geheime aufzeichnungen napoleons. 2. abteilung
TRANSCRIPT
XXVIII
Geheime Aufzeichnungen Napoleons
Kürzlich in einem trockenen Erdloch Auf Korsika aufgefunden
Wer sie dorthin verbracht hat Das weiß man noch nicht
Aus einem bisher unbekannten korsischen Dialekt übersetzt von P.P.
2. Abteilung: Einträge 134 -‐ 2691
1 Die Nummerierung folgt auch hier der des aufgefundenen Manuskripts.
XXIX
Merke wohlauf Geschichtsschreiber, nimm deinen Verstand zusammen! Du hast eine schwere Arbeit, wenn du es übernimmst, den grossen Adler zu schildern, welcher langsam und lange fliegt, in der Torheit weise, in der Gleichgültigkeit sorgsam, in Trägheit wild, in Trauer vergnügt, im Kleinmut starkmütig, den mit angebrannten Flügeln sich aufschwingenden und im Unglück glücklichen.
Aus der Chronik des Mathias von Neuenburg
Remember what you are, and what you reprehend
Zwei Druckfehler in einem Wort, als treue Diener der Wahrheit
Daß ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist.
Hölderlin
Quis enim accurate loquitur nisi qui vult putide loqui?
Seneca
XXX
134 Jeder hätte mich ersetzen können; jeder, der es genau so gemacht hätte wie ich. 135 Meine Begegnung mit der Sphinx war allerdings merkwürdig. Es kam mir so vor, als mokierte sie sich über mich; mehr aber noch über meinen Hut.
136 Meine Einsicht war der Instinkt, der mich geleitet hat; und vor dem ich im-‐mer eine Art Ehrfurcht empfand. Meine Einsicht in Zwänge und Notwen-‐digkeiten. -‐ Der handelt effektiv, der sich dem Sog der Zukunft überlässt. Dazu braucht es einen Blick, der sich nicht selbst behindert; weder nach in-‐nen, noch nach außen. 137 Hybris? -‐ Ja, habe mich selbst geliebt. Ja, ich hatte Erfolg. Ja, ich habe der An-‐erkennung nicht widersprochen; weder mir selbst noch den anderen ge-‐genüber. Ja, ich hatte eigene Regeln, der Notwendigkeit zu begegnen. Mein Leben wuchs wie ein hoch verzinstes Konto; es wucherte. Mein Selbstver-‐trauen war ein heller Spiegel der Notwendigkeit, das mich trug; vielleicht auch betrog. -‐ Nein, meine Einsicht in die Notwendigkeit war nicht einfach; sie überwältige mich wie eine Vision, sie stigmatisierte meine Seele. – Und dabei ist es, sozusagen, fataler Weise, geblieben. Die Götter hätten mich noch einmal heimsuchen müssen.
XXXI
138 Eine Philosophie, die tröstet, schwächt auch. 139 Ein Nomade ist jemand, der die Welt mit seinem Wohnzimmer verwechselt.
140 Wer sagt, dass ich ein inkarniertes Oxymoron sei, hat Recht. Ich bin, ich war glühendes Eis. Oder jetzt, hier, eine kalte Sonne. – Vielleicht auch steinerne Luft. Oder ein nach Olymp duftender – brocciu. – Das muss ich notieren, so seltsam es auch anmuten mag: In Ägypten, abends, in einem Zelt, sagte mir einer der Gelehrten, die ich mitgenommen hatte, dass das Wort fromage von forma herkommt, und als es noch formaticum hieß, war kein Zweifel daran, dass es die geronnene Form eines Vergangenen bedeutete; eben das, was einmal Milch war. – Der Käse ein Philosoph. Er lehrt uns, dass die Form des Jetzt, die wir verzehren, geronnene Vergangenheit ist. 141 Qui a peur de feuilles, ne doit aller au bois. Und wer den Wald fürchtet, sollte erst gar nicht aus dem Fenster schauen. 142 Wenn ich je ein Motto gehabt hätte, wäre es: age hoc! gewesen.
