kucken_burg die entstehung von sprache und schrift

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  • WER SPRACH DAS ERSTE WORT?

  • MARTIN KUCKENBURG

    WER SPRACH DASERSTE WORT?DIE ENTSTEHUNG VON SPRACHE UND SCHRIFT

    Zweite, aktualisierte Auflage

  • Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

    Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

    Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

    Daten sind im Internet ber http://dnb.ddb.de abrufbar

    Umschlaggestaltung: Neil McBeath, Stuttgart,

    unter Verwendung einer Zeichnung von Martin Kuckenburg.

    2., aktualisierte Auflage 2010

    Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart 2004

    Alle Rechte vorbehalten

    Lektorat und Bildredaktion: Dr. Volker Held, Ludwigsburg

    Satz: UMP Utesch Media Processing GmbH, Hamburg

    Druck und Bindung: CPI Ebner & Spiegel, Ulm

    ISBN 978-3-8062-2330-9

    DANKSAGUNGMein herzlicher Dank gilt Jrgen Beckedorf und Dr. Wolf-Heinrich Kulkevom Konrad Theiss Verlag, die diese Neuausgabe ermglicht und redaktio-nell betreut haben; Dr. Volker Held fr sein umsichtiges und kompetentesLektorat; und Dr. Peter Vrtesalji fr hilfreiche Ausknfte zu Fragen der alt-orientalischen Chronologie.

    Tbingen im April 2004 Martin Kuckenburg

    Meinem Vater Heinz Kuckenburg in dankbarer Erinnerung gewidmet.

  • Die Bezeichnung durch Tne und Stricheist eine bewundernswrdige Abstraktion.Vier Buchstaben bezeichen mir Gott;einige Striche eine Million Dinge.Wie leicht wird hier die Handhabungdes Universums, wie anschaulichdie Konzentrizitt der Geisterwelt!Ein Kommandowort bewegt Armeen;das Wort Freiheit Nationen.

    Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis

  • INHALT

    DIE ENTSTEHUNG DER SPRACHE

    DER URSPRUNG VON SPRACHE UND SCHRIFT 10BER DIE ERSTAUNLICHE AKTUALITT EINES ALTEN THEMAS

    Auf der Suche nach dem Ursprung der Sprache Im Anfang war dasWort Sprachursprungsdebatte im Zeichen der Aufklrung Spekula-tive und wissenschaftliche Sprachursprungshypothesen EinForschungszweig gert ins Zwielicht Neue Fragestellungen

    EXKURS 21Die Debatte um das Indoeuropische

    GRILLENZIRPEN, VOGELGESANG UND AFFENGEKREISCH 26KOMMUNIKATIONSSYSTEME IM TIERREICH

    Ein Universum an Ausdrucksformen Die Philosophen und die Tierspra-che Reine Reflexlaute? Komplexe Tierkommunikation Der Vogelge-sang Die Tanzsprache der Honigbiene berraschende Beobachtungen Die Sprache, ein offenes System Kreativitt und Ordnung

    EXKURS 41Sprachversuche mit Menschenaffen

    SPRACHORGANE, GEHIRN UND DIE ENTWICKLUNGSGESCHICHTE DES MENSCHEN 45Haeckels sprachloser Affenmensch Unklare Anfnge Die GattungHomo tritt auf den Plan Streit um Neandertaler und Homo sapiens Aufrechter Gang und erste Steingerte Die Herausbildung des mensch-lichen Gehirns Die Sprache als Entwicklungsfaktor Die Stunde derGehirnforscher Schdelabgsse geben Aufschluss Ein Rubikon derSprachfhigkeit? Die Anatomie der menschlichen Lautbildung Zun-genbewegung und Sprache Eine neue Wissenschaftsdisziplin Gewan-delte Anschauungen Der Neandertaler, ein sprachloses Wesen? EinNeandertaler mit modernem Zungenbein

    EXKURS 66Auf der Suche nach dem Sprach-Gen

  • SPRACHENTSTEHUNG UND DIE HERAUSBILDUNG VON TECHNIK UND KULTUR 69Knstliche Arbeitsgerte Tradition statt Vererbung Kontroversen ber das Wann Genetischer Urknall als Ursprung der Kultur? Ver-gleich zweier Steinbearbeitungstechniken Die Faustkeile des Homoerectus Komplexe Technologien Eine Palontologie der Sprache? Gezhmte Naturkraft Feuer Lagerpltze mit Behausungen Einleistungsfhiges Kulturpaket Organisierte Growildjagd Knstlichestatt angeborener Waffen Anfnge geistiger Kultur Protokunst vor400 000 Jahren? So alt wie die Menschheit

    AKTUELLE SPEKULATIONEN BER DIE URSPRACHE 87Die Sprache des Neandertalers Der frhmoderne Homo sapiens, einMensch wie wir Die Sprache der Eiszeit Die Kultur war der Schlssel Besitzt der Mensch einen Sprachinstinkt?

    EXKURS 94Sprachfamilien und Urwrter

    DIE ENTSTEHUNG DER SCHRIFT

    FELSBILDER UND ZHLKERBEN 98BER DIE VORSTUFEN UND VORLUFER DER SCHRIFT

    Komplexe Erinnerungstechniken Es begann mit dem Kerbstock Rechenstbe und Jagdmarken Mondkalender vor 30 000 Jahren? DerAdorant aus dem Geienklsterle Knotenschnre und Rosenkranz Eine eiszeitliche Landschaftsskizze? Eine bildliche Ode an den Frh-ling Die Rtsel der Bilderhhlen Die La Pasiega-Inschrift Eineindianische Stammeschronik

    EXKURS 121Schriftsysteme in der Steinzeit

    DIE SCHRIFT 125EIN KOMMUNIKATIONSMITTEL DER HOCHKULTUREN

    Das Prinzip der Ideenschrift Das Bild der Stimme Das schrift-liche Gedchtnis Die Geburt der Geschichtsschreibung Lob undTadel der Schrift Schriftentwicklung und Hochkultur Die Schriftals Organisationsmittel

    VON DER ZHLMARKE ZUM ZAHLENTFELCHEN 135FRHE BUCHFHRUNG IN VORDERASIEN

    Eine geheimnisvolle Tonhlle Ein ausgefeiltes Buchfhrungssystem Zurck ins 8. Jahrtausend v. Chr. Gterzhlung mit Tonmarken EinResultat der neolithischen Revolution Das Tonmarkensystem wirdvielschichtiger Handelsdokumente oder Steuerbelege? MarkierteTonhllen und Zahlentfelchen Von der Tonhlle zur Schrift

    I N H A LT 7

  • DIE HERAUSBILDUNG DER MESOPOTAMISCHEN KEILSCHRIFT 150Eine ideographische Schrift Vom Bild zum Keilschriftzeichen Nch-terne Anfnge Tnerne Aktenvermerke Ein eigenartiges Zahlensystem Tonmarken als Vorbilder fr Zahlzeichen? Schriftzeichen und token-Formen Was kam zuerst? Erfindung oder allmhliche Entwicklung? Die Herausbildung der klassischen Keilschrift Das phonetische Prinzip Der Aufstieg zum universellen Ausdrucksmittel

    DIE GYPTISCHEN HIEROGLYPHEN 173DAS LTESTE SCHRIFTSYSTEM DER WELT?

    Die Narmer-Palette Lautschriftzeichen und Schriftgemlde Das Grab U-j in Obergypten Die ltesten Schriftzeugnisse der Welt? lter als die mesopotamische Keilschrift? Frhe Phonetisierung am Nil Verwaltungsschrift auch in gypten Wesentliches fr immer verloren Eine bildhafte, aber keine Bilderschrift Monumentaler und alltglicherSchriftgebrauch

    EXKURS 192Die Entwicklung der Schrift in Asien

    SCHRIFT UND GESELLSCHAFTLICHE MACHT 198DIE FRHE SCHREIBKUNST ALS HERRSCHAFTSMITTEL UND

    SOZIALES PRIVILEG

    Wie viele Schriftkundige gab es? Unbedingter Gehorsam und Respekt Rigide Erziehungsmethoden Wissen bringt Macht Schreiber alsStaatsbttel Segen oder Fluch?

    EXKURS 209Die altamerikanischen Schriftsysteme

    AM ENDE DAS ALPHABET 213DIE ENTSTEHUNG UND AUSBREITUNG DER BUCHSTABENSCHRIFT

    Ein Schmelztiegel der Sprachen und Kulturen Ein Abkmmling derHieroglyphenschrift? Die Herrin des Trkis Die protokanaanischeSchrift Ursprung in den Hieroglyphen oder im Hieratischen? DasKeilschriftalphabet von Ugarit Die phnizische Schrift und ihreAbkmmlinge Frhe gische Schriftsysteme Die griechische ber-nahme des Alphabets Konsonanten und Vokale Die Demokratisierungder Schreibkunst Fortbestehen mndlicher Traditionen

    EXKURS 234Die altgermanischen Runen ein sagenumwobenes Schriftsystem

    LITERATURVERZEICHNIS 238

    ANMERKUNGEN 242

    BILDNACHWEIS 251

    PERSONEN-/ORTSREGISTER 252

    8 I N H A LT

  • I DIE ENTSTEHUNG DERSPRACHE

  • DER URSPRUNG VON SPRACHEUND SCHRIFTBER DIE ERSTAUNLICHE AKTUALITT E INES ALTEN

    THEMAS

    Noch vor 15 Jahren galt die Frage nach dem Ursprung unserer wichtigstenKommunikationsmittel Sprache und Schrift zumindest hierzulande als einesoterisches Auenseiterthema, und ein Buch darber stellte eine ausge-sprochen extravagante Unternehmung dar.1 Mittlerweile hat sich das jedochgrndlich gendert: Der Fragenkomplex gehrt heute zu den Lieblingsthe-men von Wissenschaftszeitschriften und -magazinen, eine ganze Reihe po-pulrer Sachbcher sind darber erschienen, und eine im Oktober 2002 ver-ffentlichte Titelgeschichte des Spiegel zum Sprachursprung beschertedem Nachrichtenmagazin eine der am besten verkauften Nummern des Jah-res.

    Der Blick auf unsere Ursprnge hat angesichts unsicherer Weichenstel-lungen fr die Zukunft offenkundig wieder Konjunktur, und die beispielloseRevolution, die sich whrend der letzten Jahrzehnte im Bereich der Kom-munikations- und Datenspeicherungstechniken vollzog, hat ein breitesInteresse an der Geschichte dieser Techniken geweckt.

    Gleichzeitig ist die Frage nach der Entstehung von Sprache und Schriftaber auch in den Sog allgemeinerer und grundstzlicherer Debatten berunsere Ursprnge geraten. Eines ihrer zentralen Themen ist die Frage,seit wann man eigentlich mit Fug und Recht vom Menschen als handeln-dem Subjekt der Natur- und Kulturgeschichte sprechen kann. Trifft dieseBezeichnung bereits auf unsere lteren Vorfahren vor 400 000 oder 1 Mil-lion Jahren zu, oder betrat erst vor 150 000 bis 40 000 Jahren mit demmodernen Homo sapiens ein Wesen die Erdenbhne, das ber die charak-teristischen Merkmale des Menschseins Sprache und Kultur verfgte?Und: Entstanden diese fr uns so kennzeichnenden Merkmale nur einmalund in einer einzigen Region der Erde, nmlich im sdlichen Afrika, vonwo aus sie sich mit ihren Trgern in grorumigen Wanderungsbewegun-gen ber die ganze restliche Welt verbreiteten? Oder ist ihre gleichzeitigeEntstehung in mehreren Erdteilen und unter ganz verschiedenen Frh-menschengruppen denkbar hnlich, wie ja zum Beispiel auch die Ge-wohnheit des Fleischverzehrs und der Jagd nicht nur ein einziges Mal inder Urgeschichte entstanden sein wird und wie auch das Gehirn unserer Ur-ahnen in den verschiedenen Weltregionen zur gleichen Zeit wuchs? (vgl. S.5355).

  • hnliche Fragen stellen sich auch im Hinblick auf unser zweites grundle-gendes und sehr viel jngeres Kommunikationsmittel die Schrift. Wurdesie nur einmal oder mehrmals in der Menschheitsgeschichte erfunden, undwo geschah dies zum ersten Mal? Gilt noch der alte Lehrsatz, nach dem dieWiege des Schriftgebrauchs und der Zivilisation in Mesopotamien, an denUfern von Euphrat und Tigris, stand? Oder besaen die alten gypter unddie vorgeschichtlichen Vlker des Balkanraums bereits lange vor den Meso-potamiern erste Schriftsysteme, wie man dies in den letzten Jahren immerwieder lesen und hren konnte?

    Was waren schlielich die entscheidenden Motive fr die Erfindung die-ses gnzlich neuen, visuellen Kommunikationsmittels? Stand dahinter einspirituelles Streben nach persnlicher Verewigung, ein historisches Bem-hen um die Fixierung von Ideen und Ereignissen oder aber ein eher prakti-sches Bedrfnis nach nchterner Datenspeicherung, wie sie uns im heutigenComputerzeitalter ja gigabyteweise zur alltglichen Selbstverstndlichkeitgeworden ist?

