jugend in der ddr - arbeitsblätter & unterrichtsmaterialien · pdf filetitle: jugend...

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MATERIALIEN 7 G GESCHICHTE betrifft uns 1 2006 Jugend in der DDR M 1.4 Karl Wilhelm Fricke Karl Wilhelm Fricke ist einer der bekanntesten Jour- nalisten/Historiker mit dem Fachgebiet SBZ/DDR. Ge- boren wurde er 1929 in Hoym (Anhalt). Nach der Ver- haftung seines Vaters verließ er die SBZ und studierte Politikwissenschaft in der Bundesrepublik. Aufgrund seiner kritischen Berichterstattung über die DDR wurde er 1955 von der Staatssicherheit von West- nach Ost- berlin entführt und wegen „Kriegshetze“ zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. 1959 wurde er nach Ablauf seiner vollständigen Haftzeit nach Westberlin entlassen. Er ar- beitete wieder als Publizist und entwickelte er sich zu einem der einflussreichsten deutschen Journalisten, die über die DDR schrieben. Mein Vater war seit 1943 Soldat, er war zuletzt Gefreiter in einer Einheit der Luftwaffe, die bei der Bekämpfung von Tieffliegern in Deutschland eingesetzt war, einer soge- nannten Zugtransportbegleiteinheit. Ich erwähne das nur, um zu dokumentieren, daß er nicht irgendwie an Kriegsver- brechen beteiligt war. […] Ich habe seit ungefähr 1944 re- gelmäßig und bewußt den englischen Rundfunk gehört, obwohl ich wußte, mit welchem Risiko das befrachtet war. […] Da wir immer in Sorge um unseren Vater waren, wir wußten ja, wo er stationiert war, wollten wir eben genau wissen, ob er in Gefahr gewesen war. Durch diesen regel- mäßigen Empfang des Londoner Rundfunks hat sich in mir frühzeitig eine nazikritische Haltung entwickelt, soweit das bei einem 15jährigen denkbar ist. […] Die erste politische Diskussion, die mein Vater und ich hatten, war im August 1944, als er auf Heimaturlaub kam und ich mein Bedauern über das Mißlingen des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 bekundete. Er war entsetzt, wie ich so etwas äußern könnte […]. Er war der Meinung, das Attentat wäre ein Dolchstoß in den Rücken der kämpfenden Front, und er hatte Angst, daß ich durch solche Äußerungen gefährdet wäre und mit mir vielleicht die gesamte Familie. Mein Vater ist im Juli 1945 aus amerikanischer Kriegsge- fangenschaft zurückgekommen. Er ist im Bewußtsein, nicht an Verbrechen beteiligt und kein großer Nationalsozi- alist gewesen zu sein, selbstverständlich zu seiner in der sowjetischen Zone lebenden Familie zurückgekehrt. […] Allerdings wurde er aufgrund der alliierten Kontrollratsge- setzgebung aus dem Lehrerdienst entlassen, weil er Mit- glied der NSDAP gewesen war. Mein Vater arbeitete dann als Demontagearbeiter bei den Russen […]. Am 19. Juni 1946, es war […] der Abend vor seiner Fest- nahme, sind wir zum ersten Mal wieder in eine politische Diskussion geraten. Es ergab sich ein kleiner Generationen- konflikt, denn ich sprach von der Schuld seiner Generation, er leugnete diese Schuld und versuchte, seine Generation zu rechtfertigen. Auf der anderen Seite tadelte er mich, daß ich mich nicht längst der Antifa-Jugend, die mich damals umwarb, angeschlossen hatte. Der Leiter des Antifaschisti- schen Jugendausschusses in Hoym, aus dem später die FDJ entstand, wollte, daß ich mitmache. Ich habe ihm erklärt, ich müßte mich erst einmal davon überzeugen können, daß wirklich eine neue antifaschistisch demokratische Ordnung aufgebaut wird. Mein Vater meinte, es wäre nützlich mitzuar- beiten. Dieser Opportunismus hat mich empört […]. Die Auseinandersetzung eskalierte dann soweit, daß ich richtig mit der Faust auf den Tisch gehauen […] habe […]. Das war am Vorabend der Festnahme, und am 20. Juni zwischen 19.00 und 20.00 Uhr wurde mein Vater von ei- ner dreiköpfigen Gruppe, einem deutschen Volkspolizisten, einem russischem Dolmetscher in Zivil und einem russi- schem Offizier in Uniform, festgenommen. […] Es hat mich jahrelang belastet, daß wir im Streit auseinandergegangen sind. Andererseits hat mich mit meinem Vater ausgesöhnt – das weiß ich auch aus Erzählungen von ehemaligen Mit- gefangenen –, daß er sich sowohl im Internierungslager als auch in der Strafvollzugsanstalt in Waldheim unbeugsam gezeigt hat. […] Das hat […] dazu geführt, daß er zu den 3.400 Männern und Frauen gehörte, die 1950 in den Waldheim-Prozessen verurteilt worden sind. Mein Vater hat zwölf Jahre Zuchthaus bekommen. Das Ur- teil liegt vor, und wenn man es genau liest, dann kann man die Legende, er sei ein großer Nationalsozialist gewesen, nicht aufrechterhalten. Es sind pauschale Schuldvorwürfe erhoben worden, die jeden individuellen Schuldnachweis vermissen lassen. Das war typisch für die Waldheim-Pro- zesse. Mein Vater ist 1952 am 31. März an den Folgen ei- ner Ruhr- und Grippeepidemie als Strafgefangener im Zuchthaus Waldheim verstorben. […] Für mich war seine Verhaftung existentiell prägend. Da ich aufgrund meiner Erfahrungen in den Jahren 1943 bis 1945 um das Unrecht wußte, das in der Zeit der national- sozialistischen Diktatur begangen worden war, war es für mich fast ein Testfall, nunmehr Rechtsstaatlichkeit demon- striert zu bekommen. Ich ging davon aus, daß er vor ein or- dentliches Gericht gestellt wird, das seine Schuld oder Un- schuld feststellt. […] Bis 1950 bekam mein Vater kein ordentliches Strafverfah- ren. Das allein hat mich geschockt. Ich habe 1948 auf der Oberschule meinen Eintritt in die FDJ verweigert mit dem Hinweis auf diese Erfahrung: Solange ich mich davon nicht überzeugen kann, daß wir hier in einem Rechtsstaat leben oder jedenfalls einem Rechtsstaat entgegenstreben, werde ich mich politisch nicht engagieren. Ich sollte nicht einmal zum Abitur zugelassen werden, was dann aber durch einen Konferenzbeschluß des Gymnasiums verhindert wurde. 1950 erhielt meine Mutter einen Brief, das erste offizielle Lebenszeichen von meinem Vater, mit der Mitteilung, daß er nach Kontrollratsgesetz Nr. 10 und Direktive 38 zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt worden ist. Das mußte mich in meiner Aversion gegenüber dem Sys- tem bestätigen. Inzwischen hatte ich meine erste Festnah- me und meine Flucht in den Westen hinter mir. Die Nach- richt vom Tode meines Vaters erreichte mich in Wilhelms- haven, wo ich studierte. Interview von Ilko-Sascha Kowalczuk mit Karl Wilhelm Fricke im September 1999, in: Karl Wilhelm Fricke: Der Wahrheit verpflichtet. Berlin: Christoph Links Verlag 2000, S. 14 ff. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95

