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Krisen- und Notfalldienst Stuttgart Eine Einrichtung der Evangelischen Gesellschaft und des Jugendamts der Landeshauptstadt Stuttgart Jahresbericht 2017

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    Krisen- und Notfalldienst Stuttgart

    Eine Einrichtung der Evangelischen Gesellschaft und des Jugendamts der Landeshauptstadt Stuttgart

    Jahresbericht 2017

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    Impressum Geschäftsstelle: Krisen- und Notfalldienst

    Furtbachstr. 6 70178 Stuttgart Telefon: 0711/6465-120 Fax: 0711/62 02 586 E-mail: [email protected] Internet: www.eva-stuttgart.de Träger: Evangelische Gesellschaft Landeshauptstadt Stuttgart (Jugendamt) Leitung/Koordination: Abend- und Wochenenddienst: Manfred Oswald,

    Evangelische Gesellschaft Tagdienst: Barbara Kiefl, Jugendamt Bankverbindung: Evangelische Bank eG

    IBAN: DE535206 04100000234567 BIC: GENODEF1EK1

    Verwendungszweck: 216400-KND

    mailto:[email protected]

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    Liebe Leserin, lieber Leser, ungeachtet des oft allgemein vorherrschenden Eindrucks, dass die Welt durch Kriege, Klima-wandel, politische und gesellschaftliche Umwälzungen immer mehr aus den Fugen gerät, schlug sich dieses manchmal beklemmende Gefühl, jedoch statistisch nicht auf die Arbeit des Krisen- und Notfalldienstes (KND) nieder. Natürlich gab und gibt es viele hilfesuchenden Menschen, die von Sorgen und Ängsten belastet sind. Diese beziehen sich aber hauptsächlich auf den eigenen alltäglichen Privatbereich. Kamen dann noch unerwartete, medial verstärkte Schreckensereignis-se wie Terroranschläge oder Umweltskandale hinzu, führte dies bei einigen Anrufern zu Gefüh-len von Unsicherheit und Bedrohung, vor allem wenn sie kein Halt gebendes, soziales Umfeld hatten und sich als gesellschaftlich isoliert erlebten.

    In der Rückschau hat sich das Fallaufkommen 2017 nahezu auf den Wert des Vorjahres einge-pegelt und lag insgesamt bei 3013 Tagesfällen, was einer geringfügigen Abnahme von 4 % entspricht. Hinter dieser Zahl verbirgt sich ein vielfältiges Spektrum psychischer und sozialer Be-lastungen, Konflikte und Notlagen, menschliches Leid in allen Ausprägungen und Dimensionen. Wie dies in der Lebenswirklichkeit aussieht, wollen wir wieder beispielhaft anhand mehrerer Fallschilderungen aufzeigen, verbunden mit dem Anliegen, einen kleinen Einblick in unseren Arbeitsalltag zu geben.

    Um einen Dienst wie den KND an 365 Tagen im Jahr in dreifacher Besetzung vorzuhalten, be-darf es eines beträchtlichen organisatorischen und personellen Aufwands, der nur leistbar ist, wenn ein fachkompetentes, engagiertes und zuverlässiges Mitarbeiter-Team in ausreichender Personalstärke zur Verfügung steht. Dies zu gewährleisten war im letzten Jahr eine zentrale Auf-gabe. Denn gut ein Viertel der Belegschaft schied wegen beruflicher und/oder privater Gründe aus, sodass wir zügig auf dem derzeit fast leergefegten Arbeitsmarkt neue geeignete Fachkräfte finden mussten. Nach monatelanger Suche konnten wir schließlich vier junge Kolleginnen ge-winnen, die uns für die Krisendienstarbeit als gut geeignet erschienen und darüber hinaus noch fremdsprachliche Kenntnisse mitbrachten. Durch die neuen Kolleginnen hat sich unser Team merklich verjüngt, was einerseits eine neue Herausforderung in Bezug auf Einarbeitung und Ausbildung bedeutet, sich andererseits aber auch anregend und belebend auf den Dienstbetrieb auswirkt.

    Der Krisen- und Notfalldienst besteht nunmehr seit 17 Jahren in dieser Struktur und am Standort Furtbachkrankenhaus. Inzwischen ist er längst fester Bestandteil der psychosozalen Landschaft Stuttgarts, vernetzt mit vielen Diensten und Einrichtungen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, notleidende Menschen zu unterstützen. Wie ausdiffernziert dieses Beziehungsgeflecht ist, wird in den Kapiteln Kooperationen, Gremien- und Öffentlicheitsarbeit beschrieben. Stuttgart im April 2018

    Friedrich Walburg Manfred Oswald Abteilungsleiter der Bereichsleiter des Dienste für seelische Gesundheit Krisen- und Notfalldienstes

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    Tag- und Abenddienst Der KND ist sei t seinem Bestehen in zwei Tei le untergl iedert , dem sog. „Ta g-dienst“ sowie dem „Abend - und Wochenenddienst“ .

    Während derTagdienst – telefonisch erreichbar von Montag bis Freitag zwischen 9 und 16 Uhr – wechselnd von den 10 über das Stadtgebiet verteilten Beratungszentren des Jugendamtes durchgeführt wird, hat der Abend- und Wochenenddienst der Evangelischen Gesellschaft – ge-öffnet von Montag bis Freitag zwischen 16 und 24 Uhr sowie an Wochenenden und Feiertagen zwischen 12 und 24 Uhr – seinen ständigen Sitz im Furtbachkrankenhaus. Die einheitliche Kri-sen-Rufnummer wird um 16 Uhr vom Tag- auf den Abenddienst und am nächsten Tag um 9 Uhr wieder auf das diensthabende Beratungszentrum geschaltet.

    Die Verteilung der insgesamt 3013 Tagesfälle (ohne Kurzkontakte) zwischen Tag- und Abend-dienst ergab ein ähnliches Verhältnis wie in den Vorjahren. Auf den Tagdienst entfielen nur ca. 5 %, auf den Abenddienst 95 % der dokumentierten Fälle. Umgekehrt verhielt es sich bei den Kurzkontakten: 90 % tagsüber und 10% abends. Der Grund hierfür liegt in der Nutzerstruktur: Der Tagdienst wird fast ausschließlich telefonisch in Anspruch genommen. Meistens geht es um kurze Informations- oder Entlastungsgespräche und die Weitervermittlung an einen zuständigen Regeldienst. Beim Abend- und Wochenenddienst ist das Repertoire der Interventionen vielfälti-ger, er ist kontinuierlich an einem festen Ort verfügbar. Zudem finden die meisten Anforderun-gen zu Zeiten statt, in denen andere Hilfen nicht oder nur sehr eingeschränkt abrufbar sind. Das schlägt sich sowohl auf die Kontaktzeiten als auch auf die Häufigkeit der Inanspruchnahme nie-der. Die meisten Meldungen und Einsätze fanden am Wochenende statt. Unter der Woche wur-den Montag und Freitag am häufigsten frequentiert.

    0 1000 2000 3000 4000 5000

    Tagdienst inkl. Kurzkontakte Mo. -Fr.…

    Montag - Freitag(16 h - 24 h)

    Wochenende(12 h - 24 h)

    Kontakte insg.

    164

    2467

    1615

    4246

    KND-Inanspruchnahme 2017 (Tagdienst: Beratungszentren/BZ)

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    Einblicke

    Wie eingangs erwähnt, wollen wir in diesem Jahresbericht wieder konkrete Einblicke in unsere Arbeit geben. Dafür haben wir drei Fallbeispiele ausgewählt, das erste aus dem Bereich Migra-tion/Notunterbringung und die zwei anderen aus dem Problemkomplex Familienkri-se/häusliche Gewalt. Anhand dieser wahren Fallgeschichten, bei denen lediglich Namen und soziobiografische Daten verändert wurden, sollen die unterschiedlichen, teilweise schwierigen Einsatzbedingungen und Interventionen der Krisendienstarbeit verdeutlicht werden.

    Die erste Fallgeschichte schildert eine, mittlerweile immer wieder auftretende, Problemsituation, bei der einer, in Stuttgart „gestrandeten“ migrantischen Großfamilie kurzfristig eine Notunterkunft vermittelt werden muss. Beim zweiten Fallbeispiel einer Familienkrise sind gleich mehrere Prob-lemlagen und Aufträge enthalten, bei denen auch die Grenzen von Krisenintervention sichtbar werden. Die dritte Fallgeschichte schildert den Verlauf eines Hausbesuches, bei dem es um die Beratung einer Frau geht, die häusliche Gewalt erlebte.