    Fragen ber Fragen, die alle seit ungefhr zehn Jahren mit verstrktemInteresse diskutiert werden. Die Anstze zu ihrer Beantwortung sind dabeivllig unterschiedlich, denn whrend das Problem des Sprachursprungsheute zunehmend von Naturwissenschaftlern mit den ihnen eigenen nch-ternen Fragestellungen und technisch-przisen Methoden angegangen wird,speist sich das Interesse an den alten Schriften immer noch groenteils ausder Aura des Geheimnisvollen und Erhabenen, die ihre glyphischen Zeichenumgibt.

    Doch einerlei, welche Motive im Vordergrund stehen mgen ent-scheidend ist, dass diese alten Fragen endlich in unserer Zeit angekom-men sind, dass sie wieder ein breites Interesse unter den Wissenschaftlernwie in der ffentlichkeit finden und dass man ihnen mit den heute zur Ver-fgung stehenden, vielfach phantastisch erweiterten Mglichkeiten auf derSpur ist.

    A U F D E R S U C H E N A C H D E M U R S P R U N G D E R S P R A C H E Und um sehr alte Fragen mit einer zum Teil Jahrtausende zurckreichendenGeschichte handelt es sich zumindest bei der Sprachursprungsdiskussion inder Tat. Schon im 7. Jahrhundert v. Chr. fhrte der gyptische Knig Psam-metich I., wie der griechische Geschichtsschreiber Herodot berichtet, ein Ex-periment durch, um herauszufinden, welches die lteste Sprache und das l-teste Volk der Menschheit sei. Er lie zwei neugeborene Knaben in einer ein-samen Htte aussetzen, bei einem Hirten, der nicht mit ihnen sprechendurfte, sondern nur zu bestimmter Zeit die Ziegen zu ihnen fhrte, damit sievon deren Milch tranken. Das tat und befahl Psammetichos, so Herodot,weil er bei diesen Knaben hren wollte, was fr ein Wort, wenn das un-deutliche Lallen vorber wre, sie zuerst von sich geben wrden. Er hoffte,sie wrden ohne Beeinflussung durch andere Menschen in der Sprache ihrer

    D E R U R S P R U N G V O N S P R A C H E U N D S C H R I F T 11

  • ltesten Vorfahren zu reden beginnen, die so seine berzeugung noch inihnen schlummere.

    Als die beiden Knaben nach zwei Jahren immer wieder einen Laut aus-stieen, der wie das phrygische Wort bekos (Brot) klang tatschlich abervielleicht nur dem Meckern der Ziegen nachempfunden war-, hielt der Knigden Fall fr entschieden: Das Phrygische musste die Ursprache der Mensch-heit sein, und die Phryger in Kleinasien (und nicht, wie zuvor angenommen,die gypter) waren das lteste Volk. So gaben es die gypter denn zu undrichteten sich darin nach diesem Geschehnis, dass die Phryger lter seien alssie selber, schliet Herodot nicht ohne Ironie seinen Bericht.2

    Jngeren Quellen zufolge wurde dieser grausame Menschenversuch imMittelalter noch zweimal wiederholt, und zwar im 13. Jahrhundert vondem Stauferkaiser Friedrich II. und um 1500 von Schottlands Knig JakobIV. Im ersten Fall starben die Kinder, im zweiten Fall gaben sie nach einigerZeit Laute von sich, die man als hebrisch deutete. Spter soll das Experi-ment von einem indischen Gromogul wiederholt worden sein, und nochim 18. Jahrhundert forderten europische Gelehrte eine erneute Durchfh-rung.

    Die Frage nach der Ursprache und damit nach den Anfngen der arti-kulierten Verstndigung hat die Menschen also seit jeher bewegt und durchdie Jahrtausende hindurch nicht mehr losgelassen. Die dazu verfasste Lite-ratur ist immens: Eine Bibliographie von 1975 fhrt nicht weniger als 11 000historische und moderne Arbeiten zu diesem Themenkreis auf,3 und seithersind, wie erwhnt, zahlreiche neue hinzugekommen. Die Art und Weise, wieman sich dem Problem nherte und es zu lsen versuchte, hing dabei vomWeltbild und den geistesgeschichtlichen Voraussetzungen in den verschie-denen Epochen und Kulturkreisen ab und war hchst unterschiedlich.

    Die einfachste Antwort auf die Frage, wie die Sprache entstand, ist dieAnnahme, sie sei berirdischen Ursprungs, ein Werk der Gtter, von denensie der Mensch bei seiner Erschaffung fertig verliehen bekam. Und in der Tatkannten die meisten frhen Kulturen einen Schpfungsmythos, der ebensowie den Ursprung der Welt und des Menschen auch die Sprachentstehung,ja oft sogar die Benennung der einzelnen Dinge und damit die Herkunft derWrter aus gttlichem Wirken erklrte. Fr die alten gypter waren dieSprachenspender der Gott Ptah, der den Namen aller Dinge verkndet hat,Amun, der seine Rede inmitten des Schweigens ffnete, oder der Schrei-ber- und Wissensgott Thot. Nach dem babylonischen WeltschpfungseposEnuma elisch traten alle Dinge Himmel, Erde und Gtter ins Dasein, alsder Schpfergott Apsu ihnen Namen gab: Mit Namen wurden sie genannt.Im Rigveda, einem Hymnenbuch aus dem Indien des spten 2. Jahrtausendsv. Chr., heit es: Die Gttin Vac (die Rede) haben die Gtter erzeugt, undin einem anderen altindischen Hymnus wird der Gott Brahma als der Schp-fer der menschlichen Sprachfhigkeit verehrt: In Kinnladen die vielge-wandte Zunge baut er, der Rede Kunst in sie zu legen. Nach der germani-schen Snorra-Edda wurden die Menschen von den gttlichen Shnen des All-

    12 D I E E N T S T E H U N G D E R S P R A C H E

  • vaters geschaffen und neben den anderen Lebenskrften mit Antlitz, Rede,Gehr und Sehkraft ausgestattet, und im altenglischen Runenlied der An-gelsachsen heit es: Der Ase (Wodan) ist der Urheber aller Rede.4

    I M A N FA N G WA R DA S W O R T Am strksten wurde unser Kulturkreis natrlich durch den biblischen Schp-fungsmythos geprgt. Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott,und Gott war das Wort, heit es zu Beginn des Johannes-Evangeliums. AlleDinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht,was gemacht ist. Die Genesis schildert im Einzelnen, wie Gott die Welt undalle Dinge durch sein Wort erschuf und sie benannte. Und Gott sprach: Es

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    Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gottwar das Wort. Holzstich zur Schpfungsgeschichte von GustaveDor (183283).

  • werde Licht! Und so ward Licht. () Und Gott nannte das Licht Tag unddie Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag. Bei derErschaffung Adams des ersten Menschen zu seinem Bilde gab Gott ihmauch die Sprache: Er fhrte Adam alle die Tiere auf dem Felde und alle dieVgel unter dem Himmel vor, dass er she, wie er sie nannte; denn wie derMensch jedes Tier nennen wrde, so sollte es heien. Und der Mensch gabeinem jeden seinen Namen so die Genesis. Gott aber blieb der Herr berdie Dinge und damit auch ber das Wort: Als Adams und Evas Nachkommen,die zu Anfang auf der ganzen Welt einerlei Zunge und Sprache geredet hat-ten, den Turm zu Babel erbauten, verwirrte Gott als Strafe fr diese An-maung ihre Sprache, so dass sie einander nicht mehr verstehen konnten,und zerstreute sie in alle Lnder. Damit begann die Sprachen- und Vl-kervielfalt.5

    Die biblische berlieferung steckte auch den Rahmen ab, in dem sichdie Sprachphilosophie des christlichen Abendlandes bis zur Zeit der Aufkl-rung berwiegend bewegte. Zwar gab es vereinzelt Hretiker, unabhngigeGeister und Querdenker, die einen natrlichen oder menschlichen Sprach-ursprung erwogen (unter ihnen Thomas von Aquin), insgesamt aber standendie Errterungen des christlichen Mittelalters ganz im Zeichen der gtt-lichen Offenbarungslehre und der biblischen Exegese. Diskutiert wurdeber Einzelheiten, die die Bibel offen lie etwa, ob Gott den Menschen nurmit einer allgemeinen Sprachfhigkeit oder aber mit einer konkreten Spra-che ausgestattet hatte und ob dies tatschlich das Hebrische war, wie mantraditionsgem annahm. Die gttliche Herkunft der Sprache als solchewurde aber nicht in Zweifel gezogen, so dass auch kaum jemand ber alter-native Mglichkeiten nachdachte. Die christlichen Dogmen hemmten hier,wie auf vielen anderen Gebieten, die Neugier, den Forschungsdrang und dieschpferische Phantasie der mittelalterlichen Denker und Gelehrten.

    Die kreative Phantasie wurde dagegen freigesetzt, wo kritische, ver-nunftgeme Betrachtung der Dinge die Oberhand ber religise Dogmengewann. Dies geschah erstmals in der antiken Philosophie, und so ent-wickelte sich schon hier eine jahrhundertelange, kontroverse und fruchtbareDiskussion ber sprachphilosophische Fragen. Zwar galt auch im alten Grie-chenland der berlieferung nach ein Gott, nmlich Hermes, als der Bringerder Sprache, doch schon unter den klassischen Philosophen des 4. Jahrhun-derts v. Chr. war von diesem gttlichen Ursprung kaum mehr die Rede. Stattdessen entbrannte ein heftiger Streit (wiedergegeben in Platons Dialog Kra-tylos) ber die Frage, ob die Wrter und Begriffe der Sprache ihre Geltungphysei htten, das heit mit Naturnotwendigkeit aus dem Wesen der Dingeselbst resultierten, oder ob sie thesei, also durch menschliche bereinkunftgesetzt seien.

    Die hellenistischen Philosophenschulen der Epikureer und der Stoikerverfochten dann mit Nachdruck die Lehre einer Sprachentstehung aus derNatur bzw. aus dem menschlichen Wesen, und die Legende vom Sprachbrin-ger Hermes war fr die Epikureer nurmehr unntzes Gerede. Der in ihrer

    14 D I E E N T S T E H U N G D E R S P R A C H E

  • Tradition stehende rmische Dichter Lukrez schrieb im 1. Jahrhundert v. Chr.in seinem Lehrgedicht De rerum natura, dass der Zwang der Natur verschie-dene Laute der Sprache bildete und das Bedrfnis die Namen der Dinge her-vorrief, so dass es Wahnsinn sei, an einen Erfinder zu glauben, der einstNamen den Dingen verliehn und die Menschen die ersten Wrter gelehrt.6

    Diodor von Sizilien schlielich, der ebenfalls im 1. Jahrhundert v. Chr.lebte, gab in seiner Bibliothek der Geschichte zeitgenssische Auffassun-gen wieder, die man bereits als eine regelrechte Entwicklungstheorie derSprache bezeichnen kann. Die Menschen, die im Anfang entstanden wa-ren, so schrieb er, hatten eine ungeregelte, tierische Lebensweise. () IhreStimme war ein Gemisch von undeutlichen Tnen, die aber allmhlich in ar-tikulierte Laute bergingen, und indem sie sich ber bestimmte Zeichen frjeden Gegenstand einigten, fanden sie ein Mittel, sich gegenseitig ber allesverstndlich auszudrcken. Weil solche Gesellschaften berall auf der Erdezerstreut waren, hatten sie nicht alle eine gleichlautende Sprache; denn jedederselben setzte, wie es der Zufall gab, die Laute zusammen. Daher entstan-den die vielerlei Arten von Sprachen, und jene ersten Gesellschaften mach-ten die Urstmme aller Vlker aus.7

    S P R A C H U R S P R U N G S D E B AT T E I M Z E I C H E N D E RA U F K L R U N G Die groe Zeit des Nachdenkens ber das Sprachproblem aber begann, alsim Europa des 17. und 18. Jahrhunderts die traditionelle christliche Welt-sicht auf nahezu allen Gebieten ins Wanken geriet und die Aufklrung einerneuen geistigen Epoche den Weg ebnete der Epoche des Rationalismus.Eine forschende, kritische Denkweise trat nun an die Stelle der vermeint-lichen Sicherheit ber den Charakter und Ursprung der Dinge, und die alt-hergebrachten Traditionen und Dogmen wurden schonungslos verworfen,wenn sie nicht den Mastben einer vernunftgemen berprfung stand-hielten. In diesem geistigen Klima bereiteten sich groe gesellschaftlicheUmwlzungen vor, es wurden die Grundlagen der modernen Wissenschaftund Forschung gelegt und man fhrte auch die Sprachdiskussion in neuem,rationalistischem Geiste fort. Konservative Denker versuchten zwar, dieberkommenen Positionen zu retten so etwa der deutsche TheologeJohann Peter Smilch, der 1766 eine Schrift mit dem programmatischenTitel verffentlichte: Versuch eines Beweises, dass die erste Sprache ihrenUrsprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schpfer erhaltenhabe;8 doch derartige Bekenntniswerke vermochten die neu entbrannte De-batte nicht zu stoppen. Eine groe Zahl von Philosophen und Gelehrten viele davon durchaus fromme Mnner gaben sich nicht mehr mit der Lehrevon der fertig in den Menschen verpflanzten Sprache, mit dem Dogma vomGottesgeschenk zufrieden, sondern bemhten sich in ausfhrlichenSchriften und Traktaten darum, natrliche, vernunftmig erklrbare Mg-lichkeiten des Sprachursprungs herauszuarbeiten. Stellvertretend fr diese

    D E R U R S P R U N G V O N S P R A C H E U N D S C H R I F T 15

  • vielfltigen Bemhungen, die sich oft noch mit der Annahme einer letztlichgttlichen Inspiration verbanden, seien hier nur die Namen Jean-JacquesRousseau, tienne Bonnot de Condillac und Lord Monboddo genannt siealle lebten und wirkten im 18. Jahrhundert.

