gadamer der ununterbrochene dialog
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5/14/2018 Gadamer Der Ununterbrochene Dialog - slidepdf.com
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ISBN 3-518-12357-2
9 1 1 ~ € 9,00 [0]
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Jacques Derrida und Hans-Georg Gadamer lernten sich in den frühen 80er Jahren kennen, und seit dieser Zeit entspann sich eine kon
troverse Auseinandersetzung über die Hermeneutik, die Kunst der
Interpretation, insbesondere über die Endlichkeit unseres Verstehens. Als Gadamer starb, hielt Derrida im Februar 2003 die Festredezur Gedenkfeier der Universität Heidelberg. Mit einer eindringlichen Celanlektüre führt Derrida vor, wie das Gespräch mit Gada
mer über seine letzte Unterbrech ung hinaus am Ende zu einem »ununterbrochenen Dialog« werden könnte. Dem Band beigefügt sindKommentare Gadamers zu Celans Gedichtfolge Atemkristall sowie
Materialien aus der Zeit de r ersten Begegnung. In Derridas Reflexionüber den Abschied und das Abschiednehmen kommt es hier zu einerletzten, vielleicht entscheidenden Annäherung.
Jacques Derrida, geb. 1930, ist Professor für Philosophie an der Ecole
des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris. Hans-Georg Gada-
J cques Derrida
Hans-Georg Gadamer
Der ununterbrochene Dialog
Herausgegeben und
mi t einem Nachwort versehen
von Martin Gessmann
mer (19°0-2002) war Professor für Philosophie an der Universität SuhrkampHeidelberg.
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edi tion suhrkamp 23 57
Erste Auflage 2004© der deut schen Ausgabe Suhrkamp Verlag
Frankfurt am Main 2004Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der
Übersetzung , des öffentlichen Vortrags
sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf i n irgendeiner Form
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,vervielfältigt oder verbreitet werden.
Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-BadenUmschlag gestaltet nach einem Konzept
von Willy Fleckhaus: Rol f StaudtPrinted in GermanyISBN 3-518-12357-2
1 2 3 4 5 6 - 09 08 07 06 05 04
Inhalt
Jacques Derrida
Der ununterbrochene Dialog: zwischen zweiUnendlichkeiten, das Gedicht 7
Jacques Derrida
Guter Wille zur Macht (I)Drei Fragen an Hans-Georg Gadamer 51
Hans-Georg Gadamer
Wer bin Ich und wer bist Du?Kommentar zu Celans Gedichtfolge >Atemkristall< 55
Nachwort von Martin Gessmann 97
Textnachweise 109
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J cques Derrida
Der ununterbrochene Dialog:
zwischen zwei U nendlichkeiten,
das Gedicht
Kann ich hier vor Ihnen meine Bewunderung für Hans
Georg Gadamer überhaupt angemessen und wahrheitsge
treu wiedergeben?
Sie ist vor so langer Zeit aus Respekt und Zuneigung zu
ihm entstanden, und in sie mischt sich dunkel eine uralte
Melancholie.
Diese Melancholie hat, so würde ich sagen, nicht nur
historische Gründe. Denn selbst wenn es ein solches Er
eignis gäbe, an dem man sie festmachen könnte, so bliebees noch schwer zu entziffern, und die Art und Weise, wie
es in ihr widerhallt, wäre immer noch einzigartig, intim,
fast privat und geheim, noch zurückhaltend. Dort, wo sie
anhebt, zielt sie nicht immer ins Epizentrum jener Er
schütterungen, die meine Generation mehr aus ihren Wir
kungen denn aus ihren Ursachen, verspätet, indirekt und
vermittelt wahrgenommen hat. Ih r großer Zeitzeuge ist
Gadamer, er ist ihr Philosoph. Das gilt nicht nur für
Deutschland. Jedesmal, wenn wir miteinander gesprochen
haben, übrigens immer auf französisch, mehr als einmal
hier in Heidelberg, oft auch in Paris oder in Italien, hatte
ich bei allem, was er mir in herzlicher Freundschaft anver
traut hat - einer Freundschaft, durch die ich mich geehrt,
mehr noch gerührt und bestärkt fühlen durfte -, den Ein
druck, einJahrhundert deutschen Denkens, deutscher Phi
losophie und Politik besser zu verstehen. Un d dies gilt
wiederum nicht nur für deutsches Denken, deutsche Phi
losophie und Politik.
De r Tod hat diese Melancholie sicherlich verändert,durch ihn lastet sie unendlich schwerer. De r Tod hat sie
7
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besiegelt. Fü r immer. Es fällt mir aber dennoch schwer zu
unterscheiden, unter diesem starr gewordenen, versteinerten Siegel, in dieser schwer zu lesenden, aber auch irgendwie gesegneten Unterschrift, inwiefern sie auf den Toddes Freundes zurückgeht oder ihm schon so langevorangegangen ist. Schon bei unserer ersten Begegnung in Paris
I9 8I muß mich diese Melancholie, eine andere damals unddoch dieselbe, befallen haben. Unsere Diskussion konntewohl nur mit einer merkwürdigen Unterbrechung beginnen, die nicht etwa ein Mißverständnis war, sonderneine Art Sprachlosigkeit, eine Hemmung des noch Unent-
lichiedenen. Und eher die Geduld einer unbestimmten Er-
wartung, einer Epoche, die den Atem anhält, das Urtei l zurückhält und sich die Schlußfolgerung aufbehält. Da standich, mit offenem Mund, sprachlos. Ich sprach kaum mit
ihm, und was ich damals sagte, richtete sich nur indirekt anihn. Und doch war ich mir sicher, daß wir von nun an aufeine merkwürdige, aber innige Weise etwas teilen würden.Vielleicht eine Teilhaberschaft. Damals schon hatte ich eineVorahnung: Was Gadamer wahrscheinlich einen »innerenDialog« genannt hätte, sollte in jedem von uns weitergeführt werden, manchmal wortlos, unmittelbar in uns oder
indirekt. Eine Bestätigung fand dies in den Folgejahren dadurch, daß, diesmal allerdings wort reich und sehr gelehrt,eine ganze Reihe von Philosophen auf der ganzen Welt, in
Europa, besonders aber in den Vereinigten Staaten, den oftauch fruchtbaren Versuch gemacht haben, ihrerseits diesenAustauschzu übernehmen, der j anoch rein virtuell und zu-
rückgehalten war, ihn dadurch erst richtig herzustellen, zu
verlängern oder seinen merkwürdigen Bruch zu deuten.
1.
Wenn ich hier von einem Dialog spreche, verwende ich ein
Wort, das meinem Sprachgebrauch zugegebenermaßenfremd bleiben wird, und zwar aus tausenderlei Gründen,
8
guten und schlechten, deren nähere Erläuterung ich Ihnenhier erspare. Dieses Wort bleibt mir fremd wie eine Fremdsprache, deren Gebrauch ein besorgtes und umsichtigesÜbersetzen erforderte. Wenn es dann darum geht, genauzu sagen, was »innerer Dialog« heißt, b in ich froh, daß ichGadamer schon in mir habe sprechen lassen. Ich über
nehme von ihm, und zwar wortwörtlich, was er kurz nachunserer ersten Begegnung I98 5 gesagt hat, zum Schluß seines Textes Destruktion und Dekonstruktion:
»Vollends das Gespräch, das wir in unserem eigenen Denken weiterführen und das sich vielleicht in unseren Tagen um neue großePartner aus einem sich planetarisch erweiternden Menschheitserbe bereichert, sollte überall seinen Partner suchen - und insbesondere wenn er ein ganz anderer ist. Wer mir Dekonstruktion
ans Herz legt und auf Differenz besteht, steht am Anfang eines
Gespräches, nicht an seinem Ziele.« 1 (HervorhebungJ. D.)
Was macht diese Begegnung heute noch so unheimlich,
nachdem sie in den Augen vieler geradezu mißlungen war,sich aus meiner Sicht aber eben dadurch als glückliche Fü-
gung, wenn nicht gar als Erfolg erweisen sollte? Ihr Scheitern geriet so erfolgreich, daß sie eine lebendige und pro-
vozierende Spur hinterließ, der eine größere Zukunft beschieden sein sollte als einem Dialog voll Harmonie und
Einverständnis.Diese Erfahrung nenne ich unheimlich, un d zwar auf
deutsch. Im Französischen habe ich keine Entsprechung,die dieses Gefühl mit einem Wort beschreiben könnte. Im
Laufe dieser einmaligen, un d damit unersetzlichen Begegnung schlich sich eine einzigartige Fremdheit ein und verschmolz mit dieser innigen und verstörenden Nähe, diemanchmal beunruhigend, beinahe gespenstisch war. Dieses unübersetzbare deutsche Wort, unheimlich, braucheich noch einmal jetzt, in dem Augenblick, da ich hier vor
Ihnen auf französisch spreche und Sie auf deutsch mitle-
I Gesammelte Werke, Band II, Tübingen 1986, S. 361-372, hier: S. 372.
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sen können, um unsere gemeinsame Sensibilität für die .Grenzen der Übersetzung zu schärfen. Damit möchte ichauch daran erinnern, wie Gadamer selbst das diagnosti':'ziert hat, was viele unserer Freunde ein wenig überstürztals so etwas wie ein U rmißverständnis gedeutet haben. Ermeinte, die Hürden der Übersetzung seien einer der we
sentlichen Gründe für jene Unterbrechung gewesen, diedoch überraschend kam, damals, r981. Sieben Jahre später, es muß kurz nach unserer zweiten öffentlichen De-
batte gewesen sein, diskutier ten wir hier in Heidelberg zu-
sammen mit Philippe Lacoue-Labarthe und Reiner Wiehlüber Heideggers politisches Engagement. Damals, gleicham Anfang von Dekonstruktion und Hermeneutik, sahq-adamer in den Sprachgrenzen den Ort, an dem uns dieUbersetzung herausfordert und stets die Gefahr des Mißverständnisses droht:
»Das Gespräch zwischen selbständigen Fortführern Heideggerscher Anstöße, das meine Pariser Begegnung mit Derrida vor einigenJahren sein wollte, hatte es mit besonderen Erschwerungenzu tun. Da ist vor allem die Sprachbarriere. Sie wird immer dann
groß, wenn Denken oder Dichten Traditionsformen zu verlassenstrebt und aus der eigenen Muttersprache neue Weisungen her-auszuhören trachtet.«2
Gadamer spricht also lieber von »Denken oder Dichten«als von Wissenschaft und Philosophie. Dies ist kein Zufall,
und daran gälte es heute anzuknüpfen. In einem Aufsatzmit dem Titel »Die Grenzen der Sprache« (I984), der demsoeben zitierten von I988 vorausging und also noch näheran unserem ersten Treffen (r98r) liegt, betonte er noch
einmal ausdrücklich, daß die Frage der Übersetzung engmit der dichterischen Erfahrung verbunden ist. Das Gedicht ist nicht nur das beste Beispiel dafür, daß etwas un-
übersetzbar ist, es ist der eigenste, am wenigsten uneigeneOr t der Herausforderung für eine jede Übersetzung. Das
