hauptthemen_expressionismus_velikov
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eine praesentation ueber die haupthemen die in expressionismus benutzt waren.TRANSCRIPT
Sofioter Universität „St. Kliment Ohridski“ Lehrstuhl für Germanistik und Skandinavistik Fachrichtung: Germanistik Hausarbeit im Rahmen des Zyklus “Geschichte der deutschen Literatur“ Leitung: Doz. Maja Razboinikova-Frateva Hauptthemen der expressionistischen Lyrik, untersucht an ausgewählten Beispielen vorgelegt von Vladimir Velikov Matrikel-Nr: 12728 Sofia 03.07.2006
Gliederung
1. Einführung
2. Die expressionistische Lyrik
3. Themen der expressionistischen Lyrik
3.1. Großstadt
3.2. Weltende
3.3. Krieg
3.4. Der neue Mensch
3.5. Themen als Ausdruck des Ich-Zerfalls
4. Fazit
1. Einführung
Der Expressionismus entstand 1905 in deutschen künstlerischen Kreisen und wurde als
Sammelbegriff für die gegen den Naturalismus und Impressionismus gerichteten
Stiltendenzen der daran beteiligten jungen Malern betrachtet.
Zu den expressionistischen Kreisen zählten „Der Blaue Reiter“, „Die Brücke“ und „Bauhaus“.
Charakteristisch für die expressionistische Malerei waren die sich verselbständigenden
Farben, die großen Leinflächen, die verzerrten Konturen der Gestalten. Später wurde dieser
Begriff auf die Literatur übertragen. Sowohl die Maler als auch die Schriftsteller legten
großen Wert auf die Form ihrer Werke. Die Form sollte die erstarrten Rahmen und
Konventionen, die prägend für die konservative Sichtweise des Bürgertums am Ende des 19.
Jahrhunderts waren, sprengen und das bürgerliche Bewusstsein zu neuen Denkformen öffnen.
Der in diese Form gekleidete Inhalt war stark sozial orientiert und zielte eine Erschütterung
des Menschen aus seiner sicheren und verderbender Lebensweise. Das soziale Engagement
der expressionistischen Schriftsteller ist das, was diese Strömung von den anderen
formorientierten Strömungen wie Ästhetizismus und Symbolismus unterscheidet.
Die Schriftsteller des Expressionisten glaubten, dass die korrupte und heuchlerische
Gesellschaft, die rasche Technologisierung der Welt, die industrielle Entwicklung den
Menschen von ihm selbst und von seinen Mitmenschen entfremden, und versuchten durch
ihren Appell nach „Sturz und Schrei“ im Kampf mit der bestehenden Ordnung, nach
Verbrüderung der Menschen in dieser von Maschinen regierten Welt, nach Erwecken des
Herzens zum Wesentlichen (Natur und Liebe) die Menschen zu provozieren und verändern.
Dabei gaben sie nicht exakt die Wirklichkeit oder nur Eindrücke von der Welt wieder,
sondern erschufen aus ihrer inneren Vision heraus eine neue Welt. Sie wurden zu Seher,
Visionäre.
Kurz: die Expressionisten wollten eine neue Welt und eine neue Menschheit sehen.
2. Expressionistische Lyrik
Am Anfang war die Lyrik die dominierende Gattung des Expressionismus. Sie konnte am
besten das Anliegen der Expressionisten, das von Gottfried Benn als
"Wirklichkeitszertrümmerung, als rücksichtsloses An-die-Wurzel-der-Dinge-Gehen"
zusammengefasst wurde, verkörpern.
Als ein Meilenstein expressionistischer Lyrik gilt die von Kurt Pinthus 1920 in Berlin
herausgegebene Anthologie „Menschheitsdämmerung“. An dieser beteiligten sich junge
Autoren wie Georg Heym, Franz Werfel, Gottfried Benn, Else Lasker-Schüler, Ernst Stadler,
Georg Trakl.
Als Motto dieser Gedichtssammlung wurde das Gedicht „Weltende“ von Jakob van Hoddis
vorangestellt. Dieses Gedicht war am 11.1.1911 erschienen und wurde mittlerweile zum
Schlüsselerlebnis der Expressionisten. Es wurde unter den literarischen Kreisen der
Avantgarde Berlins so sehr bekannt (obwohl manche Kritiker seinen literarischen Wert unter
Frage stellen), da es nicht nur die Verachtung einer Welt der stumpfen Bürgerlichkeit zum
Ausdruck brachte, sondern bereits die Katastrophe (1914) vorwegnahm.