XXXII
143 Denn es ist viel zu anstrengend, geradezu hinderlich, Mut zu haben. Mut ist eine Belastung. Um zu handeln, musst du nur handeln; age hoc! – Überhaupt bedarf, wer stark ist, keines Muts. Courage müssen sich die Schwachen an-‐trinken, um handeln zu können. 144 Disideriu. Ich erinnere mich, dass ich einmal gesagt habe: wer führt, muss Hoffnungen im Angebot haben, -‐ freilich nur solche, die nicht seine eigenen sind. Denn er hat keine Hoffnungen. Stattdessen spürt er die Striemen der Peitschen, mit denen ein Gott ihn traktiert. Ohne diese Striemen könnte er seine Handlungen nicht ertragen. 145 Ich war überrascht, als ich merkte, wie wenig dazu gehört, als Held gesehen zu werden; es braucht dazu wenig, aber das Richtige. Dieses Wissen habe ich zu meinem Nutzen mit Kalkül kultiviert. 146 Was du tust und was du sagst, muss in einem Punkte dasselbe sein: Dein Handeln muss in deinem Handeln, dein Sprechen in deinem Sprechen uner-‐kennbar bleiben. – Auch für dich selbst. – Deshalb muss auch eine Ver-‐fassung kurz, bündig und dunkel sein.
XXXIII
147 Muneta. Geld ist ein guter Lehrmeister. Es kennt keine Treue. Es wechselt, es wandert, es flattert. Auf der Suche nach Gewinn. Und kennt dabei nur sich selbst. Und tut alles nur aus Liebe – zu sich selbst. – Geld ist mithin die präziseste und fruchtbarste Erscheinungsform der Liebe. – Die Vorstellung jedoch, dass Gott die Welt aus Eigenliebe erschaffen haben könnte, ist tragisch; und komisch. 148 Körper und Geist müssen weit voneinander getrennt sein. Wie zwei Kon-‐tinente. Sie müssen sich voreinander hüten und verschanzen. 149 Charisma. Wie unwissend diejenigen sind, die meinen, dass Entscheidungen getroffen werden können. Im besten Falle werden sie angetroffen. -‐ Freilich verdanke ich ein beträchtliches Maß der Verehrung, die ich genoss, genau dieser Unwissenheit. Das habe ich immer gewusst. Das ist der einzige Grund dafür, dass ich von der Entscheidungsfähigkeit wie von einem Wun-‐der gesprochen habe: Weil ich nicht eigens dafür zu sorgen brauchte, dass man mir glaubte. – Ihre Dummheit schenkte mir den Glauben, sozusagen. Kurz: Die Dummheit der anderen ist die beste Bundesgenossin und Voll-‐zugsgehilfin politischer Selbstsucht. Die Dummheit des Volkes, das im Herrscher einen Fetisch sieht, ist die wirksamste Tugend dieses -‐ Fetischs. 150 Gewiss, die Situationen sind immer gegeben. Aber sage nie, dass du dich nur einmischst. Denke dir eher, dass es so ist wie beim Kartenspiel: Du verteilst die Karten, nachdem du sie gemischt hast. – Das ist das Schauspiel, das du bietest, das ist deine Art, groß zu werden, indem du vor dem Gott des Zufalls in die Knie gehst; besser: mit der Stirn den Boden des Unverfüg-‐baren, ehrfürchtig, berührst. Mehr Wahrheit kannst du dem Schein nicht verleihen. Und wie ein Parasit wirst du an dieser Wahrheit teilhaben – müs-‐sen. 151 Der Ehrgeiz ist nur eine Apparatur, ein Schrittzähler, ein simpler Podo-‐meter, des Handelns: kein Agitator, nicht einmal ein Motiv. – Unbequemer als der Ehrgeiz ist indes die Unzufriedenheit; sie ist der Mangel, das Böse.