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M A T E R I A L I E N 7

G GESCHICHTE b e t r i fft u n s 1 • 2 0 0 6 Jugend in der DDR

M 1.4 Karl Wilhelm Fricke

Karl Wilhelm Fricke ist einer der bekanntesten Jour-nalisten/Historiker mit dem Fachgebiet SBZ/DDR. Ge-boren wurde er 1929 in Hoym (Anhalt). Nach der Ver-haftung seines Vaters verließ er die SBZ und studiertePolitikwissenschaft in der Bundesrepublik. Aufgrundseiner kritischen Berichterstattung über die DDR wurdeer 1955 von der Staatssicherheit von West- nach Ost-berlin entführt und wegen „Kriegshetze“ zu vier JahrenZuchthaus verurteilt. 1959 wurde er nach Ablauf seinervollständigen Haftzeit nach Westberlin entlassen. Er ar-beitete wieder als Publizist und entwickelte er sich zueinem der einflussreichsten deutschen Journalisten,die über die DDR schrieben.

Mein Vater war seit 1943 Soldat, er war zuletzt Gefreiter ineiner Einheit der Luftwaffe, die bei der Bekämpfung vonTieffliegern in Deutschland eingesetzt war, einer soge-nannten Zugtransportbegleiteinheit. Ich erwähne das nur,um zu dokumentieren, daß er nicht irgendwie an Kriegsver-brechen beteiligt war. […] Ich habe seit ungefähr 1944 re-gelmäßig und bewußt den englischen Rundfunk gehört,obwohl ich wußte, mit welchem Risiko das befrachtet war.[…] Da wir immer in Sorge um unseren Vater waren, wirwußten ja, wo er stationiert war, wollten wir eben genauwissen, ob er in Gefahr gewesen war. Durch diesen regel-mäßigen Empfang des Londoner Rundfunks hat sich in mirfrühzeitig eine nazikritische Haltung entwickelt, soweit dasbei einem 15jährigen denkbar ist. […] Die erste politischeDiskussion, die mein Vater und ich hatten, war im August1944, als er auf Heimaturlaub kam und ich mein Bedauernüber das Mißlingen des Attentats auf Hitler am 20. Juli1944 bekundete. Er war entsetzt, wie ich so etwas äußernkönnte […]. Er war der Meinung, das Attentat wäre einDolchstoß in den Rücken der kämpfenden Front, und erhatte Angst, daß ich durch solche Äußerungen gefährdetwäre und mit mir vielleicht die gesamte Familie.Mein Vater ist im Juli 1945 aus amerikanischer Kriegsge-fangenschaft zurückgekommen. Er ist im Bewußtsein,nicht an Verbrechen beteiligt und kein großer Nationalsozi-alist gewesen zu sein, selbstverständlich zu seiner in dersowjetischen Zone lebenden Familie zurückgekehrt. […]Allerdings wurde er aufgrund der alliierten Kontrollratsge-setzgebung aus dem Lehrerdienst entlassen, weil er Mit-glied der NSDAP gewesen war. Mein Vater arbeitete dannals Demontagearbeiter bei den Russen […]. Am 19. Juni 1946, es war […] der Abend vor seiner Fest-nahme, sind wir zum ersten Mal wieder in eine politischeDiskussion geraten. Es ergab sich ein kleiner Generationen-konflikt, denn ich sprach von der Schuld seiner Generation,er leugnete diese Schuld und versuchte, seine Generationzu rechtfertigen. Auf der anderen Seite tadelte er mich, daßich mich nicht längst der Antifa-Jugend, die mich damalsumwarb, angeschlossen hatte. Der Leiter des Antifaschisti-schen Jugendausschusses in Hoym, aus dem später die FDJentstand, wollte, daß ich mitmache. Ich habe ihm erklärt, ichmüßte mich erst einmal davon überzeugen können, daßwirklich eine neue antifaschistisch demokratische Ordnungaufgebaut wird. Mein Vater meinte, es wäre nützlich mitzuar-

