„heute so, morgen so“

4
„Heute so, morgen so“ Zur Leiblichkeitserfahrung im sozialpädagogischen Arbeitsbündnis Der Körper boomt. Im öffentlichen Räumen ist uns dieser Umstand täglich (un-)bewusst zugegen. Ob es die Werbeplakate unterschiedli- cher medizinischer Einrichtungen sind, die mit ihren Eingriffen lästige Sehprobleme beseitigen und folglich damit einen besseren Durch- blick zusichern oder ein Fitness-Unternehmen, das mit seinen Postern den Willen zur Veränderung anregt, um dadurch dem ‚perfekten Körper‘ mittels Schweiß fördernder Aktivität näher zu kommen. Der Körper ist zu einem ökonomisch wertvollen Objekt geworden, den es in vielerlei Hinsicht zu kontrollieren und beherrschen gilt. Die Philosophin Micaela Marzano analysiert be- züglich der Einflussnahme auf den Körper die ge- genwärtige Situation und konstatiert: „Wir arbei- ten an unserem Erscheinungsbild. Wir versuchen, es nach Belieben zu verändern und den Erwar- tungen aller möglichen Leute zu entsprechen, den kulturellen Normen und sozialen Regelwerken. So weit, bis unser Sein dem Schein gewichen ist“ (ebd. 2013: 26). Der Körper erscheint vor diesem Hintergrund deutlicher noch als bisher als ein Ob- jekt der Einschreibung, Transformation und Ha- bitualisierung, mit dem Ergebnis einer körperbe- zogenen Visitation und Revision des Natur-Kultur-Verhältnisses. Mit der Diskussion über die sexualisierten Praxen in pädagogischen Einrichtungen (bspw. Odenwaldschule oder Canisius-Kolleg Berlin) ist die Auseinandersetzung mit dem Körper im Kontext pädagogi- scher Professionalität aktualisiert worden. Im Mittelpunkt der Dis- kussion stehen hierbei unter anderem Fragen des Verhältnisses von Macht (-prozessen) und Pädagogik (vgl. Thole et al. 2012) oder die Ge- gensätzlichkeit von Nähe und Distanz in pädagogischen Beziehungen (vgl. Strobel-Eisele/Roth 2013). Gleichwohl ist festzuhalten, dass ei- ne explizite Körper- und Leiblichkeitsauseinandersetzungen bisher in sozialpädagogischen Diskursen nur randständig wahrzunehmen sind, selbst dann, wenn diese phänomenologisch ausgerichtet sind wie die Lebensweltorientierung (vgl. Hünersdorf 2011: 826, zur Thematisie- rung von körper-leiblichen Perspektiven im pädagogischen Kontext vgl. auch Schultheis 1998, 2013; Magyar-Haas 2011). Auch für die De- finitionen der pädagogischen Beziehung ist diese Randständigkeit zu konstatieren, wie im Folgenden gezeigt werden soll. In sozialpädagogischen Diskursen wird die Beziehung zwischen Profes- sionellen und KlientInnen als ein „sozialer Tatbestand“ angesehen und der gleichzeitig eine „unersetzliche Voraussetzung“ (Heiner 2010: 129) für das Anregen von Bildungsprozessen darstellt (vgl. Böhle et al. 2012: 184). Beziehungsgestaltung wichtig für Interventionsverlauf Anhand von vier Zugängen soll eine Charakterisierung von päd- agogischen Beziehungen unternommen werden: Der erste Zugang erfolgt über Cornelia Schäfter (vgl. ebd. 2010), die eine Unter- scheidung von ähnlich gelagerten Termini unternimmt und diese aufgrund von Differenzierungsmarkern trennt: Vor dem Hinter- grund der Differenzierungsmarker Zeit und emotionale Ausdeh- nung zwischen den beteiligten Personen positioniert sie die Be- ziehung zwischen Kontakt und Begegnung einerseits und Bin- dung anderseits. Somit weisen Beziehungen eine höhere Dauer und emotionale Intensität auf als Kontakte und Begegnungen. Bin- dungen erreichen hinsichtlich der Marker eine höhere Dauerhaf- tigkeit und emotionale Intensität als Beziehungen. Ein zweiter Zugang kann mit Karl Lenz (vgl. 2012) vorgenom- men werden: Beziehungen implizieren ein hohes Maß an Bestän- digkeit und die somit ein Anknüpfen an vorherige Erfahrungen zwischen den Personen ermöglichen. Das Ende einer Beziehung ist mit dem Ausscheiden einer Person (Tod, Trennung etc.) erreicht. „Darüber hinaus zeichnen sich persönliche Beziehungen durch ho- he Affektivität (sowohl positiver wie auch negativer Art), eine aus- geprägte Interdependenz und das Vorhandensein eines persönli- chen Wissen aus“ (ebd.: 148). Mit dem letztgenannten Punkt des persönlichen Wissens wird in diesen Ausführungen eine Trennung von persönlichen Beziehungen und Rollenbeziehungen vorgenom- men. Im Zentrum von persönlichen Beziehungen steht ein Wis- sen, dass „an die Einzigartigkeit der Person“ (ebd.: 149) gebunden ist. Rollenbeziehungen sind an spezifische, kulturell geprägte Wis- senskomplexe gekoppelt und implizieren ein Wissen, dass die „so- ziale Typik“ (ebd.) in den Blick nimmt, also ein Wissen über die jeweilige Rolle (bspw. Sozialpädagoge, Lehrer, Student, Auszubil- dender). Aufgrund der an kulturell-geprägten Erwartungshaltun- gen stellen Rollenbeziehungen den „Extremfall gänzlich unper- sönlicher Beziehungen“ (Asendorpf / Banse 2000: 7) dar. Abstract / Das Wichtigste in Kürze Der Leib vermittelt uns die Welt und ist somit zentraler Bestandteil bei der Beziehungsgestaltung von PädagogInnen und KlientInnen. Keywords / Stichworte Körper, Leib, Arbeitsbündnis, pädagogische Beziehungen Martin Grosse *1986 Diplom-Sozialarbeiter und -Sozialpädagoge. Student im Masterstudiengang „Sozialpädagogik in Aus- , Fort- und Weiterbildung“ an der Universität Kassel [email protected] 21 Sozial Extra 1 2014: 21-24 DOI 10.1007/s12054-014-0005-1 Praxis aktuell Der Körper in der Sozialen Arbeit

