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Prof. Dr. Andreas Lob-Hüdepohl 1 Grundlagen einer Ethik Sozialer Arbeit 4. Abschnitt Ethische Grundprinzipien und Grundhaltungen Sozialer Professionen

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Grundlagen einer Ethik Sozialer Arbeit

4. Abschnitt Ethische Grundprinzipien und Grundhaltungen Sozialer Professionen

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4. Ethische Grundprinzipien und Grundhaltungen Sozialer Professionen

(1) Anwendungen: Von Ethik universaler Verantwortung zur professionellen Berufsethik

(2) Fundamentierung: Autonomie als Ausfluss des Menschenwürdegrundsatz und Basisnorm sozialprofessioneller Ethik

(3) Entfaltungen: Gerechtigkeit – Solidarität – Subsidiarität - Nachhaltigkeit

(4) Konkretionen: aufmerksam – achtsam – assistierend – anwaltlich

(5) Nachruf: Abschied von der Heldenmoral

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4.1. Anwendungen: Von Ethik universaler Verantwortung zur professionellen Berufsethik

Definition Berufsethik/Professionsethik

„Berufsethik bezeichnet den Teilbereich moralphilosophischer Theorien, der sich mit jenen Pflichten befasst, die sich aus den spezifischen Aufgaben der verschiedenen berufe einer arbeitsteiligen Gesellschaft ergeben. In einem umfassenden Sinn wird von Berufsethik dann gesprochen, wenn eine Theorie des guten Lebens die berufliche Tätigkeit als für die Sittlichkeit und Selbstentfaltung der Person konstitutiv erachtet.“ (M.Forschner, LexEth, 19)

zwei Richtungen•

professionelles Ethos als Bestandteil einer moralisch verantworteten Lebensführung

Grundsätze moralisch verantworteter Lebensführung müssen bereichsspezifische Relevanz besitzen

Charakter einer Ethik in Anwendung

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4.2. Fundamentierung: Autonomie als Ausfluss des Menschenwürdegrundsatz und

Basisnorm sozialprofessioneller Ethik

Autonomie •

Selbstgesetzgebung („autos“ = selbst; „nomos“ = Gesetz)

moralphilosophische ‚Übersetzung‘ von Menschenwürde

Selbstzwecklichkeit und Selbstbestimmung als lebensgeschichtliche Koordinaten menschenwürdiger Lebensführung

Arbeitsdefinitionen „Autonomie“:•

Erstzuständigkeit (nicht Alleinzuständigkeit) für die eigene Lebensführung

Fähigkeit wie Möglichkeit eines Menschen, sein Leben sowohl in den Details des Alltags wie in den Entscheidungssituationen an den Knotenpunkten der eigenen Biographie (‚Passagen‘) in Übereinstimmung mit jenen Vorstellungen gelingenden und glückenden Lebens zu führen, von deren personalen Lebensdienlichkeit er überzeugt ist und die er sich deshalb zu eigen gemacht hat.

Vermögen eigenständiger Lebensführung in verantworteter Freiheit

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4.2. Fundamentierung: Autonomie als Ausfluss des Menschenwürdegrundsatz und

Basisnorm sozialprofessioneller Ethik

drei Dimensionen personaler Autonomie•

situative Autonomie = konkrete Entscheidungsfreiheit•

habituelle Autonomie = prinzipielle Selbstbestimmungskompetenz•

biographische Autonomie = Authentizität des Lebensentwurfes

Autonomie kein abstraktes Prinzip, sondern auch unmittelbar handlungsleitend•

Autonomie in Form von Patientenautonomie•

kategorischer Ausschluss von medizinisch-pflegerischer Instrumentalisierung und unfreiwilliger Therapie

biographische Autonomie selbst in der Situation beeinträchtigter oder verlorener situativer bzw. habitueller Autonomie

Dialogisch-diskursive Grundstruktur personaler Autonomie•

bindungsreiche Freiheit („Souveränität“)

bindungsarme Unabhängigkeit („Autarkie“)

