe).

    Keywords for the Library: Logotherapy, Spirituality, Religion, Self-transcendence

  • Inhaltsverzeichnis

    - IV -

    Inhaltsverzeichnis

    Einleitung ........................................................................................................ 1

    1 Fragestellung ............................................................................................. 3

    2 Methodik .................................................................................................... 3

    3 Begriffsdefinition ........................................................................................ 5

    3.1 Spiritualität .......................................................................................... 5

    3.2 Religion ............................................................................................... 6

    4 Religion und Spiritualität allgemein ........................................................... 8

    4.1 Spiritualität in der Gesundheitsforschung ........................................... 8

    4.2 Eine kurze Historie der Spiritualität in der Psychotherapie ............... 10

    4.3 Religion und Spiritualität in Europa ................................................... 13

    4.4 Unterschiede zwischen Europa und den USA .................................. 15

    4.5 Gesundheitliche Auswirkungen von Spiritualität und Religion .......... 17

    5 Staatliche Richtlinien zu dem Thema ...................................................... 21

    5.1 USA, Großbritannien und weltweite Bemühungen ............................ 21

    5.2 Die Richtlinien in Österreich .............................................................. 23

    5.3 Die Esoterik-Richtlinie ....................................................................... 24

    6 Spiritualität bei Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten .............. 25

    6.1 Datenlage zur spirituellen Einstellung ............................................... 25

    6.2 Der Einfluss des Glaubens auf die therapeutische Praxis ................ 27

    7 Spirituelle Interventionen in der Psychotherapie ..................................... 29

    7.1 Die vier Typen nach Bernhard Grom ................................................ 32

    7.1.1 Typ 1: Anregungen kommen von Patientin oder vom Patienten . 33

    7.1.2 Typ 2: Einzelne spirituelle Interventionen integrieren ................. 34

    7.1.3 Typ 3: Spiritualität als psychotherapeutische Basistherapie ....... 34

    7.1.4 Typ 4: Psychotherapeutische Methoden spirituellen Ursprungs . 35

    7.2 Wirksamkeitsstudien ......................................................................... 36

    7.3 Argumente pro und contra ................................................................ 37

    7.4 Ausgewählte Fragen im Einzelnen ................................................... 38

    7.4.1 Weltanschauliche Neutralität des Gesundheitswesens .............. 38

    7.4.2 Therapeutische Haltung der Abstinenz ....................................... 39

  • Inhaltsverzeichnis

    - V -

    7.4.3 Therapeutenrolle statt Guru ........................................................ 40

    7.4.4 Empirische Begründbarkeit spiritueller Wirkfaktoren .................. 41

    7.4.5 Fehlende Übereinstimmung der Weltbilder ................................. 43

    7.4.6 Argumente gegen Spiritualität in der Psychotherapie ................. 43

    7.5 Intrinsisch religiöse Patientinnen und Patienten ............................... 44

    7.6 Integration in Ausbildung .................................................................. 46

    8 Logotherapie und Religion....................................................................... 48

    8.1 Trennendes ....................................................................................... 48

    8.2 Verbindendes .................................................................................... 51

    8.3 Sinnobjektivismus und Sinnkonstruktivismus .................................... 54

    8.3.1 Sinnobjektivismus ....................................................................... 55

    8.3.2 Sinnkonstruktivismus .................................................................. 55

    8.3.3 Fazit ............................................................................................ 56

    8.4 Anforderungen an Therapeuten im Umgang mit Sinnproblemen ...... 58

    8.5 Unbewusste Religiosität und der unbewusste Gott ........................... 59

    9 Empirischer Teil ....................................................................................... 60

    9.1 LeBe Fragebogen zu Lebensbedeutungen und Lebenssinn............. 60

    9.2 Datenquelle ....................................................................................... 63

    9.3 Allgemeine Informationen zu der Auswertung .................................. 64

    10 Ergebnisse ........................................................................................... 65

    10.1 Statistische Auswertungsverfahren ............................................... 65

    10.1.1 Zur Normalverteilung der Skalen .............................................. 65

    10.1.2 Prüfung auf Unterschiede zur Referenzgruppe ......................... 66

    10.2 Selbsttranszendenz ....................................................................... 68

    10.3 Subskalen Selbsttranszendenz Vertikal und Horizontal ................ 70

    10.4 Sinnkrise und Sinnerfüllung ........................................................... 72

    10.4.1 Sinnkrise ................................................................................... 72

    10.4.2 Sinnerfüllung ............................................................................. 74

    10.5 Die sieben Lebensbedeutungen .................................................... 75

    10.5.1 Soziales Engagement ............................................................... 75

    10.5.2 Explizite Religiosität .................................................................. 76

    10.5.3 Naturverbundenheit .................................................................. 77

  • Inhaltsverzeichnis

    - VI -

    10.5.4 Selbsterkenntnis ....................................................................... 77

    10.5.5 Gesundheit ............................................................................... 78

    10.5.6 Generativität ............................................................................. 79

    10.5.7 Spiritualität ................................................................................ 80

    10.6 Alle Skalen auf einen Blick ............................................................ 81

    11 Interpretation der Ergebnisse ............................................................... 81

    11.1 Allgemeine Hinweise ..................................................................... 82

    11.2 Die sieben Lebensbedeutungen .................................................... 82

    11.2.1 Soziales Engagement ............................................................... 82

    11.2.2 Explizite Religiosität .................................................................. 84

    11.2.3 Naturverbundenheit .................................................................. 85

    11.2.4 Selbsterkenntnis ....................................................................... 85

    11.2.5 Gesundheit ............................................................................... 86

    11.2.6 Generativität ............................................................................. 86

    11.2.7 Spiritualität ................................................................................ 87

    11.3 Sinnkrise und Sinnerfüllung ........................................................... 87

    11.3.1 Sinnkrise ................................................................................... 87

    11.3.2 Sinnerfüllung ............................................................................. 89

    11.4 Selbsttranszendenz ....................................................................... 89

    11.4.1 Vertikale Selbsttranszendenz ................................................... 90

    11.4.2 Horizontale Selbsttranszendenz ............................................... 90

    11.5 Verwirklichte Lebensbedeutungen ................................................. 91

    11.6 Gruppenvergleich hohe und niedrige Spiritualität .......................... 92

    12 Zusammenfassung ............................................................................... 95

    12.1 Allgemeiner Teil ............................................................................. 95

    12.2 Logotherapie .................................................................................. 96

    12.3 Empirische Untersuchung.............................................................. 97

    13 Diskussion ............................................................................................ 99

    13.1 Diskussion zur Esoterik-Richtlinie .................................................. 99

    13.1.1 Abgrenzungsfragen am Beispiel des Gebetes .......................... 99

    13.1.2 Persönliche Weltanschauung der Psychotherapeutinnen und

    Psychotherapeuten ...................................................................... 100

  • Inhaltsverzeichnis

    - VII -

    13.1.3 Die vier Typen nach Bernhard Grom im Kontext der Esoterik-

    Richtlinie ....................................................................................... 101

    13.1.4 Weiterentwicklung zu kultursensibler Psychotherapie ............ 102

    13.1.5 Kluft zwischen Theorie und Praxis .......................................... 103

    13.2 Logotherapie und Spiritualität ...................................................... 104

    13.2.1 Unbewusster Gott und Wissenschaft ...................................... 104

    13.2.2 Kritik an Frankls Sinnkonzept ................................................. 107

    13.2.3 Sinnobjektivismus und Sinnkonstruktivismus .......................... 108

    13.2.4 Ist die Logotherapie eine spirituelle Psychotherapie? ............. 112

    14 Schlussteil .......................................................................................... 115

    14.1 Beantwortung der Forschungsfragen .......................................... 115

    14.2 Ausblick ....................................................................................... 116

    Literaturverzeichnis ..................................................................................... 117

    Tabellenverzeichnis .................................................................................... 126

    Abbildungsverzeichnis................................................................................. 128

  • Einleitung

    - 1 -

    Logotherapie und Spiritualita t

    Die Gretchenfrage in der Logotherapie

    Einleitung

    „Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?

    Du bist ein herzlich guter Mann,

    Allein ich glaub, du hältst nicht viel davon.“

    (Goethe, 1808, S. 226)

    Die Gretchenfrage nach der Religion ist eine, auf die der Gelehrte Dr. Heinrich

    Faust in der Tragödie ausweichend antwortete und die für viele Menschen auch

    heute noch unangenehm zu beantworten ist. Somit überrascht es nicht, dass die

    Religionspsychologie eher ein Schattendasein fristet.

    Im Alltag hingegen liegt das moderne Gegenstück zur Religion, die Spiritualität, seit

    einigen Jahren voll im Trend. So sprachen manche schon 1999 von einer

    spirituellen Revolution in der Psychologie (Bucher, 2007, S. 5). Die Lebenshilfe- und

    Ratgeberliteratur im Supermarkt der Spiritualität weist eine Fülle von Konzepten auf,

    die sich mit Spiritualität beschäftigen, doch wo ist die Abgrenzung zwischen

    seriösen Angeboten und esoterischem Unsinn?

    Allzu vorschnell werden sämtliche spirituell wirkenden Angebote in einen Topf

    geworfen und abgestempelt. Diese polarisierende Sichtweise steht einer

    eingehenden Beschäftigung und kritisch-wissenschaftlichen Betrachtung der

    Thematik entgegen (Bucher, 2007, S. 12).

    Im deutschsprachigen Raum sind in den letzten Jahren achtsamkeitsbasierte

    Therapieansätze in Mode gekommen, in denen spirituelle Praktiken losgelöst von

    ihrem ursprünglichen Hintergrund in der Psychotherapie teilweise mit Erfolg

    eingesetzt werden.

  • Einleitung

    - 2 -

    Aber abgesehen davon sind spirituelle und religiöse Themen in der

    wissenschaftlichen Psychotherapieforschung ein Nischenthema, zumindest im

    deutschsprachigen Raum.

    Doch worin besteht eigentlich der Unterschied zwischen Spiritualität und Religion?

    Sind die Begriffe deckungsgleich zu verwenden und ist Spiritualität die moderne

    Form der Religion? Oder sind damit zwei voneinander unabhängige Konzepte

    gemeint? Respektive eine Mischung aus beiden? Eine schwierige Frage.

    In der Psychotherapie tauchten in den letzten Jahren alternative

    Behandlungskonzepte vermehrt auf den Homepages der Psychotherapeutinnen und

    Psychotherapeuten auf. Neben der Psychotherapie fanden sich Angebote wie

    Schamanismus, holotropes Atmen, Astrologie, Reinkarnation, Chanelling,

    Tarotkartenlegen sowie fernöstliche Heilmethoden. Ihnen gemein ist, dass sie

    spätestens seit 2014 nicht mehr Teil der Psychotherapie in Österreich sein können,

    da das Bundesministerium dies in einer Richtlinie klarstellte (Bundesministerium für

    Gesundheit, 2014). Vorhergehende Richtlinien mit dem Hinweis der Unterlassung

    fachfremder Angebote erwiesen sich offenbar als unzulänglich. Doch mit dieser

    Vorschrift wurden neben den esoterischen Methoden obendrein spirituelle und

    religiöse Methoden aus der praktischen Psychotherapie verbannt.