Die Themen und Motivkomplexe in dieser Sammlung sind vom Eindruck des Ersten
Weltkrieges geprägt. Angst, Tod, Wahnsinn, Melancholie erfüllen die dichterische Welt der
Autoren.
Bedeutend für die expressionistischen Dichter war nicht die eigene Situation und persönliche
Schwierigkeiten, also nicht die eigene Persönlichkeit, sondern die Beziehungen aller
Menschen untereinander. In ihren Gedichten appellierten sie an Frieden und Humanität.
Ähnlich wie in der expressionistischen Malerei, wo sich die Künstler neuer Ausdrucksmittel
bedienten wie z.B vereinfachten Formen und grellen Farben, versuchten die Literaten ihre
seelischen Eindrücke in einer neuen expressiven Sprache zu kleiden, oder besser ihr
"innerstes Wesen mit Worten zu zerreißen" (Benn).
Die Autoren gingen an die Wurzel der Sprache und versuchten eine neue, die besser für ihr
Anliegen geeignet war, zu erschaffen. Sie war oft stakkatohaft, erschien in ungewohnten
Rhythmen, abgerissen, voller Neubildungen, Wortschöpfungen. Die Klangmalerei hatte einen
wichtigen Platz in den expressionistischen Werken. Durch Assonanz und Alliteration erfüllte
sich die Welt der Gedichte durch den Lärm der Fabriken und der Straßen der Großstädte. Für
den Leser entstand eine Welt, in der die Hässlichkeit der Wirklichkeit ins Extreme gezogen
wurde. Die Autoren, vorwiegend Gottfried Benn („Morgue und andere Gedichte“), bedienten
sich einer neuen Ästhetik des Hässlichen.
Kennzeichnend für diese Gedichte waren die schockierenden Bilder, die präzise Wiedergabe
grauenhafter Details, die grotesken Beschreibungen, die Verzerrung der Wirklichkeit.
Die expressionistischen Dichter parodierten die Verwendung traditioneller literarischen
Formen und Elemente. Ein beliebtes Verfremdungsmittel war das Paradox. Sie versuchten die
vielschichtige, disparate Wirklichkeit darzustellen. Die Synästhesie als die Möglichkeit aller
Sinnesbereiche zu erfassen, war ein passendes Mittel dazu.
Die Dichter experimentierten mit der Sprache auf allen möglichen Wegen, sie brachen alle
grammatische und semantische Regeln während ihres Ringens um neue
Ausdrucksmöglichkeiten.
3.Hauptthemen der expressionistischen Lyrik
Die Industrialisierung, der technische Fortschritt und die daraus resultierende
Maschinisierung des Lebens am Anfang des 20. Jahrhunderts verwandelten die Großstadt in
einen Ort des Ich-Zerfalls. Der Mensch entfernte sich immer mehr von der Natur und verlor
sich in eine künstliche Welt, wo Entfremdung die Kommunikation ersetzte.
Die neuen Wahrnehmungsweisen, die die industrielle und technische Entwicklung mit sich
brachte, lösten die alten Weltbilder auf. In dieser Grenzsituation herrschten moralisches
Chaos und Katastrophenstimmung. Das Letztere hatte noch als Ursache die politische und
wirtschaftliche Unsicherheit vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg. Das alles bildete
den Hintergrund für zivilisationskritische Tendenzen in der Literatur des Expressionismus,
besonders in der Lyrik, die die Ursachen (verkrustete und egoistische Denkweise, Angst vor
der Veränderung u.s.w.) für den bestehenden Chaos auffällig machte und an eine neue Welt,
wo laut der Philosophie Henri Bergsons nur die Intuition und nicht der Verstand das
Wesentliche erfassen kann, und an einen neuen Menschen im Nietzscheanischen Sinn
appellierte.
Die Themen, die am häufigsten in expressionistischen Gedichten betroffen werden, sind
demzufolge: Großstadt (Ambivalenz der Großstadt und die Großstadt als Ort des Ich-
Zerfalls); Krieg; Apokalypse; der neue Mensch (die neue Welt). Als Ausdruck des Ich-
Zerfalls sind auch folgende Themen zu nennen: Wahnsinn, Selbstmord (Ophelia-Motiv),
Krankheit, Tod, Verfall.