XXXIV
152 Cillica. Die größte Schwierigkeit beim strategischen Handeln, im Spiel, in der Liebe, im Krieg, ist, schneller zu sein als die Zeit. -‐ Es muss sich nach-‐träglich herausstellen, dass für dich – die Zeit zu spät kam, dass du früher warst; als die Zeit. 153 Verra. Weil der Krieg eine Art Strategie-‐Spiel ist, misst sich die Vollkom-‐menheit des Sieges an der Zahl der Züge, die dafür nötig waren. Ja weniger die Züge, desto makelloser das Ergebnis; natürlich nicht aus moralischen Gründen. Auch über die Vollkommenheit eines strategischen Sieges ent-‐scheidet die Schönheit. Sie bleibt das einzige Kriterium, eine Strategie zu bewerten. Sie ist auch das einzige -‐ wenn auch kaum bestimmbare -‐ Krite-‐rium der Grüße. Ce qui est grand est toujour beau. 154 Warum hasse ich das Wort unmöglich? Ich hatte es aus meinem Wörterbuch gestrichen, weil es nichts bezeichnet. Der Satz Es ist unmöglich! bedeutet nichts. Es sei denn, er meint sich selbst. 155 Spectre. Tremblement. Die Bilder der Vergangenheit sind im Jetzt gegenwär-‐tig als Gespenster, Wiedergänger, revenants. Die vergangenen Erfahrungen sind präsent im Schauder, der verlockt. 156 Frisson. Fantôme. Die Erfahrungen der Vergangenheit sind im Jetzt gegen-‐wärtig wie ein Seelenkitzel. Die vergangen Bilder sind präsent wie Luftspie-‐gelungen, die verführen. 157 In meinen Worten seht ihr noch weniger von mir als auf meinen Portraits. Selbst die charmante Karikatur – schade, dass er mir nicht auch einen zer-‐brochenen Krug in die Hand gegeben hat -‐, die Greuze mir verehrte, sagt mehr über mich aus als das, was ich selbst gesagt habe -‐ und habe schreiben lassen. – Das gilt freilich nicht für das, was ihr gerade aus meinem Munde – und in euren Ohren -‐ hört.
XXXV
158 Nein, au contraire, ich verstehe den Tod nicht. Auch wenn man denkt, dass ich ihn besser verstehen sollte als die anderen. Aber der Tod hat nichts mit dem zu tun, was man von ihm sehen kann. Ich kenne ihn nur als einen Zug im Spiel. Ich habe an ihm immer vorbei geschielt und gezielt. Der Tod der Vielen hat eine pragmatische Qualität. Den Tod eines Einzelnen kann ich mir nicht vorstellen. Fast glaube ich daher, dass ich unsterblich bin.
XXXVI
159 Heißt leben denn nicht, eine Linie zu ziehen, aus lauter und lauterer mor-‐bidezza? 160 Ich schaute, wohin denn sonst, aufs Meer und dachte mir: Das Leben ist die engste Stelle einer Sanduhr; der unbedeutende Moment, in dem das schon nicht mehr ins nie wieder umschlägt. Die Zeit führt die Fülle des Früher zu ihm hin und führt die Fülle des Später von ihm weg. -‐ Was soll ich davon halten! 161 Die alten Philosophen sahen das völlig richtig. Die Erfahrung wird immer erlitten; sie wird uns zugefügt. Es ist unsinnig zu sagen; Ich mache eine Er-‐fahrung. Das, was da meint, eine Erfahrung zu machen, ist ein ephemeres Produkt der Erfahrung. -‐ Auch die Erfahrung des Ich bin wird erlitten, schmerzlich. Das Ich ist der Gipfel des Pathos. Eine leere Blase, die sich ins Innere stülpt. Eine Miniatur des Abgrunds, die man als Erkennungszeichen mit sich trägt. Passe-‐par-‐tout. 162 Die Dinge sind Tiere aus dem Abgrund. Dass darunter kein Einhorn ist, das ist gut. Ein Ding mit dem Blick eines Einhorns könnte niemand ertragen.