    Gerade die Logotherapie mit ihrer Offenheit zur Religion und Spiritualität ist von

    dieser Direktive betroffen.

    Die Diskussion über die Esoterik-Richtlinie bei der Herbsttagung des Abile im Jahr

    2014 weckte die Neugier des Autors am Thema Spiritualität und Religion in der

    Psychotherapie. Dieses Interesse führte letztendlich zum Thema der vorliegenden

    Master-Thesis.

  • Fragestellung

    - 3 -

    1 Fragestellung

    Folgenden Forschungsfragen wird in der Arbeit nachgegangen:

    Wie spirituell sind Logotherapeutinnen und Logotherapeuten im Vergleich

    zum Durchschnitt der Bevölkerung beziehungsweise der

    Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten im Allgemeinen?

    Welche spirituellen Elemente können in der Psychotherapie angewandt

    werden?

    Welche Rahmenbedingungen für spirituelle Interventionen in der

    Psychotherapie gelten in Österreich?

    Welche ethischen Fragen stellen sich in diesem Zusammenhang?

    Welche Beziehung hat die Logotherapie zur Spiritualität? Ist die Logotherapie

    eine spirituelle Psychotherapie?

    2 Methodik

    Die Struktur des theoretischen Teils der Arbeit basiert hauptsächlich auf folgenden

    den Forschungsstand zusammenfassenden Werken:

    Bucher, A.A. (2007). Psychologie der Spiritualität. Basel: Beltz.

    Psychotherapeutenjournal, (2012) 11(3), Schwerpunktheft zum Thema

    Psychotherapie und Religion/Spiritualität

    Utsch, M., Bonelli, R.M. & Pfeifer, S. (2014). Psychotherapie und Spiritualität

    Mit existenziellen Konflikten und Transzendenzfragen professionell umgehen.

    Berlin: Springer.

    Der im Bulletin der GLE (bis 1994) sowie in Existenzanalyse (seit 1995)

    veröffentlichten Diskussion zum ontologischen und existenziellen Sinn in der

    Logotherapie, beginnend mit der Ausgabe des Bulletin der GLE, (1994) 11(2)

  • Methodik

    - 4 -

    Des Weiteren wurde in einschlägigen Fachdatenbanken recherchiert:

    Datenbank Suchbegriffe Anzahl der Ergebnisse

    Pubmed (Logotherapy[Title/Abstract]) AND

    Religion

    9

    (Logotherapy[Title/Abstract]) AND

    Spirituality

    5

    Pubpsych Logotherapie Spiritualität 26

    Logotherapie Religion 43

    Tabelle 1: Suchergebnisse in Fachdatenbanken

    Die Abstracts der Suchergebnisse wurden auf ihren Bezug zu den

    Forschungsfragen hin untersucht und bei Eignung in den Text eingearbeitet.

    Ausgangspunkt des empirischen Teils der Arbeit stellen die dankenswerterweise

    vom Abile zur Verfügung gestellten Daten des LeBe-Tests (Fragebogen zu

    Lebensbedeutungen und Lebenssinn) dar, die im Rahmen des Aufnahmeverfahrens

    zum Ausbildungscurriculum der Existenzanalyse und Logotherapie in den Jahren

    2010 bis 2014 erhoben wurden. Die Auswertung dieser quantitativen Daten erfolgt

    anhand der im Manual (Schnell & Becker, 2007) vorgegebenen Instruktionen sowie

    anhand folgender Fachbücher und Quellen:

    Bortz, J. & Döring, N. (2006). Forschungsmethoden und Evaluation: für

    Human-und Sozialwissenschaftler. Heidelberg: Springer.

    Ebermann, E. (2010). Grundlagen statistischer Auswertungsverfahren. Zugriff

    am 25.11.2014. Verfügbar unter

    http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/quantitative/quantitative-titel.html

    Moosbrugger, H., & Kelava, A. (Hrsg.). (2012). Testtheorie und

    Fragebogenkonstruktion. 2. Auflage. Berlin: Springer.

    Rasch, B., Hofmann, W., Friese, M., & Naumann, E. (2010a). Quantitative

    Methoden 1 Einführung In Die Statistik für Psychologen und

    Sozialwissenschaftler (3. Auflage). Berlin: Springer.

  • Begriffsdefinition

    - 5 -

    Rasch, B., Hofmann, W., Friese, M., & Naumann, E. (2010b). Quantitative

    Methoden 2 Einführung In Die Statistik für Psychologen und

    Sozialwissenschaftler (3. Auflage). Berlin: Springer.

    Die Auswertung erfolgt anhand der dem Testmanual beigelegten Profilfragebögen

    von Hand. Die Daten wurden anschließend per Microsoft Excel bzw. IBM SPSS

    Statistics verarbeitet und analysiert.

    3 Begriffsdefinition

    3.1 Spiritualität

    Der Begriff Spiritualität stammt vom lateinischen spiritus (= Atem,

    Lebenshauch, Seele, Geist) ab und bezieht sich auf die geistige Dimension des

    Menschen (Stumm, 2007, S. 661 sowie Bibliographisches Institut, 2013, Eintrag

    Spiritualität). Im deutschsprachigen Raum verbreitete sich der Begriff erst um etwa

    1950 und wird im heutigen Sprachgebrauch vielseitig verwendet, was zu

    Widersprüchen und Ungenauigkeiten führt. Die Bandbreite reicht von religiöser

    Aufmerksamkeit über Bezogenheit auf ein größeres Ganzes bis hin zu erweiterten

    und veränderten Bewusstseinszuständen, die als spirituell vermarket werden

    (Utsch, Bonelli & Pfeifer, 2014, S. 28).

    Aus psychologischer Sicht kann Spiritualität definiert werden als

    Beschäftigung mit Sinn- und Wertfragen des Daseins, besonders der eigenen

    Existenz und seiner Selbstverwirklichung im Leben (Orientierung für die

    Lebensgestaltung) (Egger 2013, S. 39).

    In der amerikanischen Religionspsychologie werden beispielsweise vier

    Typen von Spiritualität beschrieben: (Worthington, Hook, Davis, & McDaniel, 2011,

    S. 205 sowie Utsch, et al., 2014, S. 31)

    1. Religiöse Spiritualität: Verbundenheit und Beziehung zu etwas Heiligem,

    Gott oder einer höheren Macht, wie von einer spezifischen

    Glaubensgemeinschaft beschrieben.

    2. Humanistische Spiritualität: Verbundenheit und Beziehung zur Menschheit,

    oft in Kombination mit Altruismus, Besinnung oder Liebe.

  • Begriffsdefinition

    - 6 -

    3. Natur Spiritualität: Verbundenheit und Beziehung zur Umwelt oder zur

    Natur, beispielsweise im bewussten Erleben von Sonnenuntergängen oder

    Naturwundern.

    4. Kosmische Spiritualität: Verbundenheit und Beziehung zur ganzen

    Schöpfung bzw. des Universums zum Beispiel beim Betrachten des

    Sternenhimmels oder im Rahmen einer Meditation.

    Der Begriff Spiritualität hat einen Bedeutungswandel erfahren, von der

    ursprünglich gemeinten christlichen Lebensgestaltung hin zu neuerdings

    esoterischen Praktiken, Lebenshilfe, alternativer Heilkunde im Rahmen des New

    Age (Utsch, et al., 2014, S. 32f sowie Egger 2013, S. 39). Somit kann Spiritualität

    als ein Modewort und ein Containerbegriff betrachtet werden (Utsch, et al., 2014, S.

    30 sowie Bucher, 2007 S. 23).

    Für die therapeutische Praxis heißt das, dass sich die Therapeutin oder der

    Therapeut einerseits die Vielfältigkeit der Verwendung der Begriffe bewusst machen

    soll und andererseits, dass nach der subjektiven Bedeutung nachgefragt werden

    muss, damit verstanden werden kann, was die Patientin oder der Patient unter dem

    Begriff versteht (Utsch, et al., 2014, S. 33f).

    3.2 Religion

    Religion, von lateinisch religio (= Gottesfurcht) bzw. in der christlichen

    Theologie von lateinisch religare (= zurückbinden, im Sinne von (Zurück)Bindung an

    Gott) meint einen durch Lehre und Satzungen festgelegten Glauben, ein Bekenntnis

    zu diesem Glauben oder eine Weltanschauung (Bibliographisches Institut, 2013,

    Eintrag Religion).

    Die Abgrenzung zwischen diesen beiden Begriffen ist schwierig, der

    Übergang ein fließender (Utsch, et al., 2014, S. 31). Die Begriffe werden

    demzufolge in der Literatur nicht einheitlich gebraucht, sondern entweder als

    gegensätzlich, deckungsgleich oder überlappend beschrieben (Verhagen & Cook,

    2010, S. 64). Eine ausführliche Erörterung der Begriffe findet sich bei Bucher (2007,

    S. 50ff), wo an selber Stelle beispielsweise folgende Gegenüberstellung zu finden

    ist:

  • Begriffsdefinition

    - 7 -

    Religion / Religiosität Spiritualität

    institutionell individuell

    dogmenorientiert erfahrungsorientiert

    exklusiver Wahrheitsanspruch viele religiöse Traditionen integrierend

    traditionalistisch innovativ

    festgelegt suchen, offen

    reglementierend befreiend

    kurz: schlecht kurz: gut

    Abbildung 1: Gegenüberstellung von Spiritualität und Religiosität (Bucher, 2007, S. 51)

    Mehrheitlich wird der Begriff Spiritualität umfassender gesehen als Religion.

    Deshalb definiert Bucher nach eingehender Analyse im Sinne einer Arbeitsdefinition

    Spiritualität als Verbundenheit und Beziehung zu

    einem Göttlichen, den Menschen übersteigenden, Geistigen, Letztgültigen,

    Heiligen,

    den Mitmenschen,

    der Natur.

    Eine Voraussetzung für das Gefühl von Verbunden sein ist, vom eigenen Ego

    abzusehen. In der logotherapeutischen Sprache entspricht dies dem Begriff der

    Selbsttranszendenz (Bucher, 2007, S. 56).

    In der weiteren Arbeit werden die Begriffe Spiritualität und Religion so

    verwendet, wie die Autorinnen und Autoren der jeweiligen Quellen sie gebraucht

    haben. Eigene Aussagen des Autors implizieren den oben von Bucher

    beschriebenen Spiritualitätsbegriff. Der Begriff Religion wird im Kontext von

    institutionalisierten Glaubensgemeinschaften eingesetzt.