    Fallbeispiel 1: Landflucht An einem kalten Abend im November gegen 17 Uhr ruft Herr Miller von der Bahnhofsmission an und schildert folgende Situation: „Bei mir ist gerade eine 11-köpfige afghanische Flüchtlings-familie, die eine Übernachtungsmöglichkeit benötigt. Die Leute sind schon seit gestern in Stutt-gart, haben im Bahnhof übernachtet, auch ein Baby ist dabei. Können Sie eine Notunterbringung organisieren?“

    Ich frage nach dem Aufenthaltsstatus und bitte Herrn Miller, sich die Ausweispapiere zeigen zu lassen. Dabei stellt sich heraus, dass die Familienmitglieder eine befristete Aufenthaltserlaubnis haben und bisher in einem kleinen Dorf bei Altenburg in Thüringen wohnten. Um mich rechtskundig zu machen, rufe ich bei der Migrationsberatung des städtischen Welco-me-Centers an. Dort bekomme ich die Auskunft, dass die Familie laut der Ausweisvermerke eine sog. Wohnsitzauflage hat, d.h. an ihren bisherigen Wohnort gebunden ist und somit nicht in Stuttgart aufgenommen werden kann.

    Ich rufe Herrn Miller erneut an und verein-bare mit ihm, dass er die Großfamilie, aus-gerüstet mit Stadtplan und Fahrscheinen, zu uns in die Furtbachstraße schickt.

    Eine Stunde später ist die Gruppe da - 3 Erwachsene und 8 Kinder im Alter von 6 Monaten bis 16 Jahren. Die älteren Frauen und Mädchen sind traditionell gekleidet, tragen lange Gewänder und Kopftücher.

    Außer einem Kinderwagen sehe ich nur einige Taschen und Tüten als Gepäck. Im Nu ist unsere Wohnküche, die aus Platzgründen rasch zum Beratungszimmer umfunktioniert wird, gefüllt.

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    Die Reisenden machen einen erschöpften, gestressten Eindruck. Ich biete warmen Tee und Was-ser an und frage die Erwachsenen nach ihrem Anliegen und dem Grund ihres Aufenthalts in Stuttgart. Doch sie verstehen mich nicht, sprechen weder deutsch noch englisch. Mit Gesten zeigen sie jedoch auf die 16-jährige Sumana. Das Mädchen spricht gut deutsch und erzählt, dass sie vor über einem Jahr nach Deutschland eingereist seien und in Stuttgart erstmals ihre Fingerabrücke abgegeben hätten. Sie würden deswegen jetzt gerne wieder hierher zurückkeh-ren, weil sie in dem kleinen Dorf in Thüringen nicht mehr bleiben wollten. Denn dort gebe es keine Einkaufsmöglichkeiten, der Weg zur Schule sei weit und das Haus, in dem sie wohnen, sei schlecht, die Heizung funktioniere nicht und es habe Mäuse.

    Während die Mutter der Kinder den Säugling stillt, scheinen die beiden anderen Erwachsenen, die sich als Onkel und Tante zu erkennen geben, einzelne Bruchstücke der Unterhaltung zu ver-stehen. Jedenfalls nicken sie immer wieder bekräftigend. Meine Frage nach dem Verbleib des Vaters ruft bei den Kindern lautes Schluchzen hervor, sodass ich die ungewöhnliche Familien-konstellation nicht weiter ergründen möchte.

    Ich versuche, der Familie klarzumachen, dass ich nur für heute Nacht eine Unterkunft vermitteln kann. Als ich darauf hinweise, dass es in Stuttgart eine große Wohnungsnot gibt und ich davon ausgehe, dass sie morgen wieder nach Thüringen zurückkehren müssen, löst dies bei Erwach-senen und Kindern Wehklagen und Flehen aus, in der Großstadt Stuttgart bleiben zu dürfen.

    Um die aufgeheizte Situation wieder etwas zu beruhigen, verspreche ich, mich um eine Unter-kunft für alle zu kümmern. Glücklicherweise ist gerade keine Messe oder Großveranstaltung in Stuttgart und so gelingt es mir, in der Internationalen Jugendherberge zwei Mehrbettzimmer zu buchen.

    Mittels eines vereinfachten Sozialhilfeantrags kann der Krisendienst in derartigen Fällen Men-schen, die in Stuttgart „gestrandet“ sind, auf Kosten des Sozialamts in einem Hotel oder Hostel unterbringen. Dies gilt insbesondere dann, wenn Kinder und Jugendliche mitbetroffen sind. Des-halb verweise ich auch zur weiteren Abklärung an das Beratungszentrum Mitte des Jugendamts. Damit die ortsfremde Familie den Weg dorthin findet, gebe ich ihr Flyer und Stadtplan mit. Ich weise nochmals nachdrücklich darauf hin, dass es wichtig ist, gleich morgen Vormittag um 9:00 Uhr dort zu sein, weil noch andere Behördengänge erledigt werden müssen.

    Anschließend begleitet meine Kollegin die Familie mit der Stadtbahn zur Jugendherberge, wäh-rend ich noch einen kurzen Bericht ans Beratungszentrum Mitte faxe.

    Am folgenden Tag erfahre ich von dort, dass sich die Familie tatsächlich eingefunden hatte. Die Abklärung mit der Ausländerbehörde habe jedoch ergeben, dass Stuttgart nicht aufnehme, son-dern die Menschen zu ihrem bisherigen Wohnort in Thüringen zurückkehren müssen, wobei . das Sozialamt die Kosten für das Bus-Ticket dorthin übernimmt. .

    Wie wir später erfuhren, lehnte die Familie dieses Angebot enttäuscht und lautstark ab und wei-gerte sich, die Amtsräume zu verlassen, sodass die Polizei gerufen werden musste.

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    Statistik 2017 Krisenhilfe gesucht „Sie rufen außerhalb unserer Öffnungszeiten an. Bitte wenden Sie sich an den Krisen- und Not-falldienst unter der Nummer ….“ So oder ähnlich lauten viele Bandansagen von Beratungsstellen, Frauenhäusern und anderen Einrichtungen – ein wichtiger Hinweis für Menschen in Not, die außerhalb der üblichen Öffnungszeiten Hilfe benötigen und noch nichts vom KND gehört hatten.

    Weiterhin ist der Krisendienst in den beiden großen Tageszeitungen und diversen Mitteilungs-blättern unter den „Notdiensten“ zu finden. Seine grünen handlichen Faltkärtchen sind tausend-fach im Umlauf und werden von Beratungszentren und Fachdiensten gezielt an KlientInnen aus-gegeben – insbesondere vor längeren Schließzeiten, wie den Weihnachts- und Osterfeiertagen.

    Viele hilfesuchende Menschen recherchieren mittlerweile im Internet und werden bei Eingabe von Problem und Ort in eine Suchmaschine schnell fündig. Auf den Webseiten der Stadt Stutt-gart, der Evangelischen Gesellschaft und anderer sozialer Einrichtungen erscheint dann der ent-sprechende Link mit Profilbeschreibung und Erreichbarkeit. Auf diese Weise wurden im letzten Jahr 272, vor allem jüngere Hilfesuchende auf den Krisendienst aufmerksam. Krisendienst-Kontakte Zur Bearbeitung der 3013 Fälle waren 3518 Telefonate mit Klienten, Angehörigen, Beratungs-stellen, Polizei u.v.a. erforderlich. Hinzu kamen 503 Gesprächskontakte in unseren Diensträumen, die im Vergleich zum Vorjahr (732) um ca. 30 % abnahmen, was hauptsächlich mit dem Rück-gang der Notunterbringungen zusammenhängen dürfte (siehe unter Interventionen). Die exter-nen Einsätze, zum größten Teil Hausbesuche, stiegen hingegen von 95 auf 108 um 11 % an.

