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MEDEATanztheater mit Texten von Euripidesvon Katja Erdmann-Rajski
Programmheft
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Der pure Wahnsinn!? Da verlässt ein Mann aus Karrieregründen
seine Frau. Und sie rächt sich, indem sie die eigenen Kinder, die neue
Frau und deren Vater umbringt. Was uns da Euripides mit brachial
archaischer Gewalt vor Augen führt, macht rat- und sprachlos. Und
so versucht Katja Erdmann-Rajski im Tanz Antworten zu finden
– gemeinsam mit zwei Tänzerinnen und einem Dutzend weiteren
Darstellerinnen jeglichen Alters. Gemeinsam verorten sie die Leiden-
schaften dieser Frau, ihre Zerrissenheit, ihre Ängste, ihr gewaltvolles
Aufbegehren im Hier und Jetzt. Im tänzerischen Körper der Frau.
Wann und Wo?
26. September 2017 (Premiere), 27. - 30. September 2017
jeweils 20 Uhr 15 Uhr im Theaterhaus Stuttgart
Karten
0711 - 40207-20, www.theaterhaus.com
Infos
www.erdmann-rajski.de
Gefördert von
Kulturamt der Landeshauptstadt Stuttgart und
Stiftung Landesbank Baden-Württemberg
Mit Unterstützung von
Produktionszentrum Tanz+Performance e.V.
Theaterhaus Stuttgart
Mitwirkende
Konzeption, Choreografie, Regie Katja Erdmann-Rajski Tanz und
Darstellung/Kreation Julia Brendle (Medea), Katja Erdmann-Rajski
(Medea und Chormitglied), Kati Ivaste-Barki (Medea und Choran-
führerin) Bewegungschor Karin Azza, Elke Dischinger, Mechthild
Frintrup, Christine Gugel, Saskia Hamala, Britta Horwarth, Theresa
Kaiser, Shawty Karakus, Kaya Lan, Roswitha Münchbach, Ilona
Schimanski, Nina Wallenwein Treiber, Linda Wohlgemuth, Patricia
Wohlgemuth Choreographische Assistenz Marek Ranic Sprecherin
Katja Erdmann-Rajski Musikschnitt und -arrangement Matthias
Schneider-Hollek Licht und Technik Carolin Bock Textdramaturgie
Ulrich Fleischmann
Musik/Texte
J.S. Bach: Suiten für Violoncello solo (Jean-Guihen Queyras)
Euripides: Medea (in der Übersetzung von Johann Adam Hartung)
Fotografie
Maor Waisburd
MEDEA. TANZVERSE V
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Du hast dich halt nicht fortentwickelt. Wir leben nicht mehr auf
Augenhöhe, lautet ein modischer Trennungsgrund. Dass es dabei gar
nicht um den intellektuellen Gedankenaustausch geht, sondern um
Waren tausch und soziale Statussymbole, hat Jens Jessen kürzlich in
seinem Zeit-Artikel herausgearbeitet: »Ungefähr so, wie ein Ange-
stellter mit seiner Beförderung den Anspruch auf ein größeres Auto
verbindet – in meiner Position kann ich mir die alte Karre nicht mehr
leisten –, wird hier sinngemäß gesagt: In meiner Position kann ich
mir die alte Ehefrau nicht mehr leisten.«
Modisch? Knapp 2.500 Jahre zuvor trennt sich Iason genau aus
diesem Grund von Medea. Allerdings mit einer weitaus perfideren
Argument ation: Nicht weil er eine jüngere Frau begehre, heirate er
die Königs tochter von Korinth. Nein, nein. Er opfere sich geradezu,
damit es Medea und ihre gemeinsamen Kinder besser hätten:
Sei doch versichert, ihrer Reize wegen nicht
Vermählt ich mich der Fürstin, welche mein sich nennt,
Nein, wie ich vorhin schon gesagt, zu deinem Heil,
Und um den Kindern, die ich habe, fürstliche
Geschwister, als des Hauses Stützen, aufzuziehn.
Das muss allem, was Medea für ihren Mann getan hat, Hohn sprechen.