    16 D I E E N T S T E H U N G D E R S P R A C H E

    Eine Seite aus dem 1679 erschienenen Buch Orbis sensualiumpictus des tschechischen Pdagogen Joh. Amos Comenius, diedie Theorie des Naturlaute nachahmenden (= onomatopoeti-schen) Sprachursprungs illustriert.

  • Als berhmtester Versuch dieser Art darf Johann Gottfried Herders 1772verffentlichte Abhandlung ber den Ursprung der Sprache gelten. Mit ihrgewann der deutsche Philosoph und Theologe einen 1769 von der Preui-schen Akademie der Wissenschaften ausgeschriebenen Wettbewerb, dessenvorsichtig formulierte Fragestellung lautete: Sind die Menschen, wenn sieganz auf ihre natrlichen Fhigkeiten angewiesen sind, imstande, die Spra-che zu erfinden? Und mit welchen Mitteln gelangen sie aus sich heraus zudieser Erfindung?9

    Herder pldierte in seiner preisgekrnten Schrift vehement fr eine na-trliche Entstehung der Sprache aus einfachsten Anfngen und bezeichnetedie Hypothese eines gttlichen Ursprungs als Unsinn, als fromm, aberzu nichts ntze. Htte ein Engel oder ein himmlischer Geist die Spracheerfunden, so schrieb er, dann msste ihr ganzer Bau ein Abdruck von derDenkungsart dieses Geistes sein. () Wo findet das aber bei unsrer Spra-che statt? Bau und Grundriss, ja selbst der ganze Grundstein dieses Palastesverrt Menschheit. Die ersten Worte, so vermutete Herder, seien wahr-scheinlich Naturlauten nachempfunden gewesen der Mensch habe Tiereund Naturerscheinungen zunchst ganz einfach nach ihren Tnen bezeich-net. Das Schaf blkt, () die Turteltaube girrt, der Hund bellt! Da sinddrei Worte. () Der Baum wird der Rauscher, der West Susler, die QuelleRiesler heien und da liegt ein kleines Wrterbuch fertig () die ganzevieltnige, gttliche Natur ist Sprachlehrerin und Muse. Was war dieseerste Sprache, so Herder weiter, als eine Sammlung von Elementen derPoesie? Nachahmung der tnenden, handelnden, sich regenden Natur! Ausden Interjektionen aller Wesen genommen und von Interjektionen mensch-licher Empfindung belebt! Die Natursprache aller Geschpfe vom Ver-stande in Laute gedichtet. Sein Fazit: Der Mensch erfand sich selbstSprache! aus Tnen lebender Natur! zu Merkmalen seines herrschendenVerstandes!10

    S P E K U L AT I V E U N D W I S S E N S C H A F T L I C H ES P R A C H U R S P R U N G S H Y P OT H E S E N Die von Herder hier vertretene Nachahmungstheorie, die den Ursprungder Sprache in der Nachempfindung von Naturlauten (griech. onomatopie)sah und daher spter spttisch auch als Wau-Wau- oder Mh-Mh-Hypo-these bezeichnet wurde, war nur eines von mehreren im 18. Jahrhundertgngigen Erklrungsmodellen der Sprachentstehung. Daneben gab es diebei Herder gleichfalls anklingende Interjektionstheorie, die eine Entste-hung der ersten Wrter aus emotionalen Ausrufen der Freude, der Angst,des Schmerzes, der Lust usw. annahm und deshalb von Spttern Puh-Puh-oder Aua-Aua-Hypothese genannt wurde. Zahlreiche Anhnger hatte auchdie sog. Gestentheorie, der zufolge die frheste menschliche Verstndi-gung berhaupt nicht aus Lauten, sondern aus stummen Handzeichen undGebrden bestand. Diese drei klassischen Theorien tauchten in der an

    D E R U R S P R U N G V O N S P R A C H E U N D S C H R I F T 17

  • Ideen und Positionen reichen Sprachursprungsdebatte des 18. Jahrhundertsimmer wieder in den unterschiedlichsten Kombinationen und Variationenauf.

    Allen diesen Erklrungsmodellen war gemeinsam, dass sie sich mehrauf allgemeine philosophische Erwgungen sttzten als auf konkretes Tatsa-chenmaterial, das damals noch kaum verfgbar war. Dies begann sich im 19.Jahrhundert allmhlich zu ndern: War die Beschftigung mit der Sprach-entstehung der Glottogenese bis dahin fast ausschlielich eine Domneuniversal gebildeter Philosophen, Gelehrter und Literaten gewesen, so nah-men sich nun verschiedene wissenschaftliche Spezialdisziplinen einzelnerTeilaspekte des Problems an und versuchten, auf dem Wege empirischer For-schungen einer Lsung nher zu kommen.

    Die zu Beginn des 19. Jahrhunderts begrndete historisch-verglei-chende Sprachwissenschaft bemhte sich, durch die Analyse von Aufbauund Wortschatz die Verwandtschaftsverhltnisse zwischen den verschiede-nen modernen und historisch berlieferten Sprachen auf der Welt zu klren.Sie identifizierte auf diese Weise eine ganze Reihe unterschiedlicherSprachfamilien und versuchte bei einigen von ihnen, die den Einzelspra-chen ursprnglich zugrunde liegende gemeinsame Stammsprache zu re-konstruieren (vgl. S. 2123). Darber hinaus hofften viele Linguisten des19. Jahrhunderts aber, noch weiter ins Dunkel der Vergangenheit in Rich-tung auf die gemeinsame Ursprache der Menschheit vordringen zu kn-nen. Die Sprachwissenschaft, schwrmte 1866 etwa der in Oxford leh-rende Professor Max Mller, fhrt uns so zu jenem hchsten Gipfelpunktempor, von dem wir in das erste Frhrot des Menschenlebens auf Erden hi-nabblicken und wo die Worte Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge undSprache eine natrlichere, verstndlichere, berzeugendere Bedeutung an-nehmen, als sie je zuvor besaen.11

    Solche hochfliegenden Erwartungen wichen jedoch bald der Ernchte-rung. Je grer die Fortschritte bei der Erforschung konkreter Sprachfami-lien wie der indoeuropischen waren, desto deutlicher wurde, dass ihreStammsprachen vor hchstens 6000 oder 8000 Jahren existiert habenkonnten und nichts mit der vermuteten Ursprache der Menschheit zu tunhatten (vgl. S. 2325). Der Versuch, mit vergleichenden Analysen noch wei-ter in die Vergangenheit vorzustoen, scheiterte vllig, und um die Jahr-hundertwende stellte der Sprachforscher Berthold Delbrck desillusioniertfest: Ob es eine Ursprache des Menschengeschlechts gegeben hat, wissenwir nicht; das aber wissen wir sicher, dass wir sie durch Vergleichung nichtwiederherstellen knnen.12 Dieses Urteil wird bis heute von den meistenSprachwissenschaftlern geteilt, und neuere Versuche einer Minderheit unterihnen, der postulierten Ursprache doch noch auf die Spur zu kommen (vgl.S. 9496), werden berwiegend mit Skepsis und Ablehnung betrachtet.

    Ebenso zerschlug sich die nicht zuletzt aus ethnozentrischen Vorurtei-len gespeiste Hoffnung, man knne unter den sog. wilden Vlkern viel-leicht Relikte einer primitiven, lteren Stufe der Sprachentwicklung finden

    18 D I E E N T S T E H U N G D E R S P R A C H E

  • und so die Erforschung urtmlicher Verstndigungsweisen gleichsam amlebenden Objekt vornehmen. Dieser Forschungsansatz war, wie eine Reihevon vlkerkundlichen und linguistischen Studien zeigte, schon von seinenVoraussetzungen her verfehlt, denn die Sprachen der berlebenden Natur-vlker erwiesen sich in ihrer Grundstruktur als ebenso hoch entwickelt wiediejenigen der sog. zivilisierten Welt und waren also keineswegs urtmlicheberbleibsel. Was die linguistische Form anbelangt, geht Plato Seite anSeite mit dem mazedonischen Schweinehirten, Konfuzius mit dem Kopfj-ger von Assam, fasste der amerikanische Linguist Edward Sapir diese Ein-sicht 1921 zusammen.13 Insgesamt trugen die genannten Studien daher vielzur Entwicklung der Sprachwissenschaft als Disziplin bei, erbrachten imHinblick auf das Problem der Sprachentstehung aber eher enttuschende Er-gebnisse.

    Neue Hoffnungen wurden dagegen von naturwissenschaftlicher Seitegeweckt. Zwei medizinische Teildisziplinen, die Anatomie und die Neurolo-gie, befassten sich eingehend mit den Sprachorganen und dem Gehirn desMenschen, um ihre Funktionsweise und ihr Zusammenwirken beim Spre-chen zu ergrnden. Dies schien die Mglichkeit zu erffnen, durch einenVergleich mit den entsprechenden Organen der Tiere und spter mit fossi-len Frhmenschenfunden Hinweise auf die Entwicklungsgeschichte deranatomischen Sprachgrundlagen, sozusagen auf die Phylogenese (Stam-mesgeschichte) der Sprachfhigkeit, zu gewinnen. Und dass es eine solchePhylogenese gegeben haben musste, war ein nahezu unvermeidlicherSchluss aus der 1859 von Charles Darwin verffentlichten biologischen Evo-lutionstheorie, deren rascher Siegeszug die Forschung dazu zwang (und zu-gleich dazu befhigte), ber die Entwicklung aller Erscheinungen in der Na-tur auch der Kommunikation und der Sprache von niederen zu hherenFormen nachzudenken.

    Dieser naturwissenschaftliche Zugang zum Sprachursprungsproblemsollte sich als uerst zukunftstrchtig erweisen. Man beginnt die in ihmsteckenden Mglichkeiten erst heute richtig auszuschpfen, wie wir an an-derer Stelle noch genauer sehen werden (vgl. S. 5565).

    E I N F O R S C H U N G S Z W E I G G E R T I N S Z W I E L I C H T Auch die philosophischen Spekulationen und Debatten ber den Sprachur-sprung waren im 19. Jahrhundert aber keineswegs beendet, sie schossenvielmehr geradezu ins Kraut. Neben den bereits erwhnten klassischenTheorien und Erklrungsmodellen (vgl. S. 17) entstanden zu dieser Zeit eineReihe weiterer, deren Spannweite vom Einleuchtend-Genialen bis zumSkurrilen reichte. So erklrte man die Sprachentstehung beispielsweise ausunwillkrlichen Begleitlauten bei krperlicher Bewegung und Arbeit(wegen des vermuteten physiologischen Zusammenspiels unterschiedlicherKrperorgane als Sympathie-Theorie bezeichnet), aus koordinierendenLauten oder Gesngen bei kollektiver Ttigkeit (sog. Arbeitsgesang-Hypo-

    D E R U R S P R U N G V O N S P R A C H E U N D S C H R I F T 19

  • these oder Yo-he-ho- bzw. Hauruck-Theorie), aber auch aus der gesang-lichen Begleitung von Tnzen und der Anbetung des Mondes.

    Die Spekulationen nahmen derart berhand und bewegten sich zumTeil auf einem solch phantastischen Niveau, dass die Beschftigung mitdem Sprachursprung schlielich einen unserisen Beigeschmack bekamund in Verruf geriet, besonders bei der nunmehr streng positivistisch undempirisch ausgerichteten Sprachwissenschaft. So verbot 1866 die Linguisti-sche Gesellschaft von Paris in ihren Statuten alle Errterungen dieses The-mas, ebenso wie die Diskussion von Vorschlgen fr eine Weltsprache. Und1873 erklrte der Prsident der Philologischen Gesellschaft in London, Ale-xander J. Ellis, derartige Fragen lgen auerhalb des Arbeitsgebiets der se-risen Philologie. Wir leisten mehr, so fuhr der Gelehrte fort, wenn wirdie historische Entwicklung eines einzigen Alltagsdialekts zurckverfolgen,als wenn wir Papierkrbe mit spekulativen Abhandlungen ber den Ur-sprung aller Sprachen fllen.14 Bei dieser selbst auferlegten Zurckhaltungder Linguistik ist es bis heute im wesentlichen geblieben nur in den USAwird die Sprachursprungsforschung seit einiger Zeit auch von angesehenenSprachwissenschaftlern wieder betrieben (vgl. S. 95).