  • Religion und Spiritualität allgemein

    - 8 -

    4 Religion und Spiritualität allgemein

    4.1 Spiritualität in der Gesundheitsforschung

    Die Themen Spiritualität und Religion werden in psychologischen und

    medizinischen Fachkreisen zunehmend intensiver diskutiert, was an der steigenden

    Anzahl der Publikationen deutlich wird. Seit einigen Jahren ist Spiritualität zu einem

    Leitbegriff der Gesundheitsforschung geworden. Dies lässt sich anhand der

    Publikationsanzahl religionspsychologischer Studien feststellen, wo eine

    Verschiebung der zentralen Begriffe beobachtbar ist. So schreibt Utsch (2011, S.

    86), „dass ab Mitte der 1990er Jahre die Anzahl der Studien mit dem Fokus

    ‚Religiosität‘ nach einem schnellen Anwachsen in den Jahren zuvor sehr abnahm,

    jedoch die Anzahl der Studien mit dem Thema ‚Spiritualität‘ rasant gewachsen sind.“

    Dieses zunehmende Interesse führt zu einer Vertiefung und Verbreiterung

    des Fachwissens in diesem Bereich. So wurden mittlerweile unter anderem von der

    American Psychological Association, dem weltweit größten Psychologenverband,

    mehrere Handbücher zu dem Themenkreis veröffentlicht (Hofmann, 2011, S. 174,

    sowie Utsch, et al., 2014, S. 114).

    Der fortgeschrittene Forschungsstand wird anhand des Umstandes

    ersichtlich, dass in den USA bereits Studien veröffentlicht wurden, die religiöse und

    spirituelle Interventionen evidenzbasiert in der Praxis untersuchten (Hook,

    Worthington, Davis, Jennings, Gartner & Hook, 2010, S. 1ff). In den USA wird der

    Umgang mit Spiritualität und Religiosität seit mehreren Jahren in der

    Psychotherapieausbildung thematisiert (Bucher, 2007, S. 47).

    Bonelli und Koenig (2013, zitiert nach Utsch, et al., 2014, S. 87) suchten in

    psychiatrischen und neurologischen Fachzeitschriften gezielt nach Studien, die sich

    auf das Thema Religion/Spiritualität beziehen. Dabei zeigte sich, dass in den letzten

    20 Jahren etwa 2500 Original-Studien das Thema behandelten. Allerdings wurden

    in 41 % der psychiatrischen und 69 % der neurologischen Zeitschriften keine

    einzige Studie veröffentlicht. Die Autoren sehen darin eine generelle

    Vernachlässigung des Themas in vielen hoch-qualitativen Fachzeitschriften. Die

    Ergebnisse der Studie sind in Kapitel 4.5 zusammengefasst.

  • Religion und Spiritualität allgemein

    - 9 -

    Im deutschsprachigen Raum wird das Thema seit etwa 2006 mit

    Schwerpunktheften in Fachzeitschriften sowie in einer kleinen Auswahl an

    Fachbüchern (beispielsweise Bucher, 2007 oder Utsch, et al., 2014), diskutiert,

    wobei die Etablierung des Themas weit hinter den USA zurückliegt, was auch

    kulturelle Ursachen haben mag (Utsch, et al., 2014, S. 68). Erst in den letzten

    Jahren ist die Beschäftigung mit Spiritualität aus wissenschaftlicher Sicht zumindest

    denkbar geworden (Hofmann, 2011, S. 174).

    Eine selbst durchgeführte Abfrage in Google Scholar (einer Suchmaschine

    zur Literaturrecherche wissenschaftlicher Dokumente) mit der Suchabfrage

    Spiritualität Psychotherapie führte, aufgeteilt nach Erscheinungsjahr, zu folgenden

    Ergebnissen:

    Jahr Anzahl der Ergebnisse Jahr Anzahl der Ergebnisse

    1900-1950 25 2002 230

    1951-1960 24 2003 260

    1961-1970 40 2004 351

    1971-1980 40 2005 400

    1981-1985 43 2006 495

    1986-1990 92 2007 540

    1990-1995 166 2008 601

    1996 59 2009 807

    1997 78 2010 836

    1998 90 2011 884

    1999 144 2012 907

    2000 214 2013 1020

    2001 165 2014 926

    Tabelle 2: Anzahl der Suchergebnisse in Google Scholar der Abfrage Spiritualität

    Psychotherapie aufgeteilt nach Publikationsjahr (eigene Recherche, Daten erhoben am

    22.01.2015)

  • Religion und Spiritualität allgemein

    - 10 -

    Aus dieser kurzen Analyse wird ersichtlich, dass die Publikationszahl in den

    letzten Jahren deutlich zugenommen hat.

    Ein weiteres Indiz für den Einzug des Themas Spiritualität/Religion in die

    Gesundheitsforschung ist, dass die Weltgesundheitsorganisation WHO in ihrem

    Fragebogen zur Erhebung gesundheitsbezogener Lebensqualität seit 1995 den

    Themenbereich Spirituality/Religion/Personal beliefs explizit miteinbezogen hat

    (World Health Organization, 2012 sowie Utsch, et al., 2014, S. 28).

    Dass der wissenschaftliche Rahmen bisweilen auch überschritten werden

    kann, zeigt ein von Miller (The Oxford Handbook of Psychology and Spirituality,

    2012) herausgegebenes Lehrbuch im weltweit größten Universitätsverlag, der

    Oxford University Press. In diesem Buch widmet die Autorin dem letzten Kapitel der

    postmaterialistischen spirituellen Wissenschaft, wobei sie sich der

    Quantenmechanik bedient und eine esoterische Weltanschauung im

    (vermeintlichen) wissenschaftlichen Rahmen transportiert. So schreibt sie von

    technischen Hilfsmitteln, die zu einer Kommunikation mit einer größeren spirituellen

    Wirklichkeit beitragen können. Der Mensch selbst sei nur eine Erweiterung eines

    universalen Bewusstseins. Utsch, Bonelli und Pfeifer (2014, S. 81) sehen darin eine

    ideologische Heilslehre, die auf wissenschaftliche Grundlagen und Begründungen

    verzichtet. „Es ist zu erwarten, dass auch bei uns in den nächsten Jahren vermehrt

    weltanschaulich begründete Psychotherapien populär werden, die einer

    sachgemäßen Einordnung bedürfen“ (Utsch, et al., 2014, S. 81).

    4.2 Eine kurze Historie der Spiritualität in der Psychotherapie

    Die Psychotherapie ist ein Kind der Aufklärung und stark vom

    naturwissenschaftlichen Bild und evidenzbasierter Medizin geprägt. In der

    Forschung werden weiche Faktoren wie Glaubenseinstellung und moralische Werte

    gerne übersehen, vor allem wenn es um die Finanzierung von Psychotherapie

    durch die Krankenkassen geht. Deshalb wird das Thema Religion und Spiritualität in

    der Psychotherapiewissenschaft bislang eher stiefmütterlich behandelt (Utsch,

    Bonelli & Pfeifer, 2014, S. 2).

  • Religion und Spiritualität allgemein

    - 11 -

    Dabei ist die Geschichte der Beziehung von Religion und Psychotherapie so

    alt wie die Geschichte der modernen Psychotherapie selbst. Sigmund Freud, der

    Begründer der Psychoanalyse, sah in der Religion etwas Pathologisches, eine

    universelle Zwangsneurose und wurde so einer der treibenden Kräfte in der

    Religionskritik seiner Zeit (Bucher, 2007, S. 48). Dabei übernahm Freud seine

    Einschätzung von Ludwig Feuerbach bzw. Pierre Janet. Er beanspruchte für sich

    die Deutungshoheit über die Weltanschauliche Einstellung seiner Patientinnen und

    Patienten und betrachtete religiöse Erfahrungen als illusionäres Wunschdenken

    (Utsch, et al., 2014, S. 49).

    Freud verhalf der Psychotherapie, die er als Wissenschaft betrachtete, zur

    Eigenständigkeit, indem er die Unabhängigkeit von der Religion postulierte und sich

    somit bewusst von ihr abspaltete. Diese resolute Beantwortung der Gretchenfrage

    bei Freud, die wenig mit therapeutischer weltanschaulicher Abstinenz zu tun hat,

    prägt die Psychotherapieszene bis heute (Utsch, et al., 2014, S. 48f).

    Die Psychoanalyse war mit ihrer Religionskritik nicht allein. Auch Albert Ellis,

    einer der Urväter der Verhaltenstherapie, betrachtete noch in den 1980er Jahren

    religiöse Menschen als psychisch krank bzw. infantil (Bucher, 2007, S. 47).

    Lange wurden religiöse Einstellungen als Beeinträchtigung gesehen bzw. als

    Auslöser für Störungen, was sich am Begriff der ekklesiogenen Neurosen (wörtlich:

    durch die Kirche verursachte Neurosen) offenbart. Der Begriff wurde geprägt von

    Eberhard Schaetzing im Jahr 1955 (Grom, 2012, S. 194).

    Dass nicht alle Therapieschulen die Religionskritik teilten, wird am Beispiel

    von Carl Gustav Jung ersichtlich, der sich unter anderem wegen unterschiedlichen

    Ansichten zur Religionsfrage von seinem Lehrer Sigmund Freud abspaltete. Die von

    Jung begründete analytische Psychologie machte ihn zu einem Vorläufer der

    Integration von Religion/Spiritualität und Psychotherapie (Bucher, 2007, S. 47). Von

    den Vertretern der Transpersonalen Psychologie und Psychotherapie wird Jung als

    Pionier und Klassiker betrachtet (Stumm, 2007, S. 176, Bucher, 2007, S. 151).

  • Religion und Spiritualität allgemein

    - 12 -

    In den 1950er Jahren begann in den USA die wissenschaftliche

    Beschäftigung mit der Religiosität, etwa durch die Studien von Gordon W. Allport

    (Utsch, et al., 2014, S. 51).

    Der Weg von der Ablehnung zu einer Annäherung von Spiritualität und

    Psychotherapie wurde durch die sogenannte spirituelle Wende seit den 1968er

    Jahren eingeleitet. Seit damals wurde versucht, spirituelle Methoden mit

    professioneller Psychotherapie und Beratung zu verbinden. Ihren Höhepunkt hat die

    Integration von Spiritualität in die Psychotherapie in eigens entwickelten

    Therapieansätzen, wie beispielsweise die Transpersonale Psychologie von Ken

    Wilber, in der spirituelle Erlebnisse untersucht, bewusst erzeugt (durch

    beispielsweise holotropes Atmen) und therapeutisch genutzt werden (Utsch, et al.,

    2014, S. 79).

    Seit den 1980er Jahren wird das unterstützende Potenzial der

    Glaubenseinstellungen in wissenschaftlichen Studien untersucht, womit eine Wende

    in der Betrachtung von Religion eingeleitet wurde, die sich mit „vom Gegensatzpaar

    zu komplementären Partnern“ beschreiben lässt (Grom, 2012, S. 195).