Hat sie Iason – in klassischer Ehefrauenrolle – doch nicht nur den
Rücken freigehalten für seine »berufliche« Karriere, sondern sie
über haupt erst ermöglicht. Dank ihrer Zauberkunst verhilft sie Iason
zum Goldenen Vlies. Auf der gemeinsamen Flucht zerstückelt sie
ihren kleinen Bruder und wirft seine Glieder den Verfolgern vor,
die so beim Einsammeln der Leichenteile Zeit verlieren. Um ihren
Mann vor König Iolkos zu schützen, überredet Medea die Töchter des
Königs an ihrem Vater einen Verjüngungszauber vorzunehmen. Wie
es ihnen Medea mit einem alten Widder vorgemacht hat, der verjüngt
MÄCHTGER ALS DIE EINSICHT IST DIE LEIDENSCHAFT
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zum Lamm aus dem Kochtopf sprang, zerstückeln und kochen die
Königstöchter ihren Vater – ohne Erfolg allerdings. Zimperlich war
Medea nicht, um ihren Mann und seine Karriere zu unterstützen.
Zimperlich ist auch Medeas Rache an Iason nicht. Ihre Rivalin
bringt sie heimtückisch mit einem als Brautgeschenk getarnten gift-
getränkten Kleid um (und ihren Vater, den König von Korinth, gleich
mit). Und schließlich nimmt sie Iason, was sie ihm zuvor als Ehefrau
geschenkt hatte: die beiden gemeinsamen Söhne.
Chor. Du könntest, Weib, ermorden deine Sprößlinge?
Medea. Ja, weil ich so am tiefsten kränke meinen Mann!
Chor. Und selber wirst das allerunglückseligste Weib!
Anrührend – ach was: herzzerreißend! – ist es, wie Euripides Medea
in ihrem Mordentschluss schwanken lässt, wenn sie ihre Kinder ein
letztes Mal streichelt.
Wohlan, ich wandle nun den leidensvollsten Weg.
Noch einen Gruß den Kindern! Reicht, o Kinder, mir,
Reicht her der Mutter eure rechte Hand zum Kuss.
O liebes Händchen! O du lieber süßer Mund,
Und schöngebildet Angesicht, und edler Wuchs!
Oh, seid gesegnet – nur nicht hier! Das hiesige Glück
Zerstört‘ der Vater. O du hold Umfangen, ach!
Du weiche Wange, o meiner Kinder süßer Hauch!
Geht, geht, ihr Kinder! Länger halt ich‘s nimmer aus,
Euch anzusehen. Ach, der Schmerz bewältigt mich!
Wohl fühl ich‘s, welch ein Leid ich anzurichten geh,
Doch mächtger als die Einsicht ist die Leidenschaft:
Sie ist die Ursach jedes größten Fluchs der Welt!
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Kein Wunder, dass sich die Dramatiker seit Euripides an Medea
geradezu abgearbeitet haben. Das Monster, das den Bruder in
Stücke reißt. Das liebestolle Weib, zerfressen von sexueller Begierde.
Die schwarze Barbarin, die jed wede Menschlichkeit vermissen
lässt. Die Hexe, die mit ihren magischen Fähigkeiten gegen jede
(nämlich die männliche) Vernunft handelt. Die Kindsmörderin, die
selbst die Mutterliebe in Frage stellt, oder in Iasons Worten: »dies
kindererwürgende Untier eines Weibs!«. Die pathologisierte Medea.
Und dann die Gegenpositionen. Medea als Opfer männlicher
Herrschaft, als betrogene Ehefrau, rechtlose Fremde, lieben de Mutter,
die ihre Kinder lieber selbst umbringt, bevor es die geg neri schen
Schergen tun. Die Heilige des Feminismus. Medea ist ein Bündel
gesellschaftlicher Phantasmen. Ein Medium der Selbst verständigung
unserer Kultur über Frau- und Muttersein, Sexualität und Leidenschaft,
Unterdrückung und Aufbegehren, Ra di ka lität und Anarchie.