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4.2. Fundamentierung: Autonomie als Ausfluss des Menschenwürdegrundsatz und

Basisnorm sozialprofessioneller Ethik

Souveränität – eine besondere Konnotation menschlicher Autonomie•

Autonomie nicht durch abgrenzende Selbstbehauptung, sondern durch entgrenzende Selbstverfügung

sich bewusst verfügen können in die vorliegende Situation und damit in auch in die Abhängigkeit von und in die Geborgenheit der Anderen

„Ein Mensch ist gerade dann nicht souverän, wenn er sein Leben als durchgängig selbstbestimmtes plant, wenn er glaubt, Herr im eigenen Haus zu sein (Freud), und Unabhängigkeit als oberstes Ziel ansieht. Souverän ist vielmehr ein Mensch, der sich etwas geschehen lassen kann: Er kann seine Schwächen eingestehen und Abhängigkeiten ertragen, ohne dass dadurch sein Selbstbewusstsein beeinträchtigt wird. Nicht Autonomie, sondern Souveränität ist deshalb die Grundhaltung, in der Krankheiten bewältigt werden sollten. (…) Es gibt gesunde Kranke. Die Souveränität besteht hier im besonderen darin, auch die Abhängigkeit und Hilfsbedürftigkeit, in die einen die Krankheit in Bezug auf die anderen bringt, gelassen hinzunehmen oder gar als Zuwendung zum anderen zu erfahren.“ (Akashe-Böhme/Böhme)

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4.3. Entfaltungen: Gerechtigkeit – Solidarität – Subsidiarität - Nachhaltigkeit

Vorbemerkung: Unterscheidung zwischen•

Tugenden = Grundhaltungen/Grundfiguren moralischer Wahrnehmungen/Deutungen/Handlungen = persönliche Handlungsdispositionen („gerecht handeln“)

Strukturmerkmale = Anordnungen, Relationen von Strukturbeziehungen („gerechtes, solidarische Steuersystem“ usw.)

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4.3. Entfaltungen: Gerechtigkeit – Solidarität – Subsidiarität - Nachhaltigkeit

(1) Prinzip Gerechtigkeit:

klassische Definition (Aristoles)•

„Es ist Gerechtigkeit eine Tugend, durch die jeglicher das Seinige erhält und wie es das Gesetz (die geltende Norm) angibt; Ungerechtigkeit dagegen ist es, wodurch einer fremdes Gut erhält und nicht nach dem Gesetz.“

„Wie das Ungerechte Ungleichheit bedeutet, so bedeutet das Gerechte Gleichheit.“

drei Dimensionen der Gerechtigkeit•

„iustitia legalis“ = allgemeine bzw. Gesetzesgerechtigkeit : Gleichheit vor dem Gesetz

„iustitia communtativa“ = Tausch- bzw. Leistungsgerechtigkeit: „gerechter Lohn“, „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“

„iustitia distributiva“ = austeilende Gerechtigkeit: Bedarfsgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit, Befähigungsgerechtigkeit

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4.3. Entfaltungen: Gerechtigkeit – Solidarität – Subsidiarität - Nachhaltigkeit

Vermittlungsproblem zwischen drei Dimensionen der Gerechtigkeit•

Differenzprinzip John Rawls:1. „Jede Person hat ein gleiches recht auf ein völlig adäquates System gleicher

Grundrechte und Grundfreiheiten, das mit dem gleichen System für alle anderen vereinbar ist.

2. Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen erfüllen: erstens müssen sie mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen unter Bedingungen fairer Chancengleichheit offen stehen, und zweitens müssen sie zum größten Vorteil der am wenigsten begünstigten Mitglieder der Gesellschaft.“

der Ungerechtigkeit Gerechtigkeit widerfahren lassen durch Abbau von strukturellen Benachteiligungen

Kurzformel: Gerecht ist, was gleiche Rechte und Pflichten begründet, einen angemessenen Ausgleich von Leistung und Gegenleistung gewährleistet, für alle eine Mindestaustattung an Grundgütern sichert sowie strukturelle Ursachen von ungleich verteilten Beteiligungschancen an der gesellschaftlichen Entwicklung abbaut.