    Nun ist es ja in der Tat unbestreitbar, dass viele der erwhnten Theorienmit Wissenschaft nur wenig oder gar nichts zu tun haben. Sie sttzen sich je-weils auf sehr spezielle Erscheinungen des heutigen Sprach- und Kommuni-kationsverhaltens wie lautmalerische Wrter, Empfindungslaute, Zeichen-sprache oder begleitendes Singen bei krperlicher Arbeit, und projizierendiese recht unbekmmert in die frhe Entwicklungsperiode der GattungMensch zurck, um sie als die dort mageblichen Triebkrfte der Sprach-entstehung zu proklamieren. berdies lassen sich alle diese Theorien wederbeweisen noch widerlegen, sind also rein spekulativ. Denn die erstenSprachuerungen des Menschen haben nun einmal keinerlei Spurenhinterlassen, sie sind fr alle Zeiten verklungen, und keine Methode ermg-licht es herauszufinden, ob sie sich aus Empfindungslauten entwickelten,Naturtne nachahmten, von einem Arbeitsrhythmus inspiriert wurden odervorwiegend aus Gesten bestanden. Mehr als gewisse Anregungen geben undMglichkeitsfelder abstecken knnen diese Theorien also nicht, und deshalbwird im Folgenden auch kaum mehr von ihnen die Rede sein.

    N E U E F R A G E S T E L LU N G E N Die Beschftigung mit den Ursprngen der Sprache ist heute dennoch wie-der lohnend und auf fundierter Grundlage mglich, wenn man weniger dieFrage nach dem Wie als vielmehr die nach dem Wann und dem Warumder Sprachentstehung in den Vordergrund stellt die Frage also, mit welcherZeittiefe fr die artikulierte menschliche Verstndigung zu rechnen ist undaus welchen Bedrfnissen heraus sie am wahrscheinlichsten entstand. Zudiesen Fragen haben unterschiedliche Wissenschaftszweige wie die Biologieund die Archologie, die Palanthropologie (Wissenschaft von den fossilen

    20 D I E E N T S T E H U N G D E R S P R A C H E

  • Menschenfunden) und die Gehirn- und Kehlkopfforschung in den letztenJahrzehnten ein reiches Wissensmaterial zusammengetragen, das dieGrundlage aller aktuellen Forschungsdiskussionen bildet ohne einen sol-chen fcherbergreifenden Ansatz ist an eine sinnvolle Errterung desSprachentstehungsproblems heute berhaupt nicht mehr zu denken. Einig-keit und endgltige Klarheit hat zwar auch dieses Material bislang nicht er-bracht, denn wesentliche Fragen sind umstrittener denn je doch anders alsfrher kreist die Debatte nicht mehr nur um Spekulationen und Hypothesen,sondern um Fakten und ihre Interpretation.

    Zu den wichtigsten unter ihnen gehren die Erkenntnisse, die die Biolo-gie und die Verhaltensforschung mittlerweile ber die Verstndigungweisenim Tierreich gewonnen haben. Sie vermitteln ein Bild davon, was diemenschliche Sprache von der tierischen Kommunikation unterscheidet undwas sie mit ihr gemeinsam hat wie also gewissermaen der Ausgangspunktaussieht, von dem aus sich unsere Sprache in den frhesten Anfngen derMenschwerdung einmal entwickelt haben muss. Und sie helfen die Frage zuklren, ob der Mensch tatschlich das einzige Wesen ist, das Sprache besitzt,oder ob es bereits im Tierreich Verstndigungsformen gibt, die diese Be-zeichnung verdienen Themen, denen wir uns im nchsten Kapitel zuwen-den wollen.

    D E R U R S P R U N G V O N S P R A C H E U N D S C H R I F T 21

    Die Debatte um dasIndoeuropische

    Im Jahr 1786 schrieb Sir William Jones,ein britischer Richter in Indien, ber diealte Sprache dieses Landes: Wie alt dasSanskrit auch sein mag es ist eine Spra-che mit einer wunderbaren Struktur:Vollkommener als Griechisch, reichhalti-ger als Latein, von erlesenerer Feinheitals beide. Und doch ist die hnlichkeitmit diesen beiden Sprachen () zu gro,als dass sie auf einem Zufall beruhenknnte, ja so gro, () dass alle drei ei-ner gemeinsamen Quelle entsprungensein mssen, die vielleicht nicht mehrexistiert. Es gibt einen vergleichbaren() Grund zu der Annahme, dass Go-tisch und Keltisch () denselben Ur-sprung haben wie Sanskrit, und auch Alt-persisch knnte man der gleichen Familiezurechnen.15

    Diese mittlerweile berhmt gewordenenStze gelten als die Geburtsurkunde einesganzen Forschungszweiges der verglei-chenden Sprachwissenschaft. Dieser Dis-ziplin gelang es im Verlauf des 19. Jahr-hunderts, die tatschliche Verwandt-schaft zwischen den von Jones genanntenSprachen durch minutise Vergleiche ih-res Wortschatzes und ihrer Grammatikhieb- und stichfest zu beweisen. Nichtnur das Altindische, das Altiranische, dasGriechische, Lateinische, Keltische undGermanische gehrten wie die linguisti-schen Studien ergaben zu der von demRichter entdeckten Sprachfamilie, dieman nach ihren stlichsten und westlichs-ten Vertretern bald als indogermanischbzw. indoeuropisch bezeichnete; ihrwaren darber hinaus auch das im anti-ken Anatolien beheimatete Hethitisch,die slawischen und baltischen Sprachensowie eine Anzahl kleinerer Sprachgrup-

  • 22 D I E E N T S T E H U N G D E R S P R A C H E

    Stark vereinfachter Stammbaum der indoeuropi-schen Sprachfamilie, wie ihn der Linguist AugustSchleicher im 19. Jahrhundert rekonstruierte.

    pen und Einzelidiome zuzurechnen (Abb.oben). Alle diese Sprachen stammten, wie dievergleichenden Forschungen vermutenlieen, von einer gemeinsamen Vorlu-ferin ab der sog. indoeuropischenUrsprache, die sich noch in vorgeschicht-licher Zeit ber einen weiten Raum aus-gebreitet haben muss und dabei offenbarin eine Reihe regionaler Idiome zerfiel.Diese Tochtersprachen entwickeltensich dann nach Vermutung der Sprach-wissenschaftler immer weiter aus-einander, woraus im Laufe mehrererJahrtausende die verschiedenen moder-nen und historisch bekannten Sprach-gruppen entstanden. Es wre ein ganzhnlicher Prozess gewesen wie jener,der in historischer Zeit zur Entstehungder romanischen Sprachen aus ihrergemeinsamen Ursprungssprache, demLatein, fhrte.So wie das heutige Italienisch, Franz-sisch und Spanisch bewahrten aber auchdie indoeuropischen Sprachen eineganze Menge an Gemeinsamkeiten im

    Vokabular und in den grammatischenStrukturen, und das schien die Mglich-keit zu erffnen, die den einzelsprach-lichen Wrtern zugrunde liegendengemeinsamen Ursprungsformen (Wur-zeln) durch vergleichende Studien zurekonstruieren. Das Wort Vater beispiels-weise lautete im Altindischen pitr, imLateinischen pater, im Altirischen athirund im Gotischen fadar unter Berck-sichtigung gewisser Gesetzmigkeiten inder Lautentwicklung der einzelnen Spra-chen folgerten die Fachleute, dass seinegemein-indoeuropische Ursprungsformvermutlich patr gelautet hatte. Aus deneinzelsprachlichen Worten fr Schaf altindisch avis, griechisch o(w)is, latei-nisch ovis, altirisch oi, englisch ewe er-schloss man die indoeuropische Wurzelowis, und hnliche Rekonstruktionenlieen sich fr Hunderte weiterer Wrtervornehmen. Da man berdies bestimmte grammati-sche Strukturen der vermuteten Urspra-che rekonstruieren zu knnen glaubte,schien dieses lngst verschwundene

  • D E R U R S P R U N G V O N S P R A C H E U N D S C H R I F T 23

    Idiom pltzlich in Umrissen wiederer-schliebar zu sein. ber den Realittsge-halt dieses rekonstruierten Ur-Indoeuro-pisch, in dem die Pioniere der verglei-chenden Sprachforschung sogar Gedichteverfassten, sind die Meinungen heuteallerdings geteilt. Whrend mancheSprachwissenschaftler es fr ein bloesgelehrtes Konstrukt halten, betrachtenandere Experten es als weitgehend au-thentische Blaupause einer einstmals realexistierenden Sprache.Eine solche Sprache muss natrlich zu ir-gend einem Zeitpunkt einmal von Men-schen aus Fleisch und Blut gesprochenworden sein, und daher ist die Suchenach dem indoeuropischen Urvolk undseiner Heimat so alt wie die indoeuropi-sche Sprachforschung. Das linguistischeMaterial selbst lieferte in dieser Hinsichteinige Fingerzeige. So legten die rekon-struierten Naturbezeichnungen beispiels-weise die Vermutung nahe, dass die indo-europische Ursprache irgendwo in dergemigten Klimazone entstanden seinmuss, denn unter den Pflanzennamensind zwar Birke, Ulme und Weide in ih-rem Vokabular vertreten, nicht aber Oliveoder Palme, und auch die Tiernamen ver-weisen mit Br, Hirsch oder Elch eher innrdliche Breiten.Die ur-indoeuropischen Kulturbegriffewiederum deuten auf eine Gesellschaft,in der der Ackerbau zwar bekannt war,wie Wortwurzeln fr Getreide, Pflugoder Sichel belegen, an Bedeutung je-doch offenbar bei weitem von der Vieh-zucht bertroffen wurde, der ein reichesund vielfltiges Vokabular entstammt.Man hielt danach vor allem Herden vonRindern und Schafen, doch auch dasSchwein ist im Wortschatz prsent. Frdie Lokalisierungsfrage als besondersaufschlussreich gilt jedoch der Umstand,dass das Pferd von Anbeginn eine beson-

    dere Rolle im Weltbild der Indoeuropergespielt zu haben scheint, taucht seinName (ekwos) doch als Wortelement inzahlreichen Personen- und Gtternamenauf.Da das Pferd nach Vermutung vieler Ar-chologen aber im 5. Jahrtausend v. Chr.in der Zone nrdlich des Schwarzen Mee-res domestiziert worden sein soll und diedortigen prhistorischen Kulturen ber-dies vorwiegend von der Viehzucht leb-ten, sahen und sehen viele Fachleute dieweiten Steppengebiete der Ukraine undSdrusslands als die wahrscheinlichsteUrsprungsheimat der indoeuropischenSprache und Kultur an. Die aus Litauenstammende und bis zu ihrem Tod 1994 inden USA lehrende Prhistorikerin MarijaGimbutas hat diese Hypothese in den1970er und 1980er Jahren zu einem um-fassenden und spektakulr aufbereitetenModell ausgebaut. Nach ihrer Auffassung handelte es sichbei den nordpontischen Viehzchtern umhalbnomadische, patriarchalisch struktu-rierte und ausgesprochen expansiveGruppen, die wie alle historisch bekann-ten Indoeuroper die todbringendeMacht der scharfen Klinge verherrlich-ten. In drei Wellen, so Gimbutas, ber-rollten berittene Krieger aus diesen Kul-turen zwischen 4400 und 2800 v. Chr. dieumliegenden Regionen Europas undAsiens, vertrieben und unterjochten diedortigen Bevlkerungen und zwangen ih-nen ihre Sprache, Lebensweise und Kul-tur auf. Der Prozess der Indoeuropisie-rung msse, wie die Forscherin hervor-hob, also verstanden werden als ein mili-trischer Sieg, durch den den einheimi-schen Gruppen ein neues administrativesSystem sowie eine neue Sprache und Kul-tur aufgezwungen wurden.16 Als Folgedieser Unterjochung seien vielerorts inEuropa die angestammte Ackerbauwirt-

  • 24 D I E E N T S T E H U N G D E R S P R A C H E

    schaft und sesshafte Lebensweise einereher halbnomadisch-viehzchterischenKultur gewichen und jahrtausendealteTraditionen der Geschlechtergleichheitund des friedlichen Zusammenlebensdurch eine aggressive, von Mnnern do-minierte Gesellschaftsordnung verdrngtworden. Der Begriff indoeuropisch er-hlt in diesem Szenario also einen wenigschmeichelhaften Gleichklang mit derCharakterisierung kriegerisch-expan-siv.Seit etwa zwei Jahrzehnten macht indes-sen ein gnzlich anders gearteter Erkl-rungsansatz des britischen PrhistorikersColin Renfrew von sich reden. Gleichsamals Gegenentwurf zu Gimbutas kriegeri-schem Szenario prsentierte der Forscher1987 ein Modell, das ganz auf der An-nahme einer friedlichen, durch wirt-schaftliche Faktoren bedingten Sprach-und Kulturausbreitung basiert. Nach Ren-frew gab es in der europischen Vorge-schichte nur ein Ereignis, das weitrei-chend und in den Folgen radikal genugwar, um als Auslser fr die Ausbreitungder indoeuropischen Sprachen in Fragezu kommen, nmlich die Einfhrung derLandwirtschaft.17 Diese lste erstmalsum 8000 v. Chr. im Nahen Osten die zu-vor berall auf der Welt praktizierte Nah-rungsgewinnung durch Jagen und Sam-meln ab (vgl. S. 141 f.) und breitete sichin den folgenden 2500 Jahren ber Ana-tolien, Griechenland und den Balkan bisnach Mitteleuropa aus um 5500 v. Chr.war die buerliche Kultur am Rhein an-gelangt und im Laufe des 5. und 4. Jahr-tausends fasste sie auch in NordeuropaFu.18

    Ist dies alles bereits seit langem wohlbe-kannt, so war Renfrews Verknpfung die-ses weitrumigen Neolithisierungspro-zesses mit der indoeuropischen Frageein neuer und faszinierender Gedanke.