Medea ist viele. Ihre krass übersteigerte Individualität bei
Euripides darf nicht darüber hinwegtäuschen – ihr Schicksal ist das
vieler Frauen. Und so ist unsere Medea nicht nur zu dritt – jede
Tänzerin verkörpert buchstäblich einen anderen Persönlichkeits-
aspekt –, sie wird auch flankiert von einem rein weiblichen Bewe-
gungs chor. Während normalerweise im antiken Drama der Chor den
common sense vertritt, die Moralvorstellungen der »bürgerlichen
Mitte«, ist er bei Euripides erstaunlich verständnisvoll und nimmt
Partei für Medea. Anfangs vertrauen die Frauen noch auf eine höhere
Gerechtigkeit. Der Mann – Gott Zeus – wird‘s schon richten:
Hörst du es, o Zeus und Erd und Licht,
Welch ein Wehruf von der unseligen Ehfrau hertönt?
Was, Törin, so unersättlich verlangst du des Mannes Liebe?
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Hat ein neues Band deinen Gemahl entfremdet,
Zeus wird mit dem Recht dir dafür Rache verschaffen.
Doch die Haltung der Chorfrauen ändert sich. Zeus ist auch nur ein
Mann. Von ihm ist keine Gerechtigkeit zu erwarten. Die Frau selbst
hat das Recht sich zu wehren:
Ich schweige, weil du billig Rache am Gatten suchst,
Medea; denn dein Jammer nimmt mich wunder nicht.
Recht und alles hat sich auf Erden verkehrt.
Herzen der Männer sind falsch, nicht sicher mehr
Stehen die heiligsten Schwüre.
Es will das Schicksal vieles Leid am heutgen Tag
Zusammenhäufen, und mit Recht, auf Jasons Haupt.
Letztendlich ist Medea ganz auf sch selbst zurückgeworfen. Für ihren
Mann hatte sie sich aus all ihren familiären, sozialen und kulturellen
Bindungen gelöst. Sich ganz in seine Abhängigkeit gebracht. Ihre
Familienbande hat sie durch den Brudermord durchschnitten. In
Korinth ist sie die Fremde. Nun – auch noch vom Mann verlassen –
ist sie heimat- und schutzlos. Nackt. Nur noch der nackte Körper
bleibt ihr als letzter Widerstandsort, als letzte Befreiung. Sie ist nicht
entblößt. Sie »ist« bloß. Die nackte Existenz.
Am Ende geht sie – ziemlich wacklig noch, aber hoch erhobenen
Hauptes – auf Spitzen in ihr neues Leben. Ihre Schuld, Trauer und ihr
Leid nimmt sie mit. Wie auch ihre ungebrochene Leidenschaft.
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Katja Erdmann-Rajski (Konzeption,
Choreografie, Regie; Sprecherin; Tanz,
Darstellung: Medea und Chormitglied)
studierte an der Stuttgarter Hochschule
für Musik und Darstellende Kunst Musik-
erziehung mit dem Hauptfach Rhythmik.
Nach ihrer anschließenden Tanzausbildung
mit den Schwerpunkten zeitgenössischer
Tanz, Tanztheater und Ausdruckstanz produ-
ziert sie seit 2001 ihre eigenen Stücke in den
Grenzbereichen von Musik und Tanz. Stipendiatin der Kunststiftung
Baden-Württemberg. Zweimalige Konzeptions förderung der Stadt
Stuttgart für die Reihen WahlVer wandt schaften. Leben am Telefon
und Etymologiae. TanzVerse in 5 Akten. Für C------H. Jandls Zunge
erhielt Katja Erdmann-Rajski den Sonderpreis für eine herausragende
choreographische Leistung beim Stuttgarter Theaterpreis 2010. 2013
erreichte ihr Solo stück Ritus die Finalistenrunde beim Stuttgarter
Solotanz festi val. Jurymitglied beim 19. Internationalen Solo-Tanz-
Theater Festival Stuttgart 2015. Intensive Forschungsarbeiten zum
Tanz (Gret Palucca). Lehrt seit 2003 im Bereich Kulturpädagogik/
Kulturelle Bildung an der EH Darmstadt.