3.1. Großstadt
Die ambivalente Wahrnehmung der Großstadt, sowohl positiv als auch negativ, unterschied
die expressionistischen Lyriker von den italienischen Futuristen, welche die positiven Seiten
der Großstadt verherrlichten. In den expressionistischen Gedichten waren einerseits die
Anziehungskraft der Großstadt zu verspüren und andererseits ihre verderbende Wirkung.
Diese Ambivalenz findet z.B im Gedicht „De Profundis“ von Johannes Becher Ausdruck:
„Singe mein trunkenstes Loblied auf euch, ihr großen, ihr/ rauschenden Städte./
Trägt euer schmerzhaft verworren, unruhig Mal doch/ mein eigenes Gesicht!
Zerrüttet wie ihr, rüttelnd an rasselnder Kette./Glänzende Glorie, seltsamst verwoben aus
Licht und/ Nacht, die meine zerrissene Stirn umflicht!“
und weiter „Niederströmt die Masse, die Ketten/ klirren. Der irdische Dämon Hölle und
Feuer schürt.../Und doch -: singe mein trunkenstes Loblied auf euch, ihr/großen, ihr
rauschenden Städte!/Von euch verdorben. In euch verwirrt. Von euch verführt./Doch sterbend
vom Schein himmlischen Lichtes berührt...“
Diese zwei Strophen enthalten die schmerzliche Zwiespalt eines der verderbenden, sogar
tödlichen Wirkung des Lieblingsgetränks bewussten Betrunkenen. Der Rausch, die teuflische
Verführungskraft der Großstadt locken den Menschen wie das Kerzenlicht den Schmetterling,
das seine Flügel verbrennt und ihn zum Tod führt, „doch vom Schein himmlischen Lichtes
berührt“. Dem Menschen fällt unmöglich sich zu retten, er will es einfach nicht, denn es ist so
süß im Rausch, von prächtigen Lichtern umringt, zu vergehen.
Die Anziehungskraft der Großstadt wird im Gedicht „Großstadtvolk“ von René Schickele in
ihrer paradoxalen Wirkungsweise wiedergegeben:
„Hier [in der Großstadt] sollt ihr bleiben, weil die begehrenswerten Feste gefeiert werden/der
Macht und die blass machenden Edikte erlassen werden/der Macht, die wie Maschinen/-ob
wir wollen oder nicht - uns treiben.[...]“ Die Macht ist lockend, besonders wenn man sich in
der Sklavenposition befindet und keine andere Wahl hat, außer sich treiben zu lassen.
Die Macht der Großstadt wird im Gedicht „Der Gott der Stadt“ von Georg Heym mit der
Macht Gottes verglichen. Dieser Gott ist aber ein falscher blutgieriger Gott, ein Abgott. Die
Blindheit der Menschen besteht darin, dass sie ihn willenlos huldigen und sogar sich opfern,
damit er sich beschwichtigt. Diese Metapher verdeutlicht die zeitkritischen Stellung der
Expressionisten zur Großstadt auf markante Weise. Hauptkritikpunkte sind die
„Vergewaltigung“ der Natur; der Lärm, der Verkehr sowie das „Massenphänomen“. Im
Gedicht erzeugen die Fabriken und die Menschen mit ihren „Korybanten-Tänzen“ Lärm, die
Menschen geben sich zudem äußerst uniform, was ein Verweis auf die Anonymität und
Verlust von Individualität in der Großstadt ist. Nur die einzelnen Häuser (1 Strophe), welche
außerhalb der Stadt gelegen sind, entziehen sich dem Machteinfluss des Abgottes, da die
Natur hier noch ursprünglich und im Einklang mit dem Menschen ist. Der Abgott kann nur in
der naturzerstörenden und materialistischen Großstadt seine Macht ausüben.
Die „Naturvergewaltigung“ als Hauptfolge der Industrialisierung der Großstädte ist die
hauptsächliche Triebfeder für die Zivilisationskritik der Expressionisten und gipfelt häufig in
apokalyptischen Weltuntergangsszenarien (s. 3.2.) (hier der Feuersturm- 5. Strophe).