beiten. Dieser Opportunismus hat mich empört […]. Die Auseinandersetzung eskalierte dann soweit, daß ichrichtig mit der Faust auf den Tisch gehauen […] habe […]. Das war am Vorabend der Festnahme, und am 20. Junizwischen 19.00 und 20.00 Uhr wurde mein Vater von ei-ner dreiköpfigen Gruppe, einem deutschen Volkspolizisten,einem russischem Dolmetscher in Zivil und einem russi-schem Offizier in Uniform, festgenommen. […] Es hat michjahrelang belastet, daß wir im Streit auseinandergegangensind. Andererseits hat mich mit meinem Vater ausgesöhnt– das weiß ich auch aus Erzählungen von ehemaligen Mit-gefangenen –, daß er sich sowohl im Internierungslager alsauch in der Strafvollzugsanstalt in Waldheim unbeugsamgezeigt hat. […] Das hat […] dazu geführt, daß er zu den3.400 Männern und Frauen gehörte, die 1950 in denWaldheim-Prozessen verurteilt worden sind.Mein Vater hat zwölf Jahre Zuchthaus bekommen. Das Ur-teil liegt vor, und wenn man es genau liest, dann kann mandie Legende, er sei ein großer Nationalsozialist gewesen,nicht aufrechterhalten. Es sind pauschale Schuldvorwürfeerhoben worden, die jeden individuellen Schuldnachweisvermissen lassen. Das war typisch für die Waldheim-Pro-zesse. Mein Vater ist 1952 am 31. März an den Folgen ei-ner Ruhr- und Grippeepidemie als Strafgefangener imZuchthaus Waldheim verstorben. […]Für mich war seine Verhaftung existentiell prägend. Da ichaufgrund meiner Erfahrungen in den Jahren 1943 bis1945 um das Unrecht wußte, das in der Zeit der national-sozialistischen Diktatur begangen worden war, war es fürmich fast ein Testfall, nunmehr Rechtsstaatlichkeit demon-striert zu bekommen. Ich ging davon aus, daß er vor ein or-dentliches Gericht gestellt wird, das seine Schuld oder Un-schuld feststellt. […] Bis 1950 bekam mein Vater kein ordentliches Strafverfah-ren. Das allein hat mich geschockt. Ich habe 1948 auf derOberschule meinen Eintritt in die FDJ verweigert mit demHinweis auf diese Erfahrung: Solange ich mich davon nichtüberzeugen kann, daß wir hier in einem Rechtsstaat lebenoder jedenfalls einem Rechtsstaat entgegenstreben, werdeich mich politisch nicht engagieren. Ich sollte nicht einmalzum Abitur zugelassen werden, was dann aber durch einenKonferenzbeschluß des Gymnasiums verhindert wurde.1950 erhielt meine Mutter einen Brief, das erste offizielleLebenszeichen von meinem Vater, mit der Mitteilung, daßer nach Kontrollratsgesetz Nr. 10 und Direktive 38 zu zwölfJahren Zuchthaus verurteilt worden ist. Das mußte mich in meiner Aversion gegenüber dem Sys-tem bestätigen. Inzwischen hatte ich meine erste Festnah-me und meine Flucht in den Westen hinter mir. Die Nach-richt vom Tode meines Vaters erreichte mich in Wilhelms-haven, wo ich studierte.Interview von Ilko-Sascha Kowalczuk mit Karl Wilhelm Fricke im September 1999,in: Karl Wilhelm Fricke: Der Wahrheit verpflichtet. Berlin: Christoph Links Verlag2000, S. 14 ff.

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