hirnforschung_wille & freiheit
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Ursache bewusst zu werden. "Fragt man nach dem Grund für die Aktion, erhält man
eine vernünftige Begründung, die aber mit der eigentlichen Ursache nichts zu tun hat",
beschreibt Wolf Singer das Ergebnis. "Selbsterkenntnis", ergänzt Thomas Metzinger, "muss
nicht unbedingt etwas Angenehmes sein."
Dass wir uns dennoch frei fühlen, erklärt der Bremer Hirnforscher Gerhard Roth in seinem
demnächst erscheinenden Buch Fühlen, Denken, Handeln ( Suhrkamp Verlag ) so: Das
Gehirn benötige das Gefühl der Selbstveranlassung als Zeichen, dass sich seine unbewusst
arbeitenden Kontrollzentren ausreichend mit einem anstehenden Vorhaben befasst haben.
Doch im Alltag hängt an der Idee vom freien Willen mehr als die menschliche Eitelkeit.
Wen wollte man zum Beispiel für eine Handlung bestrafen, wenn es gar nicht in der Macht
des Verursachers stand, diese zu unterlassen? Unser gesamtes System von Verantwortung,
Schuld und Strafe baut auf dem Gedanken der persönlichen Verantwortung auf. Diesem
Konflikt kann sich auch ein Hirnforscher nicht entziehen. Obwohl er nicht an den freien
Willen glaube, so gestand Wolf Singer unlängst in einem Gespräch mit der ZEIT (Nr.
50/00) ein, "gehe ich abends nach Hause und mache meine Kinder dafür verantwortlich,
wenn sie irgendwelchen Blödsinn angestellt haben, weil ich natürlich davon ausgehe, dass
sie auch anders hätten handeln können".
Für diesen Widerspruch zwischen wissenschaftlicher Einsicht und dem Alltagsverständnis
hat niemand eine Patentlösung anzubieten. Allein mit der Feststellung, Verantwortung,
Sühne und Strafe seien nützliche Ideen, ist es jedenfalls nicht getan. Jemanden für
Jahre einzusperren, weil man ihn für ein Verbrechen verantwortlich macht, kann nur
gerechtfertigt sein, wenn das zugrunde liegende Rechtssystem auf einem richtigen
Menschenbild beruht. Wenn Dr. Black via Fernsteuerung Jones benutzt, um einen
Mord zu begehen, kann man Jones nicht dafür verantwortlich machen. Und wenn an die
Stelle der Elektroden des Dr. Black Basalganglien, Amygdala und andere subkortikale
Kontrollinstanzen treten, dann bleibt auch das nicht folgenlos für unser Rechtsverständnis.
"Man muss genau zwischen subjektiver Freiheit und Handlungsautonomie des gesamten
Menschen unterscheiden", lautet Gerhard Roths Lösungsversuch. "Erstere ist schlichtweg
eine Illusion, Letztere halte ich für gegeben." Autonomie sei die Fähigkeit, als ganzes
Wesen, samt Gehirn und Körper, Bewusstsein und Unbewusstem, aus der individuellen
Erfahrung heraus aktiv zu werden.
Demnach handeln wir zwar nicht immer vollständig bewusst, aber doch anders als
willenlose Automaten oder ferngesteuerte Individuen wie Jones: Immerhin sind es eigene
Erfahrungen, die unseren Willen bedingen, nicht die zweifelhaften Pläne eines Dr. Black.
Doch wer kann schon etwas für seine Erfahrungen, zumal für die aus der frühen Kindheit?
Ganz zu schweigen von der evolutionären Vergangenheit, die unleugbar unser Verhalten
prägt? Darf man angesichts dieses Autonomiebegriffs noch von individueller Schuld
sprechen?
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Roth mahnt zur Vorsicht. "Man muss erst einmal die Fakten diskutieren, ehe man zu
großen Rezepten greift." Er selbst ist allerdings davon überzeugt, dass der Gedanke der
persönlichen Schuld und Sühne aufgegeben werden müsse.