2 Gesammelte Werke, Band X, Tübingen 1995, S. 138-147, hier: S. 138.
10
Gedicht zeigt wahrscheinlich den einzigen Ort an, an demsich Sprache einzig erfahren läßt, nämlich in ihren idiomatischen Besonderheiten, die einerseits für immer derÜbersetzung widerstehen und deshalb andererseits eineÜbersetzung einfordern, der zugemutet wird, das Un-
mögliche zu leisten, das Unmögl iche in einem unerhörten
Ereignis möglich zu machen.Gadamer schreibt in »Die Grenzen der Sprache«: »Füruns alle aber gilt das [gemeint ist das »Phänomen derFremdsprache«], wo es sich um Übersetzung handelt.[Und in einer Fußnote verweist er auf seinen Aufsatz»Lesen istwie Übersetzen«.3] Da ist Poesie, das lyrische Gedicht, die große Instanz für die Erfahrung der Eigenheitund der Fremdheit von Sprache.«4
Ich nehme also einmal an, daß sich das Ganze der Poesiestückweise und schlicht und einfach aus dem ergibt, waswir Kunst oder die schönen Künste nennen, und erinnereauch daran, was Gadamer mehr als einmal, ganz besondersin seiner Selbstdarstellung,S zu diesem Thema sagt. Er unterstreicht die wesentliche Rolle dessen, was er in seinerphilosophischen Hermeneutik die »Erfahrung der Kunst«nennt, gegenüber allen anderen Verstehenskünsten, die ihrals Ausgangspunkt dienen. Vergessen wir nicht: Wahrheit
und Methode beginnt mit einem Kapitel über die »Erfahrung der Kunst«, und damit schafft sich Gadamer den
Raum für eine »Erfahrung des Kunstwerks«, die »jedensubjektiven Horizont der Auslegung, den des Künstlerswie den des Aufnehmenden, grundsätzlich immer übersteigt«.6 In diesem Horizont der Subjektivität steht dasKunstwerk dem Subjekt nie einfach gegenüber wie einObjekt. Es gehört zu seinem Werkcharakter, das Subjektzu affizieren und es zu verändern, angefangen bei dem, der
3 Gesammelte Werke, Band VIII, Tübingen 1993, S. 279-28 5.
4 Gesammelte Werke, Band VIII, Tübingen 1993, S. 35°-361, S. 360.5 Gesammelte Werke, Band II, Tübingen 1986, S. 479-508.6 A. a. 0., S. 437-448, hier: S. 441.
I I
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unterzeichnet. Gadamer schlägt vor, die zuvor angenom- .mene Ordnung durch eine paradoxe Formel umzukehren:
»Das >Subjekt< der Erfahrung der Kunst, das was bleibt und beharrt, ist nicht die Subjektivität dessen, der sie erfährt. Sonderndas Kunstwerk selbst.</
Diese souveräne Autorität des Werkes, die beispielsweisedas Gedicht zum erteilten Befehl und zum Diktum einesDiktats macht, ist aber auch die Aufforderung zur verantwortlichen Antwort und zum Gespräch. Sie erkennen hie rden Titel eines Werkes wieder, das Gadamer 1990 veröffentlichte: Gedicht und Gespräch.8
Ich weiß nicht, ob ich das Recht habe, ohne Anmaßungvon einem Dialog zwischen mir und Gadamer zu sprechen. Sollte ich aber doch Anspruch darauf erheben dürfen, wie gering er auch sein mag, so würde ich ein weiteres Mal darauf bestehen, daß dieser Dialog zunächst eininnerer und unheimlicher war. Das Geheimnis, das dieserUnheimlichkeit auch hier und jetzt zugrunde liegt, ergibtsich gerade daraus, daß dieser innere Dialog wohl jeneTradition am Leben, lebendig und glücklich erhalten hat,die ihn äußerlich aufzuheben schien - besonders in derÖffentlichkeit. Dieses Gespräch, davon gehe ich einmalaus, hat tief im Inneren die Erinnerung an jenes Mißverständnis mit einer bemerkenswerten Beständigkeit be
wahrt, ohne sich je nach außen zu verschließen. Es hat denverborgenen Sinn jener Unterbrechung ununterbrochen
kultiviert und gerettet, verschwiegen oder auch nicht - fürmich meistens innerlich und nach außen hin stumm.
Man spricht oft und ein bißchen leichtfertig von eineminneren Monolog. Indes geht ihm ein innerer Dialog voraus und macht ihn erst möglich. Er leitet und führt ihn, indem er ihn aufspaltet und bereichert. Mein innerer Dialogmit Gadamer, mit Gadamer selbst, mit dem lebenden,
7 Gesammelte Werke, Band I, Tübingen 1986, S. 108.8 Frankfurt am Main 1990.
12
noch immer lebenden Gadamer, wenn ich so sagen darf,sollte seit unserem ersten Treffen in Paris nie unterbro
chen werden.Wahrscheinlich beruhte diese Melancholie, wie immer
bei einer Freundschaft (zumindest empfinde ich es jedesmal so), auf einer traurigen und erschütternden Gewiß
heit: Eines Tages wird der Tod uns trennen. Das ist dasschicksalhafte und unabwendbare Gesetz: Von zweiFreunden wird der eine den anderen sterben sehen. Un d
so virtuell dieser Dialog auch sein mag, er wird durch eineletzte Unterbrechung doch für immer versehrt bleiben.Unvergleichlich ist diese Trennung zwischen Leben und
Tod, sie drückt dem Gespräch ein Siegel auf, das von nun
an das Denken vor ein erstes Rätsel stellen wird , das wir zu
entziffern versuchen, unendlich. Der Dialog geht wahrscheinlich weiter, seine Spur setzt sich im Überlebendenfort. Jener glaubt den anderen in sich zu bewahren, wie eres schon zu seinen Lebzeiten tat; künftig wird er ihn insich sprechen lassen. Vielleicht gelingt ihm dies besserdenn je - eine erschreckende Annahme. Doch das Überleben trägt in sich die Spur eines unauslöschlichen Einschnitts (aus). Die Unterbrechung vervielfacht sich, eineUnterbrechung affiziert die andere, (ist) eine Unterbre
chung in der Spiegelung, unheimlicher denn je.Aber warum muß man eigentlich soviel Wert auf diese
Unterbrechung legen? Un d was ist es in meiner Erinnerung, das mein Gedenken heute so nachhaltig verstört? Ehbien, es liegt wohl an all dem, was gesagt wurde, geschahoder sich ereignete seit jener letzten von drei Fragen, dieich Gadamer 1981 in Paris zu stellen wagte. Diese Fragebedeutete sowohl die Herausforderung, ja vielleicht gardie Bestätigung des Mißverständnisses, eine scheinbareUnterbrechung des Dialogs, wie auch andererseits den Beginn eines inneren Dialogs in jedem von uns beiden, eines
virtuell unendlichen und quasi-kontinuierlichen Dialogs.Tatsächlich, es war so, ich forderte eine gewisse Unterbre-
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chung geradezu heraus. Aber weit davon entfernt, damitden Dialog zum Scheitern zu verurteilen, konnte dieseUnterbrechung ebenso die Voraussetzung für Verstehenund Einvernehmen werden. Erlauben Sie mir ausnahms-weise, diese Frage in Erinnerung zu rufen. Sie war diedritte und letzte aus einer Reihe von Fragen zum guten
Willen im Streben nach Konsens sowie zur schwierigenEingliederung einer psychoanalytischen Hermeneutik ineine allgemeine Hermeneutik :
»Dritt e Frage: Auch diese geht auf die Axiomatik des guten Wil-lens. Mögen nun psychoanalytische Hintergedanken mit im
Spiele sein oder nicht, so ist doch die Frage berechtigt, was es mitdieser axiomatischen Bedingung des Interpretationsdiskurses aufsich hat, mit dem, was Professor Gadamer »Verstehen«, »verste-hen des anderen«, »sich miteinander verstehen« nennt. Ob mannun von der Verständigung oder vom Mißverständnis (Schleier-
macher) ausgeht, immer muß man sich doch fragen, ob die Bedin-gung des Verstehens, weit entfernt davon, ein sich kontinuierlichentfaltender Bezug zu sein (wie es gestern abend hieß), nicht docheher der Bruch des Bezuges ist, der Bruch als Bezug gewisserma-ßen, eine Aufhebung aller Vermittlung?«9
Die melancholische Gewißheit, von der ich hier rede, be-ginnt also wie immer bereits zu Lebzeiten der Freunde.Nicht nur durch eine Unterbrechung, sondern durch einWort der Unterbrechung. Ein cogito des Adieu, diesesendgültigen Grußes, zeichnet den Atem selbst des Dialo-
ges, eines Dialoges in der Welt oder eines inners ten Dialo-ges. Die Trauer wartet nicht mehr. Seit dieser ersten Be-gegnung kommt diese Unterbrechung dem Tod zuvor, siegeht ihm voran und hüllt einen jeden in die Trauer einerunerbittlichen zukünftigen Vergangenheit. Einer von u'ns
beiden wird alleine zurückgeblieben sein, wir wußten es
beide im voraus. Un d immer schon. Einer von uns beidenwird von Anfang an dazu verurteilt gewesen sein, ganz al-leine, in sich, sowohl den Dialog, den er über die Unter-
9 Forget, Philippe (Hrsg.), Text und Interpretation, München 1984, S. 58.
brechung hinweg fortsetzen muß , als auch die Erinnerungan die erste Unterbrechung weiterzutragen.
Und, so werde ich sagen, ohne es mir mit einer Über
treibung leicht zu machen, die ganze Welt des anderen.Die Welt nach dem Ende der Welt.
Denn der Tod ist, jedesmal, und jedesmal einzigartig, je-
desmal unwiederbringlich, jedesmal unendlich, nichts we-niger als ein Ende der Welt. Nicht nur ein Ende unter an-deren, das Ende einer Person oder einer Sache in der Welt,
das Ende eines Lebens oder eines Lebewesens. Der Todbereitet nicht nur jemandem in der Welt ein Ende, auchnicht nur einer Welt unter anderen; vielmehr zeigt er je-desmal, der Rechenkunst zum Trotz, das absolute Ende je-ner einen und selben Welt, desjenigen, was ein jeder wieeine einzige und selbe Welt eröffnet; er zeigt das Ende dereinzigartigen Welt, das Ende der Gesamtheit dessen, wasder Ursprung der Welt für ein solches einzigartiges Lebe-wesen ist (sei es nun ein Mensch oder nicht) oder als sol-cher erscheinen kann.
Der Überlebende bleibt also allein. Jenseits der Welt desanderen ist er auch auf gewisse Weise jenseits oder dies-seits der Welt selbst. In der Welt außerhalb der Welt und
der Welt beraubt. Er fühlt sich zumindest allein verant-wortlich, dazu bestimmt, sowohl den anderen als auchdessen Welt weiterzutragen, den verschwundenen anderen
und die verschwundene Welt, verantwortlich und weltlos,weltbodenlos, künftig in einer weltlosen Welt, als wäre ererdenlos jenseits des Weltendes.
11.
Eine erste Möglichkeit wäre es, wahrscheinlich nicht dieeinzige, den Klang eines Celanverses auf uns wirken zu
lassen, diesseits oder jenseits übe rprüfbarer Deutungen:Die Welt ist fort, ich muß dich tragen.
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Es ist der letzte Vers eines Gedichts aus der Sammlung
Atemwende,lofestgehalten wie eine Sentenz, gleich einem
Seufzer oder einem Urteils spruch. Celan hatte mir kurz
vor seinem Tode ein Exemplar dieses Bandes geschenkt,
wir waren für einige Jahre Kollegen an der Ecole Normale
Superieure. Auch dies ein Bruch, auch dies eine Unterbre-chung.
Wenn ich hier seine Stimme zu Gehör bringe, wenn ich
sie jet zt in mir höre, so zunächst deshalb, weil ich Gada
mers Bewunderung für diesen anderen Freund teile, der
Paul Celan uns war. Wie Gadamer habe auch ich oft ver
sucht, Paul Celan zu lesen, nachts, und mit ihm zu denken.