    Nach seiner Theorie wurde die frhesteindoeuropische Sprache um 7000 v. Chr.von Bauern in Anatolien gesprochen, diesie 500 Jahre spter zusammen mit demAckerbau nach Griechenland und vondort aus donauaufwrts nach Mitteleu-ropa trugen. Im Verlauf dieser Ausbrei-tung bildeten sich nach Renfrew unter-schiedliche regionale Dialekte heraus,aus denen spter die verschiedenen indo-europischen Sprachen und Sprachgrup-pen hervorgingen. Nicht aggressive Rei-terkrieger, sondern friedliche Bauern ht-ten also die Indoeuropisierung Euro-pas vollzogen, und dieser Vorgang wrenicht in Form einer abrupten Invasion,sondern als allmhlicher, fast unmerk-licher Prozess erfolgt der Gegensatz zuGimbutas Unterwerfungsszenario knntekaum grer sein.Untersttzung hat diese Theorie in jngs-ter Zeit durch eine computergesttztestatistische Auswertung von 87 indoeuro-pischen Einzelsprachen gefunden. Dieneuseelndischen EvolutionsbiologenRussell D. Gray und Quentin D. Atkinsonuntersuchten im Jahr 2003 die Gemein-samkeiten im Vokabular dieser 87 Idiomenach einer allerdings umstrittenenlinguistischen Methode namens Lexiko-statistik und konstruierten danach mitComputerprogrammen, wie sie in derEvolutionsbiologie Verwendung finden,den wahrscheinlichsten Entwicklungs-stammbaum der indoeuropischen Spra-chen. Auch bei ihnen befindet sich daseinst in Anatolien gesprochene Hethitischganz an der Wurzel, und bei der Datie-rung des Stammbaums mit einer gleich-falls umstrittenen Methode namens Glot-tochronologie ergab sich auch bei ihnenein Alter der hethitischen Ursprache vonzwischen 7800 und 9800 Jahren.19

    Viele Sprachwissenschaftler stehen dieseranatolischen Theorie aber nach wie vor

  • D E R U R S P R U N G V O N S P R A C H E U N D S C H R I F T 25

    ablehnend gegenber, weil sie die vonder vergleichenden Linguistik erschlosse-nen Fakten zu wenig bercksichtige. Soseien dem erst im 2. Jahrtausend v. Chr.durch Schriftfunde belegten Hethitisch inAnatolien nichtindoeuropische Sprachenvorausgegangen, und das Altgriechischebesitze weniger hnlichkeit mit dem He-thitischen als mit dem Altiranischen, wasunerklrlich sei, wenn die Sprachausbrei-tung von Anatolien aus ber Griechen-land erfolgt wre.Der gewichtigste Einwand ergibt sichaber aus dem rekonstruierten urindo-europischen Wortschatz selbst. Dieserenthlt nmlich eine ganze Reihe vonBezeichnungen fr Kulturgter, die nachheutigem Wissen erst seit dem 5. oder4. Jahrtausend v. Chr. bekannt warenbzw. genutzt wurden neben dem bereitserwhnten domestizierten Pferd zum

    Beispiel auch Begriffe wie Kupfer, Sil-ber, Rad, Wagen, Pflug, Joch und an-dere. Wenn die Ur-Indoeuroper dieseerst im 5./4. Jahrtausend erfundenenbzw. verwendeten Dinge aber bereitskannten und benannten, dann kann ihreKultur auch erst um diese Zeit existierthaben und nicht mit der Erfindung undfrhesten Ausbreitung der Landwirt-schaft im 8. bis 6. Jahrtausend v. Chr. inVerbindung gebracht werden so lautetdas einfache, aber schlagende Gegen-argument. Die indoeuropische Frage bleibt alsovorlufig offen und der Ursprung diesergroen asiatisch-europischen Sprach-familie rtselhaft Gott sei dank, mchteman fast sagen, denn sonst kme womg-lich einem ganzen Wissenschaftszweigund zahlreichen Spezialisten ihr span-nendster Diskussionsstoff abhanden.

  • GRILLENZIRPEN, VOGELGESANGUND AFFENGEKREISCHKOMMUNIKATIONSSYSTEME IM T I ERREICH

    Jeder Spaziergang in der freien Natur vermittelt einen Eindruck von derVielfalt tierischer Laute man hrt den Vogelgesang oder das Zirpen derGrillen, das Blken der Schafe oder das Pferdegewieher. Am vertrautestensind uns natrlich die Lautuerungen unserer Haustiere, das Miauen derKatze und das Bellen des Hundes. Hunde knurren, winseln oder heulen frei-lich auch, je nach Stimmungslage und Situation, und machen dadurch deut-lich, dass diese Laute Empfindungen zum Ausdruck bringen und etwas mit-teilen. Es handelt sich also um Signale, die der Verstndigung dienen unddie bei Artgenossen bestimmte Reaktionen auslsen: Ein angebellter Hundbellt heftig zurck, Entenkken folgen den Locklauten ihrer Mutter, ein gan-zer Vogelschwarm erhebt sich auf einen Warnruf hin in Sekundenschnelle indie Luft und fliegt davon.

    Nicht ohne Grund umfassten die eben genannten Beispiele ausschlie-lich akustische Signale, denn diese nehmen wir Menschen, die wir an eineLautsprache gewhnt sind, am deutlichsten wahr. Tatschlich aber spielen inder Tierwelt und zum Teil auch bei uns selbst visuelle bzw. optische Sig-nale (Formen, Farben und Bewegungen, Gesten und Gesichtsausdrcke),chemische bzw. olfaktorische Signale (mittels Geruchs- oder Geschmacks-stoffen) und taktile Signale (durch Berhrungen) eine ebenso wichtige Rollefr die Verstndigung. Beim Hund gehrt beispielsweise nicht nur das Bellenoder Knurren zum Kommunikationsverhalten, sondern ebenso die Krper-haltung, das Wedeln mit dem Schwanz oder das Fletschen der Zhne. Das istohne weiteres verstndlich, denn Krpersprache, Gestik und Mimik sind jaauch in unserem eigenen Sozialverhalten und unserer nichtverbalen Ver-stndigung keinesfalls zu unterschtzende Ausdrucksformen. Dagegen ver-mgen wir kaum nachzuvollziehen, welche immense Bedeutung Duftstoffen(etwa dem Absondern und Beschnuppern von Urin) bei einem so stark ge-ruchsorientierten Tier wie dem Hund zukommt und wie sie sein Verhalten zubeeinflussen vermgen. Die Harnmarke einer lufigen Hndin kann einenRden in heftige Erregung versetzen, der Geruch eines Rivalen in Furchtoder Aggressivitt. In hnlicher Weise besitzen bei so unterschiedlichen Tie-ren wie Fischen und Vgeln die Krperfarben, die nicht umsonst whrendder Balz- und Brunftzeit oft zu besonders aufflligen Tnen wechseln, eineenorme Signalfunktion im Konkurrenz- und Paarungsverhalten.

  • E I N U N I V E R S U M A N A U S D R U C K S F O R M E N Die Mittel und Methoden der Verstndigung im Tierreich sind, kurz gesagt,unermesslich, und zahlreich sind auch die Funktionen, die diese Verstndi-gung erfllt: Sie reguliert den Zusammenhalt oder die gleichmige rumli-che Verteilung der Tiere, grenzt Reviere und Territorien gegeneinander ab,begrndet soziale Ordnungen und Hierarchien, stiftet Kampf oder Frieden,erleichtert das schnelle Reagieren auf Bedrohungen durch natrlicheFeinde, dient der Fortpflanzung und der Aufzucht der Jungen und ermg-licht den Ausdruck so unterschiedlicher Empfindungen wie Aggressivittund Zuneigung, Angst und Wohlbefinden.

    Zur Erfllung all dieser Aufgaben hat die Natur wahrhaft bewunderns-werte Kommunikationsformen hervorgebracht: Die Duftstoffe weiblicherSchmetterlinge, vom Winde verweht, vermgen Mnnchen aus kilometer-weiter Entfernung anzuziehen. Die Rufe und Gesnge von Blau- und Buckel-walen lassen sich im Ozean noch in 100 km Entfernung auffangen, und alsdie Weltmeere noch nicht von lrmenden Motorschiffen befahren waren,mssen sie im Wasser mehrere hundert Kilometer weit vernehmbar gewesensein. Bei vielen Tieren ist der Austausch eines genau festgelegten Kanons vonwechselseitigen Signalen und Schlsselreizen unabdingbar, damit Mnn-chen und Weibchen die Paarung vollziehen knnen (das bekannteste Bei-

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    Sehr ausgeprgt ist das Ausdrucksverhalten bei Wlfen. Es regeltdurch Dominanz- und Drohgebrden wie durch Unterwrfig-keitsgesten das Sozialverhalten innerhalb der Gruppe.

  • spiel ist der Hochzeitstanz der Stichlinge), und bei einigen helfen vomMnnchen abgesonderte Stoffe (Pheromone) sogar, den Sexualzyklus desWeibchens zu regulieren. Die noch im Ei befindlichen Jungen einiger Vogel-arten bereiten sich durch Lautsignale auf ein gemeinsames Schlpfen vor,und bei einem koloniebrtenden Vogel, der Lumme, nimmt der Nachwuchsschon im Ei Lautkontakt mit den Eltern auf und erkennt sie an der Stimme,noch bevor er sie zum ersten Mal gesehen hat. Selbst der sprichwrtlichestumme Fisch ist in Wahrheit keineswegs stumm, sondern vermag mit Hilfeseiner Schwimmblase und anderer Krperteile rhythmische Tne zu erzeu-gen, die Signalcharakter besitzen.

    Die aus der vergleichenden Verhaltensforschung hervorgegangeneZoosemiotik (Wissenschaft von den Signalen im Tierreich) hat vor einigenJahrzehnten begonnen, in dieses verwirrende Universum an Kommunika-tionsformen hineinzuleuchten. Sie versucht, den Kosmos ein wenig zu ord-nen, indem sie die zahllosen unterschiedlichen Verstndigungsweisen nachihrem Medium bzw. Kanal (akustisch, optisch, chemisch, taktil), nach ih-rer Funktion (Fortpflanzung, Revierabgrenzung, Warnung vor Feindenusw.), nach ihrem Wirkungsradius (Nah- und Fernkommunikation) und ei-nigen anderen Kriterien unterteilt. Neben der Entschlsselung und be-schreibenden Klassifizierung dieser Systeme versucht sie aber auch, Unter-schiede bzw. Gemeinsamkeiten mit der menschlichen Sprache herauszuar-beiten. Dabei geht es natrlich nicht zuletzt um die Frage, ob angesichts derimmensen Vielfalt und des Variantenreichtums der tierischen Verstndi-gungsformen die traditionelle Auffassung noch haltbar ist, nach der derMensch als einziges Wesen ber Sprache verfgt und dieser Sprachbesitzsein wichtigstes Unterscheidungsmerkmal gegenber den Tieren bildet.

    D I E P H I LO S O P H E N U N D D I E T I E R S P R A C H E Diese Auffassung lsst sich bis in die Antike zurckverfolgen. Der griechi-sche Philosoph Aristoteles schrieb im 4. Jahrhundert v. Chr., dass derMensch unter allen tierischen Wesen allein im Besitz der Sprache [ist], wh-rend die Stimme, das Organ fr uerungen von Lust und Unlust, auch denTieren eigen ist. Denn soweit ist ihre Natur gelangt, dass sie Lust- und Un-lustempfindungen haben und dies einander mitteilen knnen. () TierischeRufe lassen sich aber, so fhrte er weiter aus, nicht zu Silben vereinigen,noch lassen sie sich wie die menschliche Sprache auf Silben zurckfh-ren. Und: Ein Laut ist nicht durch sich selbst ein Wort, sondern wird es erst,wenn er vom Menschen als Zeichen verwendet wird.1

    Waren diese bemerkenswerten Einsichten bei Aristoteles das Resultatsorgfltiger Beobachtung, so verfocht das christliche Mittelalter die Lehrevon der Einzigartigkeit der menschlichen Sprache auf dogmatischer Grund-lage: Gott habe den Menschen als sein Ebenbild geschaffen und nur ihn, alsdie Krone der Schpfung, mit Bewusstsein, Sprache und Religiositt ausge-stattet. Dadurch sei er weit aus der Tierwelt herausgehoben, und es komme

    28 D I E E N T S T E H U N G D E R S P R A C H E

  • einer Gotteslsterung gleich, irgendein anderes Wesen mit ihm auf eineStufe zu stellen.

