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2018. 128 S. Broschiert. ISBN 978-3-406-72128-1 Weitere Informationen finden Sie hier: https://www.chbeck.de/3871 Unverkäufliche Leseprobe © Verlag C.H.Beck oHG, München Günter Zöller Philosophie des 19. Jahrhunderts Von Kant bis Nietzsche

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Page 1: Günter Zöller Philosophie des 19. Jahrhunderts Von Kant bis … · 2018. 3. 19. · Die Philosophie des «langen» .Jahrhunderts zwischen Kant und Nietzsche präsentiert dieser

2018. 128 S. Broschiert. ISBN 978-3-406-72128-1

Weitere Informationen finden Sie hier: https://www.chbeck.de/3871

Unverkäufliche Leseprobe

© Verlag C.H.Beck oHG, München

Günter Zöller Philosophie des 19. Jahrhunderts Von Kant bis Nietzsche

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Die Philosophie des «langen» 19. Jahrhunderts zwischen Kantund Nietzsche präsentiert dieser Band in 13 Porträts. Im Mittel-punkt steht die Auseinandersetzung mit der veränderten Le-bensform des Menschen in der fortgeschrittenen Moderne. ImGefolge der europäischen Aufklärung, im Horizont der Ameri-kanischen und der Französischen Revolution und im Hinblickauf die zunehmende Kommerzialisierung und Industrialisierungder Lebensverhältnisse erkunden diese Denker den schwierigenStatus des modernen Individuums zwischen Vereinzelung undVergesellschaftung und begegnen der Moderne mit einem kriti-schen Blick für ihre Meriten wie ihre Malaise.

Günter Zöller ist Professor für Philosophie an der Ludwig-Maxi-milians-Universität München. Gastprofessuren führten ihn u.a.nach Princeton, an die McGill Universität in Montreal und dieChinesische Universität Hong Kong.

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Günter Zöller

PHILOSOPHIEDES 19. JAHRHUNDERTS

Von Kant bis Nietzsche

Verlag C.H.Beck

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Originalausgabe© Verlag C.H.Beck oHG, München 2018

Satz: C.H.Beck.Media.Solutions, NördlingenDruck und Bindung: Druckerei C.H.Beck, Nördlingen

Umschlagentwurf: Uwe Göbel, MünchenUmschlagabbildungen: Immanuel Kant, Kupferstich von

Johann Friedrich Bause, 1791, akg-images; Friedrich Nietzsche,Portraitaufnahme, 1882, akg-images / Fototeca Gilardi

Printed in Germanyisbn 978 3 406 72128 1

www.chbeck.de

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Der Hörerschaft meiner Münchner Vorlesungen:

… et homines, dum docent, discunt.Seneca, Briefe über Ethik an Lucilius, VII, 8

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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

1. Die Philosophie der Vernunft: Immanuel Kant. . . . . 11

2. Die Philosophie der Freiheit:Johann Gottlieb Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

3. Die Philosophie der Natur:Friedrich Wilhelm Joseph Schelling . . . . . . . . . . . . . 30

4. Die Philosophie des Geistes:Georg Wilhelm Friedrich Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . 40

5. Die Philosophie des Willens:Arthur Schopenhauer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

6. Die Philosophie der Existenz: Søren Kierkegaard. . . 60

7. Die Philosophie des Menschen:Ludwig Feuerbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

8. Die Philosophie der Arbeit: Karl Marx . . . . . . . . . . 75

9. Die Philosophie der Gleichheit:Alexis de Tocqueville . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

10. Die Philosophie der Einsamkeit:Henry David Thoreau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

11. Die Philosophie der Gesellschaft:Auguste Comte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

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12. Die Philosophie des Individuums:John Stuart Mill. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

13. Die Philosophie des höheren Menschen:Friedrich Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128

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Einleitung

«… so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfasst.»