    Während die Mehrzahl der Erstkontakte über das Telefon hereinkam oder als Besuch im Dienst stattfand, erreichte uns manchmal als Hilferuf auch eine E-Mail, in der das Problem geschildert, aber der Wohnort nicht genannt wurde, sodass eine Zuordnung nicht erfolgen konnte. Da wir

    0 500 1000 1500 2000 2500 3000 3500 4000

    am Telefon

    im Dienst

    extern (Hausbesuch)

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    keine E-Mail- oder Chatberatung anbieten, fragten wir in einer Rückmail nach dem Wohnort und baten um telefonische Kontaktaufnahme zur weiteren Abklärung der Problemsituation.

    Die gebührenpflichtige Rufnummer des KND 0180-5110444 ist ausschließlich aus dem Vor-wahlbereich 0711 des Festnetzes erreichbar. Viele Anrufer nutzen jedoch die Mobilfunknetze, für die diese Beschränkung nicht gilt, und melden sich manchmal per Handy aus dem gesamten Bundesgebiet sowie gelegentlich aus dem Ausland. Dabei geht es oft entweder um ein aktuelles Problem am Wohnort oder um die Notlage einer nahestehenden Person, die in Stuttgart lebt. Auch wenn der KND in erster Linie für die Bürgerinnen und Bürger der Landeshauptstadt zu-ständig ist, wird kein auswärtiger Anrufer abgewiesen. Diese „Erweiterung“ des Einzugsgebietes hat jedoch Auswirkungen auf die Beratungspraxis. Konnte man früher davon ausgehen, dass sich der Wohn- bzw. Krisenort in Stuttgart und Umgebung befindet, muss man diesen heute – wenn z.B. eine Handy-Nummer auf dem Display erscheint – erst erfragen. Dies ist deswegen er-forderlich, um im Beratungsgespräch mittels Internetrecherche passgenaue Hilfen in Wohnortnä-he heraussuchen und weiterempfehlen zu können. Allerdings werden auswärtigen Anrufern aus Kapazitätsgründen keine telefonischen Folgekontakte angeboten.

    Die zunehmenden Anfragen von außerhalb machen deutlich, dass es vielerorts keine flächende-ckende psychosoziale Krisenversorgung außerhalb der üblichen Öffnungszeiten gibt. In Baden-Württemberg ist Stuttgart die einzige Stadt, die ein solches Angebot vorhält.

    In 4 von 5 Fällen nahmen die KlientInnen eigeninitiativ Kontakt mit dem KND auf, was im Vorjah-resvergleich einer Steigerung von 5 % entspricht. Das restliche Viertel stellten psychosoziale Ein-richtungen, Angehörige, Freunde, Bekannte und die Polizei, deren Meldungen sich vorrangig auf Fälle mit häuslicher Gewalt, Familienstreitigkeiten oder Notunterbringungen bezogen. Belastungen und Krisen Im letzten Jahr wandten sich in 1646 Fällen Menschen an den KND mit teilweise länger andau-ernden psychischen und sozialen Belastungen, was 50 % aller Kontaktanlässe entspricht.

    Klienten 81%

    Angehörige 3%

    Polizei 6%

    Soziale Dienste 6%

    andere 4% Kontaktaufnahme

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    Die meisten Nennungen bezogen sich auf Lebenssituationen und -ereignisse wie z.B. eine chro-nisch psychische Erkrankung (1564), Einsamkeit und Isolation (590), Konflikte im sozialen Umfeld (409), Probleme mit Institutionen und Behörden (145), u.v.m.

    Kam zu den Belastungen noch ein unerwartetes, einschneidendes Ereignis hinzu wie z.B. Verlust des Arbeitsplatzes oder der Wohnung, führte dies bei den Betroffenen oftmals zu Überforderung, Verzweiflung, Hilflosigkeit und somit zu einer psychosozialen Krise. In einer derart eskalierten, als “chaotisch“ empfundenen Notlage wandten sich 360 Hilfesuchen-de (11 %) an den Krisendienst, von welchen 189 kein Dach über dem Kopf hatten und kurzfris-tig eine Notunterkunft benötigten.

    Lebenskrisen bezogen sich 147 Mal auf die Erschütterung der eigenen menschlichen Existenz wie z.B. Diagnose einer Krebserkrankung, Verlusterfahrung nach Trennung des Partners oder Tod einer wichtigen Bezugsperson. Auf solche Ereignisse reagierten die Betroffenen häufig mit Ver-zweiflung, Angst und Niedergeschlagenheit und suchten Halt, Sicherheit und Unterstützung.

    Psychiatrische Krisen, die durch wahnhaftes Erleben, Ängste, Spannungszustände, manische oder depressive Episoden gekennzeichnet sind, hatten einen Anteil von ca. 10 %, was nahezu dem Vorjahreswert entspricht. Im Akutfall wurde dabei an die Notfallpraxis am Marienhospital, die psychiatrische Klinik im Sektor oder den ärztlichen Bereitschaftsdienst verwiesen.

    In 60 Fällen steckten Menschen in akuten suizidalen Krisen. Bei der Intervention ging es zu-nächst um Stabilisierung und Abklärung, ob Rettungsdienst und Polizei hinzugezogen werden müssen, um eine akute Gefährdung abzuwenden und die Aufnahme in einer psychiatrischen Klinik in die Wege zu leiten. Dies war bisher im Dienst eher selten der Fall, da meistens zur Überbrückung engmaschige Kontakte zwischen Krisendienst und KlientInnen bzw. eine Vorstel-lung in der Notfallpraxis ausreichten.

    Belastung 50 %

    Lebenskrise 3 %

    Familienkrise 7 %

    Paarkonflikt 3 %

    (häusl.) Gewalt 8 %

    STOP (WV) 3 %

    psychosoz. Krise 5 %

    psychiatr. Krise 10 %

    suizidale Krise 2 %

    Sucht 2 %

    Obdach- losigkeit

    5 %

    Mehrfachnennung

    Belastungen und Krisen Sonstige 2 % %

  • 10

    Die Zahl der Familienkrisen (226), Paarkonflikte (151) und Fälle mit Häuslicher Gewalt (385) er-reichte wie im Vorjahr einen Anteil von 23 %. Indi-katoren waren z.B. Überforderung der Eltern bei zugespitzten oder eskalierten Erziehungsproble-men mit pubertierenden Jugendlichen (120); Streit und Gewalt zwischen Familienmitgliedern (425) entluden sich häufig abends und an den Wochen-enden. Hierzu zählten auch 97 sog. STOP-Fälle (Wohnungsverweis des Gewalttäters), bei denen die Polizei den KND zur Beratung/Unterstützung der Opfer (meist Frauen und Kinder) hinzuzieht.

    Insgesamt waren in 571 aller Fälle minderjährige Kinder und Jugendliche (mit-)betroffen, wobei es sich 94 Mal um eine akute Kindeswohlgefährdung handelte.

    Sozio-biografische Daten

    Nahezu die Hälfte aller hilfesuchenden Menschen (48 %) war alleinlebend, 23 % verheiratet oder in einer Partnerschaft lebend. Diese Zahlen sowie der große Frauenanteil von 79 % haben sich seit Bestehen des Dienstes kaum verändert und sind mit den Datenerhebungen der Psycho-logischen Beratungsstellen vergleichbar. Bei der Alterszusammensetzung der KlientInnen fällt auf, dass die Gruppe der 41- bis 50-Jährigen mit 23 % am stärksten vertreten war, gefolgt von den 31- bis 40-Jährigen und 18- bis 30-Jährigen mit 19 bzw. 18 %. Die Altersgruppen ab 50 neh-men entgegen dem demografischen Wandel dekadenweise wieder ab. Kinder und Jugendliche unter 18 sowie ältere Menschen über 70 wandten sich in nur 2 % aller Fälle an den KND. Auch dies sind Werte, die über die Jahre hinweg konstant geblieben sind.

    alleinlebend 48 %

    mit (Ehe-)Partner 23 %

    getrennt 4 %

    alleinerziehend 5 %

    bei Eltern 6 %

    im betr. Wohnen 9 %

    sonstige Lebensform

    3 % unbekannt

    2 %

    Lebenssituationen

  • 11

    Der Anteil der hilfesuchenden Menschen mit Migrationshintergrund verringerte sich im Vorjah-resvergleich um 4 % und liegt nun bei ca. 26%. Dieser Rückgang lässt sich u.a. so erklären, dass sich zunehmend viele der sog. „Armutsmigranten“ direkt an die Zentrale Notübernachtung wandten, da der Zugang dort neu geregelt wurde.