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4.3. Entfaltungen: Gerechtigkeit – Solidarität – Subsidiarität - Nachhaltigkeit

(2) Prinzip Solidarität→

Übersetzungen•

„in solidum obligari“ = dem einen gemeinsam verpflichtet•

„gemeinsame Sache machen“

drei Bedeutungsebenen•

Konfliktsolidarität•

Zwangssolidarität•

Beistandssolidarität

Solidarität als normative Infrastruktur von personaler Eigenverantwortung•

Erstzuständigkeit für eigene Lebensführung zwecks Schonung der begrenzten Ressource „Solidarität“

Erstzuständigkeit für die Lebensführung anderer•

„Denke nicht daran was der Staat dir geben kann, sondern was du dem Staat geben kannst“ (JF Kennedy)

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4.3. Entfaltungen: Gerechtigkeit – Solidarität – Subsidiarität - Nachhaltigkeit

(3) Subsidiarität→

ursprüngliche Bedeutungen•

subsiduum = hilfreiche Hilfe

„In all that people do as well for themselves, government ougth not interface.“ (Abraham Lincoln)

„Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zu guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen (…). Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja in ihrem Wesen und Begriff subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.“ (Quadragesimo anno 79)

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4.3. Entfaltungen: Gerechtigkeit – Solidarität – Subsidiarität - Nachhaltigkeit

anthropologische bzw. sozialphilosophische Unterstellung:•

kleinere Gemeinschaft ist unmittelbarer an der höchstpersönlichen Lebensführung des einer hilfreichen (und nicht zerstörenden) Hilfe bedürftigen Menschen

kleinere Gemeinschaften sichert höheres Maß an unmittelbarer Beteiligung der Betroffenen

Ambivalenzen von Subsidiarität•

Gefahr einer Verengung auf bloß nachsorgende Unterstützung („zeitliche Nachrangigkeit“)

„Subsidiarität heißt zur Eigenverantwortung befähigen, und nicht, den einzelnen mit seiner sozialen Sicherung allein lassen.“

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4.3. Entfaltungen: Gerechtigkeit – Solidarität – Subsidiarität - Nachhaltigkeit

(4) Nachhaltigkeit→

ursprüngliche Bedeutung•

sustainable, dauerhaft belastbar, tragfähig, zukunftsfest

Verbrauch an Ressourcen darf in einer bestimmten Raum-Zeit-Matrix nicht höher sein als ihre Regeneration oder Substitution

„Im Grunde ist dauerhafte Entwicklung ein Prozess der Veränderung, in dem die Ausbeutung von Rohstoffen, die Art der Investitionen, die Ausrichtung der technologischer Entwicklung und die institutionelle Veränderung miteinander harmonieren und sowohl die gegenwärtigen als auch die zukünftigen Möglichkeiten verbessern, die menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen.“ (Brundtland-Bericht 1987)

drei Dimensionen:•

sozial-ökologisch

individuumsbezogen

intergenerational

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4.4. Konkretionen: aufmerksam – achtsam – assistierend – anwaltlich

Vorbemerkungen:•

Unterscheidung moralische Tugend vs. moralisches Strukturmerkmal

Notwendigkeit professionsmoralischer Grundhaltungen in strikt asymmetrischen Beziehungsformen

Hintergrund: Dreiebenenverknüpfungskompetenz professioneller Sozialer Arbeit

professionsmoralische Attributionen professioneller Wahrnehmungs- und Handlungskompetenz

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4.4. Konkretionen: aufmerksam – achtsam – assistierend – anwaltlich

aufmerksam für die höchst persönliche Lebenslage des individuellen Adressaten sozialprofessioneller Interventionen