G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820)

Dieser Band möchte die Philosophie des «langen» 19. Jahrhun-derts zwischen Kant und Nietzsche in der Abfolge von dreizehnPorträts philosophischer Denker und ihrer maßgeblichen Ge-danken darstellen. Im Mittelpunkt steht durchweg die originelleAuseinandersetzung der ausgewählten Philosophen mit der ver-änderten Lebensform des Menschen in der fortgeschrittenenModerne – einer Epoche des gesellschaftlichen und geistigenUmbruchs, die ebenso durch die zunehmende Auflösung tradi-tioneller Bindungen und Regulierungen gekennzeichnet ist wiedurch die angestrengte Suche nach neuen Orientierungen undOrdnungen. Im Gefolge der europäischen Aufklärung, im Ho-rizont der Amerikanischen und der Französischen Revolutionund im Hinblick auf die zunehmende Kommerzialisierung undIndustrialisierung der Lebensverhältnisse erkundet das philoso-phische Denken des 19. Jahrhunderts den schwierigen Statusdes modernen Individuums zwischen Vereinzelung und Verge-sellschaftung und begegnet der Moderne mit einem kritischenBlick für ihre Meriten wie ihre Malaise.

Die Schlagworte der Französischen Revolution – Freiheit,Gleichheit, Gesellschaftlichkeit («Brüderlichkeit») – umreißenauch den Rahmen für die philosophische Reflexion auf die mo-derne Lebensform vom Ende des 18. bis zum Ende des 19. Jahr-hunderts. Über methodische Unterschiede und doktrinale Dif-ferenzen hinweg eint die herausragenden Denker dieser Epochedie Beschäftigung mit den Formen und Funktionen der Frei-heit, den Voraussetzungen und Folgen der Gleichheit sowie den

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Einleitung10

Möglichkeiten und Grenzen der Vergesellschaftung. BesondereAufmerksamkeit widmen die Philosophen dabei dem Span-nungsverhältnis zwischen den drei Kernkonzepten von Libertät,Egalität und Sozialität, die einander ebenso zu erfordern wieeinzuschränken scheinen.

Der hier präsentierte Parcours durch die Philosophie des19. Jahrhunderts führt von den universitär verorteten systema-tischen Leistungen Kants, in denen die Philosophie der frühenNeuzeit kulminiert, und des deutschen Idealismus (Fichte,Schelling und Hegel) über deren radikale Nachfolger und kriti-sche Fortführer (Schopenhauer, Kierkegaard und Feuerbach) zufünf originellen Auseinandersetzungen mit der modernen Ge-sellschaft (Marx, Tocqueville, Thoreau, Comte, Mill), um mitNietzsches heroischem Gegenentwurf zur mediokren Modernezu enden. Die dreizehn philosophischen Porträts legen den Fo-kus auf je einen Grundbegriff des Denkens der Epoche, dessenoriginelle Einführung und maßgebliche Behandlung auf den je-weiligen Philosophen zurückgeht. Das resultierende personelleund konzeptuelle Bild des Denkens im 19. Jahrhundert vermit-telt in der Abfolge von philosophischen Positionen zu dreizehnGrundbegriffen das Panorama einer epochalen Anstrengung,die fortgeschrittene Moderne mit philosophischen Mitteln auf-zufassen und einzuschätzen.

Planung und Niederschrift des Bandes erfolgten im Frühjahrund Sommer 2017 an zwei Orten, die für die Extreme von Ver-weigerungshaltung und Vorreiterrolle gegenüber den Heraus-forderungen der Moderne stehen, Venedig und New York. DerBand basiert auf meinen Münchner Vorlesungen über die Ge-schichte der neueren Philosophie – ein Gegenstand, der an derLudwig-Maximilians-Universität schon 1827 von Schelling als«Einleitung in die Philosophie selbst» behandelt wurde.

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1. Die Philosophie der Vernunft:Immanuel Kant

«Alles Interesse meiner Vernunft (das spekula-tive sowohl, als das praktische) vereinigt sich infolgenden drei Fragen:1. Was kann ich wissen?2. Was soll ich tun?3. Was darf ich hoffen?»