    Allgemein ist festzustellen, dass der Kontakt von Menschen mit ausländischen Wurzeln mit dem Dienst häufig durch die Vermittlung von Angehörigen, Freunden und Bekannten sowie über die Polizei im Zusammenhang mit Einsätzen bei häuslicher Gewalt herbeigeführt wurde. Kontakt mit Flüchtlingen und Asylbewerbern gab es bisher nur in Einzelfällen, was sich aber in den nächsten Jahren verändern dürfte. Kriseninterventionen Der überwiegende Anteil der 4569 Kriseninterventionen lag bei Beratungs- und Entlastungsge-sprächen am Telefon (2473), in den Diensträumen (503) oder bei Hausbesuchen und anderen Vorortein-sätzen (108). In 903 Fällen erfolgte eine Weitervermittlung/-empfehlung an die Bera-tungszentren, Fachberatungsstellen und andere psychosoziale Dienste.

    Ein wichtiges Aufgabenfeld in der Abwendung einer Notlage bestand auch 2017 darin, obdach-los gewordenen Menschen kurzfristig einen Übernachtungsplatz zu vermitteln. Dies geschah in 102 Fällen, davon 43 Mal bei Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfe wie beispielsweise Frau-en- oder Männerwohnheime und Zentrale Notübernachtung. Hatten wir 2015 noch über 500 Notübernachtungen vermittelt, halbierte sich diese Zahl bereits ein Jahr später. Dieser Trend setz-te sich 2017 fort, indem sich die Zahl der Notunterbringungen weiter um die Hälfte verringerte.

    Die Hauptursache für die drastische Abnahme reicht ins Jahr 2016 zurück und hängt damit zu-sammen, dass in der Zentralen Notübernachtung der Sozialdienst personell aufgestockt wurde und die Obdachsuchenden sich nun auch tagsüber zur Beratung und Aufnahme direkt dort einfinden konnten. Dieses Verfahren wurde auch auf die Abendstunden und das Wochenende ausgewetet,

    0 500 1000 1500 2000 2500 3000 3500 4000

    Beratungsgespräche

    Kooperationen mit Polizei u.a.(Not-)Diensten

    Notunterbringungen

    Weiterempfehlung/-vermittlung

    sonstige Maßnahmen

  • 12

    wobei in diesen Zeiten ein Sicherheitsdienst den Einlass regelt. So war es für die Klienten nicht mehr erforderlich, vorher ihren Wohnschein beim KND abzuholen. Entsprechend dieser Rege-lung schickten auch Zubringer-Dienste wie z.B. die Bahnhofsmission die Hilfesuchenden direkt in die Zentrale Notübernachtung in der Hauptstätterstr. 150, da die Notplätze der Männer- und Frauenwohnheime fast ständig belegt waren.

    Ein weiterer Grund für den Rückgang könnte vielleicht auch im milden Winter 2016/17 gelegen haben der es Betroffenen eher ermöglichte, im Freien zu schlafen. Nicht wenige Obdachlose meiden die Zentrale Notübernachtung, aus Angst vor Gewalt und Diebstahl, und schlafen lieber auf einer Parkbank oder in einer Unterführung.

    Neben der Vermittlung von Schlafplätzen in den Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfe besorg-ten wir auch Frauen (mit Kindern), die aus häuslicher Gewalt flohen, 52 Mal eine Übernach-tungsgelegenheit im Hotel oder Hostel, da die Frauenhäuser in Stuttgart und Umgebung ständig voll belegt waren oder nur Klientinnen aus ihrem Einzugsgebiet aufnahmen.

    Da Familien mit Kindern der Aufenthalt in den Notunterkünften nicht zumutbar ist, wurde mit dem Sozialamt vereinbart, dass in diesen Fällen bis zum nächsten Öffnungstag der Behörden ein Zimmer im Hotel oder Hostel vermittelt wird. Dabei machten wir sehr gute Erfahrungen mit der Jugendherberge, die eine gute Ausstattung und günstige Preise hat.

    0102030405060

    7 0

    52

    15

    28

    8

    Kinder/ Jugendliche

    5 %

    Frauen 28 %

    Elternteil mit Kind/ern

    16 %

    Männer 45 %

    Paar/Familie 6 %

    Notunterbringung nach Zielgruppen

  • 13

    Das KND-Team Das 21-köpfige Team setzte sich aus dem Leitungs-Tandem (Bereichsleiter und Stellvertreterin) sowie aus 18 SozialarbeiterInnen/-pädagogInnen, PsychologInnen und Fachkrankenschwestern aus unterschiedlichen Berufsfeldern zusammen. Das Spektrum erstreckt sich von der Psychologi-schen-, Sozial- und Sexualberatung, Jugend- und Familienhilfe, Migrationsberatung bis hin zur stationären Psychiatrie, Krankenhaussozialdienst und Arbeit mit Demenzkranken. Ein großer Teil der MitarbeiterInnen verfügt über eine Zusatzqualifikation.

    Die Tätigkeit beim KND erfolgt (außer beim Leitungs-Team) als Nebenerwerb im Rahmen eines geringfügigen Beschäftigungsverhältnisses. Im Hauptberuf sind die KollegInnen bei städtischen und freien Trägern angestellt. Das Team wird durch eine Verwaltungsangestellte ergänzt, die sich um Büroarbeiten und andere wichtige Dinge kümmert.

    Entsprechend des hohen Anteils der KlientInnen mit Migrationshintergrund gibt es im Team eine mehrsprachige Beratungskompetenz, die mit Französisch, Italienisch, Spanisch, Kroatisch, Grie-chisch, und Türkisch den gesamten südeuropäischen Sprachraum umfasst.

    Bei den monatlich stattfindenden Besprechungen geht es sowohl um Arbeitsorganisation und Fallreflexion, als auch um gegenseitigen Informationsaustausch und direkte kollegiale Begeg-nung im Gesamtteam. Um die Arbeit unserer Kooperationspartner näher kennenzulernen und mit ihnen einen direkten Austausch zu pflegen, laden wir immer wieder VertreterInnen anderer Dienste ein. Im letzten Jahr war das Kriseninterventions-Team der Johanniter Unfallhilfe und die Notfallseelsorge bei uns zu Gast. Eine Referentin von der Beratungsstelle Yasemin informierte über die Arbeit mit jungen Migrantinnen. Außerdem besuchten wir zum wiederholten Mal die

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    Integrierte Leitstelle in der Feuerwache Bad Cannstatt, die uns – neben dem Führungs- und La-gezentrum der Polizei – für Einsätze bei häuslicher Gewalt anfordert.

    Die Teamzusammensetzung war im letzten Jahr einem erheblichen Wandel unterzogen. Aus beruflichen und/oder privaten Gründen schieden 5 Mitarbeiterinnen aus, was einem Viertel der Belegschaft gleichkam. Auch unsere langjährige Verwaltungskraft verabschiedete sich zum Ende des Jahres. Um diese Abgänge zu kompensieren und den Dienstbetrieb an 365 Tagen im Jahr in Dreifachbesetzung aufrecht zu erhalten, mussten wir möglichst rasch die entstandenen Lü-cken wieder schließen. So suchten wir monatelang mittels Internet und Mund-zu-Mund nach neuen EinsteigerInnen. Wie eingangs erwähnt gestaltete sich die Suche als ziemlich schwierig, weil zum einen der Stellenmarkt im sozialen Bereich seit einigen Jahren ziemlich angespannt ist, und zum anderen die vielfältige Krisendienstarbeit den BewerberInnen ein hohes Maß an per-sönlichen und fachlichen Qualitäten abverlangt. Darüber hinaus war darauf zu achten, dass po-tenzielle neue MitarbeiterInnen von ihrer Persönlichkeitsstruktur her gut in unser Teamgefüge passen. Trotz dieser vielfältigen Auswahlkriterien gelang es uns, die personellen Lücken wieder zu schließen. Allein damit war es aber nicht getan. Die vorwiegend jungen Kolleginnen unter 30, die altersbedingt oft über wenig Berufs- und Lebenserfahrung verfügten, mussten über Monate hinweg gründlich eingearbeitet und ausgebildet werden. Dies erfolgte unter Anleitung und en-ger Begleitung durch das Leitungsteam. Für die neuen Kolleginnen bedeutete es eine große Herausforderung, sich in dem komplexen Aufgabenspektrum und in der anfangs kaum über-schaubaren psychosozialen Landschaft Stuttgarts zurechtzufinden. Auch die unterschiedlichen Arbeitsformen und Interventionen wie Telefonieren, persönliche Begegnung mit verschiedenar-tigsten Menschen, Komm- und Gehstruktur, der Umgang mit mannigfaltigen Belastungen, Krisen und Schicksalen, die Balance von vertrauensbildender Nähe und abgrenzender Distanz und vie-les mehr erfordert von den Neuen ein hohes Maß an Stabilität, Anpassungsfähigkeit, Flexibilätät und eigener Achtsamkeit. So ist die Arbeit im Krisendienst oft im wahrsten Sinne des Wortes spannend, ein ständiges Wahrnehmen, Lernen und manchmal auch Staunen über die Buntheit des menschlichen Seins.