Fallbeispiel: Lebenslage und Missachtungserfahrungen•

Lebenslage als Gesamt der materiellen und immateriellen Ausstattungsmerkmale

objektive und subjektive Seite von Lebenslagen

Missachtungserfahrungen als Prägemerkmale subjektiver Lebenslagen

Typen von Missachtungserfahrungen (A.Honneth)• Missachtung von emotionaler Nähe und Wertschätzung in

Partnerschaft, Nachbarschaft, Bekannten- Freundeskreis• Missachtung von Bedürfnis nach Eigenhandlungsmacht bei der

materiellen wie immateriellen Wertschöpfung • Missachtung von Bedürfnis nach gleichberechtigter Teilhabe als

BürgerIn eines Gemeinwesens/Gesellschaft

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4.4. Konkretionen: aufmerksam – achtsam – assistierend – anwaltlich

Beziehungsqualität aufmerksam•

Sensibilität für die je schon versehrte und beschädigte Identität des Anderen

Zuspielen von Erfahrungen der Anerkennung

Strahlkraft gegen die „soziale Scham“, für neu geweckte Selbstachtung und wieder erstarkendes Selbstvertrauen

echtes verstehen elementarer Bedürftigkeit und Verletzlichkeit

Respekt und Anerkennung des Anderen als Anderen auch in seiner befremdlichen Andersheit

nicht gleichbedeutend mit kritikloser Akzeptanz seiner Einstellungen und Lebensoptionen

Kritik um seiner und anderer beschädigter Identität willen

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4.4. Konkretionen: aufmerksam – achtsam – assistierend – anwaltlich

achtsam statt beschädigende Formen von Mitleid

Ambivalenz der klassischen Tugend des Mitleids•

einerseits Empathie = mitfühlende Wahrnehmung = compassion

andererseits Mitleid = hierarchisierende Distanz zum Bemitleideten = Bemitleideter als Projektionsfläche eigener Schwächung = Instrument bornierter Selbstgefälligkeit

„in der ganzen Rücksichtslosigkeit seines eigensten lieben Selbst“ (F.Nietzsche)

= Begünstigung der Defizitorientierung Sozialer Arbeit

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4.4. Konkretionen: aufmerksam – achtsam – assistierend – anwaltlich

Beziehungsqualität achtsam•

Beachtung des Bilderverbots

Bilderverbot• immer erheblich mehr als die Analyse der Lebenslage• gegen die Tendenz der Kolonisierung der Lebenswelt

durch Normalisierungsabsichten• stete Re-vision des vorfindlichen Bildes

Wertschätzung des Imperfekten• keine Romantisierung des schmerzhaft Unvollständigen• entwicklungsbedürftig und entwicklungoffen• Respekt vor Unverfügbarkeit und Unverplanbarkeit

der Biographie des Adressaten• Unterscheidung des Gewährens einer

vorausberechnenden Prognose versus unverplanten Zukunft

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4.4. Konkretionen: aufmerksam – achtsam – assistierend – anwaltlich

assistierend statt fürsorglich

Unterscheidung:•

einspringende Fürsorge „Diese Fürsorge übernimmt das, was zu besorgen ist, für den Anderen. Dieser wird dabei aus der Stelle geworfen, er tritt zurück, um nachträglich das Besorgte als fertig Verfügbares zu übernehmen bzw. sich ganz davon zu entlasten. In solcher Fürsorge kann der Andere zum Abhängigen und Beherrschten werden, mag diese Herrschaft auch eine stillschweigende sein und dem Beherrschten verborgen bleiben.“ (M.Heidegger)

vorausspringende Fürsorge „Ihr gegenüber besteht die Möglichkeit einer Fürsorge, die für den Anderen nicht so sehr einspringt, als daß sie ihm in seinem existenziellen Seinkönnen vorausspringt, nicht um ihm die ‚Sorge‘ abzunehmen, sondern erst eigentlich als solche zurückzugeben. Diese Fürsorge, die wesentlich die eigentliche Sorge – das heißt die Existenz des Anderen betrifft und nicht ein Was, das er besorgt, verhilft dem Anderen dazu, in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden. (ders, ebd)