Upload: martin

Post on 23-Dec-2016

222 views

Category:

Documents


7 download

TRANSCRIPT

Page 1: „Heute so, morgen so“

„Heute so, morgen so“Zur Leiblichkeitserfahrung im sozialpädagogischen Arbeitsbündnis

Der Körper boomt. Im ö�entlichen Räumen ist uns dieser Umstand täglich (un-)bewusst zugegen. Ob es die Werbeplakate unterschiedli-cher medizinischer Einrichtungen sind, die mit ihren Eingri�en lästige Sehprobleme beseitigen und folglich damit einen besseren Durch-blick zusichern oder ein Fitness-Unternehmen, das mit seinen Postern den Willen zur Veränderung anregt, um dadurch dem ‚perfekten Körper‘ mittels Schweiß fördernder Aktivität näher zu kommen. Der Körper ist zu einem ökonomisch wertvollen Objekt geworden, den es in vielerlei Hinsicht zu kontrollieren und beherrschen gilt.

Die Philosophin Micaela Marzano analysiert be-züglich der Ein�ussnahme auf den Körper die ge-genwärtige Situation und konstatiert: „Wir arbei-ten an unserem Erscheinungsbild. Wir versuchen, es nach Belieben zu verändern und den Erwar-tungen aller möglichen Leute zu entsprechen, den kulturellen Normen und sozialen Regelwerken. So weit, bis unser Sein dem Schein gewichen ist“ (ebd. 2013: 26). Der Körper erscheint vor diesem Hintergrund deutlicher noch als bisher als ein Ob-jekt der Einschreibung, Transformation und Ha-bitualisierung, mit dem Ergebnis einer körperbe-

zogenen Visitation und Revision des Natur-Kultur-Verhältnisses.Mit der Diskussion über die sexualisierten Praxen in pädagogischen