XXXVII
163 Ich wurde zu jung geboren. Ich habe zu jung gesiegt. Ich habe mich zu jung zum Kaiser gekrönt. Ich war zu jung, als ich aus Russland floh. Ich sterbe zu jung. – Mein stets zu junges Leben hat sich mein Leben lang verwundert be-‐obachtet. Dabei habe ich mich zwar sehr gut kennen gelernt; aber niemand ist mir dabei so fremd geblieben wie ich selbst. Moi? – Même? 164 Das Leben ist eine Barriere vor der Hölle. Früher oder später gelingt es uns aber, sie zu durchbrechen. 165 Der einzige plausible Sinn der Dichtung liegt darin, immer wieder neue Bilder zu finden für jene entscheidenden Augenblicke im Leben, die sich selten ereignen; oder nie. 166 Die Literatur sollte beweisen, dass gerade das Leben durch und durch eska-‐pistisch ist. Wahr wird es nur, wenn es in die Literatur flüchtet. -‐ Kein Mensch kann vor dem Leben flüchten. Nur in den neidischen Augen der an-‐deren. 167 Ich schlief gern in fremden Betten; wenn darin einmal ein Kaiser geschlafen hatte. -‐ Sanssouci gefiel mir nicht zuletzt deswegen, weil in meinem Bett dort der Zar geschlafen hatte. 168 Cavalier perspectivee. Wenn die Tische alle aufgestellt, die Karten alle auf-‐gespannt waren, war die Welt in meinem Zimmer; und ich konnte mir vor-‐stellen, wie Gott auf die Schöpfung blickt. – Wie ein gelangweilter Höfling. 169 Ich konnte nie herausfinden, welche Instanz in mir für mich zuständig ist.
XXXVIII
170 Hazard. Das Leben ist auch ein Glückspiel mit blinden Karten. Das macht es bisweilen charmant. Weil man mit blinden Karten nicht täuschen kann. 171 Das Leben ist auch wie ein dehnbares, fest verankertes Band, das wir bei der Geburt in die Hand nehmen müssen; und das immer mehr Widerstand leistet, je näher wir es dem Tod bringen. Sein Gegenstreben ist keine Frage der Zeit; sondern der Nähe. 172 Ob ich der einzige Krieger bin, der in der Nacht vor dem Geräusch seiner Schritte erschrickt? – Weil sie so viel Stille stören? 173 Manchmal bin ich sentimental und moralisch, dann denke ich: Die Mensc-‐hen. Sie sollten, was freilich auch schwierig ist, sich einander schenken. Stattdessen versuchen sie aber das statisch Unmögliche; sich aneinander festzuhalten. 174 Wenn die Spiegel zerschossen sind, können wir miteinander reden. 175 Erkennt man an meinem Leben nicht, dass ich mich für Geschichten nicht in-‐teressiere? Ich sehe nur Ereignisse, von der Zeit miteinander verwobene Momente. -‐ Auch um diesen Blick, -‐ den auf den Teppich der Geschichte, be-‐neide ich Gott, -‐ den Einzigen, der ihn hat.