I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781)

Äußerlich führt Immanuel Kant (1724–1804), der aus einer Kö-nigsberger Handwerkerfamilie stammt, das unaufgeregte Lebeneines Universitätslehrers in der ostpreußischen Provinz. Erst re-lativ spät erlangt er an der Universität Königsberg eine Profes-sur (1770) und noch später erscheint dann sein Hauptwerk zurradikalen Neubegründung der gesamten Philosophie (Kritik derreinen Vernunft, 1781, zweite überarbeitete Auflage 1787). Esfolgen zwei weitere Kritiken (Kritik der praktischen Vernunft,1788, und Kritik der Urteilskraft, 1790) sowie grundlegendeWerke zur theoretischen und praktischen Philosophie (Prolego­mena zu einer jeden künftigen Metaphysik, 1783; Grundlegungzur Metaphysik der Sitten, 1785).

Parallel zu diesen umwälzenden, aber sperrigen Werken er-scheinen eine Reihe populärer Publikationen, die sich in kriti-scher Einstellung an eine breitere Öffentlichkeit wenden (Beant­wortung der Frage: Was ist Aufklärung?, 1784; Zum ewigenFrieden, 1795). Im Mittelpunkt von Kants Spätwerk stehen Be-arbeitungen der Religions- und Moralphilosophie im Geist derVernunftkritik (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßenVernunft, 1793; Die Metaphysik der Sitten, 1797). Ein bis inshohe Alter verfolgtes Projekt zur systematischen Integration der

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1. Die Philosophie der Vernunft12

gesamten kritischen Philosophie, das Kant praktisch zeitgleichmit ähnlich gelagerten Bemühungen seiner unmittelbarenNachfolger – darunter Fichte und Schelling – verfolgt, vermager nicht mehr zum Abschluss zu bringen (Opus postumum,ca. 1796–1801).

Im Mittelpunkt von Kants philosophischem Werk steht dasVorhaben einer umfassenden Kritik der Vernunft. Unter Ver-nunft versteht Kant dabei ganz allgemein das Vermögen, alleinmit den Mitteln des Denkens («a priori»), ganz unabhängig vonder Erfahrung durch die Sinne («a posteriori»), substantielleEinsichten in die Natur der Dinge zu gewinnen. Die klassischenGegenstände solcher angeblich möglichen Vernunfterkenntnis,die zum Kernbestand der traditionellen Philosophie («Meta-physik») vor Kant gehören, sind Gott («rationale Theologie»),die Seele («rationale Psychologie») und die Welt insgesamt («ra-tionale Kosmologie») sowie das Sein selbst und als solches(«Ontologie»).

Angeregt durch die Zurückführung aller Erkenntnis auf diesinnliche Wahrnehmung bei den Hauptvertretern der engli-schen und schottischen Aufklärungsphilosophie (Locke, Hume)und der damit einhergehenden Skepsis gegenüber aller reinrationalen Philosophie oder Metaphysik, unterzieht Kant, derselbst aus dem rationalistischen, metaphysikaffinen Denkender deutschen Schulphilosophie in der Nachfolge von Leibnizstammt, die Vernunft als Denkvermögen einer grundsätzlichenUntersuchung im Hinblick auf ihre Leistungsfähigkeit («Mög-lichkeiten und Grenzen»). Nach langer Gedankenarbeit ge-langt Kant schließlich zu dem Ergebnis, dass es zwar (contraLocke und Hume) prinzipiell möglich und in der Sache ge-rechtfertigt ist, Erkenntnisse zu gewinnen, deren allgemeineund notwendige Geltung alle mögliche Erfahrung übersteigt(«synthetische Urteile a priori»). Doch beinhalten solche Er-kenntnisse (contra Leibniz), so Kant, kein Wissen um meta-physische Superdinge, sondern beziehen sich immer nur auf dieGegenstände der Erfahrung, letzteres allerdings im Hinblickauf Eigenschaften an ihnen, die durch Erfahrung allein nicht zuermitteln sind.