    Da uns das Wohl unserer MitarbeiterInnen und der Gemeinschaftssinn im Team sehr am Herzen liegt, veranstalteten wir im Sommer wieder einen Ausflug, diesmal nach Schwäbisch Hall mit Stadtführung und Restaurantbesuch. Zum Jahresabschluß fand das traditionelle Weihnachtses-sen in schönem Ambiente im kleinen italienischen Restaurant Attimi statt, das exklusiv für das Krisendienst-Team reserviert wurde. Fallbeispiel 2: „Nicht ohne meine Tochter“

    Diese Fallgeschichte beschreibt ein eskaliertes Familiendrama unter verschiedenen Aspekten wie Kinderschutz, häusliche Gewalt, psychische Erkrankung eines Elternteils, Umgangsrecht etc. Auf-gabe und Ziel des Krisendienstes war es, zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln und kurz-frisitg einen gangbaren Weg der Krisenbewältigung zu suchen, um eine weitere Eskalation zu vermeiden. An dem Beispiel soll auch deutlich werden, dass wir trotz Erfahrung, Fachkompetenz und geduldigen Bemühens zuweilen an Grenzen stoßen, wo es dann keine hilfreichen, einver-

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    nehmlichen Lösungen mehr gibt, weil von einer Konfliktpartei die Bereitschaft oder Fähigkeit fehlt, konstruktiv mitzuwirken.

    Samstag, 14:15 Uhr: Frau Martini und ihre Mutter stehen vor der Tür des Krisendienstes und bitten um Einlass. Nach-dem sie im Beratungszimmer Platz genommen haben, schildert Frau Martini aufgeregt folgen-den Vorfall: Gestern sei es zwischen ihr und ihrem Mann zum wiederholten Mal zum heftigen Streit gekommen, in dessen Verlauf sich beide hocherregt angebrüllt und gegenseitig geschubst hätten. Sie habe sich von ihrem Mann bedroht gefühlt und große Angst gehabt. Ganz außer sich habe sie geäußert, dass sie so nicht mehr leben wolle. Daraufhin hätte sie mit Anna, der ge-meinsamen dreimonatigen Tochter, die Wohnung verlassen wollen, was ihr Mann aber nicht zugelassen und sich ihr in den Weg gestellt habe. Daraufhin habe sie sich weinend im Schlaf-zimmer eingeschlossen. Ungefähr eine halbe Stunde später sei dann –auf Anforderung ihres Mannes – die Polizei gekommen. Es sei ihm gelungen, die Beamten davon zu überzeugen, dass sie vorgehabt hätte, sich und dem Kind etwas anzutun. Um jegliche Gefährdung auszuschließen, wäre sie dann in die Psychiatrie gebracht worden, während Anna bei ihrem Vater verblieben sei. In der Klinik habe sie sich mithilfe von Medikamenten allmählich wieder beruhigt und der Ärztin heute versichert, dass sie sich nichts antun und zu ihrer Mutter gehen würde. Daraufhin sei sie entlassen worden. Sie mache sich nun große Sorgen um Anna und wolle sie so bald wie mög-lich sehen.

    Darum gebeten, erklärt sich die diensthabende KND-Mitarbeiterin bereit, ihren Mann, Herrn Mar-tini, anzurufen, um ihn zur aktuellen Situation zu befragen sowie eine mögliche Gefährdung von Anna abzuklären. Ziel ist, die hochangespannte Situation zu entschärfen und einen Kompromiss zu finden.

    Herr Martini berichtet, dass sich seine Frau während der Schwangerschaft psychisch verändert habe. Zunehmend seien Stimmungsschwankungen, Aggressionen und Ängste, teilweise mit wahnhaft-paranoiden Inhalten, aufgetreten. Um unterstützend für die Familie da zu sein, habe er Elternzeit genommen.

    Mit den Anschuldigungen seiner Frau konfrontiert, zeigt er sich fassungslos darüber, wie sie die Wahrheit verdreht. Im eskalierten Konflikt hätte sie gestern gedroht, sich mit einem Messer um-zubringen oder vom Balkon zu springen. Deshalb hätte er die Polizei gerufen. Herr Martini versi-chert, dass er eine friedliche Lösung wolle. Er habe in den letzten Stunden versucht, seine Frau

    telefonisch zu erreichen. Ihr Handy sei aber wohl ausgeschaltet gewesen. Deswegen habe er ihr Bilder von der friedlich schlafenden Anna ge-schickt, um sie zu beruhigen.

    Nach diesen Informationen von Herrn Martini versucht die Krisendienst-Mitarbeiterin mit dem zerstrittenen Paar in Einzelgesprächen und ge-meinsam am laut gestellten Telefon eine promisslösung zu finden. Das gestaltet sich je-doch als äußerst schwierig. Beide beschuldigen

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    sich fortwährend der Lüge; ein Zusammenkommen erscheint kaum möglich. Doch letztendlich gelingt es, ein Treffen am morgigen Sonntag um 14 Uhr in den Räumen des Krisendienstes zu vereinbaren. Herr Martini verspricht, Anna mitzubringen, seine Frau versichert, allein zu kommen. Nach dem Treffen würde der Vater das Kind wieder mit zu seinen Eltern nehmen.

    Sonntag, 13:50 Uhr: Frau Martini erscheint im Krisendienst. Sie wird von einem Bekannten begleitet, der jedoch wie-der weggeschickt wird, da dies nicht sovereinbart war. Kurz darauf trifft Herr Martini mit Anna ein. Ohne Worte übergibt er das schlafende Kind der Mutter. Diese packt, ebenfalls wortlos und ohne zu zögern, ihre Sachen zusammen und schickt sich an, mit dem schlafenden Kind auf dem Arm den Raum zu verlassen. Sie wird zuvor noch vom anwesenden Kollegen eindringlich auf die getroffene Vereinbarung angesprochen, was sie jedoch völlig ignoriert. Um eine weitere Eskala-tion zu vermeiden und das Kind nicht aufzuwecken, wirkt Herr Martini nicht weiter auf sie ein und lässt sie mit zerknirschter Miene ziehen. Danach wird die Polizei verständigt, die sogleich eine Fahndung nach Mutter und Kind auslöst. Nachdem sich Herr Martini verabschiedet hat, erfolgt eine Mitteilung per Fax an das zuständige Beratungszentrum des Jugendamts.

    Gegen 19:45 Uhr ruft Herr Martini erneut im Dienst an. Er möchte nochmals betonen, dass seine Frau psychisch krank sei. Sie leide unter Verlassenheitsängsten, Schlafstörungen, Erregungszu-ständen und Kontrollzwängen. Sie wollte ihn davon abhalten, den Kontakt zu seiner Herkunfts-familie zu pflegen, da sie Angst habe, seine Mutter würde Anna vergiftete Milch zu trinken ge-ben. Er ist völlig ratlos, was er tun kann und hat Sorge, dass das Jugendamt seiner Frau mehr glaubt als ihm.

