hibakusha weltweit - nuclear-risks · 2014-09-30 · 11 „exposure of the american people to...

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Hibakusha weltweit Eine Ausstellung der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges – Ärzte in sozialer Verantwortung e. V. (IPPNW) Körtestr. 10 | 10967 Berlin [email protected] | www.ippnw.de V.i.S.d.P.: Dr. Alex Rosen Nevada, USA Atomwaffentests Hintergrund Das Nevada Testgelände, etwa 105 km nordwestlich von Las Vegas gelegen, ist das größte und wichtigs- te Atomwaffenversuchsareal der USA. Von 1951 bis 1992 wurden auf dem etwa 3.500 km 2 großen Gebiet 1.021 Atomwaffendetonationen durchgeführt – 100 davon überirdisch und 921 unterirdisch. Dabei wur- den insgesamt etwa 222.000 PBq (1 Petabecquerel = 1 Billiarde Becquerel) radioaktives Material in die Atmosphäre freigesetzt. 1,2 Wie aus den freigegebenen Dokumenten der US Ci- vil Defense Administration hervorgeht, wurde radio- aktiver Niederschlag im Rahmen der Atomwaffentests wissentlich hingenommen. 3 Als Wissenschaftler radio- aktives Strontium in den Milchzähnen US-amerikani- scher Kleinkinder nachwiesen und die Zahl kindlicher Leukämien und anderer Krebserkrankungen stieg, führte der wachsende Druck der Öffentlichkeit 1963 schließlich zur Unterzeichnung des Vertrags über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser. 1,4 Unterirdische Deto- nationen wurden jedoch bis 1992 weiter durchgeführt und so traten auch weiterhin regelmäßig Unglücksfälle auf, zum Beispiel am 18. Dezember 1970: Die unter- irdische Detonation der Zehn-Kilotonnen-Bombe „Ba- neberry“ löste eine radioaktive Staubwolke aus, die etwa 247 PBq strahlender Partikel über dem Personal des Testgeländes niederregnen ließ, darunter 3 PBq Jod-131. 5,6 Der radioaktive Niederschlag erstreckte sich zusätzlich über Teile der Bundesstaaten Kalifor- nien, Idaho, Oregon und Washington. Folgen für Umwelt und Gesundheit In den 1950er Jahren wurden die Bewohner der Re- gion rund um das Testgelände dazu animiert, die re- gelmäßigen Atomexplosionen zu beobachten. Viele Be- troffene berichten davon, extra ihre Wecker gestellt zu haben, um die morgendlichen Detonationen nicht zu verpassen. Von der US-amerikanischen Atomenergie- kommission erhielten sie Dosimeter, um die erhaltene Strahlendosis anschließend messen zu können. 7-9 Die Bevölkerung von Utah wurde aufgrund der vorherr- schenden Windrichtung am schwersten vom radio- aktiven Niederschlag betroffen. Radioaktive Stoffe wie Jod-131 können inhaliert werden oder mit verstrahlter Nahrung in den Körper gelangen und dort Krebs er- zeugen. Die Kinder der kleinen Stadt St. George, Utah erhielten vermutlich Schilddrüsendosen von bis zu 1,2–4,4 Sievert. 1,10 Epidemiologische Studien ergaben dementsprechend auch einen signifikanten Anstieg von Leukämien und Schilddrüsenkrebs unter den „Downwindern“, der Bevölkerung, die in Windrichtung vom Testgelände lebte. 1 Angaben des National Cancer Institutes zufolge erhielt die US-amerikanische Bevölkerung eine Gesamtstrah- lendosis von vier Millionen Personen-Sievert Jod-131 durch die Atomtests in Nevada – etwa 500-mal mehr als die Gesamtstrahlendosis von Tschernobyl (7.300 Personen-Sievert). 6 Eine 1999 publizierte Studie schätzt, dass etwa 10.000 bis 75.000 Menschen als Folge der Atomexplosionen von Nevada Schilddrüsen- karzinome entwickeln würden. 11 Eine weitere Studie aus dem Jahr 2006 berechnete, dass ca. 1.800 To- desfälle durch Leukämien infolge der Atomwaffentests in Nevada zu erwarten sind. 1 Trotz dieser besorgnis- erregenden Erkenntnisse wurden keine regelmäßigen Schilddrüsenuntersuchungen bei den Menschen in den betroffenen Regionen durchgeführt. Ausblick Auch heute noch bleibt das Testgelände radioaktiv kontaminiert. Es wird geschätzt, dass sich noch etwa 11.100 PBq radioaktives Material in der Erde und 4.440 PBq im Grundwasser befinden. 