    Neuere Ansätze versuchen weltanschauliche Fragen im Zusammenhang mit

    psychischen Erkrankungen in der Therapie zu berücksichtigen, was dazu führt, dass

    das Bio-Psycho-Soziale-Modell der Krankheitsgenese um eine religiös-spirituelle

    Dimension erweitert wird (Grom, 2012, S. 195).

    Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die besondere Stellung der

    Existanzanalyse und Logotherapie nach Viktor E. Frankl (in weiterer Folge

    Logotherapie genannt), die sich immer schon offen gegenüber Spiritualität zeigte

    bzw. die Nähe zur Religion suchte, was am Titel des von Viktor Frankl 1946

    erschienenen Buches Ärztliche Seelsorge deutlich wird. Die Religionsfrage ist

    jedoch auch innerhalb der Therapierichtungen, die sich auf Viktor Frankl berufen

    (die Existenzanalyse und Logotherapie sowie die Existenzanalyse), umstritten, was

    sich beispielsweise in dem in den Jahren 1994/1995 teils heftig geführten

    Meinungsaustausch widerspiegelt. Zur ausführlicheren Beschreibung der Positionen

    sowie der logotherapeutischen Perspektive in der Religionsfrage siehe Kapitel 8.

  • Religion und Spiritualität allgemein

    - 13 -

    4.3 Religion und Spiritualität in Europa

    Die Bedeutung der Religion hat sich in den letzten 50 Jahren stark verändert.

    Der Trend geht weg von institutionalisierten Kirchen und hin zu einem Glauben an

    eine höhere Macht. Somit bezeichnen sich viele Menschen nicht als religiös, aber

    zunehmend als spirituell. Dies zeigt sich in sinkenden Mitgliedszahlen in den großen

    Glaubensgemeinschaften, aber auch am Boom der esoterischen Ratgeberliteratur

    und spirituellen Gesundheitsangeboten (Utsch, Bonelli & Pfeifer, 2014, S. 26).

    Im Alltag wird jedoch meist nicht zwischen Religiosität und Spiritualität

    unterschieden. Die hohe Korrelation der beiden Konstrukte ist länderübergreifend

    beobachtbar (Pickel, 2013, S. 19).

    Folgende Grafik aus dem Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung bildet

    einen Ländervergleich in der Frage der Wichtigkeit von Religion und Spiritualität in

    der Normalbevölkerung ab.

    Abbildung 2: Wichtigkeit von Religion und Spiritualität für das Leben (Angaben in %)

    (adaptiert aus Pickel, 2013, S. 18)

  • Religion und Spiritualität allgemein

    - 14 -

    Bemerkenswert erscheint, dass in den europäischen Daten nur in

    Deutschland und der Schweiz die Werte von Spiritualität unter denen von Religion

    liegen bzw. gleich hoch sind (Pickel, 2013, S. 19).

    Aus der hohen Korrelation von Religiosität und Spiritualität kann gefolgert

    werden, dass derzeit weder von einer starken Individualisierung noch von einer

    spirituellen Revolution (siehe Einleitung) gesprochen werden kann (Pickel, 2013, S.

    20).

    Die Daten legen den Schluss nahe, dass sich ein religiöser Wandel sehr

    langsam, über Generationen hinweg vollzieht. Dabei spielt die religiöse Sozialisation

    eine entscheidende Rolle (Pickel, 2013, S. 17).

    Ein Ergebnis der Untersuchung lautet: „Von einem säkularen Europa kann

    trotz Säkularisierung nicht gesprochen werden.“ Vielmehr sei eine religiöse

    Pluralisierung in Europa zu beobachten (Pickel, 2013, S. 11f).

    Wird hingegen die Frage etwas anders formuliert und interpretiert, bilden sich

    andere Zahlen als Ergebnis ab. Am Beispiel der Schweiz könnte anhand der

    Abbildung 2 eine (wenn auch etwas fragwürdige) Interpretation lauten, dass sich

    knapp 45% der Schweizer als religiös bezeichnen. Folgende Grafik, ebenfalls aus

    dem Religionsmonitor, zeichnet jedoch ein konträres Bild.

  • Religion und Spiritualität allgemein

    - 15 -

    Abbildung 3: Zentralität von Religiosität im Vergleich (Angaben in %) (adaptiert aus Pickel,

    2013, S. 16)

    Befragt wurde, ob sich die Personen als hoch-, mittel-, wenig- oder nicht-

    religiös einschätzen würden. Die in der Grafik abgebildeten 83% (wenn hoch- und

    mittelreligiöse zusammengezählt werden) bei der Schweiz ergeben ein ganz

    anderes Bild als jene 45% in der Abbildung 2.

    Aus diesem kleinen Beispiel lässt sich schlussfolgern, dass es gerade im

    Bezug um Religion und Spiritualität sehr stark auf die konkrete Fragestellung sowie

    die Formulierung ankommt, welche Ergebnisse erzielt werden. Dieser Faktor ist

    gerade bei der Interpretation von Daten über nicht eindeutig definierte Begriffe stets

    zu berücksichtigen und erschwert eine Vergleichbarkeit der einzelnen

    Studienergebnisse (Utsch, et al., 2014, S. 32).

    4.4 Unterschiede zwischen Europa und den USA

    Die meisten Studien zu dem Thema Religion/Spiritualität stammen aus den

    USA, wo die religionspsychologische Forschung eine lange Tradition hat. Kulturelle

    Unterschiede zwischen den USA und Europa, beispielsweise die stärkere soziale

    Funktion des kirchlichen Gemeindelebens in den USA, lassen einen Vergleich der

  • Religion und Spiritualität allgemein

    - 16 -

    Ergebnisse nur bedingt zu, wie mehrere Autorinnen und Autoren übereinstimmend

    formulieren (Richard & Freund, 2012, S. 202; Utsch, et al., 2014, S. 3 und S. 31;

    Jeschke, 2012, S. 131; sowie Bucher, 2007, S. 128).

    Beispielsweise wird in Deutschland die religiöse Haltung vermehrt als

    Privatsache angesehen. In den USA hingegen hat Religion einen stärker

    öffentlichen Charakter, es fällt leichter darüber zu sprechen (Richard & Freund,

    2012, S. 202 sowie Utsch, et al., 2014, S. 112).

    In der folgenden Übersicht wird der unterschiedliche kulturelle Hintergrund

    zwischen der BRD und den USA anhand der Frage, ob sich die untersuchten

    Personen nun als religiös, spirituell, beides oder keines von beiden bezeichnen,

    ersichtlich.

    Abbildung 4: Religiös-spirituelle Selbstbezeichnung in den USA/BRD (aus Utsch, et al., 2014,

    S. 32)

    Bemerkenswert ist der Unterschied zwischen den USA und der BRD in den

    Antwortkategorien gleichermaßen religiös und spirituell bzw. weder religiös noch

    spirituell (Utsch, et al., 2014, S. 31).

    Die amerikanische Religionspsychologie pflegt überdies einen viel

    pragmatischeren Zugang zu dem Thema als die deutsche. So wird in den USA

    vermehrt nach den Auswirkungen einer alltäglichen spirituellen Praxis auf die

    Lebens- und Beziehungsgestaltung und weniger mit den dahinter liegenden

    Bewusstseinszuständen an sich geforscht (Utsch, Bonelli & Pfeifer, 2014, S. 3).

  • Religion und Spiritualität allgemein

    - 17 -

    4.5 Gesundheitliche Auswirkungen von Spiritualität und Religion

    Die Auswirkungen von Religion und Spiritualität auf die Gesundheit sind

    differenziert zu betrachten. Eine Zusammenfassung stellte der amerikanische

    Psychologe Kenneth I. Pargament wie folgt dar (Pargament, 2002, S. 177f; siehe

    auch Utsch, Bonelli & Pfeifer, 2014, S. 4):

    1. Einige Formen der Religion sind hilfreicher als andere. Positive Faktoren wären

    demnach:

    o eine internalisierte, intrinsisch motivierte Religion,

    o aufgebaut auf der Überzeugung eines größeren Sinn des Lebens,

    o eine sichere Gottesbeziehung

    o und ein Gefühl der spirituellen Verbundenheit mit anderen.

    Vorzeichen einer Beeinträchtigung durch Religion sind erkennbar bei:

    o einer aufgezwungenen, nicht hinterfragten Religion,

    o einer schwach ausgeprägten Beziehung zu Gott und der Welt.

    2. Sogar umstrittene (beispielsweise fundamentalistische) Formen der Religion,

    zeigen diese Vor- und Nachteile. So wirkt sich Fundamentalismus stärkend

    sowohl auf das persönliche Wohlbefinden, als auch auf die Neigung zu

    Vorurteilen gegenüber anders eingestellten Gruppen aus.

    3. Nicht jeder profitiert in ähnlicher Weise von der Religion. Religiös stärker

    Engagierte und soziale Randgruppen (genannt werden Alte, Schwarze, Frauen

    und Arme) scheinen stärker zu profitieren.

    4. Religion ist hilfreicher (und vermutlich auch schädlicher) in Stresssituationen, wo

    Menschen an die Grenzen ihrer persönlichen und sozialen Ressourcen gebracht

    werden.

  • Religion und Spiritualität allgemein

    - 18 -

    5. Die Wirksamkeit der Religion hängt vom Grad ihrer Integration in das eigene

    Leben ab. Demnach profitieren Menschen, wenn:

    o ein Großteil ihres Umfelds ihren Glauben unterstützt,

    o wenn die Ziele mit dem persönlichen Gewissen übereinstimmen,

    o die erhaltenen religiösen Anweisungen und Lösungsvorschläge für die

    aktuelle Problemsituation geeignet erscheinen

    o und die religiösen Praktiken und Einstellungen miteinander

    harmonisieren.

    Francis, Jewell & Robbins (2010) untersuchten den Zusammenhang

    zwischen Sinn im Leben (purpose in life) und Religiosität. Dabei zeigte sich eine

    Korrelation zwischen Sinn im Leben und intrinsischer Religiosität (intrinsic

    religiosity, das Hauptmotiv für die Religionsausübung liegt in der Religion selbst,

    gelebte Religion), nicht jedoch zwischen extrinsischer Religiosität (extrinsic

    religiosity, beschrieben als Religion als Mittel zum Zweck beispielsweise für

    Sicherheit, Trost und Gemeinschaft) oder religiöser Suche (quest religiosity) nach

    letztgültigen Antworten (Francis, Jewell & Robbins, 2010, S. 2ff).

    Ein systematic evidence-based Review der Studien zu Religion und

    Spiritualität und deren Einfluss auf psychische Erkrankungen für den Zeitraum von

    1990 – 2010 wurde von Bonelli & Koenig (2013, S. 657) durchgeführt. Es zeigten

    sich sowohl positive (72,1% der Studien), gemischte (18,6%) als auch negative

    (4,7%) Korrelationen von Religion und Spiritualität mit psychischer Gesundheit.