Das Ich erlebt sich nicht mehr als autonom handelnder Mensch, sondern als Opfer einer
übermächtigen Umwelt, die in es eindringt und es treibt. Das führt unabdingbar zum Ich-
Zerfall. Der Mensch verliert seine Identität, seinen Willen. Er wird Eins mit der Masse, die
ihn treibt und ihrerseits von etwas Größerem getrieben wird:
„Die Menschen sind wie grober bunter Sand/Im linden Spiel der großen
Wellenhand.“(Auszug aus Loerkes „Blauer Abend im Berlin“).
Die Entfremdung unter den Menschen in der Großstadt, die Einsamkeit des Einzelnen,
umringt von der Menschnmenge, wird im Gedicht „Städter“ von Alfred Wolfenstein
thematisiert:
„Ineinander dicht hineingehakt/ Sitzen in den Trams die zwei Fassaden/ Leute [...]
Unsre Wände sind so dünn wie Haut,/ Daß ein jeder teilnimmt, wenn ich weine./Unser
Flüstern, Denken ... wird Gegröle .../ - Und wie still in dick verschlossner Höhle/ Ganz
unangerührt und ungeschaut/ Steht ein jeder fern und fühlt: alleine“
Die große physische Nähe der Menschen in der Großstadt führt paradoxalerweise zu ihrer
Entfremdung.
Typisch für die Großstadtgedichte ist die Entpersonifizierung der Menschen. Im Gedicht
„Städter“ z.B. werden die Meschen mit Fassaden verglichen. Die künstlichen Attribute der
Stadt werden zu Metaphern für Menschen. Der Mensch wird zum einen seelenlosen
künstlichen Gegenstand.
Im Gedicht „Nachtcafe“ von Gottfried Benn wird diese Tendenz zur Entpersonifizierung um
einen Schritt weiter gebracht. Die Menschen sind hier nicht als Gegenstände dargestellt,
sondern als Körperteile, doch die Gegenstände verhalten sich als Menschen:
„Das Chelo trinkt rasch Mal. Die Flöte/rülpst tief drei Takte auf: das schöne Abendbrot.
Der Trommel liest den Krimminalroman zu Ende.
Grüne Zähne, Pickel im Gesicht/ winkt einer Lindrandentzündung ...“
Das Ersetzen eines ganzheitlichen Menschen durch einen makeligen Körperteil ist
charakteristisch für die Ästhetik des Hässlichen, die in den expressionistischen Gedichten
Benns zum Ausdruck kommt. In diesem Gedicht wird der Abscheu von den Großstadt-
Menschen thematisiert.
Die meisten Dichter lebten in den Großstädten und hegten Heimatsgefühle ihnen gegenüber.
Sie kritisierten die Technisierung des Lebens, die Entfernung von der Natur, warnten vor Ich-
Verlust und der daraus resultierenden Sinn-Verlust. Das alles aber tilgte nicht die Liebe zu
ihren Heimatstädten. Beispiel dafür ist Alfred Lichtensteins Gedicht „Gesänge an Berlin“:
„[...] In Wiesen und in frommen Winden mögen/ Friedliche heitere Menschen selig
gleiten./Wir aber morsch und längst vergiftet, lögen/ Uns selbst was vor beim In-die-Himmel-
Schreiten./In fremden Städten treib ich ohne Ruder./Hohl sind die fremden Tage und wie
Kreide./Du, mein Berlin, du Opiumrausch, du Luder./Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was
ich leide.“
3.2. Weltende
Die rasche Industrialisierung und Technologisierung am Anfang des Jahrhunderts versetzte
viele Menschen, die dieser großen Veränderung noch nicht mental gewachsen waren, in
Angst. Erfindungen wie die Eisenbahn waren für sie sehr befremdlich und sogar als gefährich
empfunden. Die aus dem rasanten Zuwachs der Bevölkerung in den großen Städten
resultierende Bildung von Armenghettos brachte mit sich die Gefahr vor Krankheiten z.B.
wegen mangelnder Hygiene. Die „Naturvergewaltigung“ als Folge der Industrialisierung
brachte mit sich die Angst vor einer Naturkatastrophe. Die Wiederentdeckung des
Halleyschen Kometen war ein anderer Grund für die Untergangsstimmung, da die Menschen
seinen Zusammenstoß mit der Erde befürchteten.