Mit ihm, ihm entgegen. Wenn es mir jetzt noch einmal
darum geht, mich dem Gedicht zu nähern, geschieht dies
im Versuch, mich an Gadamer zu wenden, an ihn selbst, in
mir, außer mir, oder dies zumindest zu simulieren, um mit
ihm zu sprechen. Mit meiner Lektüre würde ich ihm heute
gerne eine Ehre erweisen. Doch wird sie auch eine be
sorgte Deutung sein, zitternd und durchzittert, vielleicht
sogar etwas ganz anderes als eine Deutung. Zumindest
verfolgt sie einen Weg, der den seinen kreuzen könnte.
GROSSE, GLÜHENDE WÖLBUNG
mi t dem sich
hinaus- und hinweg-
wühlenden Schwarzgestirn-Schwarm:
der verkieselten Stirn eines Widders
brenn ich dies Bild ein, zwischen
die H ärner, darin,
im Gesang der Windungen, das
Mark der geronnenen
Herzmeere schwillt.
10 Gesammelte Werke, Band I I (Gedichte 2), Frankfurt am Main 2000 ,
S·97·
16
Wo
gegen
rennt er nicht an?
Die Welt ist fort, ich muß dich tragen.
Wir werden dieses Gedicht erneut lesen. Wir werden versuchen, ihm zuzuhören und auf verantwortli che Weise auf
das zu antworten, was Gadamer oft den Anspruch des
Werkes nennt, den Anspruch, den es an uns richtet, die
andauernde Aufforderung des Gedichts an uns, ihm Rede
und Antwort zu stehen, die hartnäckige, aber immer be
rechtigte Erinnerung an sein Anrecht, seine Rechte gel
tend zu machen. Aber warum dieser Vorgriff? Und war
um habe ich den letzten Vers zuerst zitiert, allein und noch
vor allen anderen, und ihn damit wahrscheinlich gewalt
sam und künstlich isoliert: Die Welt ist fort, ich mu ß dich
tragen?
Wahrscheinlich, um ihm ein Gewich t beizumessen, des
sen Bedeutung [portee] ich im folgenden zu wiegen versu
chen werde, um ihre Schwere abzuwägen, sie zu ertragen,
wenn nich t gar, um sie zu denken. Was heißt wiegen? Und
was heiß t abwägen? Denken, das bedeute t auch, im Latei
nischen wie im Französischen: abwiegen, abwägen, aus
balancieren, vergleichen, untersuchen.Hierzu, um zu den
ken und zu wiegen, muß man also tragen (vielleicht Celanstragen), in sich tragen und auf sich tragen. Nehmen wir
einmal an, wir könnten alles auf die etymologische Karte
setzen, was ich niemals tun würde, so scheint es ganz so,
als hätten wir im Französischen nicht das Glück jener
Nähe von Denken und Danken. Wir haben Schwierigkei
ten, Fragen der Ar t zu übersetzen, wie sie Heidegger in
Was heißt Denken? stellt:
»Zum Gedachten und seinen Gedanken, zum »Gedanc« gehört
der Dank. Doch vielleicht sind diese Anklänge des Wortes »Denken« an Gedächtnis und Dank nur äußerlich und künstlich ausge-
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dacht. [ .. Ist das Denken ein Danken? Was meint hier Danken?Oder beruht der Dank im Denken?«!!
Wenn wir auch nicht dieses glückliche Zusammenspiel
oder Einverständnis zwischen Denken und Danken ha
ben, wobei allerdings der Dank immer in der Gefahr stün
de, Ersatz im Tausch mit dem Denken zu sein, so haben
wir doch in unseren romanischen Sprachen jene Freund-schaft zwischen Denken und Wiegen (pensare), zwischen
dem Gedanken und der Schwere. Zwischen Denken un d
Tragen. So auch beim Wort examen. Das Gewicht eines
Gedankens ruft nach un d benennt sich immer nach einem
Examen, und Sie wissen, daß Examen im Lateinischen den
Zeiger einer Waage bezeichnet, der man die Richtigkeit
und vielleicht Gerechtigkeit eines Urteils darüber anver
traut, was man ihr zu wägen aufträgt.
Mit dem anfänglichen Zitat und derWiederholung des letz
ten Verses, Die Welt ist fort, ich mu ß dich tragen, wollte
ich auch, bis zu einem gewissen Punkt zumindest und so
weit es irgend geht, Gadamer treu bleiben und ihn sogar
nachahmen, mit einer Geste, die er in seinem Buch Wer bin
Ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans Gedichtfolge
>Atemkristall<!2 zweimal wiederholt.
Gadamer hatte angekündigt, »nach dem hermeneuti
schen Prinzip« vorzugehen und mit dem Schlußvers be
ginnen zu wollen, auf dem das ganze Gewicht des zu
II Was heißt Denken?, Tübingen 1954, S. 91.12 Frankfurt am Main 1973.
18
Wenn mir nicht die Zeit gefehlt hätte und ich mutig genug gewesen
wäre, hätte ich hier noch versucht, um des Motivs der Hände und Fin-
ger willen auch auf »Aus der Vier-Finger-Furche .. . « und »ASCHEN
GLORIE hinter I deinen erschüttert-verknoteten I Händen am Drei-
weg. [ .. Aschen- I glorie hinter I euch Dreiweg- I Händen« in Aschenglorie (Atemwende) einzugehen.
Ich habe an anderer Stelle eine Interpretation dieses Gedichts vorgelegt: »A Self-Unsealing Poet ic Text: Poetics and politics of Witnessing«
in: Michael P. Clark (Hrsg.), Revenge 0/ the Aesthetic, Berkeley/LosAngeles/London 2000, S. 18of.
interpretierenden Gedichtes liegt: wühl ich mir den I ver
steinerten Segen. »Denn darin«, so schreibt er, »liegt of
fenbar der Kern dieses Kurzgedichts.«
Wir stehen also heute hier, zwischen zwei Atemzügen
oder zwei Inspirationen, Atemwende un d Atemkristall.
Unter den von Gadamer kommentierten Gedichten befin
det sich beispielsweise folgendes:
WEGE IM SCHATTEN-GEBRÄCH
deiner Hand.
Aus der Vier-Finger-Furche
wühl ich mir den
versteinerten Segen.
Dieses Gedicht spricht möglicherweise vom Glück eines
Segens, eines versteinerten Segens, so versteinert wie das
Siegel, das mich gerade schon faszinierte, eines Segens, in
dessen Zeichen ich diesen Moment gerne festschreiben
würde. Es wird wahrscheinlich von derselben Hand ge
schrieben, mit denselben Fingern, wie so viele andere
Segnungen Celans. Zu m Beispiel Benedicta: »Ge-I segnet
seist du, von weit her, von I jenseits meiner I erloschenen
Finger. «13
Sie haben es sicher bemerkt: Das Wühlen des anderen
Gedichts aus Atemwende (mit dem sich I hinaus- und hin
weg-I wühlenden Schwarzgestirn-Schwarm) scheint ein
Echo zu sein auf jenes »Wühlen« aus dem vorliegenden
Gedicht der Sammlung Atemkristall (Wühl ich mir den I
versteinerten Segen).
Meint Wühlen nicht dasselbe unruhige Aufwühlen,
beide Male nämlich die Bewegung eines subversiven und
suchenden, neugierigen un d ungeduldigen Dranges nach
Wissen? Gadamer verweist mehr als einmal nachdrücklich
13 Gesammelte Werke, Band I (Gedichte I), Frankfurt am Main 2000,
S.249f.
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auf dieses Wort. De r Segen ist nicht gegeben, er wird gesucht, er scheint der Hand entwunden. Er übt einen fragenden Druck aus, er sucht eine Hand zu öffnen, die sichselbst und ihren Sinn verschließt. Eine Hand würde so dieBotschaft des Segens noch verborgen halten. Die Segenshand gibt damit etwas zu lesen, aber sie fordert auch auf zu
lesen, was sie der Lektüre vorenthält. Zugleich gibt sie undentzieht sie den Sinn der Botschaft. Sie hält den Segen zu-
rück. Als sei ein im voraus erworbener Segen, ein Segen,mit dem man rechnen kann, ein überprüfbarer, berechenbarer, entscheidbarer Segen kein Segen mehr. Muß ein Segen nicht immer unwahrscheinlich bleiben?
Dieses Gedicht stellt uns also vor ein erstes Deutungsproblem. Gadamer stellt folgende Hypothese auf:
»Die Nähe und die Spende des Segnenden muß vielmehr so entbehrt werden, daß Segen nur noch in Versteinerungen gegenwärtig ist. Nu n sagt das Gedicht: Dieser Segen der segnenden Hand
wird mit der wühlenden, verzweifelten Inbrunst eines Bedürftigen gesucht.«14
Er wagt also einen kühnen Schritt. Er schlägt vor, in dieserVision eine umstürzende oder umstürzlerische Lektüreszene zu sehen. Was das Gedicht uns zu lesen gibt, wäreauch die Szenerie der Lektüre, die Provokation, die zur
Lektüre dessen aufruft, was das Gedicht selbst zu lesengibt:
»Damit geschieht ein kühner Umschlag von der segnenden Hand
zu der Hand, in der für das Handlesen eine segensreiche hoffendeBotschaft verborgen ist.«15
De r Segen des Gedichts: Dieser doppelte Genitiv benenntwohl die Gabe eines Gedichts, das sowohl den anderensegnet als auch sich vom anderen, dem Adressaten oder
Leser, segnen läßt. Aber diese Wendung zum anderen hin
schließt diese selbstreferentielle Reflexion nicht aus: Es istimmer möglich zu sagen, das Gedicht spreche von sich
14 A. a. 0. , Gesammelte Werke, Band XI, S. 405.15 Ebd.
20
selbst, von der Szene des Schreibens, des Unterschreibensund von der Lektüre, die es eröffnet. Diese spiegelhafteund autotelische Reflexion bleibt nicht in sich verschlossen; sie ist gleichzeitig und unwiderruflich ein dem anderen gewährter Segen, eine gegebene Hand, zugleich geöff-
net und geschlossen.
Was ist die Hand? Diese Hand hier, die Hand dieses Gedichts? Wie soll man sich hier in einem Bild gleichzeitigdie Öffnung und das Schließen vorstellen? Vom erstenSatz an hatte Gadamer angekündigt, ich wiederhole es noch
einmal, daß er »nach dem hermeneutischen Prinzip« mitdem Schlußvers beginnen würde, auf dem der Akzent liegt:wühl ich mir den / versteinerten Segen, jenem Schlußvers,in dem sich ihm zufolge ganz offenbar »der Kern diesesKurzgedichts« findet. Nehmen wir einmal vorläufig und
fraglos hin, daß dies das einschlägige hermeneutischePrinzip ist und daß es eine solche Evidenz gibt. Unters tellen wir, daß der Schlußvers den Sinn des ganzen Gedichtsträgt. Doch im Verfolgen dieser beiden Axiome gestehtGadamer sehr schnell ein, un d zwar ausdrücklich, daß ersich in seiner Deutung mit mehr als einer Unterbrechungkonfrontie rt sieht. Sie muß auch eine Reihe von Fragen inder Schwebe lassen, in Form von Unterbrechungen beimEntziffe rn des Sinns.