    Aufgeschlüsselt nach den ICD-10-Diagnosegruppen der psychischen Erkrankungen

    ergab sich folgendes Bild:

    Eine positive Korrelation in diesem Zusammenhang meint, dass psychische

    Gesundheit (definiert als das Fehlen von psychischer Krankheit) und Religiosität

    häufiger gemeinsam auftreten. Aus diesen Auftretenswahrscheinlichkeiten lassen

    sich nicht zwingend Aussagen über Ursache und Wirkung ableiten.

  • Religion und Spiritualität allgemein

    - 19 -

    ICD-10-Kategorie Korrelation mit psychischer Gesundheit Evidenzgrad

    F0 Demenz Positive Korrelation mittlere Evidenz

    F1 Sucht Positive Korrelation gute Evidenz

    F2 Schizophrenie Widersprüchliche Daten ungenügende Evidenz

    F3 Depression Positive Korrelation gute Evidenz

    F3 Suizid Positive Korrelation gute Evidenz

    F3 Bipolare Störung Widersprüchliche Daten bzw. negative Korrelation

    ungenügende Evidenz

    F4 Stress-related (Neurosen) Positive Korrelation mittlere Evidenz

    F4 Zwang keine Daten

    F4 Angst/Phobien keine Daten

    F5 Essstörungen keine Daten

    F5 Sexualstörungen keine Daten

    F5 Schlafstörungen keine Daten

    F6 Persönlichkeitsstörungen keine Daten

    F7 Geistige Behinderung keine Daten

    F8 Entwicklungsstörungen keine Daten

    F9 Kindheit/Jugend keine Daten

    Tabelle 3: Datenlage der Religiositätsforschung in der Psychiatrie. (adaptiert nach Bonelli &

    Koenig, 2013, S. 669)

    Hervorstechende Ergebnisse der Studie sind, dass Religiosität durchgehend

    mit niedriger Neigung zu Depression, Suizid oder Substanzabhängigkeit korreliert

    (Bonelli & Koenig, 2013, S. 669).

    Lee & Baumann (2013) befragten deutsche Psychiaterinnen und Psychiater

    mit dem Ergebnis, dass die Mehrheit einen positiven Effekt von

    Religiosität/Spiritualität auf die psychische Gesundheit ihrer Patientinnen und

    Patienten sieht. Bemerkenswert ist, dass medizinische Fachkräfte, die selbst

    angeben religiös/spirituell zu sein, die Effektstärke von Spiritualität/Religion bei ihren

    Patientinnen und Patienten signifikant höher bewerten. Die Autorin und der Autor

    empfehlen, dass sich Psychiaterinnen und Psychiater mit ihrer eigenen

  • Religion und Spiritualität allgemein

    - 20 -

    Religiosität/Spiritualität beschäftigen und ihre Annahmen überprüfen sollen, da ihre

    religiöse/spirituelle Einstellung einen signifikanten Effekt auf ihre Therapie zu haben

    scheint (Lee & Baumann, 2013, S. 1 sowie S. 7).

    Zusammenfassend zeigt eine Vielzahl von Studien eine positive Korrelation

    zwischen körperlicher Gesundheit und persönlicherem Glauben. „Wer über positive

    Glaubensüberzeugungen verfügt, ist gesünder, kann zusätzliche

    Bewältigungsstrategien im Umgang mit Leid und Krankheit einsetzen und genießt

    eine höhere Lebenszufriedenheit, ja sogar eine höhere Lebenserwartung“ (Utsch, et

    al., 2014, S. 112).

    Vorsicht ist jedoch geboten, angesichts solcher Befunde eine zu hohe

    Erwartung, eine Heilserwartung, anzunehmen. Die bahnbrechenden medizinischen

    Fortschritte nähren zwar Hoffnungen und Sehnsüchte nach Unversehrtheit und

    Heilung, doch sind diese Ansprüche und Erwartungen an die Medizin differenzierter

    zu betrachten. So unterscheidet Utsch zwischen einer Heilung als (größtmögliche)

    Wiederherstellung von Gesundheit und einer religiösen Heilserwartung, die einen

    gänzlich neuen Menschen zum Ziel hat (Utsch, et al., 2014, S. 112).

    Zugang Heilbehandlung Heilserwartung, Heilsvermittlung

    Profession (Psycho)Therapie Falsch verstandene Religion

    Ziel Wiederherstellung der Gesundheit Gänzlich neuer Mensch

    Mittel Wissenschaftlich kontrollierte Bedingungen

    Vertrauensvolle Erwartung

    Tabelle 4: Heilbehandlung und Heilsvermittlung im Vergleich (eigene Darstellung, adaptiert

    nach Utsch, et al., 2014, S. 112)

    Wenn die Religion als ein Instrument der seelischen Heilbehandlung

    betrachtet wird, wird sie zweckentfremdet und trivialisiert. Utsch sowie eine Vielzahl

    von Autorinnen und Autoren sprechen sich klar gegen eine Instrumentalisierung

    einer Religion in Form einer Glaubensmedizin aus, die beispielsweise in einer

    Verordnung von religiösen Praktiken zur Behandlung einer Erkrankung analog der

    eines Medikamentes geschehen könnte (Utsch, et al., 2014, S. 113).

  • Staatliche Richtlinien zu dem Thema

    - 21 -

    5 Staatliche Richtlinien zu dem Thema

    5.1 USA, Großbritannien und weltweite Bemühungen

    Der amerikanische Psychiaterverband APA, die Amererican Psychiatric

    Association, veröffentlichte bereits 1990 Guidelines zum Umgang von Psychiatern

    mit religiösen Themen. So wurde beispielsweise der Respekt vor den

    Glaubenseinstellungen der Patientinnen und Patienten gefordert, vor dem

    Aufzwingen von religiösen Haltungen gewarnt und ethische und professionelle

    Grenzen gesetzt, die sicherstellen sollen, dass mit potenziellen Konflikten in der

    Praxis professionell umgegangen wird (Cook, 2013, S. 3).

    In wissenschaftlichen Fachkreisen wird das Thema Religion und Spiritualität

    in der Psychiatrie/Psychotherapie spätestens seit 2005 diskutiert. Damals wurde

    von der Section on Religion, Spirituality and Psychiatry (SRSP) der World

    Psychiatrics Association (WPA) ein Diskussionspapier veröffentlicht und um

    Stellungnahmen gebeten (Verhagen & Cook, 2010, S. 615). Die Themen wurden

    daraufhin in verschiedenen Arbeitskreisen kontrovers diskutiert, wobei mehrere

    Positionspapiere und Konsensus-Vorschläge verabschiedet wurden. Bisher konnte

    aufgrund kultureller und historischer Bedenken jedoch keine gemeinsame

    Stellungnahme verabschiedet werden (Cook, 2013, S. 3f).

    In Großbritannien beschäftigt sich die Arbeitsgruppe The Spirituality and

    Psychiatry Special Interest Group (SPSIG) des britischen Royal College of

    Psychiatrists mit dem Thema, etwa in Fachtagungen oder gezielten Fortbildungen.

    Im Jahr 2011 brachte sie ein Positionspapier mit Richtlinien zum Umgang mit

    Religion und Spiritualität für Psychiaterinnen und Psychiater heraus, das 2013

    aktualisiert wurde (Cook, 2013). Religiöse oder spirituelle Rituale sollen als

    mögliche Ergänzung, nicht jedoch als Ersatz für professionelle

    Behandlungsmethoden integriert werden. Die abschließenden Empfehlungen

    werden im Folgenden dargestellt:

    1. Eine taktvolle und sensible Exploration der religiösen und spirituellen

    Überzeugungen soll routinemäßig erwogen werden, da sie eine essenzielle

    Komponente der klinischen Anamnese darstellen kann.

  • Staatliche Richtlinien zu dem Thema

    - 22 -

    2. Der Umgang mit den spirituellen und religiösen Überzeugungen soll mit

    einfühlsamer Achtung und Respekt geschehen, auch wenn die spirituellen und

    religiösen Überzeugungen von Patientinnen und Patienten im Verdacht stehen,

    sich negativ auf die Gesundheit auszuwirken.

    3. Psychiatrische Fachkräfte sollen ihre professionelle Position nicht missbrauchen,

    um die Patientinnen und Patienten von ihrer eigenen Ansicht abzubringen bzw.

    ihnen eine andere Ansicht aufzuzwingen.

    4. Psychiaterinnen und Psychiater sollen sich für Richtlinien in ihren

    Organisationen engagieren, die Gleichberechtigung, Respekt und gegenseitiges

    Verstehen in Bezug auf Religion und Spiritualität fördern.

    5. Eine Zusammenarbeit mit Glaubensgemeinschaften bzw. deren Priesterinnen

    und Priestern bzw. Vertreterinnen und Vertretern zum Wohle der Patientinnen

    und Patienten wird empfohlen.

    6. Der Glaube bzw. Nicht-Glaube von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern soll

    respektiert bzw. sensibel damit umgegangen werden.

    7. Die Reflexion des eigenen Glaubens soll im Rahmen der Ausbildung bzw. in

    Weiterbildungen stattfinden (Cook, 2013, S. 10).

    Im Fachbereich der Psychologie stellt die American Psychological

    Association (ebenfalls mit APA abgekürzt) in ihren General Principles klar, dass die

    kulturellen Besonderheiten von jedem Menschen im Sinne der Menschenrechte und

    Menschenwürde zu respektieren sind, wozu Religion ausdrücklich gezählt wird

    (American Psychological Association, 2002).

    Im Jahr 2007 verabschiedete die APA eine Resolution zum Umgang mit

    Religion, in der sie sich klar gegen Vorurteile und Diskriminierung aufgrund des

    persönlichen Glaubens, Glaubenspraktiken und religiösen Hintergrund ausspricht.

    Sie spricht sich klar für religiöse und spirituelle Toleranz, Freiheit und Respekt aus

    und stellt ihre religiöse Neutralität klar.

    Des Weiteren wird klargestellt, dass Psychologinnen und Psychologen keine

    Wertungen über religiöse und spirituelle Lehren treffen sollen, wohl aber über

    psychologische Implikationen über religiöse/spirituelle Praktiken und Lehren, falls

    solche existieren.

  • Staatliche Richtlinien zu dem Thema

    - 23 -

    Psychologinnen und Psychologen sollen bedacht sein, dass ihre eigenen

    spirituellen oder religiösen Überzeugungen den Vorrang von wissenschaftlichen

    Erkenntnissen in ihrer Arbeit nicht verletzen (American Psychological Association,

    2007, S. 3f).

    In Deutschland findet die Beschäftigung mit dem Thema erst seit kurzem

    statt, weshalb die Fachgesellschaften noch keine solch deutlichen Richtlinien

    verfasst haben (Utsch, Bonelli & Pfeiffer, 2014, S. 6).