Das erste expressionistische Gedicht „Weltende“ von Jacob van Hoddis thematisierte diese
Stimmung von einer ironisierenden Perspektive:
„Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,/ in allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei /und an den Küsten - liest man - steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen /an Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. /Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.“
Die Katastrophe wird in diesem Gedicht offensichtlich durch die distanzierte
Beobachterposition verharmlost: Das Tosen des Meers wird nur mit „hupfen“ verniedlicht.
Die Dammbrüche werden durch die Alliteration „dicke Dämme zu zerdrücken“ verharmlost
und die Parenthese in Vers 4 („liest man“) scheinen dem Leser klar zu machen, dass der
Sprecher sich vom Weltuntergang gar nicht betroffen fühlt. Van Hoddis verspotet die
Untergagangsstimmung seiner Zeitgenossen, indem er die Katastrophe verharmlost, doch die
Menschen um so mehr in ihrer bürgerlichen Stumpfsinnigkeit (Angst vor Veränderung,
Unmöglichkeit zum Erfassen des Wesentlichen, versinnbildlicht durch den Schnupfen,
Kritiklosigkeit, versinnbildlicht durch den spitzen Kopf) kritisiert.
Georg Heym verarbeitet die Ängste seiner Zeitgenossen verbunden mit dem Halleyschen
Kometen im Gedicht „Umbra vitae“. Er kritisiert die Panik vor der Katastrophe auf eine, im
Vergleich van Hoddis, latentere Weise. Sein Gedicht wirkt insgesamt viel beklemmender und
überzeugender, als das thematisch gleiche Gedicht von van Hoddis.
Die beiden Gedichte zeigen ganz deutlich, dass das eigentliche Problem nicht die Gefahr von
Katastrophe ist, sondern die Menschen mit ihrer Willenlosigkeit, Angst, Blindheit,
Kritiklosigkeit, mit ihrem Stumpfsinn allgemein. Ihre Angst vor der Katastrophe macht sie
blind für das eigentlich Gefährliche: sie selbst. Sie versuchen das Problem von innen nach
außen zu verschieben, weil das der leichtere Weg ist. Diese Straußhaltung wird in den
expressionistischen Weltende-Gedichten an den Pranger gestellt.
3.3. Krieg
Schon 1911 machte sich in einigen expressionistischen Gedichten das Thema Krieg
bemerkbar. Z. B. hatte Georg Heym mit seinem Gedicht „Krieg“ aus demselben Jahr eine
dunkle Vorahnung über den bevorstehenden 1. Weltkrieg. Geprägt wurde Heyms
Pessimismus durch die 1. und 2. Marokkokrisen (1905 und 1910/1911), welche Deutschland
außenpolitisch noch weiter isolierten, sowie durch das Wettrüsten.
Der Krieg wird in diesem Gedicht personifiziert und als etwas, was bisher geschlafen ist,
dargestellt; er ist ungeheuerlich groß, aber man sieht ihn nicht, will ihn nicht sehen:
„Aufgestanden ist er, welcher lange schlief,/ Aufgestanden unten aus Gewölben tief.
In der Dämmrung steht er, groß und unerkannt,/ Und den Mond zerdrückt er in der
schwarzen Hand.“
Der Krieg war also schon lange da. Seine Existenz war längst zugelassen. Die eigentlich
daran schuldigen sind die Menschen, die nicht die Gefahr einsehen wollten und wollen:
„[...]Es wird still. Sie sehn sich um. Und keiner weiß.
In den Gassen faßt es ihre Schulter leicht./ Eine Frage. Keine Antwort. Ein Gesicht erbleicht.
In der Ferne wimmert ein Geläute dünn /Und die Bärte zittern um ihr spitzes Kinn.“
Hier werden wiederum die Bürger kritisiert. Diesmal aber auch wegen ihrer Unmoral: im
letzten Vers wird die vom Krieg vernichtete Stadt mit Gomorrha verglichen.
Dieses Gedicht ist eine Warnung vor dem Bevorstehenden. In ihm steckt der bittere Vorwurf,
dass niemand diese Wahrnung ernst nehmen wird.