Einrichtungen (bspw. Odenwaldschule oder Canisius-Kolleg Berlin) ist die Auseinandersetzung mit dem Körper im Kontext pädagogi-scher Professionalität aktualisiert worden. Im Mittelpunkt der Dis-kussion stehen hierbei unter anderem Fragen des Verhältnisses von Macht (-prozessen) und Pädagogik (vgl. Thole et al. 2012) oder die Ge-gensätzlichkeit von Nähe und Distanz in pädagogischen Beziehungen (vgl. Strobel-Eisele/Roth 2013). Gleichwohl ist festzuhalten, dass ei-ne explizite Körper- und Leiblichkeitsauseinandersetzungen bisher in sozialpädagogischen Diskursen nur randständig wahrzunehmen sind, selbst dann, wenn diese phänomenologisch ausgerichtet sind wie die Lebensweltorientierung (vgl. Hünersdorf 2011: 826, zur Thematisie-rung von körper-leiblichen Perspektiven im pädagogischen Kontext vgl. auch Schultheis 1998, 2013; Magyar-Haas 2011). Auch für die De-�nitionen der pädagogischen Beziehung ist diese Randständigkeit zu konstatieren, wie im Folgenden gezeigt werden soll. In sozialpädagogischen Diskursen wird die Beziehung zwischen Profes-

sionellen und KlientInnen als ein „sozialer Tatbestand“ angesehen und der gleichzeitig eine „unersetzliche Voraussetzung“ (Heiner 2010: 129) für das Anregen von Bildungsprozessen darstellt (vgl. Böhle et al. 2012: 184).

Beziehungsgestaltung wichtig für Interventionsverlauf Anhand von vier Zugängen soll eine Charakterisierung von päd-

agogischen Beziehungen unternommen werden: Der erste Zugang erfolgt über Cornelia Schäfter (vgl. ebd. 2010), die eine Unter-scheidung von ähnlich gelagerten Termini unternimmt und diese aufgrund von Di�erenzierungsmarkern trennt: Vor dem Hinter-grund der Di�erenzierungsmarker Zeit und emotionale Ausdeh-nung zwischen den beteiligten Personen positioniert sie die Be-ziehung zwischen Kontakt und Begegnung einerseits und Bin-dung anderseits. Somit weisen Beziehungen eine höhere Dauer und emotionale Intensität auf als Kontakte und Begegnungen. Bin-dungen erreichen hinsichtlich der Marker eine höhere Dauerhaf-tigkeit und emotionale Intensität als Beziehungen.Ein zweiter Zugang kann mit Karl Lenz (vgl. 2012) vorgenom-

men werden: Beziehungen implizieren ein hohes Maß an Bestän-digkeit und die somit ein Anknüpfen an vorherige Erfahrungen zwischen den Personen ermöglichen. Das Ende einer Beziehung ist mit dem Ausscheiden einer Person (Tod, Trennung etc.) erreicht. „Darüber hinaus zeichnen sich persönliche Beziehungen durch ho-he A�ektivität (sowohl positiver wie auch negativer Art), eine aus-geprägte Interdependenz und das Vorhandensein eines persönli-chen Wissen aus“ (ebd.: 148). Mit dem letztgenannten Punkt des persönlichen Wissens wird in diesen Ausführungen eine Trennung von persönlichen Beziehungen und Rollenbeziehungen vorgenom-men. Im Zentrum von persönlichen Beziehungen steht ein Wis-sen, dass „an die Einzigartigkeit der Person“ (ebd.: 149) gebunden ist. Rollenbeziehungen sind an spezi�sche, kulturell geprägte Wis-senskomplexe gekoppelt und implizieren ein Wissen, dass die „so-ziale Typik“ (ebd.) in den Blick nimmt, also ein Wissen über die jeweilige Rolle (bspw. Sozialpädagoge, Lehrer, Student, Auszubil-dender). Aufgrund der an kulturell-geprägten Erwartungshaltun-gen stellen Rollenbeziehungen den „Extremfall gänzlich unper-sönlicher Beziehungen“ (Asendorpf / Banse 2000: 7) dar.

Abstract / Das Wichtigste in Kürze Der Leib vermittelt uns die Welt und ist somit zentraler Bestandteil bei der Beziehungsgestaltung von PädagogInnen und KlientInnen.