    10 Monate später:

    Herr Martini ruft an und bittet um einen Gesprächstermin. Es gehe um den Vorfall zu Beginn des Jahres. Drei Tage später erzählt er, wie die Geschichte damals weiterging. Mithilfe des Jugend-amts sei es gelungen, eine gute Umgangsregelung zu vereinbaren, an die sich auch seine Frau, die mit Anna bei ihrer Mutter lebte, verlässlich gehalten habe. Durch die räumliche Trennung und das wohlwollende Miteinander hätten sich nach einiger Zeit bei beiden wieder positive Gefühle füreinander entwickelt, sodass man sogar wieder gemeinsam in Urlaub gefahren sei. Erfüllt von dem schönen Erlebnis wollten beide als Paar und Familie nochmals einen Neustart wagen, seine Frau sei wieder bei ihm eingezogen, es habe sich anfangs alles sehr gut angefühlt. Doch nach kurzer Zeit seien die alten Spannungen und Konflikte erneut aufgetreten, unter wel-chen auch Anna sehr gelitten habe. Nachdem sie wieder einmal heftig miteinander gestritten hätten, habe seine Frau in seiner Abwesenheit ihre Sachen gepackt und sei mit Anna wieder zu ihrer Mutter gezogen. An die vormals getroffene Umgangsregelung würde sie sich seitdem nicht mehr halten, das Kind unter Vorwänden nicht mehr an ihn herausgeben und somit seit zwei Monaten den Kontakt mit dem Kind unterbinden. Inzwischen habe er sich entschlossen, das Familiengericht anzurufen, um für seine Tochter das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu erwirken. Ihm gehe die ganze Sache sehr an die Nieren, oft fühle er sich hilflos, ohnmächtig, niederge-schlagen und vermisse seine Tochter sehr. Er bekomme jedoch viel Halt von seiner Familie und seinem Freundeskreis, sodass er mit der psychischen Belastung bislang gut umgehen könne.

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    Kooperationen Der KND arbeitet während seiner Öffnungszeiten eng mit den Diensten und Einrichtungen der Krisen- und Notfallversorgung in Stuttgart zusammen. Dazu zählen insbesondere die Polizei, die Integrierte Leitstelle, die Notfall- und Telefonseelsorge, das Kriseninterventionsteam der Johanni-ter Unfallhilfe, die Wohnungsnotfallhilfe und die Bahnhofsmission. Bei diesen Einrichtungen be-steht die Möglichkeit der wechselseitigen Inanspruchnahme wie z.B. KlientInnen zur Kriseninter-vention an den KND zu überweisen und umgekehrt in besonderen kritischen Situationen kolle-giale Beratung von dort abzurufen. Darüber hinaus gibt es tagsüber fallbezogene Kooperations-kontakte zur weiteren Krisenbearbeitung mit den Beratungszentren des Jugendamtes, den Ge-meindepsychiatrischen Zentren und anderen Fachberatungsstellen.

    Wichtige Kooperationspartner sind:

    - Beratungszentren des Jugendamts

    Die fallbezogene Kooperation mit den Beratungszentren des Jugendamtes erfolgt nach einem standardisierten Verfahren. Bei Einsätzen bzw. Hausbesuchen im Rahmen von STOP (Stuttgarter Ordnungspartnerschaft gegen häusliche Gewalt) und in Fällen von Kindeswohlgefährdung wird noch am selben Abend das zuständige Beratungszentrum per Fax über die Krisenintervention informiert, was eine zeitnahe Kontaktaufnahme mit der betroffenen Familie ermöglichen soll. Außerdem gibt es eine enge Zusammenarbeit im Rahmen der Beteiligung am Tagdienst (siehe oben)

    - Sozialamt – Wohnungsnotfallhilfe und Frauenhaus

    Bei akuter Obdachlosigkeit vermittelt der KND sowohl in geeignete stationäre Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfe, als auch in Frauenhäuser, wenn von Gewalt betroffene Frauen (und Kin-der) einen Schutzraum benötigen. Steht kein Frauenhausplatz zur Verfügung, veranlasst der Kri-sendienst die Unterbringung in einem Hotel oder Hostel und zahlt bei Bedürftigkeit einen Sozi-alhilfevorschuss aus, der zusammen mit den verauslagten Übernachtungskosten vom Sozialamt zurückerstattet wird.

    Wohnungsnotfallhilfe: Auch wenn die Zahl der Notunterbringungen im letzten Jahr weiter sank, spielte die Zusammenarbeit mit den Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfe eine wichtige Rol-le. Alleinstehende Männer, Paare und ganze Familienverbände (siehe Fallbeispiel) reisten mit Bus und Bahn aus ganz Europa nach Stuttgart, auf der Suche nach Arbeit, Wohlstand und einem besseren Leben. Viele dieser sog. „Armutsmigranten“ sprachen kein oder nur wenig deutsch, besaßen oft weder Geld noch berufliche Fachkenntnisse. Auf der Suche nach Unterkunft, Essen und anderer Unterstützung, tauchte diese Personengruppe auch beim Krisendienst auf. Nach einer Erstberatung und -versorgung empfahlen wir, sich am Folgetag an die Orientierungsbera-tungsstelle der Evangelischen Gesellschaft (OBS) zu wenden, die sich um EU-Bürger ohne soziale Leistungsansprüche kümmert.

    Städtisches Frauenhaus: Seit August 2012 vermitteln und begleiten KND-Mitarbeiterinnen ver-folgte und bedrohte Frauen und Kinder ins städtische Frauenhaus. Die Frauen werden dabei finanziell und materiell mit einer Erstausstattung versorgt und mit den Aufnahmebedingungen des Frauenhauses vertraut gemacht. Eine derartige begleitete Aufnahme fand im Berichtsjahr

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    jedoch nicht statt, weil es nur ganz selten freie Plätze gab oder Angebot und Nachfrage nicht deckungsgleich waren.

    - Polizei

    Die Polizei fordert den KND bei Einsätzen mit häuslicher Gewalt an, wenn die betroffenen Opfer – meistens Frauen und Kinder – weitere Beratung und Unterstützung benötigen. Bei Eintreffen des KND-Einsatzteams ist der Täter meist schon aus der Wohnung verwiesen worden. Manch-mal ist jedoch für die Polizei nicht zu klären, wer in der Partnerschaft Opfer und wer Täter ist, sodass der KND zur deeskalativen Schlichtung hinzugezogen wird. Auch wenn sich Frau und Kinder (aus Angst vor Gewalt) hilfesuchend auf dem Revier eingefunden haben, wird der Krisen-dienst manchmal gebeten, einen Frauenhausplatz zu suchen. Umgekehrt wird die Polizei hin-zugezogen, wenn es um hilflose alkoholisierter Klienten geht, die in eine Klinik oder zur Aus-nüchterung gebracht werden müssen. Eine andere Anforderungsituation war gegeben, wenn sich Eltern von ihren pubertierenden, randalierenden Jugendlichen bedroht fühlen. - Rudolf-Sophien-Stift

    Im Rahmen des Netzwerks Psychische Gesundheit – einem Projekt der Integrierten Versorgung von Rudolf-Sophien-Stift und diversen Krankenkassen – deckt der KND mittels einer Telefon-Hotline die Abend- und Wochenendzeiten ab. Er ist Ansprechpartner für eingeschriebene Patien-tInnen aus dem Einzugsgebiet Stuttgart und Rhein-Neckar-Kreis bei psychischen Belastungen und Krisen, berät in der Akutsituation und vermittelt bei Bedarf an andere Projektpartner weiter.

    Borderline Informations- und Kontaktstelle (BIKS)

    Menschen mit einer Borderline-Störung geraten häufig in akute, teilweise suizidale Krisen. Die Betroffenen leiden unter vielfältigen Symptomen wie selbstverletzendes Verhalten, Verlust der Impulskontrolle, extreme Stimmungsschwankungen, dissoziative Zustände, ausgeprägte Identi-tätsstörungen, Süchte und eine problematische Selbstwahrnehmung. Die Borderline-Störung ist von dem vorherrschenden Gefühl einer inneren Leere sowie der, als bedrohlich erlebten Angst, verlassen zu werden, geprägt. Charakteristisch sind auch Schwierigkeiten mit der Nähe-Distanz-Regulation.