    5.2 Die Richtlinien in Österreich

    In Österreich wird in der Ethikrichtlinie des Bundesministeriums für

    Gesundheit für klinische Psychologinnen und klinische Psychologen sowie für

    Gesundheitspsychologinnen und Gesundheitspsychologen lediglich festgehalten,

    dass das Vertrauens- und Abhängigkeitsverhältnis nicht missbraucht werden darf

    (Bundesministerium für Gesundheit, 1995, S. 5).

    Im Berufskodex für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten vom

    österreichischen Bundesministerium für Gesundheit wird näher definiert, dass ein

    Missbrauch vorliegt, wenn Therapeutinnen und Therapeuten ihren

    psychotherapeutischen Aufgaben untreu werden und persönliche Interessen z.B.

    religiöser Natur befriedigt werden (Bundesministerium für Gesundheit, 2012, S. 8).

    Aus diesen Richtlinien leitete das berufsethische Gremium des

    Österreichischen Bundesverbandes für Psychotherapie ÖBVP ab, dass unter

    persönlichen Interessen neben den erwähnten religiösen Motiven auch esoterische,

    spirituelle und religiöse Werthaltungen und Praktiken fallen. Ein derartiges Angebot

    im Rahmen der Psychotherapie würde einen Missbrauch darstellen.

    Des Weiteren wird klargestellt, dass Patientinnen und Patienten das Recht

    haben, spirituelle und religiöse Themen in die Therapie einzubringen, auf die von

    therapeutischer Seite empathisch eingegangen und stützend interveniert werden

    kann. Die Verantwortung, was in der Therapie geschieht und mit welchem

    Hintergrund, liegt aber eindeutig bei der Psychotherapeutin oder beim

    Psychotherapeuten (Frei, 2012, S. 12).

  • Staatliche Richtlinien zu dem Thema

    - 24 -

    5.3 Die Esoterik-Richtlinie

    Das Bundesministerium für Gesundheit stellte im Rahmen einer 2014

    erschienenen Richtlinie mit dem Titel Richtlinie für Psychotherapeutinnen und

    Psychotherapeuten zur Frage der Abgrenzung der Psychotherapie von

    esoterischen, spirituellen und religiösen Methoden, in weiterer Folge (dem

    Dokumententitel richtlinieabgrenzungesoterik.pdf angelehnt) als Esoterik-Richtlinie

    bezeichnet, klar, dass „alle Arten von esoterischen, spirituellen und religiösen

    Methoden, wie z.B. Humanenergetik, Geistheilung, Schamanismus und viele

    andere“ strikt von Psychotherapie zu trennen sind und somit kein Teil von

    Psychotherapie sein können (Bundesministerium für Gesundheit, 2014, S. 2).

    Ferner wird präzisiert, dass „die persönliche Weltanschauung, wie z.B. auch

    die religiöse Einstellung, der Psychotherapeutin (des Psychotherapeuten) nicht aktiv

    und steuernd in den Behandlungsprozess einfließen darf“ (Bundesministerium für

    Gesundheit, 2014, S. 3).

    Und weiter: „Wenn Patientinnen (Patienten) das Thema Religion, Gebete,

    spirituelle Rituale als für sich selbst wesentlich ‚mit in die Stunde bringen‘, gilt es –

    wie wohl bei allen anderen Themen auch – gemeinsam mit der Patientin (dem

    Patienten) zu verstehen, welche Bedeutung dieses für sie (ihn) und in ihrem

    (seinem) Leben hat und unter Umständen einen Bezug zur konkreten (Leidens-)

    Situation herzustellen. Aktives Einbringen solcher Ansätze und Handlungen wie

    beispielsweise Gebete, esoterische Rituale durch die Psychotherapeutin (den

    Psychotherapeuten) verstößt gegen die psychotherapeutische Berufsethik […]“

    (Bundesministerium für Gesundheit, 2014, S. 4).

    „Bekehrung, Heilsversprechungen, missionarische Ansätze bzw. religiöse

    oder esoterische Praktiken stehen somit in krassem Widerspruch zum

    Selbstverständnis von Psychotherapie als wissenschaftlich fundierte

    Krankenbehandlungsmethode“ (Bundesministerium für Gesundheit, 2014, S. 5).

    Abschließend wird abermals betont, dass „weder Gebete, religiöse Rituale

    oder Vergebensarbeit [sic!] noch andere religiös, spirituell oder esoterisch

    begründete Handlungen zu einer umfassenden und stringenten

  • Spiritualität bei Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten

    - 25 -

    psychotherapeutischen Methode, die eine geplante Krankenbehandlung ermöglicht,

    gehören können“ (Bundesministerium für Gesundheit, 2014, S. 6).

    Ob und wie Spiritualität im Kontext dieser Richtlinie in die Psychotherapie

    integriert werden kann, wird im Diskussionsteil unter Kapitel 13.1.3 eingehend

    erörtert.

    6 Spiritualität bei Psychotherapeutinnen und

    Psychotherapeuten

    6.1 Datenlage zur spirituellen Einstellung

    Vor dem bisher erörterten Hintergrund stellt sich die Frage, wie spirituell nun

    Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten im Vergleich zur Normalbevölkerung

    sind.

    Einige Untersuchungen aus dem amerikanischen Raum zeigen, dass sich

    Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten weniger spirituell und religiös

    eingestellt sind als der Durchschnitt der Normalbevölkerung (Bucher, 2007, S. 48ff

    sowie Utsch, et al., 2014 S. 7 und 49). Dies mag mit dem geschichtlichen

    Hintergrund der Psychotherapie zusammenhängen (siehe Kapitel 4.2).

    Eine internationale Studie (Smith & Orlinsky, 2004, zitiert nach Hofmann &

    Walach, 2011, S. 179) untersuchte die Spiritualität und Religiosität bei

    Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in den USA, Kanada und

    Neuseeland mit folgendem Ergebnis:

    Religiosität

    Niedrig Hoch

    Spiritualität

    Hoch 50,7 % 27 %

    Niedrig 20,7 % 1,6 %

    Tabelle 5: Spiritualität und Religiosität bei männlichen und weiblichen Psychotherapeuten aus

    den USA, Kanada und Neuseeland (Smith & Orlinsky, 2004, Daten nach Hofmann & Walach,

    2011, S. 179)

  • Spiritualität bei Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten

    - 26 -

    Beim Vergleich mit den Daten aus den USA die Allgemeinbevölkerung

    betreffend (siehe Abbildung 4 in Kapitel 4.4) fällt der mit unter 30 % niedrige Wert

    bei Religiosität ins Auge. Gleichzeitig werden mit über 75 % sehr hohe Werte bei

    Spiritualität und/oder Religiosität erzielt, die im Bereich der Normalbevölkerung

    liegen (Hofmann & Walach, 2011, S. 180).

    Wie sieht die Studienlage aber für den deutschsprachigen Raum aus? In

    Deutschland wurde erstmalig von Hofmann und Walach (2011) eine repräsentative

    Umfrage unter männlichen und weiblichen psychologischen Psychotherapeuten

    zum Thema Spiritualität und Religiosität durchgeführt. Dabei zeigte sich, dass 65%

    der Befragten an eine höhere Realität glauben und knapp zwei Drittel sich als

    religiös, spirituell oder eine Kombination von beidem betrachten.

    Die Autorin und der Autor schlussfolgern, dass zwar die Psychotherapie in

    ihrem Selbstverständnis als Wissenschaft eine säkulare Disziplin sei, dies jedoch

    nicht auf die einzelnen männlichen oder weiblichen Psychotherapeuten zutreffe

    (Hofmann & Walach, 2011, S. 187).

    Freund & Richard (2012, S. 203) fassten die Ergebnisse aus zwei weiteren

    Untersuchungen im deutschsprachigen Raum zusammen und stellten fest, dass das

    verallgemeinernd religionskritische Bild von Psychotherapeutinnen und

    Psychotherapeuten in den Untersuchungen nicht bestätigt werden konnte. Vielmehr

    betrachten sich männliche und weibliche Psychotherapeuten sogar häufiger

    spirituell als die Allgemeinbevölkerung.

    Die Autoren vermuten, dass dies mit der Kritik an institutionalisierten Kirchen

    zusammenhängen kann, aber die Auseinandersetzung mit dem Transzendenten

    trotzdem einen wichtigen Stellenwert einnimmt (Freund & Richard, 2012, S. 203

    sowie Hofmann, 2011, S. 190).

  • Spiritualität bei Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten

    - 27 -

    6.2 Der Einfluss des Glaubens auf die therapeutische Praxis

    In den letzten Jahren wurde intensiv geforscht, wie sich der religiös-

    weltanschauliche Hintergrund der Therapeutinnen und Therapeuten auf die

    praktische Psychotherapie auswirkt. Dabei zeigte sich anhand von qualitativen und

    quantitativen Studien, dass dieser den Verlauf der Psychotherapie wesentlich

    beeinflusst und mitbestimmt. Die Ergebnisse aus dem englischsprachigen Raum

    decken sich im Wesentlichen dabei mit denen aus dem deutschsprachigen

    (Hofmann, 2011, S. 176).

    Hofmann und Walach befragten (wie bereits erwähnt) männliche und

    weibliche psychologische Psychotherapeuten in Deutschland nach ihrem Weltbild

    und ob dieses einen Einfluss auf die Therapie habe, was von 55% der Befragten

    bejaht wurde (Hofmann & Walach, 2011, S. 185). Dabei zeigte sich, dass das

    Menschenbild und das damit verbundene Patientenbild eine stark sinnstiftende

    Funktion einnehmen können (Hofmann, 2011, S. 178).

    Exemplarisch wurden folgende spezifische Weltanschauungen/

    Menschenbilder genannt:

    Glaube an grundsätzlicher Sinnhaftigkeit aller Erfahrungen, auch von Leiden.

    Positive Gesamthaltung und Vertrauen auf den Lauf des Lebens.

    Vertrauen in das Aufgehoben-sein in eine größere Ordnung.

    Bezogen-sein auf ein höheres Wesen oder letzte Wirklichkeit.

    Hinter der Vielfalt verbirgt sich eine Einheit.

    Christlich-humanistische Grundhaltung.

    Glaube an das Gute im Menschen.

    Vertrauen auf die Fähigkeit zur Weiterentwicklung und Selbstheilung.

    Glaube an gesunden und heilen Kern im Menschen.

    Aus dieser Aufzählung lässt sich schlussfolgern, dass weltanschauliche

    Vorstellungen eine sehr bedeutende, wenn nicht sogar die wichtigste Ressource für

    Therapeutinnen und Therapeuten darstellen, und somit entscheidenden Einfluss auf

    die Therapie haben (Hofmann, 2011, S. 178).