Die ersten Unterbr echungen folgen zunächst Falten, die
auch Furchen der Lektüre sind. Gadamer schreibt:
»Was mit dem >Schatten-Gebräch< gemeint ist, lehrt der Zusammenhang. Wenn die Hand sich etwas krümmt und die FaltenSchatten werfen, dann werden in dem >Gebräch< der Hand, dasheißt in dem Geflecht von Brechungen und Faltungen, die Brücheals Linien sichtbar, die der Handleser deutet. Er liest aus ihnen dieSprache des Schicksals oder des Wesens heraus. Die >Vier-FingerFurche< nun ist die durchgehende Querfalte, welche die vier Finger im Unterschied zu dem Daumen in einer Einheit zusammenfaßt.«16
16 Ebd.
21
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Gadamer beschreibt zunächst, so scheint es, eine Ar t
mehrfacher, aber ganz innerlicher Unterbrechung, eine
solche, die sich im Innern der Hand gleichzeitig zur Lek
türe anbietet und sich dieser verweigert: »Im Geflecht von
Brechungen und Faltungen [werden] dieBrüche als Linien
sichtbar, die der Handleser deutet. Er liest aus ihnen die
Sprache des Schicksals oder des Wesens.« Diese Bruchlinien verorten sich bereits in einem Text, der sich aufspannt
und hergibt. De r Text ist hier eine segnende Hand, die je
doch ebensogut Gefahr läuft, sich entlang ihrer internen
Grenzen zu verweigern, zu entziehen, zu verschwinden.
Ohne diese Gefahr, ohne diese Unwahrscheinlichkeit, oh
ne diese Unmöglichkeit der Beweisführung, die unendlich
verbleiben muß und nicht durch eine Sicherheit gesättigt
oder abgeschlossen werden darf, gäbe es keine Lektüre,
keine Gabe, keinen Segen.
Später geschieht die Unterbrechung am Rande, sie
durchzieht diesmal nicht mehr das Innere des Textes. Sie
umschließt ihn. Eine externe Grenze zeichnet eine in der
Schwebe lassende Unterbrechung. Nachdem Gadamer
eine Reihe von Lesarten skizziert und riskante Fragen
aufgeworfen hat, besonders hinsichtlich des »Ich« - das
»Ich« des Dichters oder das des Lesers, der nach einem Se
gen, nach einer gesegneten Lektüre sucht -, läßt er eine
Reihe von Fragen unentschieden, unentscheidbar, auf der
Schwelle. Weit davon entfernt, die deutende Lektüre abzuschließen, eröffnen und befreien sie ihre eigentliche Erfah
rung. Diesmal wird es um das »Du« nicht weniger als um
das »Ich« gehen. Es sind alles Aussagen, die, mit einem Fra
gezeichen versehen, die Möglichkeit der Segnung und die
Zukunft der Interpreta tion an eineUnterbrechung binden,
die nachdenklich macht und die Dinge in der Schwebe hält.
Damit der feste Entschluß darin deutlich wird, das U nent
scheid bare wirkl ich unentschieden zu lassen, möchte ich
nun, wenn Sie erlauben, den gesamten Absatz zitieren. Erschließt ohne Schlußfolgerung. Hier wird dem Gedicht
22
selbst - und nicht etwa dem Dichter oder dem Leser - das
Recht zuerkannt, im Unentschiedenen zu bleiben.
»Wessen Hand ist es? Es scheint schwer, in der Segenshand, die
nicht mehr segnet, etwas anderes als die Hand des verborgenen
Gottes zu sehen, dessen Segensfülle unkenntlich wurde und uns
nur noch wie in Versteinerungen überkommen ist, ob diese nun
das er starrte Zeremoniell der Religionen oder die erstarrte Glaubenskraft der Menschen sein mägen. Aber wieder wird es so sein,
daß das Gedicht darüber nichts entscheidet, wer hier »Du« ist.
Seine alleinige Aussage ist die inständige Not dessen, der in >dei-
ner< Hand - wessen Hand es auch sei - nach Segen sucht. Was er
findet, ist >versteinerter< Segen. Ist das noch Segen? Ein letztes an
Segen? Aus deiner Hand?«'7
Ich will Ihnen nu n anvertrauen, was ich, zu Recht oder zu f.Unrecht, im Nachklang dieser letzten Fragen weiterhin
und unbedingt lebendig halten will. Mehr noch als die Un
entschiedenheit an sich bewundere ich Gadamers ausge
sprochenen Respekt gegenüber einer solchen U nentschie
denheit. Sie scheint zwar die Entzifferung der Lektüre zu
unterbrechen oder aufzuheben, sichert jedoch tatsächlich
deren Zukunft. Die Unentschiedenheit hält die Aufmerk
samkeit immerzu in Atem, d. h. am Leben, wach und
wachsam, bereit zu neuem Engagement auf ganz anderen
Wegen, bereit, jenes andere Wort mit gespitztem Oh r und
genauem Hinhören kommen zu lassen, im Atem des ande
ren Wortes und des Wortes des anderen gehalten - selbstdort, wo es noch unverständlich, unhörbar und unüber
setzbar scheinen mag. Die Unterbrechung ist unentschie
den, sie unentscheidet [indecideJ. Sie haucht der Frage ih
ren Atem ein, der nicht etwa lähmend wirkt, sondern sie in
Bewegung bringt. Die Unterbrechung setzt sogar eine un
endliche Bewegung frei. In Wahrheit und Methode kann
Gadamer nicht umhin, den »endlosen Charakter des Dia
loges« zu unterstreichen. In »Die Grenzen der Sprache«
17 Ebd., S. 405f.
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spricht er an mindestens zwei Stellen vom »unendlichenProzeß«. Dieser charakterisiert einerseits das Gespräch im
allgemeinen, so daß es »vom hermeneutischen Standpunktaus [ .. kein Gespräch gibt, das zu Ende i s t ~ bevor es zu
einem wirklichen Einverständnis geführt hat«.18 Wenn es
stimmt, daß kein Dialog in Wahrheit jemals abgeschlossen
ist, so liegt das daran, daß ein »wirkliches Einverständnis,ein ganz vollständiges Einverständnis zwischen zwei Menschen, dem Wesen der Individualität widerspricht«.19Hierin erkennt Gadamer das Zeichen der Endlichkeitselbst. Ich würde sagen, daß die unterbrechende Endlichkeit eben dies ist, was den unendlichen Prozeß hervorruft.Eine Seite später wird andererseits der »unendliche Pro
zeß« als Charakteristikum des unabschließbaren Dialogseines Übersetzers mit sich selbst genannt.
Was meines Erachtens weite rhin lebendig bleiben solltein diesen letzten Fragen Gadamers über das, was im Gedicht unentschieden gelassen wurde, ist die einzigartigeund wahrscheinlich beabsichtigte Art und Weise, in der
Gadamers Rhetor ik die Sache wendet. Es handelt sich dabei in Wahrheit um etwas anderes als eine rhetorischeWendung. Über das Rhetorische einer Trope hinausgehend, sagt Gadamer wortwörtlich, daß das Gedicht selbst
nichts entscheiden werde. Das Gedicht ist hier durchausschon das Subjekt, von dem gerade die Rede war. Wenn es
überhaupt eine Initiative behält, die scheinbar souveränist, unvorhersehbar, unübersetzbar, fast unleserlich, dannliegt das auch daran, daß eine verlassene Spur zurückbleibt, die plötzlich unabhängig wird von dem, was derUnterzeichner bewußt und eigentlich sagen wollte, eineSpur, die zwar von einem Bezugspunkt zum nächsten irrt,dies aber nach einer geheimen Regel - und die dazu bestimmt ist, in einem »unendlichen Prozeß« die Entzifferungen eines jeden künftigen Lesers zu überleben. Wenn
18 Gesammelte Werke, Band VIII, Tübingen 1993, S. 359.19 Ebd.
es so ist, daß das Gedicht wie eine jede Spur auf diese Art
un d Weise schicksalhaft verlassen und von seinem Ur
sprung un d Ende abgeschnitten ist, dann macht es diesedoppelte Unterbrechung nicht nur zu jenem unglücklichen Waisenkind, als das in Platons Phaidros die Schriftbezeichnet wird. Dieses Verlassensein, das anscheinend
dem Gedicht den Vater raubt, es von ihm emanzipiert un dtrennt, von einem Vater, der die Berechnung der Unberechenbarkeit einer unterbrochenen Abstammung aussetzt;diese unmittelbare Unlesbarkeit ist dann auch die Quelle,die es dem Gedicht erlaubt, einen Segen zu erteilen (vielleicht,. nur vielleicht), zu geben, zu denken zu geben, seineTragweite abzuschätzen, zu lesen zu geben, zu sprechen(vielleicht, nur vielleicht).
Vom Herzen seiner Einsamkeit aus vermag das Gedichtselbst - und über sich selbst - stets durch seine unmittel bare Unlesbarkeit hindurch zu sprechen. Und zwar hierauf durchsichtige, dort auf eine mit esoterischen Tropendurchsetz te Weise, die eine Einweihung und eine Technikdes Lesens erfordern. Diese Selbstreferentialität bleibtstets ein Anspruch an den anderen, und sei es an den unzu
gänglichen anderen in uns. Sie hebt den Bezug auf dasNicht-Aneigenbare keineswegs auf.
Selbst dort , wo das Gedicht von der U nlesbarkeit, seinereigenen Unlesbarkeit spricht, behauptet es gleichzeitig
die Unlesbarkeit der Welt. Ein anderes Gedicht Celansbeginnt so: UNLESBARKEIT dieser / Welt. Alles doppelt.
2G
20 UNLESBARKEIT dieser
Welt. Alles doppelt
Die starken Uhren
Geben der Spaltstunde recht,
heiser.
Du, in dein Tiefstes geklemmt,
entsteigst dir
für immer.
aus: Schneepart (1971), in: Gesammelte Werke, Band II . (Gedichte 2),
S·33 8.
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Und wenig später zögert man beim Versuch, das »Du« zu
identifizieren, das das Gedicht aufruft: irgend jemand,
mancher, das Gedicht selbst, der Dichter, der Leser, die
Abgrundtiefe dieser oder jener für immer verschlüsselten
Einzigartigkeit, jeder andere, Gott, Du und ich (Du, in
dein Tiefstes geklemmt . .. ).
UI.
Werden wir auch nur in der Lage sein, die Abfolge oder
Stellvertretung der bestimmten Artikel (männlichen, weib
lichen oder neutralen Geschlechts) richtig zu lesen, wer
den wir die Kraft haben, sie zu übersetzen, im Versuch ei
ner Antwort, in der Übernahme einer Verantwortung; be
sonders auch jene Folge der persönlichen Fürwörter(ich,
er, dich), die als Pronomen genausogut für Lebendiges wie
für Totes stehen können, für Tiere, Menschen oder Götter,
und auf kunstvolle Weise das Gedicht skandieren, das fol
gendermaßen schließt:
Die Welt ist fort, ich muß dich tragen.
Ich lese das Gedicht ein weiteres Mal, eigentlich müßte
man es endlos tun. Ich hebe dabei diesmal die persön
lichen Fürwörter hervor, als ob ich unterstellen wollte, der
Anspruch dieses Gedichts erstreckte sich auch auf Gada
mers Celan-Buch: Wer bin Ich und wer bist Du? Ich tue
dies nich t ganz unbefangen, als ob ich mir erlauben würde,
darin ein Postskriptum einfließen zu lassen. Fast wie auf
einem Wachtposten wacht über jeder Strophe, unüberseh
bar und unüberhörbar - es wird Ihnen nicht entgehen -
ein je anderes Fürwor t: sich, ich, er bei jeder der drei Stro
phen, ich und dich beim letz ten Vers. Dieser sagt etwas aus
über die Tragweite (tragen), die wir uns versuchsweisedenken wollen. Man könnte beinahe meinen, ihm sei der
ganze Sinn des Gedichts in seiner Last zu tragen aufgege
ben, das, wie man dann gleich weiter vermutet , überhaupt
nur da ist, um vorab auf ihn hinzuweisen oder ihn zu il
lustrieren. Der letzte Vers ist jedoch vom Rest des Ge
dichts gesondert und getrennt durch die abgründige
Dauer eines weißen Verstummens, vergleichbar einem aus
den Fugen geratenen Aphorismus, einer Sentenz oder einem Urteil aus ferner Zeit. Er folgt auf eine spürbare,
überlange Unterbrechung, bei der man versucht ist, sie mit
virtuellen Diskursen, Bedeutungen oder endlosen Medita
tionen aufzufüllen, wenn nicht gar zu überfüllen.