    BIKS berät seit 2011 Menschen mit Borderline, deren Angehörige und professionell Tätige, informiert über das Störungsbild und vermittelt ins sozialpsychiatrische und psychosoziale Hilfesystem weiter. Zudem werden jährlich zwei mehrteilige Trialog Gruppenveranstaltungen ange-boten. Während des Projektzeitraums waren die Personalstellen über die „Aktion Mensch“ finanziert und von der Heide-hof-Stiftung gefördert. Dabei ermöglichte die Personal-

    union einer langjährigen, erfahrenen Mitarbeiterin, bei BIKS und KND, die Kombination von Beratung und Hinführung zu niederschwelliger Kriseninter-vention abends und am Wochenende. Denn gerade in diesen Zeiten wird Alleinsein von den Betroffenen oft als besonders dramatisch und bedrohlich erlebt, was sich dann häufig zu krisen-

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    haften Verläufen zuspitzt. Einer solchen Eskalation kann die Kontaktaufnahme mit dem KND ent-gegenwirken.

    Durch seine zeitnahe, professionelle Intervention sind schon etliche Klinikaufenthalte vermieden worden. Sollte dies wegen akuter Eigengefährdung nicht möglich sein, begleitet der KND zu ambulanten medizinischen Notdiensten und in den Schutz einer stationären Behandlung.Diese Möglichkeit, in der akuten Krise den KND kurzfristig anrufen oder aufsuchen zu können, wird von den Betroffenen als große Entlastung und Absicherung erlebt.

    - Furtbachkrankenhaus

    Bei Klienten, die in einer akuten psychiatrischen Notlage den Dienst aufsuchen, ist eine Weiter-verweisung jedoch nicht immer zu verantworten. Für diese Fälle wurde mit der ärztlichen Leitung des Furtbachkrankenhauses vereinbart, dass der diensthabende Arzt hinzugezogen werden kann. Dafür gab es 2017 fünfmal Anlass.

    - Notfallpraxis am Marienhospital

    Eine Kooperation mit der Notfallpraxis am Marienhospital ergab sich nur in einzelnen Fällen. Insbesondere von Ärztinnen und Ärzten, die den Krisendienst aus früherenZeiten kennen, wur-den Patienten zur Beratung vermittelt. Umgekehrt verwies der KND bei entsprechender Indika-tion direkt an die Notfallpraxis oder an das psychiatrische Krankenhaus des jeweiligen Sektors.

    Im Folgenden eine Übersicht der institutionellen Kooperationen:

    - Beratungszentren des Jugendamts (Kinderschutz) - Sozialamt (Notunterbringung von Frauen aus häuslicher Gewalt im Hotel) - Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfe (Notübernachtungen) - Bahnhofsmission Stuttgart - Polizei (Unterstützung von Opfern häuslicher Gewalt, Notunterbringungen) - Städtisches Frauenhaus (begleitete Aufnahme) - Psychosoziale Fachberatungsstellen - Borderline Informations- und Kontaktstelle Stuttgart (BIKS) - Psychiatrische Notfallpraxis am Marienhospital (NFP) - Gemeindepsychiatrische Zentren (GPZ) - Projekt Aufwind

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    - Psychologische Beratungsstellen - Diakonische Bezirksstellen - Notfallseelsorge - Kriseninterventions-Team der Johanniter Unfallhilfe -Telefonseelsorge - Rudolf-Sophien-Stift (Hotline „Netzwerk psychische Gesundheit“) - Beratungs- und Behandlungszentrum für Suchterkrankungen der Evangelischen Gesellschaft (landesweite Hotline gegen Spielsucht) Fallbeispiel 3: Aus der Traum Donnerstagabend 20:30 Uhr: Herr Obermüller vom Polizeinotruf 110 ist am Telefon und meldet einen Einsatz wegen häuslicher Gewalt bei Familie Georgios-Mustafi in Stuttgart-Wangen, mitbe-troffen sei auch die 6-jährige Tochter Jasmin, die den Streit ihrer Eltern miterlebt habe. Frau Ge-orgios sei von ihrem Mann geschlagen worden und mache einen psychisch verstörten Eindruck. Sie wünsche, dass der KND sie zuhause aufsucht. Die Geschädigte spreche allerdings außer griechisch und englisch nur gebrochen deutsch. Da ist es geradezu ein glücklicher Zufall, dass an diesem Abend eine Kollegin griechischer Ab-stammung im Dienst ist. Sie fragt Herrn Obermüller noch nach Namen und Adresse der Familie und wird von ihm zur weiteren Abklärung mit den Polizeibeamten vorort verbunden.

    Dort meldet sich Polizeiobermeisterin Schneider und berichtet, dass neben Frau Georgios noch deren Schwester in der Wohnung anwesend sei. Der Ehemann habe einen Wohnungsverweis erhalten, den Schlüssel abgegeben und das Haus inzwischen verlassen. Frau Schneider bekräftigt nochmals den Wunsch von Frau Georgios, dass der Krisendienst sie besuchen soll. Es wird ver-einbart, dass wir in ca. 1 Stunde da sein werden.

    Als nächstes wird unsere Hintergrundrufbereitschaft angefordert, die so lange im Dienst bleiben wird, bis wir wieder vom Einsatz zurück sind. Dann inspizieren wir nochmals unsere Einsatz-tasche, ob auch alle benötigten Faltblätter vorhanden sind: Beratungszentrum, Fraueninterven-tionsstelle, Gewaltschutzgesetz auf Griechisch, Kinderschutz-Zentrum und KND-Kärtchen – alles da, auch ein kleiner Stoffbär als Trösterchen für Jasmin. Nach kurzer Zeit trifft der Kollege aus der Rufbereitschaft ein, wir rufen ein Taxi und sind bald darauf unterwegs nach Wangen.

    Das Mehrfamilienhaus liegt im alten Ortskern. Der Türöffner summt als wir uns über die Sprechanlage als Krisendienst melden. Wir werden von Frau Geor-gios an der Wohnungstür empfangen und ins Wohnzimmer gebeten, in dem uns auch ihre Schwester begrüßt. Offenbar fällt es Frau Georgios schwer, sich auf Deutsch ausdrücken, da sie erst seit zwei Jahren hier lebt. Ihre Schwester, die seit einiger Zeit bei ihr wohnt, spricht nur griechisch. Umso freu-diger ist die Überaschung, als meine Kollegin sie in

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    ihrer Muttersprache anspricht. Die folgende Unterhaltung ist ein gestenreicher Mix aus deutsch und griechisch. Frau Georgios erzählt eine Leidensgeschichte wie wir sie schon von vielen Frau-en zu hören bekamen. Sie habe ihren Mann, der aus Marokko stammt, in Griechenland ken-nengelernt. Anfangs seien sie ein glückliches Paar gewesen, ein Jahr später sei Jasmin zur Welt gekommen. Dann wäre die wirtschaftliche Lage immer schlimmer geworden. Ohne Arbeit und Einkommen seien sie auf die Hilfe ihrer Eltern angewiesen gewesen. Irgendwann sei dann die Entscheidung gefallen, nach Deutschland zu gehen. Ihr Traum von einem besseren, glückliche-ren Leben habe sich jedoch nicht erfüllt. Obwohl sie und ihr Mann Arbeit gefunden hätten, er als Busfahrer und sie als Friseurin, habe es immer öfter Streit ums Geld gegeben. Er verlange von ihr, dass sie die Wohnungsmiete und die anderen Lebenshaltungskosten bezahlt, während er nur für das Auto und einige Einkäufe aufkommen wolle. Was er mit dem Rest seines Lohns anstellt, sage er ihr nicht. Dagegen habe sie sich oft gewehrt, wollte eine gerechtere Aufteilung des Fa-milieneinkommens. Die Situation verschärfte sich, als er für eine Zeitlang seinen Führerschein verlor und sie aus gesundheitlichen Gründen ihre Arbeit aufgeben musste. Ihr Mann sei immer öfter, schon bei den geringsten Kleinigkeiten, ausgerastet, habe sie beschimpft und ihr sogar angedroht, sich mit einem Messer zu verletzen, nur um sie gefügig zu machen. Heute sei der Streit dann so eskaliert, dass er sie ins Gesicht geschlagen habe. Weiterhin merkt sie an, dass dieser permanente psychische Stress sich auch schädlich auf ihre Autoimmunerkrankung aus-wirke und natürlich auch auf Jasmin, die die Spannungen und Streitereien oftmals hautnah mit-erlebe.

    Frau Georgios wirkt verzweifelt, sagt, dass sie diese Belastungen nicht mehr länger aushalten könne und wolle. Nach der heutigen Gewalterfahrung habe sie den Entschluss gefasst, sich von ihrem Mann zu trennen. Sie brauche endlich geordnete Verhältnisse und Ruhe, um weiterhin konzentriert deutsch lernen und sich eine neue Arbeit suchen zu können.