XXXIX
176 Man darf die Worte nicht einfach im Tresor der Möglichkeiten lassen, so sollten die Dichter denken. – Man darf die Ereignisse nicht einfach im Tre-‐sor der Möglichkeiten liegen lassen, so sollten Feldherren und Herrscher denken. – Mir gefällt die Vorstellung, dass Geschichte wie ein Sonett ent-‐steht -‐ Könnt ihr mir das glauben? – oder auch wie eine Serie von Alexan-‐drinern. Vielleicht hätte ich Dichter werden sollen. – Nein! Diesen Gedan-‐ken verbiete ich mir und – überlasse ihn der Nachwelt. 177 Mein Schicksal gab meiner Skepsis recht. 178 Die Menschen sind die Maden der Schöpfung. 179 Es ist gut, dass es keine Mittel gibt, Seelenschmerzen zu betäuben. Sonst spürten wir unsere Größe – vor Gott -‐ nicht mehr. 180 Das Leben gewinnt an Profil durch seine Irregularität. 181 Vielleicht bin ich der Erste, dem der Applaus genutzt, der den Applaus ge-‐nutzt hat. Ich habe mich davon tragen und rechtfertigen lassen. Letztlich hat der Beifall mich gekrönt. Er ging voraus, er begleitete mich; und wenn er einmal ausblieb, wusste ich, ihn zu evozieren. 182 Ja, ich tue so, als gäbe es Kontinuität. Und ich versuche auch, daran zu glau-‐ben. – Dennoch verabscheue ich all die, die sich einbilden und unterstellen, dass wir immer das tun, was wir wollen und nie das, was wir nicht wollen. – Diese Dummheit machen die Richter sich freilich zum Prinzip. – Wobei der grüßte Fahler darin besteht, anzunehmen, dass wir überhaupt wollen kön-‐nen. Je weniger wir uns um unser Wollen kümmern, desto klüger sind wir – und vice versa.
XL
183 Die größte Schmeichelei der Selbstliebe besteht darin, dass sie das Selbst für möglich hält. 184 Constance. Gleichmut ist eine der affektiertesten Masken, die ich mir den-‐ken kann. 185 Die Philosophie kommt immer zu früh oder zu spät. Es gibt keine Philoso-‐phie des Jetzt. Weil das Jetzt sich nicht über sich selbst beugen kann. 186 Nur daraus, wie sich die Dinge in uns spiegeln, können wir auf ihre Größe schließen; und umgekehrt. 187 Geistesschwäche ist auffälliger als Seelenschwäche. – Wenn die eine oder die andere einmal auffällt, schämen die Menschen sich für geistige Impo-‐tenz mehr als für seelische. Ich habe immer gedacht, es sollte umgekehrt sein. 188 Wir können immer nur hilflos auf Situationen reagieren. Weil sie immer un-‐ermesslich komplizierter sind -‐ als das Bild von ihnen sein kann. Aber das ist nicht alles. Entscheidender ist, dass wir nach Maßgabe unsers Unwissens handeln, das wir beliebig und ohne es zu merken ergänzen, um überhaupt handeln zu können. So spielt für unser Handeln selbst das, was wir nicht wissen, oder nicht wissen können, keine Rolle. 189 Wissen ist immer ein Glücksfall; was wir wissen, wissen wir immer aus Zu-‐fall. Am Ende eines Gedankengangs steht immer ein Zufall, oder nur ein Achselzucken. – Und der Zufall – wir nennen ihn glücklich – tritt nur ein, wenn wir ganz und gar aus Bereitschaft und Durchlässigkeit bestehen.
XLI
190 Ja, ich habe Las Casas gesagt, dass ich nie im Besitz meiner selbst war, dass ich mich den Umständen immer angepasst habe... als hätte ich mich der Ver-‐antwortung entziehen wollen; aber ich war nur ehrlich; aus Koketterie. 191 Es gibt tatsächlich Momente, in denen ich mich für mich interessiere – oder mich sogar beneide, wenn ich höre, was andere über mich gesagt haben – oder gesagt haben sollen. 192 Um nicht überlistet zu werden, muss man selbst grobe Listen anwenden. 193 Subtilitäten sind so lange verzeihlich, als sie tragfähig sind. 194 Faiblesse. Schwäche, sagt ein kluger Franzose, kann nicht korrigiert werden. 195 Keiner kann sich beweisen, dass er versteht. Er sollte sich davor hüten, es auch nur zu versuchen. 196 Man braucht nicht nur die Dummen, um geistreich sein zu können. Man braucht auch die Trägen, um handeln zu können. 197 Wir lügen so oft, wenn wir über uns und mit uns sprechen, um anzudeuten, dass wir lieber Melancholiker bleiben, als die Gesellschaft anderer zu su-‐chen.