    In der Zeit der Aufklrung wurden viele tradierte Dogmen zerstrt; dieberzeugung, dass allein der Mensch ber Sprache und Vernunft verfge,blieb dagegen unangetastet sie wurde nur in ein anderes Gewand geklei-det. Der Vater des modernen Rationalismus, der franzsische PhilosophRen Descartes, begrndete sie im 17. Jahrhundert neu, indem er die Tiereals vernunft- und seelenlose, allein nach den mechanischen Gesetzen ihresKrpers funktionierende Automaten bzw. Maschinen beschrieb und nurdem Menschen eine vernnftige Seele zubilligte, deren Natur das Denkenist. In seinem 1637 verffentlichten Discours de la Mthode fhrte er alsBeweis dafr die Sprache ins Feld: Denn es ist ganz auffllig, dass es keinenso stumpfsinnigen und dummen Menschen gibt (), dass er nicht fhigwre, verschiedene Worte zusammenzuordnen und daraus eine Rede aufzu-bauen, mit der er seine Gedanken verstndlich macht; und dass es im Gegen-teil kein anderes Tier gibt, so vollkommen und glcklich veranlagt es seinmag, das hnliches leistet. Descartes Schlussfolgerung: Dies zeigt nichtblo, dass Tiere weniger Verstand haben als Menschen, sondern vielmehr,dass sie gar keinen haben.2

    In eine hnliche Kerbe hieb Mitte des 19. Jahrhunderts der Sprachwis-senschaftler Max Mller, der den Evolutionstheoretikern entgegenhielt: Soweit nun auch die Grenzen des Tierreichs ausgedehnt worden sind, so dasszu Zeiten die Demarkationslinie zwischen Tier und Mensch nur von einerFalte im Gehirn abzuhngen schien, eine Schranke ist doch stehen geblieben,an der bisher noch niemand zu rtteln gewagt hat die Schranke der Spra-che. Selbst die rgsten Zweifler shen sich nmlich gezwungen einzuge-stehen, dass bis jetzt noch keine Tierrasse irgendeine Sprache hervorzubrin-gen vermocht hat, und dabei werde es auch bleiben3 eine Auffassung, diebis in unsere Tage hinein weit verbreitet ist.

    Ganz unangefochten war diese Position freilich nie. Der Volksglaubeneigte immer dazu, den Tieren menschenhnliche Zge zuzuschreiben, wieeine Unzahl von Sagen, Mrchen und Geschichten bezeugen, in denen Tieresich wie selbstverstndlich nicht nur untereinander, sondern ebenso mit denMenschen unterhalten. Und auch unter den Philosophen, Literaten und Na-turforschern regte sich hier und dort Widerstand gegen die menschlicheberheblichkeit den anderen Geschpfen gegenber. Wenn wir die Tierenicht verstehen, so fragte im 16. Jahrhundert etwa der franzsische Schrift-steller Michel de Montaigne, warum unterstellen wir ihnen dann Sprachlo-sigkeit, wo die Ursache doch auch in unserem eigenen Unvermgen liegenkann? Wenn die Tiere sprechen, dann sicher nicht mittels einer [der unse-ren] hnlichen Sprache, bemerkte der jesuitische Gelehrte Abb GuillaumeBougeant 1739 in einem Bchlein, das ihm einen Skandalerfolg und be-trchtliche Schwierigkeiten mit seinen geistlichen Vorgesetzten einbrachte.Aber kann man sich, so fragte er weiter, nicht auch ohne dieses Hilfsmit-tel hinreichend verstndigen und im wahrhaften Sinne sprechen?4 Diese

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  • Sichtweise wurde von manchem Zeitgenossen und spter Lebenden geteilt,und so verffentlichte zu Beginn des 19. Jahrhunderts der franzsische Ad-lige Dupont de Nemours zwei Wrterbcher fr Krhensprache-Franz-sisch und Nachtigallensprache-Franzsisch es sollten nicht die einzigenderartigen Werke bleiben.

    Von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus rckten dann seit 1859Charles Darwin und seine Mitstreiter dem Dogma von der unberbrckba-ren Kluft zwischen Mensch und Tier zu Leibe. Darwin selbst belegte in einem1874 erschienenen Werk mit dem Titel Der Ausdruck der Gemtsbewegun-gen bei dem Menschen und den Tieren ausfhrlich, dass die menschlicheKrpersprache und Mimik Vorlufer und Parallelen im Tierreich hat, und ernahm solche Vorstufen auch fr die Sprache an, ohne die unendlich gr-ere Fhigkeit des Menschen in diesem Bereich zu leugnen.5 Der deutscheZoologe Ernst Haeckel, einer der glhendsten Verfechter der Entwicklungs-theorie in damaliger Zeit, ging noch einen Schritt weiter. Die verschiedenenLaute, durch welche die Affen ihre Empfindungen und Wnsche, Zuneigungund Abneigung mitteilen, schrieb er, mssen von der vergleichendenPhysiologie ebenso als Sprache bezeichnet werden wie die gleich unvoll-kommenen Laute, welche kleine Kinder beim Sprechenlernen bilden, undwie die mannigfaltigen Tne, durch welche soziale Sugetiere und Vgelsich ihre Vorstellungen mitteilen. () Das alte Dogma, dass nur der Menschmit Sprache und Vernunft begabt sei, wird auch heute noch bisweilen vonangesehenen Sprachforschern verteidigt. () Es wre hohe Zeit, dass dieseirrtmliche, auf Mangel an zoologischen Kenntnissen beruhende Behaup-tung endlich aufgegeben wrde.6

    R E I N E R E F L E X L A U T E ? Der Streit um die Sprachfhigkeit der Tiere, den dieser kurze Blick in die For-schungsgeschichte hat deutlich werden lassen, dauert im Prinzip bis heutean. Auch in der modernen Kommunikationsforschung stehen sich in dieserFrage zwei Lager gegenber: Das eine sieht, ohne die prinzipielle berle-genheit der menschlichen Sprache in Zweifel zu ziehen, Vorstufen, Anstzeund Elemente sprachlicher Verstndigung bereits im Tierreich und hofft,durch ihre Erforschung Hinweise auf eine stufenweise Entwicklung unsererartikulierten Sprache aus solchen tierischen Anfngen gewinnen zu knnen(sog. Kontinuittstheorie). Die Vertreter der anderen Forschungsrichtunglehnen die Vorstellung eines Entwicklungskontinuums und einer letztlichnur graduellen Abstufung dagegen strikt ab und bestreiten die Existenz jeg-licher wirklich sprachlicher Elemente in der tierischen Kommunikation. Ih-nen gilt die menschliche Sprache als ein vllig anders strukturiertes und ein-zigartiges System, das nicht auf irgendwelche Vorlufer im Tierreich zurck-gefhrt werden knne (sog. Diskontinuittstheorie).

    Bis in die 1960er Jahre hinein war die letztgenannte Denkrichtung weit-hin vorherrschend. Nach ihr beruhen fast alle Signale in der Tierwelt auf

    30 D I E E N T S T E H U N G D E R S P R A C H E

  • gleichsam automatisch ablaufenden Reiz-Reaktions-Mechanismen, derenAuslser besondere emotionale Zustnde wie Angst oder Lust sein knnen,aber auch uere Faktoren wie die Annherung natrlicher Feinde, und dieLautsignale als begleitenden Ausdruck einer entsprechenden Empfindungs-reaktion auslsen. In jedem Fall erfolgt die Signalaussendung nach diesemModell aus dem Gefhl heraus (= emotional) bzw. im Affekt (= affektiv)und ohne bewusste Kommunikationsabsicht (= nichtintentional). Als Belegdafr werden etwa Beispiele von Tieren ins Feld gefhrt, die beim Anblickvon Futter oder in Gefahrensituationen auch dann Freuden- oder Alarm-laute ausstoen, wenn kein Artgenosse als Adressat und Kommunikations-partner in der Nhe ist. Gehirnuntersuchungen an Rhesusaffen schienendiese Sichtweise ebenfalls zu sttzen: Sie ergaben, dass die Lautuerungendieser Tiere nicht vom Neocortex gesteuert werden also von der Grohirn-rinde, die die meisten intellektuellen Prozesse lenkt , sondern vom sog.Limbischen System, das mehr fr den Gefhls- und Instinktbereich zustn-dig ist. Dementsprechend gingen die Anhnger dieser Schule auch zumeistdavon aus, dass die Kommunikationssignale der Tiere zum angeborenen In-stinktverhalten gehren und nicht von ihnen erlernt zu werden brauchen,sondern vollstndig genetisch verankert sind.

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    Feldheuschrecken erzeugen charakteristische Gesangsmuster,indem sie eine Feile an der Innenseite ihrer Hinterbeinegegen die Schrilladern der Vorderflgel reiben. (Oben: Oszillogramme der Beinbewegung, unten: Oszillogrammdes Gesangs.)

  • K O M P L E X E T I E R K O M M U N I K AT I O N Das in den letzten Jahrzehnten von der Zoosemiotik zusammengetrageneMaterial hat indessen gezeigt, dass das beschriebene Modell die tatsch-lichen Sachverhalte unverhltnismig vergrbert und dass viele tierischeKommunikationssignale auf sehr viel komplexeren Vorgngen und Wir-kungsmechanismen beruhen. So vermgen diese Signale den Artgenossenbeispielsweise nicht nur wichtige Informationen ber Gefhlszustnde wiePaarungsbereitschaft, Hunger oder Aggressivitt zu vermitteln (sog. Emp-findungs- und Motivationsbermittlung), sondern auch Hinweise auf u-ere Faktoren wie Bedrohungen, Futterquellen und anderes mehr (sog. Um-weltinformation). Und diese Informationen werden zum Teil in sehr vielprziserer Form gegeben, als es bei reinen Stimmungsuerungen und Ge-fhlsbekundungen zu erwarten wre. So reagieren etwa viele Vogelarten aufdas Herannahen eines Feindes nicht mit einem unspezifischen Angstlaut,sondern verfgen ber verschiedene Warnrufe fr Luft- und Bodenfeinde,die bei den Artgenossen jeweils ein unterschiedliches Verhalten auslsen.Auch bei einer Affenart, der afrikanischen Meerkatze, wurden drei derartigespezifische Alarmrufe nachgewiesen: Einer warnt vor Leoparden und ande-ren am Boden jagenden Raubtieren und veranlasst die Affen zur Flucht aufdie Bume; ein zweiter meldet Raubvgel, wie beispielsweise Adler, vor de-nen sie im Gebsch Schutz suchen; und ein dritter macht die Artgenossenauf Schlangen aufmerksam, die in der Folge nicht mehr aus den Augen ge-lassen oder gemeinsam attackiert werden.

    Die Primatenforscher Peter Marler, Dorothy L. Cheney und Robert M.Seyfarth haben diese Laute der Meerkatzen intensiv studiert und jahrelangeVersuche mit den Tieren durchgefhrt, die nach ihrer Auffassung nahezualle frheren Annahmen ber den Charakter derartiger Kommunikations-signale hinfllig machen. So beobachteten die Wissenschaftler etwa, dasseinzeln umherschweifende Meerkatzen beim Zusammentreffen mit einemRaubtier keinerlei Alarmrufe von sich gaben und dass die Hufigkeit und In-tensitt der Signale auch sonst von der Art und Zusammensetzung der je-weils anwesenden Zuhrerschaft abhing Meerkatzenmtter gaben bei-spielsweise signifikant hufiger Alarm, wenn sie ihre Kinder bei sich hatten,als wenn sie mit nichtverwandten Jugendlichen zusammen waren.

    Die Forscher schlossen aus diesen Beobachtungen, dass die Erzeugungvon Alarmrufen nicht obligatorisch geschieht, sondern durch die Anwesen-heit von Nachkommen, mglichen Geschlechtspartnern und ranghherenRivalen beeinflusst wird.7 Offenkundig handelt es sich also keineswegs umeinen starren Reflexmechanismus, sondern um ein bewusst kontrolliertes,modifiziert und abgestuft angewandtes Signalinventar, und eine hnlicheModifizierung von Alarmlauten je nach der anwesenden Zuhrerschaftwurde jngst auch bei so unterschiedlichen anderen Tieren wie Erdhrn-chen und Hhnern festgestellt.