    Wir informieren Frau Georgios über die nächsten Schritte des STOP-Verfahrens, die wichtigsten Bestimmungen des Gewaltschutzgesetzes sowie die psychosozialen Hilfeangebote und händi-gen ihr die mitgebrachten Flyer aus – und das Bärchen für Jasmin, die bereits bei einer Nachba-rin schläft. Wir ermutigen und bestärken Frau Georgios, den eingeschlagenen Weg mit Unter-stützung ihrer Herkunftsfamilie und Freunde weiterzugehen. Sie versichert, dass sie sich morgen gleich ans Beratungszentrum und an die Fraueninteventionsstelle wenden würde und ist dank-bar, dass wir diese beiden Stellen noch heute per Fax über unser Gespräch informieren. Frau Georgios wirkt am Ende unseres Besuchs spürbar erleichtert, deutet aber noch ein großes Redebedürfnis an. Denn allzuoft habe sie in der Vergangenheit zu viel mit sich selbst ausge-macht, um andere nicht mit ihren Problemen zu belasten. Da meine Kollegin zufälligerweise am nächsten Tag nochmals im Dienst ist, lädt sie sie zum Gespräch ein.

    Auf der Rückfahrt lassen wir unseren Einsatz nochmals Revue passieren. In der Dienststelle an-gekommen berichtet uns der Kollege von den eingegangenen Anrufen, die meisten von be-kannten Klienten, die noch jemand zum Reden gebraucht hätten.

    Der KND ist neben der Polizei, dem Jugendamt, der Fraueninterventionsstelle, dem Amt für öffentliche Ordnung, dem Kinderschutz-Zentrum, der e, Fachstelle Gewaltprävention u.a. ein Bestandteil der Stuttgar-ter Ordnungspartnerschaft gegen häusliche Gewalt (STOP). Seine Aufgabe besteht darin, bei häuslicher Gewalt überparteilich sowohl die Opfer (meist Frauen und Kinder) als auch die Täter zu beraten und zu betreuen.

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    Öffentlichkeits- und Gremienarbeit Adressaten waren vor allem Multiplikatoren in Fachdiensten und anderen Einrichtungen, die häufig mit psychosozialen und psychiatrischen Notlagen in Kontakt kommen. Neben der Wei-tergabe der Informationen an KlientInnen ging es oftmals auch um die Entwicklung oder Vertie-fung von Kooperationsbeziehungen.

    Der Krisen- und Notfalldienst informierte über seine Arbeit

    die Teams der Beratungszentren des Jugendamts PatientInnen der Psychiatrischen Tagesklinik des Klinikums Stuttgart bei einer Podiumsveranstaltung der Heidelberger Psychiatrie Erfahrenen (HEIPER) TeilnehmerInnen des Runden Tisches gegen häusliche und sexuelle Gewalt

    Angehörige psychisch Kranker derAktionsgemeinschaft Stuttgart e.V..

    Multiplikatorinnen des Projekts Migrantinnen für Migrantinnen (MiMi) angehende Heilprakterinnen (Psychotherapie) der Paracelsus-Schule Stuttgart das Team der Psychologischen Beratungsstelle der Evangelischen Kirche Polizeibeamte des Kriminaldauerdienstes beim Sozialdienst Katholischer Frauen (SKF) in einem Experten-Interview im Rahmen einer Bachelorthesis der DHBW

    Entsprechend seiner zielgruppenübergreifenden Aufgabenstellung war der KND in folgenden Gremien und Arbeitskreisen vertreten:

    Koordinationskreis und Runder Tisch der Stuttgarter Ordnungspartnerschaft gegen häusliche Gewalt (STOP)

    Arbeitskreis "Flüchtlinge und Häusliche Gewalt"

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    Unterarbeitsgruppe Schutz- und Unterstützungsmöglichkeiten für Frauen und ihr Familiensystem bei häuslicher Gewalt

    AK Migrantinnen AG § 78 KJHG AK Frauen und Psychiatrie Schnittstellen-AK Frauen Psychiatrie und Sucht Zentraler trägerübergreifender Fachaustausch frühe Förderung (Jugendamt) Große Steuerungsrunde Kommunales Netzwerk Kinderschutz AK Krisendienste (Telefonseelsorge, Kriseninterventionsteam, Notfallseelsorge,

    Arbeitskreis Leben) Fachkonferenz regionale Hilfen für Männer (Wohnungslosenhilfe)

    Weiter beteiligte sich der KND an folgenden Fachtagen:

    Kinderschutz und Flüchtlinge Häusliche Gewalt im Flüchtlingskontext Frühe Förderung

    „Verrückt? Na und!“ – Ein Präventions-Projekt an Schulen

    Seit September 2007 ist die Evangelische Gesellschaft Stuttgart mit ihrem sog. Schulprojekt unter dem Titel: „Verrückt? Na und! – Es ist normal, verschieden zu sein“ in Stuttgarter Schulen unter-wegs. Es wird über Spenden und Eigenmittel des Trägers finanziert und basiert auf der Idee des Vereins „Irrsinnig Menschlich“ e.V. aus Leipzig. Koordiniert und organisiert wird es von der Leite-rin des Gemeindepsychiatrischen Zentrums Stuttgart-Möhringen. Wie in den letzten Jahren wirkte auch 2017 eine Mitarbeiterin des KND mit – gemeinsam im

    Team mit Psychiatrie-Erfahrenen, Angehö-rigen psychisch Kranker und Professionel-len. Unter dem Thema: Psychische Ge-sundheit und Krisenprävention fanden Projekttage an mehreren Schulen und in Seminaren des Freiwilligen Sozialen Jah-res statt. Anhand verschiedener Metho-den wurden Schüler für das Thema psy-chische Gesundheit und Erkrankung sen-sibilisiert und setzten sich in Gruppen-übungen damit auseinander. So wurde

    z.B. auch ein sog. „Notfallkoffer“ entworfen mit all den Dingen, die in seelischen Krisen hilfreich sein können. Den Abschluss des Projekttages bildete der Austausch mit den Experten, bei dem die Schüler über ihre eigenen Krankheits- und Krisenerfahrungen sprachen. Am Ende der Veran-staltung wurde der „Krisenwegweiser für Jugendliche in Stuttgart“, verteilt mit vielen Hinweisen auf Beratungs- und Anlaufstellen sowie auch auf den Krisendienst.

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    Ausblick 2018 Um den Austausch und die Kooperation mit den Gemeindepsychiatrischen Zentren fortzuführen und zu vertiefen, beabsichtigen wir, in deren Teambesprechungen die Aufgaben und Arbeits-weise des Krisendienstes vorzustellen. Umgekehrt werden wir MitarbeiterInnen von „Aufwind“ – Hilfen für Kinder psychisch erkrankter Eltern – zu uns ins Team einladen, weil wir bei unseren Einsätzen immer wieder mit dieser Problematik konfrontiert werden. Ergänzend dazu wollen wir das neu eröffnete Kinderschutz-Zentrum besuchen.

    Ein weiteres Vorhaben, das schon lange auf unserer Agenda stand, ist die Umstellung der ma-nuellen Falldokumentation und Datenerfassung auf ein elektronisches System. Hierzu wurde uns im letzten Quartal des Berichtsjahres eine auf den KND zugeschnittene Software-Testversion zur Verfügung gestellt. Die Resonanz in der Mitarbeiterschaft war durchweg positiv, wurde durch die Neuerung doch eine wesentliche Erleichterung der Falldokumentation und Datenauswer-tung erzielt. Im ersten Quartal 2018 wird es darum gehen, die MitarbeiterInnen mit der neuen Software vertraut zu machen und diese im Echtbetrieb weiter anzupassen.

    Das Thema Personalgewinnung und -einarbeitung wird auch 2018 eine gewichtige Rolle spie-len, da bereits heute schon wieder personelle Veränderungen absehbar sind.

    Zudem ist angedacht, nach längerer Zeit wieder eine ganztägige Fortbildung oder einen Team-Klausurtag zu veranstalten, was für den Gemeinschaftsgeist und die Identifikation mit der Einrich-tung Krisen- und Notfalldienst sehr förderlich ist.