Keywords / Stichworte Körper, Leib, Arbeitsbündnis, pädagogische Beziehungen

Martin Grosse *1986

Diplom-Sozialarbeiter und -Sozialpädagoge. Student im Masterstudiengang „Sozialpädagogik in Aus-, Fort- und Weiterbildung“ an der Universität Kassel

[email protected]

21

Sozial Extra 1 2014: 21-24 DOI 10.1007/s12054-014-0005-1

Praxis aktuell Der Körper in der Sozialen Arbeit

Page 2: „Heute so, morgen so“

Die Unterscheidung von persönlichen und rollenförmigen Beziehung aufnehmend, formuliert Hermann Giesecke (vgl. 1997: 250�.) – in ei-nem dritten Zugang – eine stärkere Ausrichtung an der Rollenförmig-keit pädagogischer Beziehungen. Zur Charakterisierung einer profes-sionellen pädagogischen Beziehung lassen sich im Unterschied zu pri-vaten Beziehung (familiäres Handeln) folgende Aspekte festmachen:•Professionelle pädagogische Beziehungen unterliegen der Ein-

bindung einer bezahlten Tätigkeit•Der Zugri� auf die KlientInnen ist zeitlich begrenzt (bspw.

Austritt aus der Schule, Ende einer Jugendhilfemaßnahme etc.)•Aufgrund einer tendenziell unverschlossenen Anzahl von Kli-

entInnen muss die Beziehung zu ihnen eine gewissen Distanz aufweisen

•Professionalität wird über spezi�sche Fachkenntnis und über ein gesichertes Anwendungswissen von Techniken und Me-thoden realisiert

•Grundlage dieser Professionalität sind formale Bildungsprozes-se (curricularer Aufbau von Ausbildung und Studium, Zerti-�zierung)

•Aufgrund ihrer spezi�schen Zweckgerichtetheit (z.B. Herstel-lung einer autonomen Lebenspraxis) lösen sich professionelle pädagogische Beziehungen sukzessive auf

Als vierter und letzter Zugang soll das Konzept des Arbeitsbünd-nisses angeführt werden (vgl. Müller 1991; Oevermann 1996). Das Arbeitsbündnis kann doppelt in den Fokus rücken: „Arbeitsbünd-nis kann einmal der jeweilig de facto zustandegekommene ‚working consenus‘ heißen, der den groben Rahmen des Aushandelns der In-teraktionspartner absteckt. (…) Zum anderen bezeichnet ‚Arbeits-bündnis‘ ein professionelles Konzept bzw. eine Ebene professioneller Re�exivität. In diesem konzeptionellen Sinn bedeutet ‚Arbeitsbünd-nis‘ ein Interpretationsraster, das professionelle Dienstleister selbst benutzen und ihren Klienten anbieten, mit dem Ziel, die jeweils schon vorgegebenen wechselseitigen Situationsde�nitionen und Ge-genstandsbestimmungen der Interaktion in eine explizite, gemein-same, wechselseitig für vernünftig und zumutbar gehaltene Arbeits-aufgabe zu transformieren‘“ (Müller 1991: 96f.; Hervorhebung im Original). An dieser Ausführung wird deutlich, dass der Klient eine zentrale Position des gemeinsam zu gestaltenden Prozess einnimmt und der Professionelle „eher die Neben- als die Hauptrolle hat, weil er nur Unterstützung geben kann in einem Kampf, der letztlich vom Klienten selbst geführt und gewonnen werden muß“. (ebd.: 98). Das Ziel des Arbeitsbündnisses ist die Herstellung der autono-

men Lebenspraxis. Auch Oevermann (1996) greift in seiner Dar-stellung auf die Trennung zwei zu unterscheidenden Sozialbezie-hungstypen zurück: einerseits die spezi�schen (rollenförmigen) und andererseits die di�usen (persönlichen) Sozialbeziehungen. Wird das pädagogisch professionelle Handeln vor diesem Hinter-grund in den Blick genommen, so wird diesem ein rekurrieren-des Oszillieren sowohl auf spezi�sche als auch auf di�use Sozial-beziehungselemente charakteristisch zugeschrieben: „Primär am professionalisierten Handeln ist also die zugleich di�use und spe-zi�sche Beziehung zum Klienten, dessen leibliche und/oder psy-

chosoziale Beschädigung beseitigt oder gemildert werden muss. Ich nenne diese Beziehungspraxis das Arbeitsbündnis“ (ebd.: 115). Insgesamt fällt auf, dass in den drei zuerst genannten Ansätzen zur De-