An seine Stelle sollte der Gedanke der Prävention und Umerziehung treten.
Denn auch wenn der subjektive Wille zum Handeln nicht frei sei, so ist sei doch
wenigstens mehr oder weniger erziehbar. Für unser bisheriges Menschenbild stellen solche
Gedanken eine radikale Herausforderung dar. Denn ohne Zweifel ist es eine ungemütliche
Vorstellung, seinen Willen nur den eigenen, unkontrollierbaren neuronalen Schaltkreisen
zu verdanken. Doch was wäre das Gegenteil, ein unbedingt freier Wille? Der Philosoph
Michael Pauen, der sich in seinem neuen Buch Grundprobleme der Philosophie des
Geistes (Fischer Taschenbuch) ebenfalls mit der Willensfreiheit befasst, bemüht dazu eine
Analogie: Man stelle sich ein Parlament vor, das unter identischen Umständen mal so, malanders entscheide. Dies würde man nicht etwa wegen besonderer Unabhängigkeit schätzen,
sondern seiner Willkür wegen fürchten.
Wer will schon die totale Freiheit Ähnlich argumentiert Peter Bieri, der gerade das Buch
Das Handwerk der Freiheit fertig gestellt hat ( Hanser Verlag ). Er beschreibt einen
Menschen mit unbedingt freiem Willen als jemanden, der gerade eine neue Wohnung
bezogen hat. Bei der Einweihung versichert er, so bald nicht wieder auszuziehen. Am
nächsten Tag bestellt er die Möbelpacker, sein Wille hat sich geändert. Bei der neuen
Wohnung angekommen, hat er sich schon wieder anders entschieden. Die Möbelpacker
lassen ihn mit seinem Mobiliar am Straßenrand stehen. Unser Held aber folgt seinemWillen und geht erst einmal ins Kino.
Als er zurückkommt, haben die Leute vom Sperrmüll seine Möbel mitgenommen.
Ein derart freier Wille, schließt Bieri, wäre nicht nur wenig überlebensdienlich, er wäre das
Letzte, was wir uns wünschen würden.
Und was würden wir uns wünschen? Einen Willen, der sich unseren Urteilen fügt, meint
Bieri. Für ihn ist der freie Wille der "verstandene Wille", der zu unserem Selbstbild und
in das Profil unserer sonstigen Wünsche passt. Aber ist das nicht die Freiheit eines Jones,
der sich letztlich nur bemüht, das zu wollen, was auch Dr. Black will? Sollen wir unsere
Beschränktheiten am Ende noch begrüßen? Natürlich nicht, meint Bieri. Wir können sie
uns immerhin bewusst machen und in den Prozess der Willensbildung einbeziehen.
So gesehen bringen die Erkenntnisse der Hirnforscher die Menschheit nicht um einen
zentralen Bestandteil ihres Selbstverständnisses, sondern nur um die inkonsistente Idee
vom unbedingt freien Willen. Peter Bieri zufolge können wir alles, was uns an der Freiheit
des Willens lieb und teuer ist, nur im Rahmen durchgängiger Bedingtheit bekommen.
"Willensfreiheit ist ein zerbrechliches Gut, um das man sich stets von neuem bemühen
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muss", schreibt er. Ob man sie je erreichen kann, sei eine offene Frage. "Vielleicht ist sie
eher wie ein Ideal, an dem man sich orientiert, wenn man sich um seinen Willen kümmert."
Trotz all unserer Bedingtheiten hat uns die Evolution, verglichen mit einfachenOrganismen, immer noch viel Leine gelassen. Wir funktionieren nicht wie Cola-
Automaten, bei denen man nur eine Münze einzuwerfen braucht, damit unten eine Dose
herauskommt. "Wir sind so komplex und flexibel, dass wir uns sogar selbst immer wieder
einmal überraschen können", stellt Thomas Metzinger fest. Was will man mehr?
COPYRIGHT: DIE ZEIT, 38/2001ADRESSE: http://www.zeit.de/2001/38/Wieviel_Freiheit_darf's_denn_sein_