Julia Brendle (Tanz, Darstellung: Medea),
Tanzausbildung an der Telos-Studiobühne
in Stuttgart, an der Palucca Hochschule
in Dresden und der Rotterdamse Dans-
academie. Ihre professionelle Erfahrung
sammelte sie mit der Telos Tanzcompany,
u.a. durch Gastspiele z.B. in Washington
D.C. sowie in verschiedenen Projekten
mit De Meekers, Rotterdam; Dansateliers
Rotterdam; Felix Ruckert, Delft/Berlin;
Omada Pende, Limassol/Cyprus; Asomates Dynameis, Nicosia/
Cyprus; Artutude, Limassol/Cyprus u.a. Seit 2010 produziert sie
eigene choreographische Arbeiten, mit denen sie auf zahlreichen
europäischen Festivals tourt (Baltic Sea Dance Festival, Kalamata
Festival, B-Motion festival, Dance Theater Festival Warsaw). Sie ist
Dozentin für Tanz und Tanztheorie an der University of Nicosia/
Cyprus. Seit 2006 arbeitet sie mit Katja Erdmann-Rajski zusammen.
MITWIRKENDE
Kati Ivaste-Barki (Tanz, Darstellung:
Medea und Choran führerin) ist in Estland
geboren. Nachdem sie 1990 die Staatliche
Ballettschule in Tallinn mit dem Abitur
abgeschlossen hatte, war sie von 1990-96
als Solistin an der Estnischen Nationaloper,
Tallinn. Sie gewann 1996 den Tanzpreis als
beste junge Tänzerin Estlands. 1996-97 war
sie Tänzerin am Stadttheater Osnabrück,
1997-2005 am Stadttheater Pforzheim.
Nach der Gründung ihre Familie (in Estland und Ungarn, 2 Kinder)
kam sie 2014 zurück nach Deutschland/Stuttgart. Hier unterrichtet
sie klassisches Ballett und Pilates. Kati Ivaste-Barki ist in vielen
Ländern aufgetreten, u.a. in Spanien, Russland, Schweden, Ungarn,
Deutschland und blickt auf eine langjährige Unterrichtserfahrung
zurück.
Carolin Bock (Licht /Technik) studierte
Kulturwissenschaft an der Universität
Hildesheim. Sie arbeitete als Licht gestal-
terin im Kleinkunstbereich mit Friedhelm
Kändler, Die Steptokokken, dem Duo
Marianne Iser & Thomas Duda sowie der
freien Theatergruppe Mahagoni. 2001 bis
2003 war sie als Produktionsassistentin bei
BM Communications in Ludwigsburg tätig.
Danach machte sie sich selbstständig.
2003 traf sie den Choreografen Lior Lev und hat als Projektbe treuerin
sowie Lichtgestalterin an seinen Produktionen mitgewirkt. Für die
Tänzerin und Choreografin Christine Chu gestaltete sie 2006 und
2007 das Lichtdesign für Glücken des Tages, 10 Fragen an Ellen
und Trans-Vision. Seit 2008 entwickelt sie das Lichtdesign für Katja
Erdmann-Rajskis Stücke.
Matthias Schneider-Hollek (Musik)
Querflöten- und Komposi tionsstudium
(Schwerpunkt: Elektronische Musik) in
Stuttgart. Komponiert seither Filmmusiken
für ARD/ARTE/SWR/MDR, Musik für
inter nationale Theater- und Tanzbühnen.
Instal la tionen/Performances im inter me -
dialen Kontext. Live- und Studioprojekte u.a.
durban poison IV, elektronminibarklingelton,
Donnerstagskartell, New York Lounge,
Dundu und Munich Composers Collective. Arbeitet seit 2006 mit
Katja Erdmann-Rajski zusammen.
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Ulrich Fleischmann (Textdramaturgie)
studier te Germanistik und Geschichte an
der Uni ver sität Stuttgart und Histori sche
Anthro po logie an der École des Hautes
Études en Sciences Sociales, Paris. Seit
1995 arbeitet er als Texter, Kommunika-
tionsdesigner und Konzeptioner, seit 2005
begleitet er die Arbeit Katja Erdmann-
Rajskis in Kommunikation und Dramaturgie.
Von 2008 bis 2013 Professor für Textge stal-
tung an der Fakultät für Gestaltung der Hochschule Augsburg, lehrt er
dort seit 2014 als Professor für Angewandte Kultursemiotik.
Bewegungschor Karin Azza, Elke Dischinger, Mechthild Frintrup,
Christine Gugel, Saskia Hamala, Britta Horwarth, Theresa Kaiser,
Shawty Karakus, Kaya Lan, Roswitha Münchbach, Ilona Schimanski,
Nina Wallenwein Treiber, Linda Wohlgemuth, Patricia Wohlgemuth
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