  • Spiritualität bei Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten

    - 28 -

    Knapp ein Viertel der Befragten führte diesen Aspekt in der Erhebung an. So

    wurden beispielsweise folgende positive Auswirkungen des eigenen Glaubens auf

    die praktische Arbeit erwähnt (Hofmann, 2011, S. 185):

    eigene Psychohygiene, Schutz vor Burn-Out

    verleiht der eigenen Arbeit einen höheren Sinn

    Hoffnung und Vertrauen in Sinnhaftigkeit der eigenen Arbeit

    Motivation und Durchhaltevermögen

    Gott als Kraftquelle, mit der eigenen Ohnmacht besser zurechtzukommen

    Entlastung in der praktischen Arbeit

    In metaanalytischen Untersuchungen konnte der Einfluss einer spirituellen

    Grundhaltung der Hoffnung und Zuversicht bei den männlichen und weiblichen

    Therapeuten als wirksamer Faktor in der Behandlung bestätigt werden (Bucher,

    2007, S. 153).

    Die spirituelle Orientierung der Therapeutinnen und Therapeuten äußert sich

    hauptsächlich in Form von inneren Haltungen und weniger in konkreten, spirituellen

    Interventionen. Die von Hofmann und Walach erhobenen Befunde legen nahe, dass

    sich die Befragten der Gefahr der weltanschaulichen Einflussnahme bewusst sind

    und sensibel mit dem Thema umgehen (Hofmann, 2011, S. 189; siehe Kapitel 7.4).

    Vor allem in der Konfrontation mit existentiellen Themen wie Leid, Schuld und

    Tod (Frankl, 2011, S. 319 bezeichnete diese zusammenfassend als tragische Trias)

    oder auch schweren Schicksalsschlägen scheinen manche therapeutischen Modelle

    an ihre Grenzen zu stoßen. Für die Therapeutinnen und Therapeuten erwies sich

    als hilfreich, die eigene Perspektive in einen spirituellen Raum hin zu erweitern, da

    sie sich dadurch der Situation besser gewachsen fühlten (Hofmann, 2011, S. 287

    sowie Utsch, Bonelli & Pfeifer, 2014, S. 22).

    Der Grad der Vertrautheit mit dem Thema Spiritualität beeinflusst, wie häufig

    es in der praktischen psychotherapeutischen Arbeit angesprochen wird. So zeigte

  • Spirituelle Interventionen in der Psychotherapie

    - 29 -

    sich, dass therapeutisch Tätige, die sich selbst als spirituell beschreiben, öfter

    spirituelle Themen aufgreifen als nicht-spirituelle Psychotherapeutinnen oder

    Psychotherapeuten (Hofmann, 2011, S. 185). Des Weiteren konnte ein

    Zusammenhang festgestellt werden, dass spirituelle Themen häufiger

    angesprochen werden, wenn sie bereits in der Psychotherapieausbildung bearbeitet

    worden waren (Hofmann, 2011, S. 186).

    7 Spirituelle Interventionen in der Psychotherapie

    Was genau sind aber nun spirituelle Interventionen? Sie können definiert

    werden als „Interventionen, in denen Inhalte besprochen bzw. Handlungen

    ausgeführt werden, die aus der religiösen/spirituellen Tradition des Patienten

    kommen“ (Richard & Freund, 2012, S. 207).

    In der folgenden Übersicht werden in der Literatur diskutierte religiöse

    Praktiken in einer theistischen Psychotherapie angeführt (Richards & Bergin, 2005,

    S. 251ff sowie adaptiert nach Utsch, et al., 2014, S. 117).

    Gebete (sind die am häufigsten vorkommende Form; Bucher, 2007, S. 155)

    Kontemplation und Meditation

    Lesung religiöser Texte oder Metaphern

    Buße, Versöhnung und Vergebungsrituale

    gemeinsamer Lobpreis und religiöse Rituale

    Einbeziehung der religiösen Gemeinschaft

    Suche nach spiritueller Anleitung durch Zusammenarbeit mit Seelsorgern

    Klärung und Instruktion von moralischen Werten

    Zur Unterscheidung, ob eine Handlung psychotherapeutisch oder

    religiöse/spirituelle Begleitung darstellt, empfehlen Richard und Freund (2012, S.

    207f) das Behandlungsziel als Unterscheidungsmerkmal heranzuziehen. Während

    Psychotherapie Behandlungsziele innerhalb der Wissenschaft der Psychologie

    verfolgt, verfolgt Seelsorge/spirituelle Beratung Ziele auf der

    metaphysischen/spirituellen Ebene der Glaubensinhalte.

    Spirituelle/religiöse Interventionen werden dementsprechend zum Zwecke

    der psychotherapeutischen Zielerreichung (z.B. Ruhe und Entspannung finden

  • Spirituelle Interventionen in der Psychotherapie

    - 30 -

    durch Gebete, Erleichterung durch gezieltes Lesen religiöser Texte) angewendet

    und alleine vor diesem Hintergrund bewertet. Sie werden als Mittel zum Zweck

    eingesetzt, was aus theologischer Sicht bedenklich erscheinen kann (Richard &

    Freund, 2012, S. 207f).

    In der Praxis beziehen die Therapeutinnen und Therapeuten die spirituelle

    Perspektive vornehmlich nur dann ein, wenn sie als im besonderen Maße

    psychotherapeutisch indiziert beurteilt wurde oder wenn Patientinnen oder Patienten

    das Thema einbrachten. Dabei wurden die konventionellen psychotherapeutischen

    Sicht- und Vorgehensweisen nicht ersetzt, sondern um die spirituelle Perspektive

    ergänzt (Hofmann, 2011, S. 190).

    In der theoretischen Literatur sind bereits einige Konzepte beschrieben

    worden, wie die psychotherapeutische Perspektive um die spirituelle Dimension

    erweitert und mit entsprechenden Übungen ergänzt werden kann (Hofmann, 2011,

    S. 188). Hauptsächlich werden hierbei Ansätze der Transpersonalen und Integralen

    Psychologie, der Religionspsychologie und achtsamkeitsbasierte Ansätze genannt

    (Hofmann, 2011, S. 191).

    Es existieren in Deutschland keine Psychotherapiemanuale und nur marginal

    systematisch ausgearbeitete Ansätze über die konkrete Einbeziehung religiös-

    spiritueller Elemente in die psychotherapeutische Praxis (Richard und Freund, 2012,

    S. 208).

    In einer in den USA durchgeführten repräsentativen Studie waren zwei Drittel

    der Psychiaterinnen und Psychiater der Meinung, dass es angebracht sei mit den

    Patientinnen und Patienten zu beten, wenn diese es wünschten bzw. sie es für

    richtig hielten (Utsch, et al., 2014, S. 114). In mehreren US-amerikanischen Studien

    gaben zwischen 30 und 90 Prozent der männlichen und weiblichen

    Psychotherapeuten an, spirituelle Interventionen mit Patientinnen und Patienten

    durchzuführen (Utsch, et al., 2014, S. 114).

    Für den deutschsprachigen Raum existieren zu dieser Frage wenige Studien.

    Lee, Zahn & Baumann (2011, S. 533) befragten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in

  • Spirituelle Interventionen in der Psychotherapie

    - 31 -

    einer deutschen Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie mit dem Ergebnis, dass

    die überwiegende Mehrheit nicht den religiösen/spirituellen Hintergrund der

    Patientinnen und Patienten in ihre Arbeit integrieren, obwohl sie einen positiven

    Einfluss auf die Gesundheit der Patientinnen und Patienten vermuten. Die

    Ergebnisse aus dem englischen Sprachraum decken sich mit denen aus deutschen

    Studien.

    Daten aus (einem relativ traditionell christlichen Gebiet in) Bayern zeigen

    etwa, dass rund 20 % der Therapeutinnen und Therapeuten schon einmal für ihre

    Patientinnen und Patienten gebetet haben (Bucher, 2007, S. 155).

    Die befragten deutschen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in

    der Untersuchung von Hofmann & Walach gaben an, dass etwa 22% ihrer

    Patientinnen und Patienten Themen rund um Spiritualität und Religion ansprechen

    (Hofmann & Walach, 2011, S. 184).

    Dabei zeigten sich Unterschiede hinsichtlich der Psychotherapierichtungen,

    denen die Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten angehörten.

    Haupttherapierichtung

    Anteil der Patientinnen und Patienten,

    die religiöse oder spirituelle Fragen einbringen

    mit religiöser/spiritueller Orientierung

    Durchschnitt 21,5 % 22,6 %

    Kognitive Verhaltenstherapie 14,3 % 19,1 %

    Analytisch/Psychodynamisch 21,9 % 19,8 %

    Integrativ 23,1 % 24,1 %

    Humanistisch 28,7 % 31,1 %

    Tabelle 6: Vergleich der einzelnen Psychotherapierichtungen (nach Hofmann & Walach, 2011,

    S. 185)

    Demnach sind humanistische Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten

    signifikant häufiger mit spirituellen/religiösen Fragestellungen konfrontiert als

    beispielsweise Anwender der Verhaltenstherapie. Die Autorin und der Autor sehen

    einen Zusammenhang mit der stärkeren Wissenschaftsorientierung von kognitiver

    Verhaltenstherapie und psychodynamischer Psychotherapie im Vergleich zu den

    anderen Therapierichtungen (Hofmann & Walach, 2011, S. 185).

  • Spirituelle Interventionen in der Psychotherapie

    - 32 -

    Im Weiteren vermuten Hofmann und Walach, dass die männlichen und

    weiblichen Therapeuten, die mehr Erfahrung im Umgang mit spirituellen Fragen

    erworben haben, häufiger die spirituelle Dimension des besprochenen Themas

    wahrnehmen (implizit oder explizit) und sie deshalb öfter in die praktische Arbeit

    inkludieren (Hofmann & Walach, 2011, S. 187).

    7.1 Die vier Typen nach Bernhard Grom

    Spiritualität kann sich folglich einerseits als Grundhaltung auf die

    Psychotherapie auswirken, andererseits in konkreten Interventionen angewendet

    werden.

    Zur Differenzierung der praktischen Integration von Spiritualität in der

    Psychotherapie schlägt Bernhard Grom (2012, S. 196f) eine Einteilung in vier Typen

    vor:

    Beschreibung Beispiel

    Typ 1 Spirituelle Anregungen werden von

    Patientinnen und Patienten aus in

    den Therapieprozess einbezogen

    (Themen besprochen)

    Anonyme Alkoholiker, wo

    weltanschaulich neutrale Impulse von

    gläubigen Klientinnen und Klienten

    religiös gedeutet werden

    Typ 2 Spirituelle Interventionen integriert

    in eine professionelle

    Psychotherapie

    Gebet, Meditation oder religiöse

    Texte werden begründet und

    punktuell eingesetzt

    Typ 3 Spiritualität mit der Tendenz, eine

    psychotherapeutische

    Basistherapie zu werden

    Transpersonale Psychotherapie, die

    von bestimmten weltanschaulichen

    Setzungen ausgeht

    Typ 4 Psychotherapeutische Methoden

    spirituellen Ursprungs

    Achtsamkeitsorientierte Verfahren

    aus dem Buddhismus

    Tabelle 7: Vier Formen der Integration von Spiritualität und Psychotherapie (adaptiert nach

    Grom, 2012, S. 169f sowie Utsch, Bonelli & Pfeifer, 2014, S. 80)

  • Spirituelle Interventionen in der Psychotherapie

    - 33 -

    7.1.1 Typ 1: Anregungen kommen von Patientin oder vom Patienten

    Beim Typ 1 liegt die Entscheidung, spirituelle oder religiöse Themen

    aufzugreifen bzw. Impulse in den Therapieprozess einzubeziehen, bei den

    Patientinnen und Patienten. Der männliche oder weibliche Therapeut signalisiert

    lediglich einen wertschätzenden, offenen Umgang für dieses Thema und eine

    Bereitschaft darüber zu sprechen (Richard & Freund, 2012, S. 206). Dies kann

    beispielsweise durch Fragen zum religiösen Hintergrund er Patientinnen und

    Patienten geschehen.