XLII
198 Das Eigenlob bleibt auf halben Weg, gleichsam im Sumpf der Erkenntnis, stecken. 199 Contrecoup. Es ist nicht der Tod, der uns am Ende unseres Lebens über-‐rascht; es ist das Leben selbst. 200 Es gibt keinen Angriff, der nicht eine Form von Verteidigung wäre, zumin-‐dest eine vorauseilende – Die vorauseilende Defensive ist ein strategischer Umgang mit der Zeit. Sie versucht, der eigenen Schwäche zuvorzukommen. 201 Wenn du ankommen möchtest, versuche immer zu früh zu sein. Auch wenn es eine Weile dauert, bis man dich bemerkt. Die beste Antwort auf die Frage „Wo bleibt er denn?“ ist „Bin schon da, bin lange schon da.“ 202 Es ist trivial zu sagen: Wir sind immer in Bewegung. Aber ist wichtig zu wissen, dass wir immer dann, wenn wir meinen zu zögern, an einem Tor angekommen sind; mit der Aufschrift Verwandlung. 203 Manchmal will es mir scheinen, dass das Gewissen nur dazu dient, von ei-‐nem Diener auf einem Brokatkissen vor uns hergetragen zu werden. 204 Rengaine. – Der einzige Ohrwurm, der mich – seit meiner Krönung – ver-‐folgt, ist Abbé Roze´s Vivat! Vivat! – in aeternum. Manchmal hallt -‐ in mei-‐nen Ohren -‐ ganz St. Helena davon wider. 205 Den Gedanken, einen Anspruch zu haben, welcher Art auch immer, musst du in dem Augenblick verjagen, in dem er dir kommt.
XLIII
206 Sei vorsichtig: In dem Augenblick, in dem du dein Leben zu durchschien glaubst, kannst du es nicht mehr ertragen. – Sorge dafür, dass der Philosoph in dir immer eine Blindenbrille trägt. 207 Wenn dich deine eigenen Gedanken nicht überraschen, sind sie nicht gut. 208 Wenn deine Taten die anderen nicht mehr überraschen, sind sie auch nicht mehr gut. 209 Mann sollte immer dann schweigen, wenn man schreien möchte – und der Schrei zu laut wäre. 210 Für manche, scheint mir, ist ein Gedanke wie ein Schmerz; in einem Kör-‐perglied, das sie verloren haben. 211 Ein jedes Begehren ist ein Abkömmling der Selbstliebe. 212 Wie wenig vom Konzept im Werk Platz findet! – Wie wenig sich die Idee in der Tat wiedererkennt! 213 Man sollte Kunstwerke mit Augen sehen, mit Ohren hören, die nur wissen wollen, wie Menschen zu einer bestimmten Zeit, in einer bestimmten Welt, in bestimmten Situationen mit dem Leben fertig geworden sind.
XLIV
214 Liebe und Schönheit, dit-‐on, fesseln den Blick, fixer les yeux; -‐ aber gehört die Macht nicht dazu, und der Schrecken? – Eben alles das, was man unbe-‐dingt besitzen oder vermeiden will. – Ich befürchte, ich habe keinen Un-‐terschied gemacht. 215 L´ombre de parfum. Der Park von Versailles: ein Befehl. Ermenoville: ein Angebot, fast eine Verführung; die steinerne Bank, auf der Marie-‐Antoinette ihren Duftschatten zurückgelassen hat.
216 Objet accessoire dans la paysage. Vielleicht kann man ein Leben gelungen nennen, wenn es dem ähnelt, was in der Gartenkunst „fabrique“ genannt wird. 217 Träume müssen so sein: confuses mais délicieuses. Das könnte auch Krite-‐rium sein für ein Leben, wie es sein sollte. 218 Gloire. Das ist meistens ein Hut; auf einem falschen Kopf. – Oder ein falscher Hut auf einem richtigen Kopf. – Ich denke schon längst nicht mehr so, wie damals, am Sarkophag Friedrichs.