    Die Meerkatzen scheinen auch keineswegs von Geburt an zur richtigenAnwendung des Lautrepertoires in der Lage zu sein, denn Affenkinder

    32 D I E E N T S T E H U N G D E R S P R A C H E

  • stoen nach den Beobachtungen Cheneys und Seyfarths die Alarmrufe an-fangs beim Auftauchen aller mglichen Tiere aus und lernen erst spter, diegefhrlichen von den ungefhrlichen Arten zu unterscheiden, das heit rich-tige Kategorien zu bilden. Hier fllt einem unwillkrlich die Bedeutungs-berdehnung bei unseren eigenen Kindern ein, die in den ersten Monatendes Sprechenlernens ja gleichfalls jeden Vierbeiner als Wauwau zu be-zeichnen pflegen wohl kaum eine rein zufllige Analogie. Hirnunter-suchungen an Affen haben darber hinaus gezeigt, dass bei ihrer Lautwahr-nehmung der linke Schlfenlappen des Gehirns eine wichtige Rolle spielt,der ja auch einen Teil der Sprachzentren des Menschen beherbergt (vgl.S. 56).

    Diese Forschungsergebnisse haben die Diskussion ber mglichesprachliche Anstze im Tierreich wieder ins Rollen und viele jahrzehntelangals gesichert geltende Lehrstze ins Wanken gebracht. Doch auch jenseitsdieser neuen Erkenntnisse gibt es viele schon seit langem bekannte Bei-spiele, die zeigen, dass die tierische Verstndigung sehr viel komplexer seinkann als in den simplen Reiz-Reflex-Theorien angenommen und dass sie inder Tat verschiedentlich Zge aufweist, die lange Zeit als ausschlielichesMerkmal der menschlichen Sprache galten.

    D E R V O G E LG E S A N G Das beginnt schon beim vertrauten Gesang des Vogels vor dem Fenster. Auchhier handelt es sich um ein kommunikatives Signal, jedoch um ein ver-gleichsweise kompliziert aufgebautes. Der Vogel reiht beim Singen einzelneLautelemente von unterschiedlicher Hhe, Dauer und Intensitt zu Sequen-

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    Tannenmeise

    Blaumeise

    Sumpfmeise

    Haubenmeise

    Gesangstrophen mehrerer Meisenarten in derAufzeichnung des Klangspektografen; sie veran-schaulichen die Unterschiedlichkeit des Gesangsauch verwandter Vogelarten.

  • zen aneinander, die als Phrasen und Strophen bezeichnet werden, undzwar mit einer solchen Geschwindigkeit, dass das menschliche Ohr die Fein-heiten erst beim langsamen Abspielen von einem Tontrger wahrzunehmenvermag. In seiner Grundstruktur hnelt der Vogelgesang damit der Musik, ineinem allgemeineren Sinne aber auch der menschlichen Sprache, die jaebenfalls auf gegliederten Lautfolgen basiert.

    Bemerkenswerterweise ist der Gesang vielen Arten nicht angeboren,sondern muss auf der Basis einer ererbten Disposition von lteren Artgenos-sen erlernt werden. Fehlt dieses Vorbild, wchst also ein solcher Vogel iso-liert heran, dann singt er in der Regel nur sehr unvollkommen. Umgekehrtknnen bekanntlich manche Vgel artfremde Gesangsmotive oder auchmenschliche Wrter und Stze erlernen und tuschend hnlich nachahmen ein Vorgang, der als Spotten bezeichnet wird. Ein im Experiment von Ka-narienvgeln aufgezogener Gimpel bernahm beispielsweise den Gesangseines Pflegevaters und gab diesen Kanariengesang spter an seine eigenenJungen weiter.

    Derartige Beispiele zeigen zusammen mit den beschriebenen Beobach-tungen bei Affen, welche Rolle Lernelemente in der tierischen Kommunika-tion spielen knnen, und widerlegen die frher verbreitete Auffassung, eslasse sich ein klarer Trennungsstrich zwischen der Lernsprache des Men-schen und der Erbsprache der Tiere ziehen. Dennoch hat der Vogelgesangmit Sprache im eigentlichen Sinne des Wortes wenig zu tun, denn die meis-ten Vgel reihen ihre Gesangselemente immer wieder zu denselben Strophenzusammen und ihr Repertoire (das je nach Art eine, mehrere oder Dutzendesolcher Strophen umfassen kann) ist so festgelegt und eingeschrnkt, dasssie daran nicht nur als Angehrige einer bestimmten Art und Dialekt-gruppe, sondern sogar als Individuen identifizierbar sind. Und der Informa-tionsgehalt dieser immer aufs neue wiederholten Strophen ist nach heutigemWissen fast so begrenzt wie der anderer, ungleich einfacher strukturierterTiersignale: Er beschrnkt sich offenbar auf die Mitteilung Mnnchen XY imBesitz eines Reviers eine Botschaft, die potenzielle Rivalen vor dem Ein-dringen warnt, ledige Weibchen dagegen whrend der Paarungszeit anlocktund damit der Revierabgrenzung und der Fortpflanzung dient.

    D I E TA N Z S P R A C H E D E R H O N I G B I E N E Die in den 1940er Jahren von Karl von Frisch und Martin Lindauer entdeck-te Tanzsprache der Honigbiene vielleicht das differenzierteste unter denbislang dargestellten tierischen Kommunikationssystemen vermag bei derInformationsbermittlung hingegen Erstaunliches zu leisten. Mit ihrer Hilfekann eine Sammlerin ihren Stockgenossinnen nicht nur das Vorhandenseineiner lohnenden Futterquelle, sondern auch deren Entfernung und Him-melsrichtung przise mitteilen.

    Liegt das entdeckte Nahrungsvorkommen weniger als 80 m vom Stockentfernt, so fhrt die Biene den sog. Rundtanz auf (Abb. 35 links). Sie trip-

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  • pelt dabei in kleinen Kreisen links und rechts auf der Wabe herum, wobei an-dere Sammlerinnen mit den Fhlern ihren Hinterleib berhren und ihrenBewegungen folgen. Dieser je nach Ergiebigkeit der Futterquelle wenige Se-kunden oder bis zu einer Minute dauernde Tanz veranlasst die alarmiertenBienen, im nheren Umkreis nach dem gemeldeten Nahrungsvorkommen zusuchen. Dabei dienen ihnen der der Kundschafterin anhaftende Bltenge-ruch sowie Nektar-Geschmacksproben, die diese an die anderen Bienen ver-teilt, als Anhaltspunkte.

    Liegt die Futterquelle in grerer Entfernung, so fhrt die Entdeckerinden komplizierteren Schwnzeltanz auf (Abb. unten rechts). Die Bewe-gungsfigur hnelt dabei einer Acht, wobei die Sammlerin auf der geradenStrecke zwischen den beiden Schleifen heftig mit dem Hinterleib schwn-zelt, d. h. hin- und herwackelt. Die Lnge des Weges bis zu der entdecktenNahrungsquelle teilt sie ihren Stockgenossinnen durch das Tempo ihres Tan-zes mit, das sich bei zunehmender Distanz und Flugdauer immer mehr ver-langsamt. Karl von Frischs Bienen tanzten die Achterfigur bei einem 100 mentfernten Ziel beispielsweise in einer Viertelminute zehnmal, bei einem5 km entfernten Ziel dagegen nur zweimal. Darber hinaus spielt auch nochein charakteristischer Schnarrlaut, den die tanzende Biene durch rasche Vi-brationen mit ihren Flgeln erzeugt, eine wichtige Rolle bei der bermitt-lung der Information.

    Die exakte Richtung der Nahrungsquelle teilt die Entdeckerin ihren Art-genossinnen durch die Ausrichtung ihrer Tanzbewegungen mit. Fhrt siediese unter freiem Himmel auf dem horizontalen Anflugbrett des Bienen-stocks auf, so weist die Bewegungsrichtung bei dem geradlinigen Teil desSchwnzeltanzes direkt auf das Ziel. Tanzt die Sammlerin dagegen, wie eszumeist der Fall ist, im dunklen Inneren des Stocks auf den senkrechten Wa-ben, so gibt sie die Richtung bezogen auf den Sonnenstand an. Eine geradli-

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    Rundtanz (links) und Schwnzeltanz (rechts) derHonigbiene.

  • nig-senkrechte Schwnzelbewegung nach oben signalisiert, dass die Nah-rungsquelle direkt in Richtung zur Sonne liegt, whrend eine senkrechtnach unten gerichtete Tanzachse darauf hinweist, dass das Ziel mit derSonne im Rcken anzufliegen ist. Auch Abweichungen von der Sonnenrich-tung vermag die Tnzerin durch eine entsprechende Neigung der Tanzachsewinkelgenau anzugeben.

    Die Weitergabe detaillierter Informationen mit Hilfe eines symbolischenCodes, die frher oft als Monopol des Menschen angesehen wurde, ist hier ineinem solchen Ma verwirklicht, dass die wissenschaftliche Welt von FrischsEntdeckung seinerzeit mit unglubigem Erstaunen zur Kenntnis nahm. Derden Bienentnzen zugrunde liegende Code ist freilich angeboren und daherauch nicht vernderbar, und er scheint sich aus rein physiologischen Erre-gungszustnden und rhythmischen Bewegungen nach dem Flug entwickeltzu haben, die auch bei anderen Insekten zu beobachten sind und die ur-sprnglich keinerlei Mitteilungsfunktion hatten. Dennoch mag auch ein ge-wisses bewusstes Element bei der daraus entstandenen Kommunikations-form eine Rolle spielen das lsst jedenfalls die Beobachtung vermuten,dass die Bienen in einem leeren Stock kaum tanzen und dass die Heftigkeitund Dauer ihrer Bewegungsfolgen wie auch die Reaktionen ihrer Stock-genossinnen von der Ergiebigkeit der Futterquelle und vom Nahrungsbedarfder Gemeinschaft abhngen.

    B E R R A S C H E N D E B E O B A C H T U N G E N Was schlielich unsere nchsten Verwandten im Tierreich, die Menschen-affen, betrifft, so haben die langjhrigen Studien Jane Goodalls und ande-rer Forscher unter frei lebenden Schimpansen und Gorillas unsere Perspek-tive seit den 1960er Jahren von Grund auf verndert. Wir wissen heute,dass diese Tiere fr den Nahkontakt innerhalb der Gruppe ber ein reichesArsenal an ausdrucksvollen Krperhaltungen, Gebrden und Variationendes Gesichtsausdrucks verfgen von Signalen der Gestik und Mimik also,die ja auch bei uns Menschen eine beraus wichtige und oftmals unter-schtzte Rolle spielt. So wie wir uns durch unsere Krpersprache, durchGesten, Blicke und unser Mienenspiel (Lcheln, Stirnrunzeln, zusammen-gebissene Zhne usw.) wortlos verstndigen knnen, und zwar weltweitund zumindest zum Teil auf der Basis angeborener Programme, so kn-nen das auch die Menschenaffen (Abb. S. 37). Ihre visuellen Signale sinddabei mit verschiedenen Lautuerungen und Berhrungsreizen verbun-den, so dass sich insgesamt ein sehr fein abgestuftes System von kombi-nierten Reizen zur Mitteilung von Stimmungen, Motivationen und anderenInformationen ergibt.

    Dieses System ist in seiner Anwendung bemerkenswert flexibel und viel-schichtig, und ein und dasselbe Signal kann darin je nach Kontext eine ganzunterschiedliche Bedeutung haben. So drckt etwa die sehr beliebte gegen-seitige Fellpflege (grooming) normalerweise liebevolle Zuwendung unter

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  • Partnern und Verwandten aus, kann aber auch zur Beschwichtigung einesGegenspielers in einer aggressiven Situation dienen. Und das Prsentierendes Hinterteils eigentlich ein Paarungssignal fungiert des fteren auchals Begrungs- oder Unterwerfungsgeste.

    Ein solches Signal lst beim Kommunikationspartner auch keineswegsimmer denselben Reflex aus vielmehr existiert ein weiter Reaktionsspiel-raum, bei dem nicht zuletzt auch die Umstnde von groer Bedeutung sind.So kann beispielsweise das durch Imponiergehabe, dramatische Gesten undmanchmal auch krperliche Attacken gekennzeichnete Herausforderungs-und Angriffsverhalten eines Schimpansenmnnchens gegenber einem an-deren ebenso gut eine aggressive Gegenreaktion wie eine Unterwerfungs-und Beschwichtigungsgebrde auslsen je nach Strke, Stimmung, Alterund sozialem Status der beiden Individuen. Und auch die akustische Kom-munikation scheint durch Erfahrungswerte und soziale Faktoren beeinflusstzu sein, denn hnlich wie die Alarmrufe der Meerkatzen finden auch dieLautuerungen der Schimpansen unterschiedlich starke Beachtung, jenachdem, welches Individuum sie von sich gibt.

    Unsere Primatenverwandten handhaben das ihnen im Grundsatz ange-borene Signalinventar also je nach Situation durchaus flexibel, was ohne ein

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    Schmollen(Frustration)

    Gepresstlippengesicht (Imponiergehabe, Aggressivitt) Huuh-Machen

    Spielgesicht

    Offenes Vollgrinsen (Erregung, Furcht)

    Geschlossenes Vollgrinsen(Erregung, Nervositt)

    Beispiele fr das Mienenspiel wild lebender Schimpansen.