    Somit hat die Patientin oder der Patient die volle Wahlfreiheit dieses

    zusätzliche Angebot zu nutzen, was beispielsweise von einzelnen Kliniken im

    deutschen Sprachraum ergänzend zu anderen Therapieangeboten zur Verfügung

    gestellt wird. Dies kann etwa in speziellen Gesprächsgruppen mit spirituellen oder

    religiösen Inhalten passieren oder als Angebot, religiöse Themen mit der

    Therapeutin oder dem Therapeuten besprechen zu können.

    Ein anderes Beispiel ist das zwölf-Schritte Programm der Anonymen

    Alkoholiker, das in ihren Grundsätzen von einer höheren Macht ausgeht und die

    Beziehung zu dieser reflektiert. In den dargestellten Schritten werden Aussagen zu

    der Beziehung zur höheren Macht getroffen (jeweils zitiert nach Anonyme

    Alkoholiker (o.J.), S. 4).

    2. Schritt: „Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst,

    uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann.“

    3. Schritt: „Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben der

    Sorge Gottes – wie wir Ihn verstanden – anzuvertrauen.“

    6. Schritt: „Wir waren völlig bereit, all diese Charakterfehler von Gott beseitigen

    zu lassen.“

    11. Schritt: „Wir suchten durch Gebet und Besinnung die bewusste Verbindung

    zu Gott – wie wir Ihn verstanden – zu vertiefen. Wir baten Ihn nur, uns Seinen

    Willen erkennbar werden zu lassen und uns die Kraft zu geben, ihn

    auszuführen.“

    12. Schritt: „Nachdem wir durch diese Schritte ein spirituelles Erwachen erlebt

    hatten, versuchten wir, diese Botschaft an Alkoholiker weiterzugeben und unser

    tägliches Leben nach diesen Grundsätzen auszurichten.“

  • Spirituelle Interventionen in der Psychotherapie

    - 34 -

    Es steht jedoch jeder Teilnehmerin und jedem Teilnehmer offen, wie weit

    diese Aussagen von ihr oder ihm selbst religiös gedeutet werden (Grom, 2012, S.

    197).

    7.1.2 Typ 2: Einzelne spirituelle Interventionen integrieren

    Im Unterschied zum Typ 1 wird beim Typ 2 nicht nur über das Thema

    Religion gesprochen, sondern zusätzlich spirituelle Impulse unter Anleitung der

    Therapeutin oder des Therapeuten aktiv in eine professionelle Psychotherapie

    integriert. Dies kann direktiv oder sokratisch erfolgen. Eine Voraussetzung für eine

    derartige Intervention ist allerdings das vorher bekundete Interesse der Patientin

    oder des Patienten. Dementsprechend bedeutsam sind Behutsamkeit und

    gegenseitiges Vertrauen, damit keine Indoktrination (ob gewollt oder ungewollt)

    seitens der Therapeutin oder des Therapeuten geschieht (Grom, 2012, S. 197).

    In diesem Typ werden Religiosität bzw. Spiritualität als mögliche zusätzliche

    Ressource verstanden, die unterstützend genutzt wird (im Unterschied zu Typ 3, wo

    sie die Basistherapie darstellt). Beispielsweise kann auf religiöse Texte hingewiesen

    bzw. diese vorgelesen werden, Empfehlungen für Gebete oder Meditation

    ausgesprochen werden oder diese aktiv während den Therapiesitzungen eingesetzt

    werden. Die verschiedenen Arten der Interventionen sind in Kapitel 7 angeführt

    (Grom, 2012, S. 197 sowie Richard & Freund, 2012, S. 208).

    Ausführliche Beschreibungen und Rahmenkonzepte für derartig gestaltete

    Interventionen befinden sich beispielsweise in den drei Büchern von Richards und

    Bergin (2000, 2004 und 2005).

    Der Typ 2 ist vermutlich jener, der in der Fachwelt am intensivsten diskutiert

    wird, siehe dazu Kapitel 13.1.3.

    7.1.3 Typ 3: Spiritualität als psychotherapeutische Basistherapie

    Das therapeutische Potenzial von Religion und Spiritualität wird bei diesem

    Typ so hoch eingeschätzt (entscheidender Wirkfaktor), dass eine eigenständige

    Psychotherapiemethode rundherum entwickelt wurde - Grom bezeichnet eine

    derartige Therapie als Basistherapie. Andere Therapierichtungen werden hingegen

  • Spirituelle Interventionen in der Psychotherapie

    - 35 -

    lediglich als mögliche Ergänzung oder Unterstützung betrachtet, worin die

    Unterscheidung zum Typ 2 liegt (Grom, 2012, S. 198).

    Ausgangspunkt dieser Therapieansätze sind entweder theistische (auf z.B.

    das Christentum, den Islam oder das Judentum bezogen) oder die, im deutschen

    Sprachraum viel verbreiteteren, östlich-energetische Grundlagen (Grom, 2012, S.

    198f).

    Außerdem sind die transpersonale Psychologie und die darauf aufbauenden

    unterschiedlichen Richtungen der transpersonalen Psychotherapie diesem Typ

    zuzurechnen. Dies wären beispielsweise:

    Transpersonale Psychotherapie nach Ken Wilber oder Sylvester Walch,

    holotropes Atmen nach Stanislav Grof,

    Psychosynthese nach Roberto Assagioli,

    initiatische Therapie nach Karlfried Graf Dürckheim und Maria Hippius-Gräfin

    Dürckheim,

    und teilweise ebenfalls die analytische Psychologie nach Carl Gustav Jung

    (Stumm, 2007, S. 716f).

    Diese transpersonalen Psychotherapierichtungen orientieren sich eher an

    Parawissenschaften, denn an der akademischen Psychologie (Grom, 2012, S. 199).

    Die Nähe zur Esoterik wird an den verwendeten Begriffen der feinstofflichen

    Lebensenergie, Energieblockaden oder Verletzungen aus einem früheren Leben

    ersichtlich. Grom sieht darin eine Gefahr, dass Therapeutinnen oder Therapeuten

    zu geistlichen Lehrpersonen werden, die sich und ihre Fähigkeiten überschätzen

    und Heilung versprechen (2012, S. 199). Richard und Freund geben ebenfalls zu

    bedenken, dass bei diesen Ansätzen religiöse oder spirituelle Ziele verfolgt werden

    und so eine weltanschauliche Beeinflussung stattfinden kann (2012, S. 205).

    7.1.4 Typ 4: Psychotherapeutische Methoden spirituellen Ursprungs

    Beim Typ 4 werden aus ursprünglich religiös/spirituell ausgerichteten

    Übungen und Traditionen eigene Behandlungsformen entwickelt. Dabei wird nicht

    mehr, im Unterschied zu Typ 2 und Typ 3, auf das den Übungen zugrunde liegende

  • Spirituelle Interventionen in der Psychotherapie

    - 36 -

    Weltbild zurückgegriffen und somit keine religiösen/spirituellen Ziele und Inhalte

    transportiert (Grom, 2012, S. 199).

    Im engeren Sinne stellen diese Übungen somit keine spirituellen

    Interventionen mehr dar, obwohl die meisten aus dem fernöstlichen Kulturkreis

    stammen und in der dortigen Spiritualität (Abstand von äußerlichen Einflüssen

    bekommen, zur inneren Ruhe gelangen, Perspektivenwechsel hin zu inneren,

    emotionalen Impulsen) wurzeln (Richard & Freund, 2012, S. 208).

    Hierzu zählen verschiedene Meditationsformen, Yoga sowie

    achtsamkeitsbasierte Therapieansätze, die zum Teil in Kliniken angewandt werden

    (Grom, 2012, S. 199f).

    7.2 Wirksamkeitsstudien

    Obwohl in mehreren Studien die Wirksamkeit der unterschiedlichen

    Therapieansätze untersucht wurde, die Spiritualität bzw. Religion in die

    Psychotherapie integrieren, ist die Datenlage zur Wirksamkeit dieser

    Therapieansätze, eher unbefriedigend (Bucher, 2007, S. 162 sowie Utsch, et al.,

    2014, S. 115).

    Beispielsweise zeigten sich in einer vergleichenden Studie von Hook,

    Worthington, Davis, Jennings, Gartner & Hook (2010) folgende Therapieansätze

    therapeutisch wirksam:

    Christlich adaptierte kognitive Therapie bei Depressionen (Christian

    Accommodative Cognitive Therapy for Depression)

    sowie das Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker (12-step

    Facilitation for Alcoholism).

    In Kombination mit Medikation erwiesen sich die muslimisch adaptierte

    Psychotherapie bei Depression (Muslim Psychotherapy for Depression)

    außerdem die muslimisch adaptierte Psychotherapie bei Angsterkrankungen

    (Muslim Pychotherapy for Anxiety) als wirksam (Hook et al., 2010, S. 49ff).

    Bei stationären Behandlungen zeigten sich die spirituelle Gruppentherapie

    bei Essstörungen (Spiritual Group Therapy for Eating Disorders)

  • Spirituelle Interventionen in der Psychotherapie

    - 37 -

    darüber hinaus die buddhistisch adaptierte kognitive Therapie bei

    Aggressivität (Buddhist Accomodative Cognitive Behavioral Therapy for

    Anger) wirksam, integriert in ein bereits bestehendes Therapieprogramm

    (Hook et al., 2010, S. 64).

    Im deutschsprachigen Raum werden religiöse oder spirituelle

    Psychotherapien bisher lediglich vereinzelt angewandt. Dementsprechend wurden

    bislang keine bzw. keine evidenzbasierten Studien dazu durchgeführt, obwohl die

    religiöse Tradition in der Bevölkerung ein hohes therapeutisches Potenzial böte

    (Utsch, et al., 2014, S. 115).

    Als Fazit dieser Wirksamkeitsstudien hält Grom fest, dass

    Religiosität/Spiritualität in begrenztem Umfang als ergänzender Wirkfaktor gesehen

    werden kann, wenn sie in bewährte und professionelle Psychothe