GROSSE, GLÜHENDE WÖLBUNG
mit dem sichhinaus- und hinweg-
wühlenden Schwarzgestirn-Schwarm:
der verkieselten Stirn eines Widders
brenn ic h dies Bild ein, zwischen
die Hörner, darin,
im Gesang der Windungen, das
Mark der geronnenen
Herzmeere schwillt.
Wo
gegenrennt er nicht an?
Die Welt ist fort, ich muß d ic h tragen.
Was Sie hier zu hören bekommen, sind bestenfalls Hilfe
rufe, bei aller Verwegenheit des folgenden Abenteuers.21
21 Jene begannen wahrscheinlich während eines diesem Gedicht gewid
meten Seminars vor einigen Monaten in Ne w York (New York Uni-
versity). Avital Ronell und Werner Hamacher waren dort meine Ge-sprächspartner. Ihnen sei hier gedankt.
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Ich bin mir hier über gar nichts sicher, und wenn ich mirauch sicher bin, daß überhaupt niemand hier das Rechthat, sich irgendeiner Sache sicher zu sein, werde ich diesnicht ausnutzen. Zu glauben, es gebe eine verläßliche Lesart, wäre bereits die erste Dummheit oder der schlimmsteVerrat. Das Gedicht bleibt für mich der Ort einer einzig
artigen Erfahrung. Das Berechenbare und das Unbere-chenbare verbünden sich dabei nicht nur in der Sprache eines anderen, sondern in der Fremdsprache eines anderen, 'der mir die Zukunft ebenso wie die Vergangenheit zum
Gegenzeichnen gibt (was für ein zweifelhaftes Geschenk):Das Unlesbare steht dem Lesbaren nicht mehr entgegen.Indem es unlesbar bleibt, scheidet es unendliche Lektüremöglichkeiten aus und verheimlicht sie, im selben Cor-
pus.Als ich auf das Gedicht gestoßen bin, habe ich mich in
meiner Faszination, das gestehe ich als möglichen Fehlerein, sogleich auf den letzten Vers gestürzt. Gierig habe ichmir damals eine Vielzahl von Bedeutungen zu eigen gemacht, mit Hilfe welcher Hypothesen, sage ich Ihnen später noch, als wären es Aufführungen, Inszenierungen,mögliche Welten, als wären es Anschreiben, bei denen mit
ich und du alle möglichen Menschen und alle möglichenDinge belegt werden konnten, angefangen beim Dichter,dem Gedicht oder ihrem Adressaten, in der Literaturge
schichte oder im Leben, zwischen der Welt des Gedichtsund der Welt des Lebens, sogar noch über jene Welt hinaus, die fort ist. Ich versuchte also zunächst, den letztenVers ins Französische zu übersetzen. Sein grammatischesPräsens enthält mehr als nur eine Zeit: Die Welt ist f ~ r t : Die Welt ist schon fort, die Welt hat uns verlassen, die Weltist nicht mehr, die Welt ist fern, die Welt ist verloren, dieWelt ist aus den Augen, die Welt ist außer Sichtweite, dieWelt ist fortgegangen, der Welt Adieu, die Welt ist verstor
ben etc. Aber welche Welt, was ist die Welt? Und, früheroder später: Was ist diese Welt hier? In ihrer ganzen Reich-
weite alles unvermeidliche Fragen. Natürlich werde ichnoch einmal auf jene ersten Schritte zurückkommen, aufjenes Ich muß dich tragen, das scheinbar leichter zu übersetzen, aber ebenso schwer zu deuten ist.
Ich werde jetzt nicht vor Ihnen verschiedene Verfahrentheoretischen oder methodologischen Vorgehens entfal
ten, ich habe. dies an anderer Stelle versucht, hier fehlt mirdie Zeit dazu. Ich werde also nicht, zumindest nicht di- 1rekt, von jener unüberschreitbaren und doch stets schonmißbräuchlich überschrittenen Grenze sprechen zwischeneinerseits formalen Herangehensweisen, die natürlich un-
erläßlich sind, aber selbst schon thematisch und polythemathisch erscheinen, und - wie es sich für jede Herme-
neutik gehört - der Entfaltung expliziter wie impliziterSinngehalte aufmerksam nachgehen, auf semantischeZweideutigkeiten aufmerksam machen, auf Überbestimmungen, auf die Rhetorik, auf das, was der Autor bewußtsagen will, wie auf alle idiomatischen Ressourcen desDichters und seiner Sprache etc; und andererseits einerdisseminalen Lese- und Schreibpraxis [lecture-ecriture],die zwar versucht, all dies mitzubedenken, ihm Rechnungzu tragen, seine N otwendigkeit a n z u e r k e n ~ e n , sich aberauch noch auf einen Rest oder irreduziblen Uberschuß erstreckt. Das Überschießende jenes Restes entzieht sichschlechthin jeder Zusammenstellung in einer Hermeneu-
tik. Jene Hermeneutik wird vielmehr erst durch diesenÜberschuß notwendig, sie wird durch ihn erst möglich,wie er hier unter anderem auch die Spur des dichterischenWerks möglich macht, ihre Preisgabe oder ihr Überleben,über die Frage hinaus, wer der Unterzeichner oder jeweilige Leser ist. Ohne diesen Rest gäbe es nicht einmal denAnspruch, die Weisung, den Ruf, die Provokation, die injedem Gedicht singende oder singen lassende Provokation, in jenem, was man mit Celan als Singbarer Rest be
zeichnen könnte, gemäß einem Titel oder Anfang einesanderen Gedichts der Atemwende ~
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r Zwar dürfen wir keine Mühe scheuen in unserem Ver-such, den bestimmbaren Sinn jenes Gedichtes herauszu-finden, das folgendermaßen schließt und unterzeichnet ist:Die Welt ist fort, ich muß dich tragen. Aber nehmen wir
einmal an, wir könnten tatsächlich verstehen und ausma-chen, was Celan sagen wollte, von welchem datierbaren
Ereignis in der Welt oder in seinem Leben er Zeugnis ab-legt, wem er das Gedicht widmet oder an wen es adressiertist, wer das Ich, das er un d das dich im ganzen Gedichtund, davon möglicherweise verschieden, wer es im jewei-ligen Vers ist. Und selbst dann würden wir nicht die Spurjenes Restes ausschöpfen, das Übrigbleiben selbst diesesRestes, der uns, für uns das Gedicht zugleich lesbar und
unlesbar macht. Wer ist übrigens dieses »wir«? Wo ist seinOrt, von dem Moment an, da es zwar aufgerufen ist, aberdoch schweigt oder zumindest niemals als solches vor-kommt im Gedicht, das ausschließlich und durchgängignur Ich, du, er beim Namen nennt. Sein Schibboleth setztsich uns aus und entzieh t sich uns, es erwartet uns, wir er-warten uns noch selbst eben dort, wo Niemand/ zeugt für
L den/ Zeugen.22
Am Rande eines Abgrundes, nach dem Weiß einer viel-leicht unendlich dauernden Pause, steht der letzte Seufzer,das Aushauchen des Gedichts Die Welt ist fort, ich muß
dich tragen, als ein Vers, der allem Anschein nach aus den
Fugen geraten ist. Er erscheint aber auch wiederum von
Celan eingebunden in und verbunden mit dem Werk, dasseiner Form nach für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Fü r
sich genommen hätte dieser Vers auch an anderer Stellestehen können, wobei er auch dort seine Sinnressourcennicht verloren und zu neuen Lesarten Anlaß gegeben hät-te. Zwar ist der Atem dieses Seufzers in der Atemwende
T r ä g e ~ des Gedichts (Gadamer würde vielleicht sagen,vielleicht ein wenig übereilt, das Subjekt des Gedichts);
22 Gesammelte Werke, Band II (Gedichte 2), S. 72.
3°
doch wird er, in seiner eigentlichen Tragweite und der Mu-
sik in dem, was er mit sich trägt, ebenso getragen, ertragen,ja gar eingeflüstert von dem, was ihm vorangeht, ihn erstankündigt und hervorbringt.
Um nun aber mit dem sichersten un d einfachsten anzu-fangen, möchte ich Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken,
daß die formale Gliederung in dreizehn und einen Vers er-staunlich kunstvoll erscheint. Ich hebe nur vier Haupt-
züge in der orchestralen Architektur ihrer Kompositionhervor:
I. Grammatikalisch gesehen, wird jedes ihrer Verben im
Präsens konjugiert. Alles läuft so ab, als ob die Rede nie-mals die Präsenz eines Präsens verließe, auch wenn die-ser grammatikalische Anschein jene sehr ungleichartigenZeitlichkeiten verbirgt, die er tatsächlich ins Werk setzt.Ich werde gleich noch darauf zurückkommen.
2. Zwischen diesen Präsensformen skandiert die Zei-chensetzung in vier Phasen das Gedicht auf eine deutlichsichtbare Weise und mit sichtlichen Unterschieden bei ih-rer Anordnung: a) Doppelpunkt nach der ersten Strophe(wobei die zweite dann als deren Erklärung oder Überset-zung erscheint, nach einer Art implizitem »das heißt«);b) ein Punkt nach der zweiten Strophe; er bringt eine Dar-
stellung zum Abschluß; c) ein Fragezeichen nach der drit-ten, dreizeiligen Strophe: es ist die einzige Frage im Ge-
dicht; d) ein Endpunkt, dann endlich, nach der Sentenz,dem Spruch des Anspruchs, der Sentenz, dem Urteil, der
letzten Berufung, dem Sagen oder dem Diktum, ja sogardem Verdikt des Gedichts, das dem veridictum ähnlich ist,der Wahrheit der Dichtung.
3. Wenn wir nach dem grammatikalischen Tempus derVerben und der Zeichensetzung nun den Wechsel der Per-sonen und der persönlichen Fürwörter analysieren, so stel-len wir fest, daß zwischen dem »sich« am Anfang und dem
»dich« am Ende »er« dem »ich« nachfolgt (brenn ich .. .Wo- / gegen / rennt er nicht?), in einer Windung fragend
31
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verneinender Art. Diese fragend verneinende Wendung[tournureJ prägt dem ganzen Gedicht eine Verdrehung[torsionJ ein, ich würde sogar sagen eine krampfhafteQual [tourmentJ, die vorab schon ihr schmerzliches Zeichen in der Unterschr ift des letzten Verses hinterläßt.
4. Zuletzt: Ob man die grammatikalischen Präsensfor
men gemäß der Zeit ihrer Aussage oder hinsichtlich derZeit ihres tatsächlichen Aussagens im Gedicht analysiert-
alle verweisen sie nicht nur auf verschiedene Formen derGegenwart, sondern auch jedesmal, und jede von ihnenfür sich, auf radikal verschiedenartige Zeitlichkeiten, aufinkommensurable Zeitordnungen oder chronologischeZeitfolgen, die füreinander anachronistisch bleiben und
ohne gemeinsamen Nenner. Un d folglich unübersetzbar.Unverhältnismäßig. Unübersetzbar ineinander, ohne Ana logie. Anders gewendet: Man kann allenfalls versuchen,
das eine in das andere zu übersetzen. Das macht das Gedichtwohl selbst; es schreibt, es unterschreibt und schreibtvor. Es ereignet sich, indem es sich so übersetzt - indem es
bis zur Atemlosigkeit jenen »unendlichen Prozeß« derÜbersetzung ablaufen läßt, von dem, wenn ich dies nochauf französisch sagen darf, taut Ci, l'heure die Rede war.Was ereignet sich zwischen den vier entbundenen und verbundenen Zeitlichkeiten, gemäß ihrer ent-verbundenenSchreib art [ecriture des-aj ointee ?