2 Die USA haben bis heute noch nicht den Vertrag über das umfassen- de Verbot von Nuklearversuchen aus dem Jahr 1996 ratifiziert. 1990 wurde der Federal Exposure Compen- sation Act verabschiedet um betroffene Downwinder finanziell zu kompensieren, wenn sie unter Krankhei- ten leiden, die durch Radioaktivität entstanden sein könnten. Für viele von ihnen ist es aber aufgrund bü- rokratischer Hürden und fehlender wissenschaftlicher Aufarbeitung schwierig, die ihnen zustehenden Kom- pensationen auch tatsächlich zu erhalten. Die Hiba- kusha von Nevada fühlen sich mit dem belastenden Erbe der Atomwaffentests allein gelassen. Mehr als 1.000 Explosionen von Atomwaffen in den Jahren 1951 bis 1992 führten zur Freisetzung großer Mengen an Radioaktivität, die weite Teile der USA mit strahlenden Partikeln kontaminierten und beinahe die gesamte US-amerikanische Bevölkerung erreichten. 1992: Proteste gegen Atomwaffentests beim Nevada-Testgelände. Unterirdische Detonationen wurden hier noch bis 1992 durch- geführt. Foto: Peter Drekmeier (Mark Bult), creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0 Quellen 1 Simon et al. „Fallout from nuclear weapons tests and cancer risks“. American Scientist 2006, 94: 48-57. www.americanscientist.org/issues/feature/2006/1/fallout-from-nuclear-weapons-tests-and-cancer-risks 2 Walker et al. „Long-term stewardship at the Nevada Test Site“. Nevada Division of Environmental Protection, 1998. http://www.state.nv.us/nucwaste/nts/steward.htm 3 Cook N. „Nuclear Weapons collateral damage exaggerations: implications for civil defense“. Joint Commission Report, Vol. VI, Document NP-3041, 1951. http://nige.files.wordpress.com/2010/12/dirkwood-report-summary6.pdf 4 Mangano et al. „Elevated in vivo strontium-90 from nuclear weapons test fallout among cancer decedents“. Int.J.Health Serv.Vol 41:1,2011. www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/21319726 5 Rollins EM et al. „Dose Reconstruction Project: Technical Basis Document for the Nevada Test Site – Occupational Internal Dose“. The National Institute for Occupational Safety and Health (NIOSH), 30.09.04. www.cdc.gov/niosh/ocas/pdfs/arch/nts5a.pdf 6 „Estimated exposure and thyroid doses received by the American people from Iodine-131 fallout following Nevada atmospheric nuclear bomb tests“. Webseite des National Cancer Institute, www.cancer.gov/i131/fallout/contents.html 7 Gripman A. „Fallout of Empire“. Arizona Daily Sun, 05.04.12. http://news.azdailysun.com/flaglive/flagstafflive_story.cfm?storyID=230136 8 White J. „Downwinders: the people of Parowan“. Philm Productions, 2007. www.philmproductions.com/documentary.html 9 Seegmiller JB. „Nuclear Testing and the Downwinders“. Utah History To Go-Webseite. http://historytogo.utah.gov/utah_chapters/utah_today/nucleartestingandthedownwinders.html 10 Knapp HA. „Iodine-131 in Fresh Milk and Human Thyroids Following a Single Deposition of Nuclear Test Fall-Out“. Nature 202, 534-537,1964. www.nature.com/nature/journal/v202/n4932/abs/202534a0.html 11 „Exposure of the American people to Iodine-131 from Nevada nuclear-bomb tests – Review of the National Cancer Institute Report and Public Health Implications“. Institute of Medicine; National Research Council. National Academy Press, 1999. www.nap.edu/catalog.php?record_id=6283 18. Dezember 1970: Die unterirdische Detonation der Zehn-Kilotonnen-Bombe „Baneberry“ löste eine radioaktive Staubwolke aus, die etwa 247 PBq strahlender Partikel über dem Personal des Testgeländes niederregnen ließ. Der radioaktive Niederschlag erstreckte sich zusätzlich über Teile der Bundesstaaten Kalifornien, Idaho, Oregon und Washington. Foto: US Department of Energy