XLV
219 Im Grunde ist es seltsam, dass der Schrei des Narziss nie ohne Echo bleibt. – Noch seltsamer freilich, dass nur Narziss auf eine Antwort hoffen kann. – Nein, er hofft ja nicht. Er ist sich ihrer sicher. 220 Das Geheimnis des Lebens – ist keines. Nichts liegt offener, nackter vor unseren Augen: Es ist eine innere Unruhe, eine Agitation, die nur auf sich selbst zielt; aber die ganze Welt betrifft. – Leben begehrt nur eines: die Welt zu fressen, um nicht aufhören zu müssen, zu begehren, die Welt zu fressen. –– Ich hoffe, es fehlt euch die Phantasie, euch das vorzustellen. 221 Jemand hat gesagt, dass die Selbst-‐Liebe wie das Meer ist. Das ist wohl auch der Grund dafür, dass kein Garten ohne Wasser auskommen kann, nein, nicht um die Pflanzen zu nähren, sondern für die Ekstase der Fontänen. 222 Perte de vue. Schlichtweg verrückt, dass der Blick nur da ankommen kann, wo er verloren gegangen ist. 223 Das Gefühl der Fülle des Lebens kann nur ein intimes sein. -‐ Also ist es un-‐möglich, weil jede wahre Intimität auf Anerkennung verzichten muss. Jede Anerkennung, die man sich selbst zollt, geht ins Leere (es sei denn, ein Gott springt in die Bresche). 230 Du brauchst nicht zu wissen, wo du hinwillst; du musst aber wissen, wohin du nicht willst. 231 Mach keine Pläne ohne andere zu verwerfen.
XLVI
232 Du musst der Liebe gegenüber so kalt bleiben wie dem Hass. 233 Suche Lösungen so, als würdest du mit deinen Gedanken in die Luft greifen. 234 Sei verschwiegen; vor allem dir selbst gegenüber. 235 Deine einzige Sucht muss der Zweifel sein. Und dein Blick darf nur die Aufgabe haben, dies zu verbergen. – Du weißt ja: Je offener und klarer der Blick, desto verlogener. 236 Wen die Welt einen sprechenden Namen hätte – aber was meine ich mit „Welt“ -‐, hieße sie Système; einfach so, ohne d´Holbach und Ancillon; oder die anderen -‐ Deutschen. 237 Auch das muss gesagt werden: Ich hasse die dumme Präzision der Eume-‐niden. 238 Une vie propre? – Ein Eigenleben kann nur monoton sein. Je intensiver es ist, desto monotoner. – So kann man das natürlich nicht sagen. – Und doch resultiert seine Monotonie aus der Tatsache, dass es keine Resonanz finden kann. Ein Eigenleben könnte – wie die Einsamkeit – nur durch Anerken-‐nung gesprengt werden; aber das ist undenkbar. 239 Die Welt war, ist und bleibt ein endloses Versprechen. – Seine Erfüllung wäre der größere Horror.
XLVII
240 Robert des ruines. – Es gibt noch eine fatale Ähnlichkeit zwischen Garten-‐künstlern und Heldherren. Wenn sie Glück haben, werden sie bekannt und gepriesen für ihre Ruinen. – 241 Quis hco perficiet? Es heißt, dass Philosophen-‐Tempel als Ruinen gebaut wurden, um anzudeuten, wie unabgeschlossen und unfertig das Denken ist, ja sein muss, um diesen Namen zu verdienen.
242 Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Denkerstirnen in der Regel eine Folge von Haarausfall sind. – Ein unverdientes Nebenprodukt. 243 Die Idee der Utopie wurde nur erfunden, um einen Grund zum Handeln zu haben; zumindest aber, um sich damit herausreden zu können.