�nition der sozialpädagogischen Beziehung Leiblichkeit allenfalls impli-zit mitgedacht wird. Anders in der strukturtheoretischen Professionali-sierungstheorie von Ulrich Oevermann (vgl. 2013), die im Funktions-fokus ‚somato-psychosoziale Ingegrität‘ als zentralen Erfahrungsmodus die Natur- und Leiberfahrung anführt. Eine Explikation der Leiberfah-rung bzw. eine Klärung der Begri�ichkeit von Leiblichkeit ist allerdings auch hier nicht auszumachen. Dabei sind Leiblichkeitserfahrungen in den Prozessen einer dyadischen Beziehungsgestaltung zwischen Profes-sionellen und KlientInnen anzutre�en, da der Leib den Ausgangspunkt der Weltwahrnehmung darstellt. Rekurrierend auf Merleau-Ponty kon-statiert Robert Gugutzer (2002) diesbezüglich: „Als Medium des Zur-Welt-Seins fungiert der Leib dadurch, dass er dem Ich die Welt sinn-lich-wahrnehmend vermittelt. Leibliches Zur-Welt-Sein heißt damit, die eigene (Um-) Welt mittels des eigenen Leibes – der eigenen Sin-ne – wahrzunehmen, ihr gegenüber geö�net zu sein und auf sie hin zu handeln“ (ebd.: 76). Dieser Ansicht folgend, stellen Alter, soziale und geographische Herkunft, Bildung, sportliche Interessen, Emotionalität, Musik- und Literaturgeschmack, Geschlecht, Geruch, Dialekt, Sprache, dingliche Gegenstände, Körperpräsentation, Mimik, Gestik, Stimme, Migration etc. Erfahrungsphänomene dar, die Prozesse der pädagogi-schen Beziehungsgestaltung fördern oder hindern können.

Ausgangspunkt der Selbst- und WeltwahrnehmungEin Beispiel: Es könnte das Tragen eines Schalke-04-Trikots nach

einem Sieg im Revierderby in der Dortmunder Stadtbahn auf Sei-ten des BVB-Anhängers als Provokation empfunden werden, mit-hin stehen die beiden einander unbekannten Fußballfans räumlich und symbolisch gesehen in der in Beziehung zueinander. Ob und unter welchen Voraussetzungen aus pädagogischer Sicht diesem Fall von einer Beziehung die Rede sein kann, wäre zu diskutieren. Dieses Beispiel zieht einmal mehr, dass Aspekte der Körper- und

Leiblichkeit jeglichen face-to-face-Situationen immanent sind, dass sie den Ort des Erfahrens, der Re�exion von sozialer Wirklichkeit dar-stellen und somit an Handlungsvollzügen beteiligt sind. Mit Jürgen Raab und Hans-Georg Soe�ner lässt sich die Immanenz von Kör-per- und Leiblichkeit in face-to-face-Situation folgendermaßen for-mulieren: „In gemeinsamer körperlicher Präsenz können wir uns un-mittelbar sinnlich wahrnehmen, also sehen, hören, riechen, fühlen und – wenn wir wollen – auch schmecken. Von besonderer Bedeu-tung erweist sich deshalb das synästhetische Mit- und Zusammenwir-ken aller Sinnesorgane, das Erscheinen und Wahrgenommenwerden des gesamten Körpers wie auch die Ver�echtung und Multivalenz höchst unterschiedlicher, dabei nicht unbedingt widerspruchsfreier Zeichenebenen, Zeichenformationen und Darstellungsmittel (Kör-perhaltung, Gestik, Mimik, Sprache, Prosodie, Kleidung, Schmuck, Emblematik, Kosmetik usw.) sowie schließlich die Vielzahl der dar-aus hervorgehenden Deutungsebenen und Interpretationsverfahren.“ (ebd. 2005: 170) Doch was genau ist der Leib, um den es dabei geht und über den wir heute weit seltener als über den Körper sprechen?

22

Sozial Extra 1 2014

Praxis aktuell Der Körper in der Sozialen Arbeit

Page 3: „Heute so, morgen so“

Naturwissenschaftlich betrachtet, bildet der Körper einen Gegen-stand, der betastet oder gesehen wird, in Kopf, Hände, Beine, Augen, Gehirn, Leber, Herz, Genitalien etc. zerlegt und die unter Umstän-den auch wieder zusammengesetzt werden können. So oder so ähnlich würde wohl eine Vielzahl von Menschen antworten, wenn sie danach gefragt werden, was denn der Körper ist, womit der Leib unerwähnt bliebe, obwohl er als sprachliche Möglichkeit vorhanden ist. Walden-fels (2000: 15) stellt fest, dass die Begri�e Körper und Leib ein „ (…) sprachliches Kapital [bilden], das man nicht einfach verschleudern soll-te, indem man vom ‚Körper‘ spricht, wenn man den ‚Leib‘ meint“. Sein Statement macht zum einen deutlich, dass es nicht nur sprachlich zu ei-nem Verschwimmen, Vertauschen, Verwechseln der Begri�e kommen kann, das ein Reden über einen Gegenstand erschwert bzw. verhindert.