Die meisten Dichter, die in den Krieg zogen, betrachteten ihn als die einzige Möglichkeit zur
Veränderung der Welt und des Menschen. Ihre Begeisterung für den Krieg löste sich sehr
schnell auf und an ihre Stelle kam die bittere Konsequenz, dass er umsonst ist.
Die Enttäuschung und Desillusionierung nach dem Krieg sind im Gedicht „Die Wortemacher
des Krieges“ von Franz Werfel sehr deutlich zum Ausdruck gebracht:
„Die große Zeit! Des Geistes Haus zerschossen/ Mit spitzem Jammer in die Lüfte stricht.
Doch aus den Rinnen, Ritzen, Kellern, Gossen/Befreit und jauchzend das Geziefer bricht.
(...) Die Dummheit hat sich der Gewalt geliehen, /Die Bestie darf hassen und sie singt.
Ach der Geruch der Lüge ist gediehen,/Dass er den Duft des Blutes überstinkt.
Das alte Lied! Die Unschuld muss verbluten, /Indes die Frechheit einen Sinn erschwitzt.
Und eh nicht die Gericht-Posaunen tuten,/Ist nur Verzweiflung, was der Mensch besitzt.“
Die Dummheit der Menschen, die als verachtungswürdiges Geziefer dargestellt werden, wird
auch hier sehr stark kritisiert. Die Lüge, die Frechheit haben zu Gunsten des Verblutens, der
Unschuld überlebt.
3.4. Der neue Mensch
Die Expressionisten glaubten, einen neuen Menschen zu erschaffen und appellierten daran in
ihren „messianischen“ Gedichten. Am Anfang des 20. Jahrhunderts war eine Veränderung des
Menschen dringend. Die verkrustete Denkweise bildete die eigentliche Gefahr für den
Menschen: seine Unmöglichkeit zum Erfassen des Wesentlichen. Ernst Stadler thematisiert
diese Gefahr im Gedicht „Der Spruch“. Dieses Gedicht stellt das offene Appell dar: „Mensch,
werde wesentlich!“ Dieser Satz ist ein alter vergessener Spruch, den das lyrische Ich in einem
alten Buch findet. Die Situationen, in denen das lyrische Ich an seinen Merksatz erinnert wird,
sind Alltag für den damaligen Leser. Er kann sich deshalb leicht mit dem lyrischen Ich
identifizieren und so den Appell unmittelbarer wahrnehmen.
Der Ruf nach dem neuen Menschen wurde besonders nach dem Ersten Weltkrieg sehr laut. So
z.B. das Gedicht „Der neue Mensch“ von Johannes Becher beinhaltet alle Charakteristika, die
er besitzen muss: „[...] Mit Strieman tätowiert; zernagt von Pest. [...] Mit Hebel-Armen.Brust:
Turm. Stirnen Schild.“ Er wird auch mehrmals mit Gott verglichen. Der neue Mensch ist ein
Übermensch (Nietzsche), ein Gott, dem alle gleichen müssen, denn nur die übermenschliche
Kraft, die einem Gott innewohnt, ist im Stande eine neue Welt aus den Trümmen des Krieges
zu schaffen. Für die Erschaffung der neuen Welt müssen sich die Menschen vereinigen,
deshalb lautet die andere Forderung zum neuen Menschen:
„Menschen, Menschen alle, streckt die Hände/Über Meere, Wälder in die Welt zur Einigkeit!
Dass sich Herz zu Herzen sende:/ Neue Zeit!
[...] Menschen! Alle! Drängt zur Herbstbereitschaft! /Drängt zur Krönung euer und der Erde!
Einiggroße Menschheitsfreunde, Welt-und/ Gottgemeinschaft/Werde!“ (Auszug aus „Mensch
zu Mensch“ von Gerrit Engelke)
Die Forderung nach dem neuen Übermenschen und nach Verbrüderung und Vereinigung der
Menschen zur Erschaffung einer neuen, besseren und friedlichen Welt ist mehr oder weniger
utopischer Natur. Sie ist aber, wenn man die damalige Trümmer-Welt berücksichtigt,
gerechtfertigt.