  • starkes Lernelement unmglich wre auf diesem anpassungs- und leis-tungsfhigen Verstndigungssystem beruht zu einem guten Teil die hochentwickelte Gruppenstruktur und soziale Hierarchie der Menschenaffenge-meinschaften. Vervollstndigt wird dieses komplexe Bild durch die Aufse-hen erregenden und groenteils erfolgreichen Versuche, domestiziertenSchimpansen und Gorillas Zeichensprachen mit zum Teil Hunderten von ab-strakten Symbolen beizubringen und mit ihnen in diesen Zeichensprachenzu kommunizieren (vgl. S. 4144). In der Natur wurde derartiges allerdingsniemals beobachtet, so dass es sich anscheinend um ein nur unter mensch-licher Anleitung zutage tretendes Potenzial handelt.

    Die Tierkommunikationsforschung ist ein noch vergleichsweise jungerWissenschaftszweig, und weitere berraschende Ergebnisse sind jederzeitmglich. Dies gilt beispielsweise fr die mittlerweile schon berhmtenGesnge der Buckelwale minutenlang andauernde und oft ber Stundenhinweg wiederholte charakteristische Lautfolgen, deren Struktur besser be-kannt ist als ihre Funktion. Doch schon heute erweist sich die tierischeKommunikation als weitaus komplizierter und leistungsfhiger, als diesnoch vor fnfzig Jahren irgend jemand fr mglich gehalten htte. Sie er-schpft sich, wie zahllose Forschungsergebnisse gezeigt haben, keineswegsin den frher vermuteten simplen Reiz-Reaktions-Mechanismen (vgl.S. 31), und manche starre definitorische Grenze, die man lange Zeit zwi-schen ihr und der menschlichen Sprache errichten zu knnen glaubte, istmittlerweile gefallen oder zumindest fragwrdig geworden. Viele Fachleutevertreten heute sogar die Auffassung, es gebe kaum ein einzelnes Merkmal,das unsere Sprache allein besitze, das sie nicht mit dem einen oder anderentierischen Kommunikationssystem teile. Die Einzigartigkeit der mensch-lichen Sprache liegt nach Meinung dieser Forscher nicht in einzelnenUnterscheidungskriterien mit absoluter Gltigkeit, sondern in der Art undWeise, wie in ihr viele solcher auch im Tierreich anzutreffenden Einzel-merkmale und -leistungen miteinander kombiniert und zu einem neuenSystem verknpft sind.

    D I E S P R A C H E E I N O F F E N E S S Y S T E M Nach welchen Prinzipien funktioniert nun aber eigentlich unsere Spracheund was unterscheidet sie von den bisher beschriebenen tierischen Verstn-digungssystemen?

    Tiersignale sind wie wir sahen in der Regel an bestimmte Situationenoder Stimmungen gebunden und daher nicht fr eine Verstndigung berabstrakte Dinge, ber Fernliegendes, Vergangenes oder Zuknftiges geeig-net. Im Leben und Denken der Tiere spielen solche Kategorien offenbarkeine allzu groe Rolle, weshalb sich auch kein entsprechendes kommuni-katives Instrumentarium zu entwickeln brauchte. Ein einzelnes Tiersignalbermittelt auerdem zumeist eine ganze Botschaft, weshalb die Gesamt-menge an mitteilbarer Information schon durch die Anzahl der jeweils zur

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  • Verfgung stehenden unterschiedlichen Signaltypen (bei den meisten Tier-arten weniger als hundert) begrenzt wird. Die tierischen Verstndigungssys-teme funktionieren aus diesen beiden Grnden, trotz all ihrer Feinheit undoft auch Komplexitt, nur innerhalb beschrnkter Grenzen und sind nichtausbaufhig oder erweiterbar, bilden also gleichsam geschlossene Kom-munikationssysteme. Wollte man sie als Sprache bezeichnen, msste mandiesen Begriff so weit fassen (etwa als Medium der Informationsbermitt-lung von einem Sender zu einem Empfnger), dass er faktisch mit dem all-gemeineren Begriff der Kommunikation identisch wrde, was kaum sinnvollerscheint.

    Die menschliche Sprache zeichnet sich demgegenber durch ihre Viel-seitigkeit und Variabilitt aus. Sie ist ein offenes System, sowohl im Hin-blick auf die Art wie auch auf die Menge der bermittelbaren Information fr beides existieren so gut wie keine Grenzen. Grundlage dieser enormenLeistungsfhigkeit ist ihr Strukturprinzip, das in der Linguistik als die dop-pelte Gliederung der Sprache bezeichnet wird: Vergleichsweise wenige(zwischen 20 und 60) fr sich bedeutungslose Grundlaute, die Phoneme,erlauben durch unterschiedliche Kombination die Bildung einer groenZahl von bedeutungstragenden Einheiten (Morphemen) und Wrtern von Lautfolgen also, die als Symbole fr bestimmte Dinge bzw. Begriffe ste-hen und sich ihrerseits zu einer unbegrenzten Zahl von greren Sinnein-heiten mit hherem Informationsgehalt, den Stzen, zusammenstellen las-sen. Die Regeln, nach denen diese Satzbildung erfolgt, sind ebenso wie dieWrter und ihre Bedeutungsinhalte der Wortschatz bzw. das Vokabular durch gesellschaftliche bereinkunft festgelegt und werden durch kultu-relle Tradition weitergegeben (vgl. S. 70 f.). Sie mssen also auf der Basiseiner angeborenen Sprachdisposition und vielleicht auch genetisch veran-kerter Grundmuster (vgl. S. 92 f.) gelehrt und gelernt werden, unterschei-den sich von Sprache zu Sprache und unterliegen im Laufe der Zeit gewissenWandlungen. Die Grundstruktur des ganzen Systems aber ist weltweit beiallen bekannten und berlieferten Sprachen die gleiche auch bei denen dersog. primitiven Vlker, die daher keineswegs einfacher oder weniger leis-tungsfhig sind.

    K R E AT I V I TT U N D O R D N U N G Dieses Strukturprinzip, der unendliche Gebrauch von endlichen Mitteln,8

    hat die menschliche Sprache zu einem einzigartig rationellen, anpassungs-und ausbaufhigen Kommunikationsinstrument gemacht. Da die Bezie-hung zwischen einem Ding oder einem Begriff und dem Lautgebilde, durchdas sie symbolisiert werden, allein auf gesellschaftlicher bereinkunft be-ruht (in der Linguistik bezeichnet man das als die Willkrlichkeit derWortsymbole eine Ausnahme bilden lediglich lautmalerische Wrter), istes ebenso einfach mglich, hochkomplexe Gedankengnge und abstrakteKategorien in Worte zu fassen wie die alltglichen Dinge des Hier und

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  • Jetzt. Dank der Sprache knnen wir uns ber alle nur erdenklichen Themenmiteinander verstndigen ber Liebe und Hass ebenso wie ber Compu-terviren oder die neueste Handy-Technik, ber Lust und Leid ebenso wieber den Weltfrieden, den Urknall oder die Entstehung unseres Sonnen-systems. Und sollte es in irgendeiner Sprache noch kein Wort fr einen die-ser Begriffe geben, so kann es bei Bedarf jederzeit problemlos erfundenwerden, denn die menschliche Sprache ist fast unbegrenzt produktiv undkreativ.

    Doch sie leistet noch mehr: Die Sprache schrft, systematisiert undstrukturiert unser Denken, sie hilft uns, die vielfltigen Erscheinungen derWelt, in der wir leben, sinnvoll zu gliedern und zu ordnen, indem wir unsvon den einzelnen Dingen und Vorgngen einen Begriff machen brigensin den verschiedenen Kulturen auf zum Teil ganz unterschiedliche Weise,wie linguistische Studien gezeigt haben. Die gesprochene Sprache lsst sichauerdem in diverse abgeleitete, sekundre Kommunikationsformen ber-tragen und umsetzen etwa in unterschiedliche Gesten- und Gebrdenspra-chen, in Trommel- oder Funksignale (man denke an das Morsealphabet) undin verschiedenartige graphische Aufzeichnungssysteme, also die Schrift inihren vielfltigen Ausformungen (vgl. Teil II dieses Buches).

    Die Entstehung der Sprache war also die erstmalige Herausbildung ei-nes in seiner Grundstruktur offenen und beliebig erweiterbaren Kommuni-kationssystems, das auf der willkrlichen Verknpfung bestimmter Lautfol-gen mit bestimmten Bedeutungsinhalten beruht. Ausgangspunkt ihrer Ent-wicklung drften bereits recht komplexe, aber im Prinzip noch geschlosseneVerstndigungssysteme hnlich denen der heutigen Menschenaffen gewe-sen sein. Im Verlaufe der Sprachevolution fand vermutlich eine allmhlicheSchwerpunktverlagerung von zunchst vorwiegend visuellen Kommunika-tionssignalen, wie sie noch bei den heutigen Menschenaffen zu beobachtensind (vgl. S. 36 f.), zur berwiegend lautlichen Verstndigung statt. Der Be-griff der Lautsprache darf jedoch nicht zwangslufig an ein gleichartiges Ar-tikulationsvermgen und eine vergleichbare Laut- und Wortflle, Syntaxund Sprechgeschwindigkeit gebunden werden, wie wir sie heute kennen,denn ein sich erst allmhlich herausbildendes System besitzt selbstredend inseinen Anfngen noch nicht die gleiche Vollkommenheit wie an seinem (vor-lufigen) Endpunkt (vgl. S. 87).

    Auch wenn also die Lautuerungen unserer frhen Vorfahren in unse-ren Ohren vielleicht noch schwerfllig und roh geklungen htten sie warenSprache von dem Augenblick an, wo sie bewusst hervorgebracht wurden,um nach kollektiver bereinkunft verschiedene Dinge zu benennen undunterschiedliche Bedeutungsinhalte auszudrcken.

    Ab welchem Zeitpunkt in der Entwicklungsgeschichte des Menschendrfen wir damit aber rechnen? Diese Frage soll uns in den folgenden beidenKapiteln beschftigen.

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  • G R I L L E N Z I R P E N , V O G E L G E S A N G U N D A F F E N G E K R E I S C H 41

    Sprachversuche mit Menschenaffen

    Im Streit um die Einzigartigkeit desmenschlichen Sprachvermgens hat seitjeher die Frage eine groe Rolle gespielt,ob unsere nchsten Verwandten im Tier-reich, die Menschenaffen, zum Erlerneneiner Sprache in der Lage seien odernicht. 1747 vertrat der franzsische Philo-soph Julien de La Mettrie die Auffassung,dass ein in der Taubstummensprache er-fahrener Lehrer einen Menschenaffensprechen lehren und ihn in einen perfek-ten kleinen Gentleman verwandelnknne. 1925 griff der amerikanische Pri-matenforscher Robert Yerkes diesen Ge-danken wieder auf und schrieb: Viel-leicht kann man Schimpansen beibringen,ihre Finger zu gebrauchen, etwa in derWeise, wie es Taubstumme machen, undso eine einfache Zeichensprache ohneLaute zu erlernen.9 Im Jahr 1784 hattedagegen Johann Gottfried Herder (vgl.S. 17) genau diese Hoffnung verworfenund notiert: Denn ob sie gleich den In-halt der menschlichen Sprache fassen, sohat noch kein Affe, da er doch immer ges-tikuliert, sich ein Vermgen erworben,mit seinem Herrn pantomimisch zu spre-chen und durch Gebrden menschlich zudiskutieren.10 Und im 19. Jahrhundertstellte der Sprachforscher Max Mller mitNachdruck fest: Die Sprache ist der Rubi-con, welcher das Tier vom Menschenscheidet, welchen kein Tier jemals ber-schreiten wird. () Man versuche es undbringe den intelligentesten Affen inmenschliche Pflege und Lehre, er wirdnicht sprechen, er wird Tier bleiben, wh-rend das roheste Menschenkind () frh-zeitig dieses Charakteristikum derMenschheit sich aneignen wird.11

    Ernsthafte Versuche, diese Gedanken-

    spiele im praktischen Experiment zu er-proben, wurden erst seit den 1950er Jah-ren unternommen, und sie schienen zu-nchst die Zweifel am Sprachlernverm-gen der Affen zu besttigen. So ver-mochte etwa die Schimpansin Viki trotzintensiver Bemhungen ihrer amerikani-schen Pflegeeltern Catherine und KeithHayes, ihr die englische Lautsprache bei-zubringen, nach jahrelangem Trainingnur mit Mhe die vier Wrter mama,papa, cup und up hervorzubringen. Diemeisten Fachleute zogen aus diesem bis1954 durchgefhrten Experiment denSchluss, dass den Affen der fr eine Laut-sprache erforderliche Stimmapparatfehle. Alle nachfolgenden Versuche ziel-ten daher, wie schon von La Mettrie undYerkes erwogen, auf die Unterrichtungder Tiere in visuellen bzw. gestischen Zei-chenspra