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Immanuel Kant 13

Das Musterbeispiel solcher nicht-empirischen Erkenntnis imHinblick auf die empirischen Dinge ist, Kant zufolge, das Kau-salprinzip, demzufolge alle Veränderungen an Gegenständender Erfahrung nach einer allgemeinen Regel und mit strengerNotwendigkeit erfolgen. Das Kausalprinzip gilt zwar von denGegenständen der Erfahrung, ist aber durch bloße Erfahrungvon den Gegenständen nicht zu begründen. Mehr noch: Kantweist nach, dass das Kausalprinzip, das für Erfahrungsgegen-stände aller Art («Gegenstände möglicher Erfahrung») notwen-dig und allgemein gilt, auch nur für solche Gegenstände geltendgemacht werden kann. Kausale Erkenntnis über andere als em-pirisch gegebene oder gebbare Gegenstände, wie sie etwa imtraditionellen Gottesbeweis im Hinblick auf das göttliche We-sen als erste Ursache von allem beansprucht wird, ist prinzipiellausgeschlossen.

Den zeitgenössischen Anhängern der überlieferten Philoso-phie, deren Ansprüche auf vernünftiges Wissen über erste undletzte Dinge Kant mit den Mitteln der Vernunft selbst grund-sätzlich diskreditiert, sehen in ihm den Zerstörer der altehr-würdigen abendländischen Metaphysik («Alleszermalmer»). ImHinblick auf seine gründliche Widerlegung der etablierten Got-tesbeweise wird er rückblickend von Heinrich Heine provoka-tiv mit dem blutrünstigen Revolutionsterroristen Robespierreverglichen.

Die von Kant in der Philosophie angezettelte Revolutionnimmt ihren Ausgang vom Erkenntnisproblem, speziell von An-sprüchen auf gegenständlich gültige, objektive Erkenntnis vonso allgemeiner Art, dass sie nicht auf einzelnen Erfahrungen be-ruhen kann, sondern gegenständliches Wissen allgemeinster Artbeinhaltet. Kant zweifelt nicht eigentlich an der prinzipiellenMöglichkeit solcher reinen Erkenntnis unabhängig von Erfah-rung, sieht er sie doch faktisch verwirklicht in den wissenschaft-lichen Leistungen der antiken Mathematik (Euklidische Geo-metrie) und der modernen Naturwissenschaft (NewtonschePhysik). Doch interessiert ihn das Erfolgsgeheimnis des mathe-matisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnistypus und insbe-sondere die Frage von dessen etwaiger Übertragung auf andere

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1. Die Philosophie der Vernunft14

angebliche Wissensgebiete, darunter insbesondere die philoso-phische Erkenntnis der Dinge im Großen und Ganzen.

Um die grundsätzliche Übereinstimmung von Erkenntnis undGegenstand im Fall allgemein-notwendiger und damit in ihrerGeltung erfahrungsunabhängiger Erkenntnis von Gegenständenzu begründen, verfällt Kant auf die im Nachhinein auch eigensbegründete Annahme («Hypothese»), dass sich die Gegenständesolcher (mathematischen und naturwissenschaftlichen) Erkennt-nis nicht, wie bislang vorausgesetzt, nach ihnen äußerlich vorge-gebenen Gegenständen richten. Vielmehr verhält es sich, Kantsalternativer Ansicht zufolge, so, dass sich die Gegenstände um-gekehrt nach den ihnen zugrundeliegenden primären Formbe-dingungen alles Erkennens richten. Damit ist die streng not-wendige und allgemeine Übereinstimmung von Erkenntnis undGegenstand grundsätzlich geklärt: die Erkenntnis – genauer: diegenerelle Erkenntnis von Gegenständen – konditioniert ihre ei-genen Gegenstände, zumindest in prinzipieller, formeller Hin-sicht, weshalb die solcherart konstituierten Gegenstände auchohne Rückgriff auf Erfahrung erkannt werden können.

Kant vergleicht die von ihm vorgenommene intellektuelle Re-volution («Umänderung der Denkungsart») im Hinblick auf dieFunktionsweise nicht-empirischer gegenständlicher Erkenntnis,insbesondere in reiner Mathematik und reiner Naturwissen-schaft, mit der auf Kopernikus zurückgehenden Wende in dertheoretischen Astronomie, durch die Himmelserscheinungenwie das Aufgehen der Sonne, statt auf die Bewegung der Him-melskörper selbst, auf die Bewegung des nur vermeintlich inRuhe befindlichen Beobachterstandpunktes zurückgeführt wer-den. Die kopernikanische Wende in der Auffassung des Verhält-nisses von Erkenntnis und Gegenstand – zumindest was die er-fahrungsfreie, nicht-empirische Erkenntnis der Gegenständebetrifft – gründet in der philosophischen Einsicht, dass die an-scheinend fertig vorgegebenen Gegenstände der Erkenntnisdurch die Grundformen des Erkennens vorab bestimmt sind.Das radikale Resultat der kantischen Revolution in der philoso-phischen Erkenntnislehre besteht so in der scharfen Scheidungzwischen den Gegenständen, wie sie uns nach Maßgabe der