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Page 1: Hibakusha weltweit - NUCLEAR-RISKS · 2014-09-30 · 11 „Exposure of the American people to Iodine-131 from Nevada nuclear-bomb tests – Review of the National Cancer Institute

Hibakusha weltweit Eine Ausstellung der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges – Ärzte in sozialer Verantwortung e. V. (IPPNW)Körtestr. 10 | 10967 [email protected] | www.ippnw.deV.i.S.d.P.: Dr. Alex Rosen

Nevada, USAAtomwa� entests

HintergrundDas Nevada Testgelände, etwa 105 km nordwestlich von Las Vegas gelegen, ist das größte und wichtigs-te Atomwaffenversuchsareal der USA. Von 1951 bis 1992 wurden auf dem etwa 3.500 km2 großen Gebiet 1.021 Atomwaffendetonationen durchgeführt – 100 davon überirdisch und 921 unterirdisch. Dabei wur-den insgesamt etwa 222.000 PBq (1 Petabecquerel = 1 Billiarde Becquerel) radioaktives Material in die Atmosphäre freigesetzt.1,2

Wie aus den freigegebenen Dokumenten der US Ci-vil Defense Administration hervorgeht, wurde radio-aktiver Niederschlag im Rahmen der Atomwaffentests wissentlich hingenommen.3 Als Wissenschaftler radio-aktives Strontium in den Milchzähnen US-amerikani-scher Kleinkinder nachwiesen und die Zahl kindlicher Leukämien und anderer Krebserkrankungen stieg, führte der wachsende Druck der Öffentlichkeit 1963 schließlich zur Unterzeichnung des Vertrags über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser.1,4 Unterirdische Deto-nationen wurden jedoch bis 1992 weiter durchgeführt und so traten auch weiterhin regelmäßig Unglücksfälle auf, zum Beispiel am 18. Dezember 1970: Die unter-irdische Detonation der Zehn-Kilotonnen-Bombe „Ba-neberry“ löste eine radioaktive Staubwolke aus, die etwa 247 PBq strahlender Partikel über dem Personal des Testgeländes niederregnen ließ, darunter 3 PBq Jod-131.5,6 Der radioaktive Niederschlag erstreckte sich zusätzlich über Teile der Bundesstaaten Kalifor-nien, Idaho, Oregon und Washington.

Folgen für Umwelt und GesundheitIn den 1950er Jahren wurden die Bewohner der Re-gion rund um das Testgelände dazu animiert, die re-gelmäßigen Atomexplosionen zu beobachten. Viele Be-troffene berichten davon, extra ihre Wecker gestellt zu haben, um die morgendlichen Detonationen nicht zu verpassen. Von der US-amerikanischen Atomenergie-kommission erhielten sie Dosimeter, um die erhaltene Strahlendosis anschließend messen zu können.7-9 Die Bevölkerung von Utah wurde aufgrund der vorherr-schenden Windrichtung am schwersten vom radio-aktiven Niederschlag betroffen. Radioaktive Stoffe wie Jod-131 können inhaliert werden oder mit verstrahlter Nahrung in den Körper gelangen und dort Krebs er-

zeugen. Die Kinder der kleinen Stadt St. George, Utah erhielten vermutlich Schilddrüsendosen von bis zu 1,2–4,4 Sievert.1,10 Epidemiologische Studien ergaben dementsprechend auch einen signifi kanten Anstieg von Leukämien und Schilddrüsenkrebs unter den „Downwindern“, der Bevölkerung, die in Windrichtung vom Testgelände lebte.1

Angaben des National Cancer Institutes zufolge erhielt die US-amerikanische Bevölkerung eine Gesamtstrah-lendosis von vier Millionen Personen-Sievert Jod-131 durch die Atomtests in Nevada – etwa 500-mal mehr als die Gesamtstrahlendosis von Tschernobyl (7.300 Personen-Sievert).6 Eine 1999 publizierte Studie schätzt, dass etwa 10.000 bis 75.000 Menschen als Folge der Atomexplosionen von Nevada Schilddrüsen-karzinome entwickeln würden.11 Eine weitere Studie aus dem Jahr 2006 berechnete, dass ca. 1.800 To-desfälle durch Leukämien infolge der Atomwaffentests in Nevada zu erwarten sind.1 Trotz dieser besorgnis-erregenden Erkenntnisse wurden keine regelmäßigen Schilddrüsenuntersuchungen bei den Menschen in den betroffenen Regionen durchgeführt.