A. Am Anfang steht ohne Zeitwort stumm und schweigend ein Bild (Bild oder Gemälde):
GROSSE, GLÜHENDE WÖLBUNG
mi t dem sichhinaus- und hinweg-
wühlenden Schwarzgestirn-Schwarm:
B. Darauf folgt eine Handlung: das performative Präsens
einer ersten Person:
der verkieselten Stirn eines Widders
brenn ich· dies Bild ein, zwischen
die H ärner, darin,
im Gesang der Windungen, das
Mark der geronnenen
Herzmeere schwillt.
N ach dem Bild, vor dem Hintergrund des Bildes, aberauch um die Handlung, für die es gleichsam die Theaterkulisse bildet, zu beschreiben oder zu erklären, erscheintnach dem Doppelpunkt eine Handlung wie die Dauer einer Erzählsequenz.c. Nach dem Gemälde und der Handlung, nach der Ku
lisse und einer Ar t performativer Erzählung steht alles stillangesichts einer negativen Frage, markiert durch ein Fragezeichen:
Wo
gegen
rennt er nicht an?
D. Zum Schluß erscheint das Präsens der Verantwortlichkeit, es simuliert zumindest eine indirekte Antwort auf dienegative und besorgte Frage, zwischen Erschrecken und
Bewunderung vor dem so unheimlich erscheinenden: die
Sentenz zwischen der Pflicht und dem Versprechen, denanderen zu tragen, dich zu tragen, die Wahrheit des Verdikts am Rande des Endes der Welt:
Die Welt ist fort, ich mu ß d ic h tragen.
Man könnte mit der Analyse der formalen Gliederungfortfahren, und um ein Beispiel unter vielen anderen herauszugreifen, sich dem nähern, was man ein In-Schwin
gung-Bringen des Silbenspiels [syllabaireJ nennen könnte.Die Buchstaben sind gemurmelt, gehaucht, ausgehaucht,
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seufzend oder pfeifend: zwischen den sc h - zwischensc h w a und sc h w i - (5 c h warzgestirn 5 c h warm ...
zwis c h en ... sc h willt), die Ws (W ölbung, weg, w ühlen-
den, Welt), und auf noch bestimmtere Weise, die W i s(W i dders, Windungen, schw i llt).
Diese Formanalyse kann man weit treiben. Und man
muß das auch.Sie
scheint dabei aber n icht sehr gewagt. Siegehört noch in das Reich der berechenbaren Sicherheitenund entscheidbaren Evidenzen. Ganz anders jedoch liegendie Dinge bereits im Falle einer hermeneutischen Antwort
auf den Anspruch des Gedichts oder im inneren Dialog desLesers oder Gegen-Zeichners. Diese Antwort wie auchderen Verantwortlichkeit kann unendlich und ununter-
brochen weiterverfolgt werden, sie geht von einem Sinnzum anderen, von Wahrheit zu Wahrheit, ohne ein anderesberechenbares Gesetz als jenes, das der Buchstabe und
die formale Gliederung des Gedichts ih r zuweisen. Aber
obwohl sie unter demselben Gesetz steht, ihm auf ewigunterworfen ist und ihm genauso verantwortlich bleibt,macht und erleidet jene Erfahrung, die ich eine disseminale nenne, durch das Moment der Hermeneutik selbst,direkt an der Hermeneutik, die Prüfung einer Unterbre-
chung, einer Zäsur oder einer Verkürzung, einer leichtenVerletzung. Was so offensteht, gehört nicht mehr derEbene des Sinns an, auch nich t der Ebene der Phänomeneoder der Wahrheit, sondern macht jene erst möglich in ihrem Übrigbleiben, es zeichnet in das Gedicht den Hiat einer Wunde ein, deren Lippen sich niemals schließen oder
zusammenkommen. Jene Lippen formen sich um einensprechenden Mund herum, der, selbst wenn er schweigt,noch den anderen ohne Vorbedingung anruft, und dies in
der Sprache einer Gastfreundschaft, die nicht einmal mehrzur Entscheidung steht. Eben weil diese Lippen selbst anihrem Ende niemals mehr zueinander kommen, weil sich
die Verbindung der so Verbundenen nicht mehr in einemerfüllbaren Kontext absichern läßt, bleibt der Vorgang
34
r zwar immer unendlich, aber diesmal auf eine diskontinuierliche Weise. Das heißt, auf eine andere Weise endlichund unendlich. Hier, alleingelassen in der Weltferne, kannes geschehen, daß das Gedicht winkt oder segnet, den 'l.n-
deren trägt, ich will sagen »dich«, wie man gleichermaßenTrauer trägt und ein Kind austrägt, von der Empfängnis
über die Schwangerschaft bis zum Auf-die-Welt-Kommen. In der Schwangerschaft. Das Gedicht ist das »dich«und das »ich«, das sich an »dich« wendet, aber auch jederandere.
IV.
Versuchen wir nun dem hermeneutischen Anspruch ansich gerecht zu werden, soweit es überhaupt nur möglichist, dabei aber auch jener einzigartigen Andersheit [alterite], die ihn selbst über sich selbst hinausträgt, in sich jenseits seiner selbst. Gehen wir, befangen wie wir sind, dieKonstellation dieses Gedichts an, das auch das Gedichteiner gewissen Konstellation ist, der Konfiguration derSterne im Himmel, über der Erde, ja sogar jenseits derWelt. Wenn auch diese Konstellation niemals so zustandekommt, so scheint sie doch verheißen zu sein oder zumindest sich von der ersten Strophe an, die ich oben als Bildbezeichnet habe, anzukündigen. Leuchtend, strahlend,
funkelnd, weißglühend belebt sich die Wölbung des Him-
melsbogens (Große glühende Wölbung) mit animalischemLeben. De r gestirnte Schwarm schwarzer Sterne reißt denSchwung des Gedichts in eine getriebene, treibende, über stürzte Bewegung einer wahrlich planetarischen Irrfahrt.
De r griechische Name hinterläßt hier seine Spur, eine Irr-
fahrt mit planetarischer Bestimmung. J t A a v ~ ' t Y J ~ bedeutet»umherirrend«, »nomadenhaft«, was man manchmal richtigerweise von umherirrenden Tieren sagt. J t A a v Y J ' t L x . 6 ~ bedeutet unstet, aufgewühlt, stürmisch, unvorhersehbar,unregelmäßig; J t A a v o ~ sagt man von einem Irrlauf, aber
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auch von der Abschweifung in Rede und Schrift, also auch
im Gedicht. Liegt es allein am Schwarm der Sterne, daß
jene Konstellation beseelt, sogar animalisch erscheint?
N ein, denn schon bald trit t im Gedicht ein Widder in
Erscheinung: als Opfertier, Holzramme, kriegerischer
Rammbock, der im Sturm auf Burgen, Tore und Mauern
bricht (Mauerbrecher). Widder ist auch noch der Name eines Tierkreiszeichens (21. März). De r zodiakos (von zo
dion, einer Verkleinerungsform von zoon, das Lebewesen)
zeigt sow ohl Stunde als auch Datum an (je nachdem, wo
der Lichtschein auf der Ellipsenbahn erscheint). Die Kon
junktion der Sterne bei einer Geburt zeigt das Horoskop.
Wie der Name schon sagt, macht die H oroskopie sichtbar,
was die Stunde geschlagen hat im Schicksal einer mensch
lichen Existenz. So wird aus der Himmelswölbung vor
unseren Augen eine Kalenderskala, deren Bild als Hinter
grund des Gedichts figuriert. Es ist die elliptische Verkür
zung einer unabschließbaren Meditation über das, was
Heidegger die Datierbarkeit genannt hat. Alle geheimen
Zeitpunkte Qahrestage wie auch einzigartige und krypti
sche Ereignisse, die wiederkehren, wie Geburt, Tod etc.)
kann man in diesem Kalender immer suchen, finden oder
auch niemals finden, auf einem Weg, den ich in Schibbo-
leth. Für Paul Celan23
erforscht habe. Wir können gar
nicht, was wir hier müßten, nämlich das Gedicht im Echo
raum des gesamten Celanschen Werks anhören, durch dashindurch, was er als Erbe übernimmt, indem er es wieder
neu erfindet, in jedem seiner Themen, Tropen, ja sogar in
seinen Vokabeln, die manchmal für ihre Prägung und Ver
bindung auf die Einzigartigkeit eines Gedichts angewiesen
sind. Man könnte dies sogar noch auf das Silbenspiel aus
weiten. Ich beschränke mich auf eines unter so vielen an
deren möglichen Beispielen: Der Tierkreisbogen erinnert
hier an eine ganze Reihe weitere r Horoskop-Konstellatio-
23 2. Auflage (übersetzt v on Wolfgang Sebastian Baur), Wien 1996. Zur"Datierbarkeit« insbesondere bei Heidegger vgl. S. 33.
nen oder kündigt sie an. So beginnt in der Niemandsrose
das Gedicht UND MIT DEM BUCH AUS TARUSSA (nach
dem Marina Zwetajewa entlehnten Motto: »Alle Dichter
sind Juden«) mit den Versen Vom / Sternbild des Hundes.
Diesmal ist der Stern hell (vom/ Hellstern darin .. .). Viel
leicht ist es ein gelber Stern (mein gelber Fleck, mein blin
der Fleck, mein Judenfleck, heißtes
in einem anderen Gedicht Celans).24 Das Ghetto ist nich t fern. Nach einer An
spielung auf die drei Gürtelsterne Orions ruft Celan noch
die Himmelskarte auf. In HÜTTENFENSTER ist davon
die Rede, wie der Mensch als Dichter wohnen würde,
wenn alle Dicht er Juden wären:
[ .. ... geht zu Ghetto und Eden, pflückt
das Sternbild zusammen, das er,
der Mensch, zu m Wohnen braucht, hier,
unter Menschen, [ ..
Auf den Doppelpunkt folgt die längste Strophe mit sechs
Versen, in der man meinen könnte, es werde nun eine
Handlung vor dem Hintergrund oder besser hinter dem
Hintergrund jener Himmelswölbung erzählt, in der es
von animalischem Leben nur so wimmelt. Es erforderte
Stunden und Jahre, um ihre Vielstimmigkeit zu entziffern.
Man müßte, unter manch anderem, sowohl die Bibel als
auch den Celanschen Textkorpus von Anfang bis Endedurchzitieren. D ie verkieselte Stirn eines Widders erinnert
zunächst an die schwarze Konstellation (Stirn, Schwarz-
gestirn ) der Himmelswölbung, aber auch an das Motiv der
24 EINE GAUNER- UND GANOVENWEISE
GESUNGEN ZU PARIS EMPRES PONTOISE
VO N PAUL CELAN
AUS CZERNOWITZ BEI SADAGORA
aus: Die Niemandsrose, in: Gesammelte Werke I (Gedichte r), S. 229.
Macula, der Name des Flecks (das Gelbe am Grunde des Auges) behält
sehr wohl jene Konnotation eines Zeichens, das das Unbefleckte befleckt, besudelt oder anklagt, wie eine Ursünde des Sehens.
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Versteinerung, von dem wir gerade schon ein Beispiel hat
ten (versteinerter Segen) un d dessen verblüffende Wieder
kehr im Werk Celans sich verfolgen ließe.