Zwei Seiten einer Medaille Zum anderen impliziert die Aussage von Waldenfels, dass eine ana-

lytische Betrachtung nützlich ist. Daran haben sich denn auch diver-se Disziplinen beteiligt mit der Folge, dass sich in philosophischen, so-ziologischen, kulturwissenschaftlichen, anthropologischen, pädagogi-schen Diskursen unterschiedliche Verständnisse herausgebildet haben, die wiederum zu möglichen Begri�sirritationen führen können (vgl. ausführlicher zum Leiblichkeitsdiskurs Alloa et al. 2012). Konzentriert man sich auf eine phänomenologische Betrachtung,

kann man einen anderen (für den pädagogischen Beziehungsdiskurs bisher kaum beachteten) Zugang zum Erfahren des menschlichen Hier-und-Jetzt wählen, den der Philosoph Hermann Schmitz (vgl. 2011) ausbuchstabiert hat. Er kann zwar nicht die messbare Schärfe eines naturwissenschaftlichen Zugangs aufweisen, aber durch ihn ist es unzweifelhaft der Mensch selbst, der sich aufgrund des Heraus-lösens aus dem Hier-und-Jetzt spürt. Zur Illustration expliziert er weiter: „Ein Mensch lebt träge und gedankenlos, entweder dösend oder in Routinetätigkeiten versunken, dahin, da schreckt ihn plötz-lich ein aggressives Geräusch, vielleicht Hundegebell oder ein schril-ler P��, oder er stürzt zu Boden und kann sich gerade vor dem Auf-prall noch fangen, oder er verliert den Boden unter den Füßen, weil er eine Treppenstufe übersehen hat, oder er erhält unvermittelt ei-nen Schlag auf den Kopf. Er fährt zusammen unter dem Druck der Bedrohung durch das unerwartet plötzlich hereinbrechende Neue, das die gleitende Dauer seines Dahinlebens zerreißt und ihn in die Enge der Gegenwart versetzt, die ebenso zeitlich wie räumlich ist: zeitlich als das abgerissene Plötzliche, räumlich durch die Enge, in die er durch das Zusammenfahren gedrängt ist“ (ebd.: 1f.). Anhand dieser Illustration wird der Unterschied zwischen den Be-

gri�en von Körper und Leib – wie sie hier gebraucht werden – deut-lich. Im Unterschied zum Körper, rücken hier Phänomene in den Mittelpunkt, die die Seins-Weise durch das a�ektive Betro�ensein der Personen explizieren. Durch das Aufschrecken aus dem „Hier und Jetzt“ ist es merklich die Person selbst, die sich eigenleiblich spürt und somit subjektive Tatsachen erfährt (vgl. Schmitz 2012). Subjek-tive Tatsachen sind von objektiven Tatsachen mittels ihrer „Intensität der Ergri�enheit“ (ebd.: 31) zu unterscheiden. Um dies zu verdeutli-chen, ein Beispiel: Der Aussagesatz ‚Ich bin hungrig‘ impliziert, dass

23

Überblick zur Kinder-medienforschung

springer-vs.deEinfach bestellen:

[email protected] +49 (0)6221 / 3 45 – 4301

Angela Tillmann,Sandra Fleischer, Kai-Uwe Hugger (Hrsg.)

Handbuch Kinder und Medien2014. XIII, 550 S. 17 Abb. Geb.€ (D) 39,99 | € (A) 41,11 | sFr* 50.00ISBN 978-3-531-18997-0

Das ‚Handbuch Kinder und Medien‘ gibt einen aktuellen und umfassenden Überblick zum theoretischen, empirischen und methodologischen Stand der Kindermedienforschung. Berücksichtigt wird, dass Kindheit einem stetigen sozialen und kulturellen Wandel unterliegt, der in den letzten Jah-ren immer stärker durch die digitalen, multifunktionalen Medien vorangetrieben wird. Ziel des Handbuches ist es, Orientierung für die Forschung und pädagogische Praxis zu geben. Der Themenkomplex Kinder und Medien wird durch eine strukturierte Aufbereitung der zentralen theoretischen, methodischen und empirischen Zugänge, über die Bedeu-tung von Medien im Lebensverlauf sowie durch Ansätze zur medienpädagogischen Arbeit mit Kindern systematisch und grundlegend erschlossen.