AusblickAuch heute noch bleibt das Testgelände radioaktiv kontaminiert. Es wird geschätzt, dass sich noch etwa 11.100 PBq radioaktives Material in der Erde und 4.440 PBq im Grundwasser befi nden.2 Die USA haben bis heute noch nicht den Vertrag über das umfassen-de Verbot von Nuklearversuchen aus dem Jahr 1996 ratifi ziert. 1990 wurde der Federal Exposure Compen-sation Act verabschiedet um betroffene Downwinder fi nanziell zu kompensieren, wenn sie unter Krankhei-ten leiden, die durch Radioaktivität entstanden sein könnten. Für viele von ihnen ist es aber aufgrund bü-rokratischer Hürden und fehlender wissenschaftlicher Aufarbeitung schwierig, die ihnen zustehenden Kom-pensationen auch tatsächlich zu erhalten. Die Hiba-kusha von Nevada fühlen sich mit dem belastenden Erbe der Atomwaffentests allein gelassen.

Mehr als 1.000 Explosionen von Atomwa� en in den Jahren 1951 bis 1992 führten zur Freisetzung großer Mengen an Radioaktivität, die weite Teile der USA mit strahlenden Partikeln kontaminierten und beinahe die gesamte US-amerikanische Bevölkerung erreichten.

1992: Proteste gegen Atomwaffentests beim Nevada-Testgelände. Unterirdische Detonationen wurden hier noch bis 1992 durch-geführt. Foto: Peter Drekmeier (Mark Bult), creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0

Quellen1 Simon et al. „Fallout from nuclear weapons tests and cancer risks“. American Scientist 2006, 94: 48-57. www.americanscientist.org/issues/feature/2006/1/fallout-from-nuclear-weapons-tests-and-cancer-risks2 Walker et al. „Long-term stewardship at the Nevada Test Site“. Nevada Division of Environmental Protection, 1998. http://www.state.nv.us/nucwaste/nts/steward.htm3 Cook N. „Nuclear Weapons collateral damage exaggerations: implications for civil defense“. Joint Commission Report, Vol. VI, Document NP-3041, 1951. http://nige.fi les.wordpress.com/2010/12/dirkwood-report-summary6.pdf4 Mangano et al. „Elevated in vivo strontium-90 from nuclear weapons test fallout among cancer decedents“. Int.J.Health Serv.Vol 41:1,2011. www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/213197265 Rollins EM et al. „Dose Reconstruction Project: Technical Basis Document for the Nevada Test Site – Occupational Internal Dose“. The National Institute for Occupational Safety and Health (NIOSH), 30.09.04. www.cdc.gov/niosh/ocas/pdfs/arch/nts5a.pdf6 „Estimated exposure and thyroid doses received by the American people from Iodine-131 fallout following Nevada atmospheric nuclear bomb tests“. Webseite des National Cancer Institute, www.cancer.gov/i131/fallout/contents.html7 Gripman A. „Fallout of Empire“. Arizona Daily Sun, 05.04.12. http://news.azdailysun.com/fl aglive/fl agstaffl ive_story.cfm?storyID=2301368 White J. „Downwinders: the people of Parowan“. Philm Productions, 2007. www.philmproductions.com/documentary.html9 Seegmiller JB. „Nuclear Testing and the Downwinders“. Utah History To Go-Webseite. http://historytogo.utah.gov/utah_chapters/utah_today/nucleartestingandthedownwinders.html10 Knapp HA. „Iodine-131 in Fresh Milk and Human Thyroids Following a Single Deposition of Nuclear Test Fall-Out“. Nature 202, 534-537,1964. www.nature.com/nature/journal/v202/n4932/abs/202534a0.html11 „Exposure of the American people to Iodine-131 from Nevada nuclear-bomb tests – Review of the National Cancer Institute Report and Public Health Implications“. Institute of Medicine; National Research Council. National Academy Press, 1999. www.nap.edu/catalog.php?record_id=6283

18. Dezember 1970: Die unterirdische Detonation der Zehn-Kilotonnen-Bombe „Baneberry“ löste eine radioaktive Staubwolke aus, die etwa 247 PBq strahlender Partikel über dem Personal des Testgeländes niederregnen ließ. Der radioaktive Niederschlag erstreckte sich zusätzlich über Teile der Bundesstaaten Kalifornien, Idaho, Oregon und Washington. Foto: US Department of Energy