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4.4. Konkretionen: aufmerksam – achtsam – assistierend – anwaltlich

Beziehungsqualität assistierend•

kritisch-konstruktive Intervention in Fällen selbstwidersprüchlicher Lebensführung• keine bloß affirmative Abstützung• innovatorische Beratung

unterbrechend, nicht unterweisend

konsultative versus deliberative Beratung• Konsultation als von außen kommende Beratschlagung• Deliberation als von innen sich erweiternde „innere Landkarte“

möglicher und verfügbarer Handlungsalternativen/Lebensoptionen

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4.4. Konkretionen: aufmerksam – achtsam – assistierend – anwaltlich

anwaltlich statt paternalistisch betreuend

Notwendigkeit stellvertretender Entscheidung in Fälle aktueller Entscheidungsunfähigkeit des Adressaten

zwei Arten von stellvertretend („advokatorisch“)•

vormundschaftliche Interessenwahrnehmung

anwaltliche Interessenwahrnehmung

Modus anwaltlicher Interessenwahrnehmung•

Unterstellung eines Quasi-Mandats

Unterstellung einer nur geliehene Vollmacht von Seiten des Betreuten

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4.4. Konkretionen: aufmerksam – achtsam – assistierend – anwaltlich

Beziehungsqualität anwaltlich→

Fallbeispiel gesetzlich verfügte Betreuung•

Grundphilosophie: nicht Mündel, sondern partiell in der persönlichen Interessenwahrnehmung eingeschränkt

stellvertretende Entscheidung nicht nach eigenem Gutdünken

stellvertretende Entscheidung als Ermittlung des mutmaßlichen Willens des Betroffenen• Einbeziehung des subjektiven Willens• Einbeziehung seines subjektiven Wohlbefindens und objektiven

Wohls• Unterstellung, dass subjektive Willensäußerungen das objektive

Wohl mitbestimmen•

Notwenigkeit skrupulöser Ermittlung des Wohls und des Willens

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4.5. Nachwort: Abschied von der Heldenmoral

dominantes Selbst- und Fremdbild Sozialprofessioneller als moralischer Held im Geflecht moralischer Verbindlichkeit

Problem: Sozialprofessionelle in der ‚Moralfalle‘„Je mehr Fachwissen Sozialpädagogen haben, desto mehr werden sie wissen, was alles nicht geht, wie unzureichend ihre Hilfsmittel, wie fragwürdig ihre Ansprüche, nur Helfer und nicht Unterdrücker sein zu wollen, sind. Und desto mehr wird ihr Berufsethos in Gefahr stehen, sich aufzulösen, oder sich aufs Kleine, Überschaubare, Private zurückzuziehen, vielleicht wohl wissend, dass hier nicht viel zu ändern ist.“ (B.Müller)

Hintergründiges moraltheoretisches Problem Verantwortungsdiffusion

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4.5. Nachwort: Abschied von der Heldenmoral

traditioneller Verantwortungsbegriff•

dreistellige Relation: „Ich bin als Verantwortungssubjekt vor anderen als Verantwortungsinstanz für etwas (eine Handlung, eine Unterlassung) als Objektbereich meiner Verantwortung genau dann verantwortlich, wenn dieses etwas auf mein handeln zurückzuführen ist und ich mich bewusst für es entschieden habe.“

Unterstellungen:• eindeutige Kausalität• willentliche Entscheidung aus Alternativen• wissentliche Überschaubarkeit der Handlungsfolgen

Ausweg aus der Heldenmoral: Professioneller Umgang mit Moral•

Erweiterung des Verantwortungsbegriffs• individuelle Verantwortung• intermediäre Verantwortung• korporative Verantwortung

prozessorientiertes Verfahren der Bearbeitung moralischer Dilemmata

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