Was ist das aber für ein Bild, das »ich« in die Stirn jenes
rätselhaften Widders präge (rätselhaft, denn es kann ja
auch eine Widder-Sphinx sein, deren Botschaft noch zu
entziffern ist; diese Bedeutung hat Widder ja auch), das icheinschreibe und zwischen die Hörner einbrenne (brenn
ich dies Bild ein)? Natürlich kann diese Inschrift immer
auch eine Gestalt oder eine Form (Bild) des Gedichts
selbst sein, das sich auto-deiktisch und performativ selbst
hervorbringt, inde m es seine Unterschrift oder sein versie
geltes Geheimnis, sein Siegel in gewisser Weise zur Spra
che bringt. Die Anspielung auf den Gesang, noch mehr auf
die Wendungen und Drehungen der Tropen oder Stro
phen (im Gesang der Windungen) kann nicht umhin, auch
etwas über das Gedicht im allgemeinen, und auf einzigar
tige Weise über das vorliegende Gedicht zu sagen. Es
stimmt schon: Es gibt keine in sich geschlossene Autote lie
in dieser Hypothese; wir sollten das nie vergessen, uns
aber jetzt nicht zu lange damit aufhalten. Eingerahmt von
jenem Leben, animalisch wie kein anderes, es war gerade
mehrfach schon davon die Rede, und dem Tod oder der
Trauer, die den letzten Vers heimsuchen (Die Welt ist fort,
ich muß dich tragen), erinnern der Widder, seine Hörner
und sein Brandmal wahrscheinlich an einen bestimmtenAugenblick in einer Opferszene des Alten Testaments
und lassen sie vor unseren Augen wieder aufleben. Sie ist
mehr als ein Brandopfer (holocauste). Ersatz des Wid
ders. Brandmal. Fesselung Isaaks (Genesis XXII). N a ~ h -dem Abraham zum zweiten Mal gesagt hatte »Hier bin
ich«, und der von Gott geschickte Engel das zum Töten
erhobene Messer Abrahams in der Luft angehalten hatte,
wendet sich dieser um und sieht, wie sich ein Widder mit
seinen Hörnern im Gestrüpp verfangen hat. Er opfert ihnals Brandopfer an Stelle seines Sohnes. Gott verspricht
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daraufhin, ihn zu segnen und seine Nachkommenschaft so
zahlreich zu machen wie die Sterne am Himmel , vielleicht
auch wie jene der ersten Strophe. Sie können auch fürch
terliche gelbe Sterne werden, sogar noch im Gedicht. Und
wiederum ist es ein Widder, neben einem jungen Stier, der
von Moses, und zwar auf Befehl Gottes nach dem Tod der
beiden Söhne Aarons, als Brandopfer geopfert wird, in einer überwältigenden Sühneszene, in der für die Unrein
heiten, Missetaten und Sünden Israels Buße getan wird
(Levitikus XVI). Ein Widder wurde oft auch zu anderen
Anlässen geopfert (Friedensangebote, Sühne, Bitte um
Vergebung etc.). Entsprechend viele in Stein gemeißelte
Darstellungen sind uns überliefert. Man sieht dort so oft
die Hörner des Widders gleichsam in sich eingerollt, viel
leicht auf der verkieselten Stirn des Tieres (der verkieselten
Stirn eines Widders). In der gesamten Kultur des Alten
Testaments werden die Hörner des Widders zu jenem In
strument, dessen Musik einen Atemhauch verlängert und
die Stimme trägt. In dem, was einem Gesang ähnelt, der
wie ein Satz interpunktiert ist, erhebt sich der Ruf des
Schofar gen Himmel und erinnert an die Brandopfer, er
hallt nach im Gedächtnis aller Juden der Welt. Dieser Ge
sang herzzerreißender Freude ist untrennbar von der
sichtbaren Form, die ihm einen Durchgang sichert: von
den seltsamen Spiralen, Kreisen un d Umkreisen, Drehun
gen oder Verdrehungen des Horn-Körpers. Im Gesangder Windungen spielt vielleicht auf diese Wendung des
Atems, ich wage nicht zu sagen Atemwende an. Am ersten
Tag des Kalenders, am jüdischen Neujahrstag, wird jener
bekannteste Ritus wiederholt, der allerdings nich t der ein
zige ist, zu dem man in allen Synagogen der Welt die Er
zählung von der Fesselung Isaaks liest (Genesis XXII).
Das Schofar kündigt auch das Ende des Yom Kippur an.
Alle Juden der Welt verbinden damit seitdem Sündenbe
kenntnis, Sühne und Vergebung, die erbeten, gewährtoder verweigert wird. Gegenüber anderen oder sich selbst.
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Zwischen zwei Schicksals daten, zwischen dem Neujahrs tag und dem Tag der Großen Vergebung, kann GottesSchrift, von einer Stunde zur anderen, die einen im Buchdes Lebens tragen, und die anderen nicht. Jeder Jude fühltsich dann an der Grenze zu allem, an der Grenze des Ganzen, zwischen Leben und Tod, wie zwischen Wiederge
burt und Ende, zwischen der Welt und dem Ende derWelt, das heißt der Trauer tragenden Vernichtung des anderen oder seiner selbst.
Was geschieht nach der Interpunktion dieser zweitenStrophe? Diese schließt also mit dem ersten Punkt diesesGedichts ab, nach dieser Handlung oder dieser Dramatur
gie eines Opfervollzugs. Er ist der ersten Person einesDichters auferlegt, der in ein und demselben Gestus seinBild einprägt und brennt (brenn ich dies Bild). Auf diesenersten Punkt folgt die Frage, das einzige Fragezeichen desGedichts: Wo- / gegen / rennt er nicht an? Wenn die Alliteration an die Brutalität des Opfers erinnert (das Mark der
geronnenen Herzmeere schwillt), kann das Anrennen und
Anstürmen des Widders ebensogut die Bewegung desTiers beschreiben als auch jene des Holzbalkens, sogar desBaumstamms. Ihr Lauf, ih r Vorstoß, ihr Ansturm bringtsie dazu, sich Kopf voraus zu überstürzen, um anzugreifen oder sich zu verteidigen, um den Schutz des Gegners
zu erschüttern. Es ist Krieg, und der Widder, der Widderaus Fleisch oder aus Holz, der Widder auf Erden oder imHimmel, stürzt sich ins Rennen. Er rennt, um den Gegner einzurennen. Es ist ein Anrennen , eine charge (In- / to
what / does he not charge? um die scharfsinnige Überset zung von Michael Hamburger zu zitieren). Diese charge -
die Zweideutigkeit zwischen den Sprachen eröffnet hiermehr als eine Möglichkeit - , ist sie nicht auch eine Anklageoder ein zu zahlender Preis (charge im Englischen), also
die Begleichung einer Schuld oder das Sühnen einerSünde? Belädt nicht der Widder seinen Gegner, sei es ein
Opfernder oder eine Mauer, mit allen Verbrechen? Denn
die Frage ist, wir merkten es bereits an, in negativer Frageform gehalten: Wogegen rennt er nicht an? Was greift ernicht an? Er kann es tun, um anzugreifen oder sich zu rächen, er kann den Krieg erklären oder auf das Opfer antworten, indem er dagegen protestiert. De r Ausbruch sei
nes aufgebrachten Unverständnisses würde nichts undniemanden auf der Welt verschonen. Niemand auf derWelt ist unschuldig, nicht einmal die Welt selbst. Manstellt sich den Zorn jenes Widders vor, des Widders Abrahams und Aarons, die unendliche Auflehnung des Widders aller Brandopfer. Aber auch, in übertragenem Sinne,die gewaltsame Rebellion aller Sündenböcke, aller Stellvertreter. Warum ich? Die Widrigkeiten, die Widersacherwären überall. Die Stirne seines Protestes ließe den Widder gegen das Opfer selbst anrennen, gegen die Menschenund gegen Gott. Er würde ihrer gemeinsamen Welt endlich ein Ende setzen wollen. De r Widder würde gegen alles und jeden anrennen, in alle Richtungen, als wäre erblind vor Schmerz. De r Rhythmus dieser Strophe, Wo- /
gegen/ rennt er nicht an?, skandiert treffend die ruckartigeBewegung dieser Stöße. Wenn man sich daran erinnert,daß Aaron zusätzlich zu dem Widder auch einige jungeStiere opferte, so denkt man an das letzte Sich-Aufbäumendes Tieres vor seiner Tötung. De r Torero ähnelt auch ei
nem Opferpriester.Soviel hier Hypothese ist, soviel bleibt natürlich unent
schieden. Dies bleibt für immer das eigentliche Elementder Lektüre, ihr »unendlicher Prozeß«: Die Zäsur, derHiat, die Ellipse sind alles Unterbrechungen , die zugleichöffnen und schließen. Sie halten den Zugang zum Gedichtfür immer auf der Schwelle zu seinen Krypten (eine unter
ihnen, nur eine, würde sich auf eine einzigartige un d geheime, ganz andere Erfahrung beziehen, deren Konstella
tion nur dem Zeugnis des Dichters oder einiger wenigerzugänglich ist). Die Unterbrechungen eröffnen so, auf dis-
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seminale und nicht zu erfüllende Weise, unvorhersehbareKonstellationen, so viele weitere Sterne, von denen manche vielleicht noch jener Nachkommenschaft ähneln mö
gen, von der Jahwe zu Abraham, nach der Unterbrechungdes Opfers, sagt, daß er sie so zahlreich wie Sterne machen
I wird: Die Preisgabe der hinterlassenen Spur ist auch die
Gabe des Gedichts an alle Leser und Gegen-Zeichner die,immer noch unter seinem Gesetz, jenem der Spur am
Werk, der Spur als Werk, mitreißen werden oder sich mitreißen lassen zu einer ganz anderen Lektüre oder GegenLektüre. Diese wird auch manchmal, von einer Sprachezur anderen, in der abgründigen Gefahr der Übersetzung,eine inkommensurable Schrift sein.
Was so für die Verse gilt, die wir soeben zitiert haben,muß das nicht auch a fortiori für den letztenVers gelten?Die Welt ist fort, ich muß dich tragen: Dies ist die Sentenz,der Celan zugebilligt hat (was für eine Entscheidung, und
von woher wurde sie ihm diktiert?), wie einer vielleichteschatologischen Unterschrift, das letzte Wort zu sprechen. In der Tat können wir sie unsererseits nur ausspre-
chen nach einer deutlich markierten Unterbrechung. De r
längsten des Gedichts. Wir müssen lange Zeit die Zeit un
seres Atems anhalten, wieder Atem schöpfen, das tiefe At
men eines ganz anderen Atems (es ist wie eine andereWende, eine Revolution, eine Umkehrung des Atems,
Atemwende), um zu seufzen oder um das Leben auszuhauchen: Die Welt ist fort, ich muß dich tragen. Vielleichtist sie dort - man wird es aber nie wissen, und niemand hat
die Macht, darüber zu entscheiden - die mögliche Ant
wort auf die Frage Wogegen rennt er nicht an?
Die Sentenz ist ganz allein. Sie hält sich, stützt sich, siebegibt sich alleine auf eine Linie. Zwischen zwei Abgrün
den. Isoliert wie eine Insel, für sich stehend wie ein Apho
rismus, sagt sie wohl etwas Wesentliches über die absolute
Einsamkeit. Wenn die Welt nicht mehr ist, wenn sie im Begriff ist, nicht mehr hier, sondern dort zu sein, wenn sie
nicht mehr nah ist, wenn sie nicht mehr da ist, sondernfort, wenn sie nicht einmal mehr da ist, sondern fort in
weiter Ferne, vielleicht unendlich unerreichbar, dann muß
ich dich tragen, dich ganz allein, dich allein in mir oder aufmir allein.