Der Inhalt

• PerspektivenaufKinder,KindheitenundMedien • TheoretischeGrundlagenderKindermedienforschung • MedienforschungmitKindern • BedeutungvonMedienimkindlichenLebensverlauf • StellenwertundBedeutungspezifischerMedienfürKinder • MedienpädagogischeArbeitmitKindern

€ (D) sind gebundene Ladenpreise in Deutschland und enthalten 7% MwSt. € (A) sind gebun-dene Ladenpreise in Österreich und enthalten 10% MwSt. Die mit * gekennzeichneten Preise sind unverbindliche Preisempfehlungen und enthalten die landesübliche MwSt. Preisänderun-gen und Irrtümer vorbehalten.

Page 4: „Heute so, morgen so“

ich personenbezogene Ausprägungen dieses Zustandes aufweise (auf-kommende Müdigkeit, gereizte Stimmung, unkonzentriertes Arbei-ten etc.). Im Gegensatz dazu ist der Satz ‚Herr/Frau Mustermann ist hungrig‘ durch die fehlende Ich-Ergri�enheit geprägt, da mir nicht die subjektiven Ausprägungen des Hungerzustands der Person voll-ständig erschlossen sind. Jedoch stellt sich ein Moment des Nachspü-rens ein, da sich aufgrund kultureller Prozesse ein Verständnis erge-ben hat (objektive Tatsachen), das es den Personen erlaubt über Hun-ger zu reden ohne dabei auf identische Ergri�enheitsausprägungen zu tre�en. Vor diesem Hintergrund ist mit Guido Rappe (2011) – einem von Hermann Schmitz beein�usster Philosoph und Ethnologe – unter Leib folgendes zu verstehen: „Der Leib soll als ein sich in aktuell und zuständlich erfahrenen Regungen manifestierendes Ganze verstan-den werden, das sowohl die Quelle personaler Seinsgewissheit und Subjektivität, als auch die restrealistische Basis der Verständigung mit Anderen und der Welt bildet“ (ebd.: 98; Hervorhebung im Original). Herauszustellen ist hierbei, dass der Leib einerseits durch die Subjek-tivitätserfahrung markiert ist (Ich-Ergri�enheit) und andererseits u.a. durch Wissensgenerierung ein Reden über ihn möglich wird, der die subjektiven Erfahrungen fokussiert und objektivierende Sachverhal-te entstehen lässt, die eine „intersubjektive-restrealistische“ (ebd.: 57; Hervorhebung im Original) Kommunikation ermöglichen.

Mit Blick auf sozialpädagogische Arbeitsbündnisse ist abschlie-ßend festzuhalten, dass die hier dargestellte analytische Perspek-tive von Leiblichkeit bisher eine vernachlässigte Position im (sozi-al-) pädagogischen Beziehungsdiskurs eingenommen hat. Dies ist dahingehend erstaunlich, da es doch gerade der Leib ist, der die Stellung zur Welt wahrnehmend vermittelt und sich daraus Kon-sequenzen für das Arbeitsbündnis und dem darin eingelagerten Fallverstehen ergeben: Unruhiger Schlaf, ein schrilles Geräusch, langanhaltendes düsteres Wetter, Gerüche, Wortwahl, Körper-berührungen, anstehende Hilfeplangespräche, bestimmtes Perso-nal während einer Schicht, Verlust einer nahestehenden Person, bevorstehendes Ende einer Maßnahme etc. sind Momente, die ei-ne Person – leibphänomenologisch gesprochen – in einen Engezu-stand versetzen können und somit die Beziehungsgestaltung ver-zögern oder sogar hindern. Da die eben angeführten Situationen als alltäglich erfahrbar zu betrachten sind, muss demzufolge der Beziehungsaufbau täglich aktualisiert werden. So kann ein extre-mer Fall von Müdigkeit sich so sehr auswirken, dass eine Person den ganzen Tag ‚neben sich steht‘ und es eine Hürde im Anregen von Bildungsprozessen darstellt. Anders formuliert: Ist es heute die Müdigkeit, die einen träge macht, so ist es morgen der Aus-�ug zum Badesee, der einen be�ügelt. s