3.5. Themen als Folge des Ich-Zerfalls
Wenn eine junge Dichtergeneration ihre Gesellschaft als hinfällig, morbide und als vom
Untergang gezeichnet ansieht, ist es nicht verwundernd, dass eines der Hauptthemen der
Literatur der Zerfall nicht nur der Welt um das eigene Ich herum, sondern des Ich selbst
gleichermaßen ist. Der mentale Zerfall, das sich im Ich abspielt, führt unabdingbar zum
körperlichen Zerfall. (Der Verfall und die Vergänglichkeit, die demzufolge in mehreren
expressionistischen Gedichten thematisiert wurden, sind nicht vom Gesichtspunkt der
Religion betrachtet wie das in der Barocklyrik der Fall ist).
Der Zerfallsvorgang wird in vielfältigsten Variationen dargestellt. Die bekanntesten Themen
sind: Krankheit (psychisch oder physich), Tod, Selbstmord, Verfall. Dabei findet jeder
expressionistische Dichter seinen eigenen Zugang zu dieser Problematik.
Die sogenannte „Wasserleichenpoesie“ ist z.B. eine Variation dieses Themenkomplexes und
beschäftigt sich konkreter mit dem Thema: Selbstmord.
Rimbauds Gedicht "Ophélie", genauer gesagt Karl Klammers Übertragung dieses Gedichtes,
wurde zum Auslöser einer ganzen Welle von „Wasserleichen“-Gedichten. Die bedeutendsten
Werke aus diesem Kontext sind von Georg Heym "Die Tote im Wasser" (1910), "Ophelia"
(1910) und "Tod der Liebenden im Meer" (in zwei Fassungen), von Gottfried Benn "Schöne
Jugend" (1912) aus dem Morgue-Zyklus, von Paul Zech "Wasserleiche", von Armin T.
Wegener "Die Ertrunkenen" (1917).
Die Autoren seit Rimbaud lösten das Ophelia-Motiv aus ihrem literarischen Kontext
(„Hamlet“) und erweiterten ihr Bild um neue Bedeutungsaspekte. Z. B. bei Rimbaud
bekommt Ophelia die Funktion einer Muse, die einersets dem Dichter aus seiner
künstlerischen Krise verhilft und andererseits durch seine Kunst vom Vergessen bewahrt
wird. In den expressionistischen Gedichten steht das Ophelia-Motiv im engen
Zusammenhang mit dem Motiv des „gefallenen Mädchens“ – einer Jungfrau, die sich aus
Naivität ihrem Geliebten hingibt und später von ihm verlassen wird, obwohl sie von ihm
schwanger ist. Aus Verzweiflung und Angst, dass sie von der Gesellschaft ausgeschlossen
wird und in Misere ihr Leben weiterführen muss, begeht sie Selbstmord. Die Wasserleichen-
Gedichte der Expressionisten beinhalten ein sozial-kritisches Potenzial. Sie kritisieren die
erstarrten Normen und die falsche Moral der Gesellschaft, die am Selbstmord des
unschuldigen und reinen Mädchens die Schuld trägt. Die Kulisse, in der sich diese Tragödie
abspielt, ist meistens die Großstadt. Das Geschehen wird in die Gegenwart versetzt. Im
Heyms Gedicht „Die Tote im Wasser“ wird die Stadt als lebensfeindlicher zerstörerischer
Raum dargestellt, die technischen Errungenschaften der Zivilisation stehen für Tod und
Untergang:
„Die Masten ragen an dem grauen Wall/Wie ein verbrannter Wald ins frühe Rot,
So schwarz wie Schlacke. Wo das Wasser tot/Zu Speichern stiert, die morsch und im Verfall.“
Das Mädchen ist entindividualisiert, hat keinen Namen. Dies ist eine Tendenz bei der
Darstellung des Ophelia-Motivs in den expressionistischen Gedichten. Am extremsten ist sie
in Benns „Schöne Jugend“, wo die Ratten, die die Leiche zerfressen, im Zentrum der
Darstellung sind, und nicht die Tote. Durch die Präzision der anatomischen Begriffe
(„Speiseröhre“ und „Zwerchfell“) wird die Individualität der Leiche sowieso vernichtet.
Bei Benn geht es nicht mehr um die Frage nach dem Grund für den Tod des Mädchens, das
zur bloßen Staffage degradiert wird, sondern nur um die schonungslose Darstellung des
Hässlichen als den gleichwertigen Bestandteil des Lebens. Der physische Zerfall kommt am
deutlichsten in Benns Gedichten zum Ausdruck. Der Patologe beschreibt mit größter
Präzesion den physischen Zerfall. In seinen Morgue-Gedichten ist dieser Zerfall eine Folge
des moralischen Verfalls des Menschen.