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Immanuel Kant 15

Grundformen aller Erkenntnis von Gegenständen vorkommenkönnen («Erscheinungen»), und den Gegenständen, wie sie un-abhängig von solchen Erkenntnisbedingungen für sich selbst,damit aber auch unerkannt und sogar unerkennbar existierenmögen («Dinge an sich»).

Bei den vorgängigen Formen gegenständlichen Erkennensunterscheidet Kant im Einzelnen zwischen den formellen Be-dingungen, unter denen Gegenstände überhaupt erst durch dieSinne gegeben werden (Raum und Zeit), und den formellenBedingungen, mittels derer die zuvor sinnlich gegebenen Gegen-stände durch den Verstand gedacht werden («Kategorien», dar-unter Kausalität). Für Kant erfolgt die kognitive Bezugnahmeauf Gegenstände unter den sinnlichen, passiv vorliegendenFormbedingungen von Raum und Zeit immer unmittelbar undist überdies stets auf Einzelnes ausgerichtet («Anschauung»).Dagegen ist der erkennende Gegenstandsbezug durch die intel-lektuellen, aktiv geleisteten Formbedingungen immer nur indi-rekt und erfolgt im Hinblick auf ein Allgemeines («Begriff»),das zuvor angeschaute einzelne Gegenstände mit anderen sol-chen Gegenständen gemeinsam haben.

Nach Kants origineller Einsicht verlangt die gegenständlichgültige Erkenntnis das gezielte Zusammenwirken beider Form-typen des Erkennens. Ohne sinnlich vermittelten Anschauungs-bezug bleibt das begriffliche Denken ohne Inhalt und bloßformal («leer»). Ohne die begrifflich bewerkstelligte Fortbe-stimmung durch den Verstand fehlt der sinnlichen Anschauungein von ihr unterschiedener und als solcher gedachter Gegen-stand («blind»). Im Mittelpunkt von Kants kritischer Theorieder Möglichkeiten und Grenzen gegenständlichen Erkennenssteht deshalb das wechselseitig erforderliche Bedingungsver-hältnis von (reiner) Anschauung und (reinem) Begriff, die einan-der ebenso ergänzen wie sie sich gegenseitig eingrenzen.

In Kants prinzipieller Perspektive sind es nicht erst bestimmteAnschauungen und bestimmte Begriffe, die aufeinander ange-wiesen und nur zusammen leistungsfähig sind. Unabhängig vonaller einzelnen Erfahrung und in jeder solchen Erfahrung immerschon vorausgesetzt («transzendental»), bilden reine sinnliche

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1. Die Philosophie der Vernunft16

Anschauungen und reine Verstandesbegriffe eine ursprünglicheFunktionseinheit, die Erfahrung samt ihren Gegenständen not-wendig bedingt und grundsätzlich ermöglicht («Möglichkeitder Erfahrung»). Umgekehrt bewähren sich aber auch die rei-nen Anschauungsformen und die reinen Begriffsformen erst undnur durch ihr funktionales Erfordernis für die Ermöglichungder Erfahrung wie von deren Gegenständen.

Die von Kant originell begründete Erstreckung gegenständ-licher Erkenntnis, einschließlich der mathematisch-naturwissen-schaftlichen Erkenntnis, auf ausnahmslos alle Gegenstände derErfahrung («empirischer Realismus») kommt allerdings um denPreis der prinzipiellen Einschränkung solcher Erkenntnis aufsinnlich erfahrbare Gegenstände («Erscheinungen»). Von denDingen, wie sie an sich, unabhängig von den kognitiven Kondi-tionen des Erkenntnisvorgangs, bestehen mögen, kann es keinesolche Erkenntnis geben («transzendentaler Idealismus»). Dochwas zunächst wie Verlust und Verminderung aussieht, die Ab-wertung der erkennbaren Gegenstände von angeblichen abso-luten Objekten («Noumena») zu deren erkenntnisförmigen Er-scheinungen («Phaenomena»), erweist sich in der strategischenGesamtperspektive von Kants Philosophie als Gewinn und Ver-mehrung.