Literatur

ALLOA, EMMANUEL ET AL (HRSG.) (2012). Leiblichkeit. Tübingen

ASENDORPF, JENS / BANSE, RAINER (2000). Psychologie der Beziehung. Bern

BÖHLE, ANDREAS ET AL (2012). Beziehungsarbeit unter den Bedingungen von Freiwilligkeit und Zwang – Zum gelingenden Aufbau pädagogischer Arbeitsbündnisse in verschiedenen Feldern der Kinder- und Jugendhilfe. In: Soziale Passagen, 2/2012, 4. Jahrgang (S. 183–202)

GIESECKE, HERMANN (1997). Die pädagogische Beziehung. Pädagogische Professionalität und die Emanzipation des Kindes. Weinheim

GUGUTZER, ROBERT (2002). Leib, Körper und Identität. Eine phänomenologisch-soziologische Untersuchung zur personalen Identität. Wiesbaden

HEINER, MAJA (2010). Kompetenz handeln in der Sozialen Arbeit. München

HÜNERSDORF, BETTINA (2011). Körper – Leib – Soziale Arbeit. In: Otto, Hans-Uwe / Thiersch, Hans (Hrsg.) (2011), Handbuch Soziale Arbeit (S. 816–822). München

LENZ, KARL (2012). Beziehungen. In: Horn, Klaus-Peter et al (Hrsg.), Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft, Bd. 1. Bad Heilbrunn

MAGYAR-HAAS, VERONIKA (2011). Leibliche Abgrenzungen und Positionierungen im sozialpädagogischen Raum. Eine videoanalytische Rekonstruktion. In: Oelerich, Gertrud / Otto, Hans-Uwe (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit (S. 193–205). Wiesbaden

MARZANO, MICHAELA (2013). Philosophie des Körpers. München

MÜLLER, BURKHARD (1991). Die Last der großen Ho�nungen. Methodisches Handeln und Selbstkontrolle in sozialen Berufen. Weinheim

OEVERMANN, ULRICH (1996). Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionellen Handelns. In: Combe, Arno / Helsper, Werner (Hrsg.), Pädagogische Professionalität (S. 70–182). Frankfurt am Main

OEVERMANN, ULRICH (2013). Die Problematik der Strukturlogik des Arbeitsbündnisses und der Dynamik von Übertragung und Gegenübertragung in einer professionalisierten Praxis von Sozialarbeit. In: Becker-Lenz et al (Hrsg.), Professionalität in der Sozialen Arbeit. Standpunkte, Kontroversen, Perspektiven (S. 119-148). 3. Au�age. Wiesbaden

RAAB, JÜRGEN / SOEFFNER, HANS-GEORG (2005). Körperlichkeit in Interaktionsbeziehungen. In: Schroer, Markus (Hrsg.), Soziologie des Körpers. Frankfurt am Main

RAPPE, GUIDO (2012). Leib und Subjekt. Phänomenologische Beiträge zu einem erweiterten Menschenbild. Bochum/Freiburg

SCHÄFTER, CORNELIA (2010). Die Beratungsbeziehung in der Sozialen Arbeit. Wiesbaden

SCHMITZ, HERMANN (2011). Der Leib. Berlin/Boston

SCHMITZ, HERMANN (2012). Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie. 3. Au�. Freiburg

SCHULTHEIS, KLAUDIA (1998). Leiblichkeit – Kultur – Erziehung. Zur Theorie der elementaren Erziehung. Weinheim

SCHULTHEIS, KLAUDIA (2013). Nähe und Distanz in pädagogischen Beziehungen. In: Becker, Heinz (Hrsg.), Zugang zu Menschen. Angewandte Philosophie in zehn Berufsfeldern. Freiburg/München

STROBEL-EISELE, GABRIELE / ROTH, GABRIELE (HRSG.) (2013). Grenzen beim Erziehen. Nähe und Distanz in pädagogischen Beziehungen. Stuttgart

THOLE, WERNER ET AL (HRSG.) (2012). Sexualisierte Gewalt, Macht und Pädagogik. Opladen / Berlin / Toronto

WALDENFELS, BERNHARD (2000). Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes. Frankfurt am Main

24

Sozial Extra 1 2014

Praxis aktuell Der Körper in der Sozialen Arbeit