Dem zum Wahnsinn führenden mentalen Zerfall sind viele expressionistischen Gedichte
gewidmet. Die Erkenntnisse der Psychoanalyse, der klinischen Psychologie und Psychiatrie
um die Jahrhundertwende schufen ein neues Bild des Geisteskranken. Die Neuorientierung
der Psychiatrie war auch durch ein enormes Anwachsen der Patientenzahlen notwendig
geworden, da immer öfter ein in der durchrationalisierten kapitalistischen
Industriegesellschaft als abnorm und störend beurteiltes Verhalten beobachtet wurde. Ein
weiterer Einschnitt war das massenhafte Auftreten von Kriegspsychosen im Ersten Weltkrieg.
Der Künstler identifizierte sich mit dem Irren, da die beiden wegen ihres Außenseitertums
und ihrer Abnormität von der erstarrten Gesellschaft nicht als normale Menschen
angenommen werden könnten. Das, was sie noch verband, war die Auffassung, dass sie den
besonders befähigten Menschen angehören, die über einen durch die Zwänge der industrialen
Gesellschaft noch nicht verstellten Zugang zur ursprünglichen Quelle des Schöpfertums
verfügen. Der Irre war also dieser, der mit dem utopischen Potenzial aufgeladen war, die
Schwächen der Welt einzusehen und eine neue zu verkünden. Da aber niemand ihm glauben
würde, blieb nur die Möglichkeit, dass seine jammervolle Existenz, seine Krankheit die
anderen Menschen zur Einsicht bringt, dass es Mängel in der bestehenden Ordnung gibt, die
diese Krankheit zugelassen haben. Der Irre wird zur Metapher der kranken Gesellschaft. Z. B.
im Gedicht „Der Nervenschwache“ von Ernst Blass wird der Irre grob von den „Normalen“
misshandelt:
„Verschweinet Kerle, die die Straße kehren/Verkohlen ihn; schon gröhlt er arienhaft:
Ja – ja, ja – ja! Die Leute haben Kraft!/ Mir wird ja nie, ja nie ein Weib gebären!“
Die jammervolle Lage des hilflosen Kranken ist in dieser Strophe mit einer gewissen Ironie
dargestellt. In der letzten Strophe steckt Kritik und eine Bitterheit ersetzt die Ironie:
„Die Dirnen zügeln im geschlossenen Munde, /Die Dirnen, die ihn welkend weich umwerben
Ihn ängsten Darmverschlingung, Schmerzen, Sterben,/Zuhältermesser und die großen
Hunde.“
Die Bitterheit, dass nichts verändert werden kann, dass es schon keine Weiber gibt, sondern
nur Dirnen, dass die Männer keine Männer sind, sondern verschweinte Kerle, die ihr
Vergnügen nur am Misshandeln der Schwächeren finden könnten, dass der einzig Normale,
der noch nicht wie die anderen vom Verfall verdorben ist, sterben muss, müsste den Leser mit
einem Drang nach Veränderung erfüllen.
4.Fazit
Der inbrünstige Wunsch der expressionistischen Dichter, die Welt und die Menschheit zum
Besseren verändert zu sehen, verwirklichte sich nicht. Enige von ihnen wie Georg Trakl und
Alfred Lichtenstein begangen Selbstmord, andere fielen im Ersten Weltkrieg. Die Lyrik
erlebte demzufolge ihren Untergang. An ihrer Stelle trat das Drama.
Die letzten verbliebenen Expressionisten, die nach dem Ende (1925) des Expressionismus,
weiterschrieben, wurden von dem Nationalsozialismus „blockiert“ und ihre Werke – als
„entartete Kunst“ bezeichnet.
Der Expressionismus wurde von der Epoche der Neuen Sachlichkeit abgelöst.
Bibliografie: Großstadtlyrik, hg. v. Waltraud Wende, Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1999
Lyrik des Expressionismus, hg. v. Hansgeorg Schmidt-Bergmann unter Mitarbeit von Sonja
Hermann, Stuttgart: Philipp Reclam jun., 2003
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