Die Restriktion gegenständlicher Erkenntnis auf bloße Er-scheinungen schafft nämlich, so Kant, einen Spielraum jenseitsder phänomenalen Wirklichkeit samt ihrer mathematisch-na-turwissenschaftlichen Geregeltheit für freies menschliches Wol-len und Handeln, das insofern unter anderen, eigenen Gesetzensteht. Der Einschränkung der gegenstandsbezogenen, theore-tischen Erkenntnis auf die natürliche Welt («Sinnenwelt») hältdamit bei Kant die Ausweitung der handlungsbezogenen, prak-tischen Erkenntnis auf die moralische Welt («Sittenwelt») dieWaage. In Kants eigener dramatischer Ausdrucksweise formu-liert, ist die Freiheit im menschlichen Wollen und Handeln nurzu «retten», wenn die Naturgesetze – und insbesondere dasKausalgesetz der Natur – nicht von den Dingen überhaupt undgenerell gelten, sondern von den Dingen als kognitiv konsti-tuierten Erscheinungen.

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Immanuel Kant 17

Die zunächst, im Rahmen der Kritik der reinen Vernunft, ge-nerell gesicherte Möglichkeit eines von Naturgesetzen unabhän-gigen, radikal freien Wollens und Handelns («transzendentaleFreiheit») erweist sich als wirklich gegeben in Kants kritischerMoralphilosophie, speziell in der Kritik der praktischen Ver­nunft. Kant betrachtet darin das Bewusstsein unbedingter mo-ralischer Verpflichtung, wie es sich im Phänomen des Gewissensmanifestiert, als zuverlässige Anzeige der für verantwortlichesWollen und Handeln vorauszusetzenden Freiheit, gemäß demGrundsatz «Sollen impliziert Können» («moralische Freiheit»).

Die Freiheit in moralischer Hinsicht geht für den kritischenKant aber nicht auf in der Freiheit von der Determination durchdie Naturgesetze («negative Freiheit») und in einem Wollen undHandeln bloß nach eigenem Belieben («freie Willkür»). Letzte-res steht für Kant sogar im Verdacht, durch Antriebe nach Na-turgesetzen eigener, psychologischer statt physikalischer Art(«Neigungen») und insofern immer noch unfrei zu erfolgen.Vielmehr besteht moralisch signifikante Freiheit, Kant zufolge,in der Eigenschaft willensbegabter und handlungsfähiger We-sen, in ihrem Tun und Lassen unter Gesetzen zu stehen, dienicht von einer äußeren oder inneren Natur vorgegeben wer-den, sondern die dem Wollen selbst entstammen, das sich soseine Gesetze selbst gibt («Autonomie»).

Die Quelle der moralischen Selbstgesetzgebung ist für Kantdie Vernunft, und zwar nicht in ihrer Kapazität als theoretischeVernunft, die der Erkenntnis der Gegenstände dient, sondernals praktische Vernunft, die das Wollen und Handeln durch ver-nünftige Gründe – statt durch psycho-physische Ursachen – zubestimmen vermag. Die speziell für das moralische Wollen undHandeln charakteristische Form der Vernunft besteht für Kantin der Gesetzesform als solcher («Gesetzlichkeit», «Gesetzmä-ßigkeit»). Moralisch begründet oder rein vernünftig gerechtfer-tigt handelt, wessen persönliche Handlungsgrundsätze («Maxi-men») zugleich der Vernunftform allgemeiner Gesetzmäßigkeitgenügen. Die moralische Anforderung, die eigenen Handlungs-prinzipien der Form der Gesetzlichkeit als solcher («möglicheallgemeine Gesetzgebung») zu unterwerfen, ist für Kant ein un-

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