XLVIII
244 Die Idee der Heimlichkeit findet im Sarg ihr vollkommenes Format. 245 Meine Gedanken knüpfen Netze, mit denen sie das Mögliche auffangen und dem Belieben entziehen. 246 Was geschieht mit der Eleganz und der Delikatesse, wenn sie universal ge-‐worden sind? 247 Balancieren ist eine Etüde im die-‐Wahrheit-‐Sagen. 248 Allegoria in factis. -‐ Man hat im Leben eines Heiligen einmal eine Allegorie gesehen. – Was für ein phantastischer Gedanke: Er stellt vor die Aufgabe, in der wirklichen Fabel eines Lebens ein Geheimnis zu entdecken, dem man nachspüren und nachfolgen soll. – Welches Geheimnis wird man in der Legende meines Lebens auffinden; um mir nicht nachfolgen zu bauchen? -‐Factum in allegoriae. 249 Ich kann nicht beschreiben, wie fremd ich mir bin. Ich komme mir wie eine mechanische Puppe vor, deren Antriebskräfte zwar irgendwo in ihr ste-‐cken, über die ich aber nicht zu verfügen vermag. Kaum kann ich die Bewe-‐gung selbst beobachten. 250 Die entscheidende Frage, denke ich, ist die, ob2
2 Rest des Eintrags unleserlich.
XLIX
251 Ja, eigentlich liebe ich es, wenn Räume indifferent, changierend sind. – Dann steht die Stille inmitten des Lärms. Und der Lärm in der Stille. 252 Wie kann man anderen vermitteln, was man sich selbst nicht sagen kann? – Antworte! 253 Fünfzehnter August, heute. -‐ Der furchtbarste Lärm ist der von innen; vor dem man die Ohren nicht verschließen kann. 254 Je weniger die Menschen wissen, was sie denn überhaupt wissen sollten, desto wissender ist ihr Blick. 255 Jouissance. – Im besten Fall ein Akt der Kommunikation; ein Gespräch. Auch ein Selbstgespräch. 256 Denke, wie kein anderer denkt. Und beweise es. 257 Nein, es ist nicht so, dass das Leben sich prinzipiell ausschließt. 258 Jedes Wissen ist nur ein Wissen um das, dass man nicht weiß; nur so kann es überhaupt ein Wissen sein. 259 St. Helena hat mir eine neue Nini geschenkt.
L
260 Wenn zwei Feldherren von zwei verschiedenen Hügeln dieselbe Schlacht beobachten, sind sie in gewisser Weise eins, identisch; auch wenn sie feind-‐liche Heere befehligen. 261 Ich hatte geglaubt, Ägypten wie ein Redner erobern zu können. – Vielleicht war meine Stimme in der Wüste nicht laut genug. 262 Zuletzt fallen wir dem Komplott der Uhren zum Opfer. 263 Die Zeit ist eine Chimäre; eine charmante. Lächelnd verlockt sie uns, das Gestern einzuholen. 264 Obscura vera involvens. Die Wolke ist das vollendete Bild eines Bildes. -‐ Sie zeigt, indem sie einschließt. Sie hält, was sie zeigt, in geschlossenen Händen. 265 Gesellschaftsvertrag. Der Spitzentanz der Frösche auf einer grünen Rampe. 266 Freilich, das Dümmste ist es, vorauszueilen und die Anweisungen des Todes erst gar nicht abzuwarten. Vorauseilender Gehorsam ratifiziert den Befehl doppelt. 267 Es ist eine späte und kümmerliche Erkenntnis, dass es keinen Ausweg gibt; du musst dich dem Schmerz stellen. Oder ins Leere flüchten. 268 Wie seltsam, dass man sich aus jedem Spiegel anders anblickt.
LI
269 Als ich in Ägypten Mohammeds Geburtstag feierte, dachte ich mir, es sei mein eigener. – Er war es ja auch.
LII
La vie est un songe léger qui se dissipe.
Les hommes sont comme les chiffres: ils n´acquièrent des valeurs que par leur position.
L’histoire est une suite de mensonges sur lesquels on est d’accord.