Es sei denn, man kehrte in einer Drehung um die Achse
des ich muß die Satz- oder Verbordnung (von sein undtragen) und die Abfolge des wenn-dann um: Wenn (dortwo) es Notwendigkeit oder Verpflichtung dir gegenübergibt, wenn (dort wo) ich dich, ich dich, tragen muß, dannneigt die Welt wohl zum Verschwinden, sie ist nicht mehrda oder dort, die Welt ist fort. Sobald ich verpflichtet bin,in dem Moment, da ich dir verpflichtet bin, in dem ichmuß, in dem ich dir schulde, mir gegenüber schulde, dich
zu tragen, sobald ich zu dir spreche und für dich oder vor
dir verantwortlich bin, kann eigentlich keine Welt mehrdasein. Keine Welt kann uns mehr stützen, uns als Vermittlung, Boden, Erde, Fundament oder Alibi dienen.Vielleicht gibt es nur noch die abgründige Höhe einesHimmels. Ich bin allein auf der Welt, dort wo es keineWelt mehr gibt. Oder gar: Ich bin allein auf der Welt, sobald ich dir verpflichtet bin, sobald du von mir abhängst,sobald ich, unter vier Augen, von Angesicht zu Angesicht,ohne einen Dritten, Vermittler oder Schlichter, ohne aufErden oder in der Welt einen eigenen Platz zu haben, die
Verantwortung trage und übernehmen muß. Eine Verantwortung, der ich entsprechen muß, vor dir und für dich.Ich bin allein mit dir, allein nur für dich allein, wir sind allein: Diese Erk lärung ist auch ein Engagement. Alle Protagonisten des Gedichts sind seine virtuellen Unterzeichneroder Gegen-Zeichner, ob sie genannt werden oder nicht:ich, er, du, der Widder, Abraham, Isaak, Aaron, die un
endliche Nachkommenschaft ihrer Stammfolge, Gott I_
selbst. Ein jeder von ihnen wendet sich, wenn die Welt fort
ist, an die absolute Einzigartigkei t des anderen. Alle Protagonisten hören, wie sie beim Namen gerufen werden,
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und also auch der Leser oder Adressat des Gedichts, ich
~ ~ l b s t , wir selbst hier, sobald das Gedicht uns als einziger
Uberlebender anvertraut ist und wir nu n an der Reihe
sind, es zu tragen, es um j eden Preis retten zu müssen, und
sei es auch jenseits der Welt. Auch das Gedicht spricht
zwar noch von sich selbst, jedoch ohne Autotelie un d
Selbstgefälligkeit. Im Gegenteil: Wir hören, wiees
sich derObhut des anderen anvertraut, sich unserer Obhut anver
traut und sich insgeheim in die Trag- un d Reichweite [por
tee] des anderen begibt. Das Gedicht tragen heißt sich in
seine Trag- und Reichweite begeben, es in jene des anderen
bringen, es dem anderen zu tragen geben.
v.
Ich möchte Ihre Geduld nicht strapazieren. Um mich
nicht ganz unerträglich zu machen, beeile ich mich mei
nerseits, wenigstens zum Anschein eines Schlusses zu
kommen, indem ich auf einer virtuellen Landkarte fünf
Pflichtstationen eines potentiell unendlichen Parcours
markiere - Gadamer hätte von einem »unendlichen Pro-
zeß« gesprochen. Zwei dieser Punkte würden uns für im-
mer bei dem Wort tragen aufhalten, drei weitere bei demWort Welt.
1. Zunächst tragen. Was bedeutet dieses Verb und das,was man hier zu tun hat, zum Beispiel, wenn man dieses
Gedicht unterzeichnet? Niemand wird mit voller Gewiß-
heit entscheiden können, an wen sich die Schlußsentenz
richtet, als ein Gruß oder eine Zueignungsstrophe an den
anderen. Dich kann einerseits ein Lebewesen bezeichnen:
ein menschliches oder nicht menschliches, anwesendes
oder nicht anwesendes, den Dichter eingeschlossen, an
den sich das Gedicht seinerseits in einer Anrede auch wie
der zurückwenden könnte, ganz allgemein auch den Leserun d j eden Adressaten dieser Spur. Es kann auch ein Lebe-
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wesen gemeint sein, das erst noch kommt. Das ich muß
muß sich notwendig der Zukunft zuwenden. Es orientiert
sich im Denken, wie Kant sagen würde, es orientiert sich
auf den Orient dessen hin, was kommt, was noch im Kom-
men ist, was im Himmel aufsteigt un d aufgeht. Über die
Erde hinaus. Tragen sagt man geläufig auch von der Er-
fahrung, ein noch ungeborenes Kind zu tragen. ZwischenMutter und Kind, eines im anderen un d das eine für das
andere, in diesem einzigartigen Paar von Einzelgängern, in
der geteilten Einsamkeit zwischen einem un d zwei Kör-
pern verschwindet die Welt, sie ist in der Ferne, sie bleibt
gewiss.ermaßen ein ausgeschlossenes Drittes. Fü r die Mut-
ter, die ihr Kind trägt, gilt: Die Welt ist fort.
2. Wenn jedoch andererseits Tragen die Sprache der Ge-
burt spricht, wenn es sich an ein anwesendes oder noch
kommendes Lebewesen wenden muß, kann es sich doch
auch an ein Totes wenden, an das Überlebende oder an
deren Gespenster, und dies in einer Erfahrung, die darin
besteht, den anderen in sich zu tragen, wie man Trauer
trägt - und Melancholie erträgt.
3. Von nun an tauschen diese zwei möglichen Bedeutun-
gen von tragen ihre verschiedenen Möglichkeiten mit drei
Gedanken der Welt aus, oder zumindest mit drei Denk-
welten von Welt, drei Weisen der Welt, fort zu sein, fort
eher als da, fort in der Ferne, aufgehoben, neutralisiert -
oder abwesend und vernichtet. Die Welt ist fort: Dies kannals eine wesentliche Wahrheit immerwährend gelten, es
kann sich aber auch nur ein einziges Mal ereignen, auf ein
zigartige Weise, in einer Geschichte, und dieses Vor
kommnis wäre dann wie ein Ereignis in einer Erzählung
jemandem zugeeignet und anvertraut worden. Das Prä-
sens des Gedichts (Die Welt ist fort) erlaubt es nicht, zwi
schen diesen beiden Hypothesen zu entscheiden. Genauso
kann die Welt die Totalität der Seienden oder »alle ande
ren«, »alle Welt« bezeichnen, die Welt der Menschen oderdie Welt der Lebewesen.
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Ich muß hier, zu mindest aus algebraischer Sparsamkeit,
drei große Eigennamen nennen, deren Diskurs durch die
Zueignungsstrophe des Gedichts zugleich bestätigt und
bestritten, und in einem paradoxen Sinne des Wortes ge
gen-gezeichnet würde. An erster Stelle steht der Name
Freud: zugleich wegen unserer gerade gemachten Anspie
lung an Traueroder
Melancholieund
auchum
unsereAnalyse, sei sie auch unabschließbar, der Ordnung des Be
wußtseins, der Selbstpräsenz und des Ich, also jeder Ego
logie zu entziehen. Nach Freud besteht die Trauer darin,
den anderen in sich zu tragen. Es gibt keine Welt mehr, es
ist das Weltende für den anderen bei seinem Tode, und ich
nehme dieses Ende der Welt in mich auf, ich muß den an
deren und seine Welt, die Welt in mir tragen: Introjektion,
Verinnerlichung der Erinnerung, Idealisierung. Die Me
lancholie würde das Scheitern und die Pathologie dieser
Trauer aufnehmen. Doch wenn ich den anderen in mir tra
gen muß (darin besteht Ethik), um ihm treu zu sein, um
seine einzigartige Alterität zu respektieren, dann muß sich
noch eine gewisse Melancholie gegen die übliche Trauer
auflehnen. Sie darf sich niemals mit der idealisierenden In-
trojektion abfinden. Sie muß aufbegehren gegen das, was
Freud mit einer gelassenen Sicherheit über sie sagt, als
wolle er die Norm der Normalität bestätigen. Die »Norm«
ist gar nichts anderes als das gute Gewissen eines Ge
dächtnisschwunds. Sie erlaubt uns zu vergessen, daß wir,wenn wir den anderen in uns bewahren, ihn wie uns be
wahren, wir ihn dann bereits vergessen. Das Vergessen be
ginnt hier. Also bedarf es der Melancholie. An diesem Ort
diktiert das Leiden einer gewissen Pathologie das Gesetz -
und das Gedicht, das dem anderen gewidmet ist.
4· Dieser Rückzug der Welt, diese Entfernung, in der
sich die Welt zurückzieht bis zur Möglichkeit ihrer Ver
nichtung, ist das nicht die notwendigste, die folgerichtig
ste, aber auch die verrückteste Erfahrung einer transzendentalen Phänomenologie? Erklärt uns nicht Husserl in
dem berühmten Paragraphen 49 aus den Ideen I in einer
Beweisführung, wie sie strenger nich t sein kann, daß es der
Zugang zum absoluten Ich-Bewußtsein im reinsten phä
nomenologischen Sinne erfordert, die Existenz der trans
zendenten Welt in einer radikalen Epoche aufzuheben?
Die Hypothese einer Weltvernichtung würde die Sphäre
der reinen phänomenologischen und egologischen Erfahrung in ihrem Eigenrecht und -sinn nicht bedrohen. Im
Gegenteil würde sie vielmehr erst einen Zugang zu ihr er
öffnen, sie würde ihn erst in seiner phänomenologischen
Reinheit zu denken geben. Die Zueignungsstrophe unse
res Gedichts wiederholt unbeugsam diese phänomenolo
gische Radikalisierung. Sie treibt jene Erfahrung einer
möglichen Weltvernichtung und das, was von ihr noch
übrigbleibt oder sie noch überlebt, das heißt ihre Bedeu
tung für »mich«, für ein reines Ego, an ihre Grenze. Doch
am eschatologischen Rand dieser äußersten Grenze trifft
er auf das, was auch für die Husserlsche Phänomenologie
schon die beunruhigendste Prüfung war, für das nämlich,
was Husserl sein »Prinzip der Prinzipien« nennt. In dieser
absoluten Einsamkeit des reinen Ego, wenn sich die Welt
zurückgezogen hat, wenn die Welt [. . .] fort ist, ist das al
ter ego, das sich im Ego konstituiert, in einer ursprüng
lichen und rein phänomenologischen Anschauung nicht
mehr zugänglich. Husserl muß dies in seinen Cartesiani
schen Meditationen eingestehen. Das alter ego ist nur peranalogiam, durch eine Appräsentation konstituiert, indi
rekt, in mir, der ich es dann dorthin trage, wo es keine
transzendente Welt mehr gibt. Ich muß es also tragen, dich
tragen, dorthin wo die Welt sich entzieht, dort liegt meine
Verantwortung. Aber ich kann den anderen nicht mehr
tragen, auch dich nicht, wenn tragen bedeutet, den ande
ren in sich selbst, in die Anschau ung seines eigenen egolo
gischen Bewußtseins einzuschließen. Es geht darum, zu
tragen, ohne sich anzueignen. Tragen heißt nicht mehr»mit sich bringen« [comporterJ, einschließen, in sich be-
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greifen, sondern sich zur unendlichen Unaneigenbarkeitdes anderen hinzubegeben, in Richtung auf seine absoluteTranszendenz in meinem Inneren selbst, das heiß t in miraußer mir. Und ich bin nur, kann nur, darfnur sein, ausgehend von dieser seltsamen, aus den Fugen geratenen Tragweite des unendlich anderen in mir. Ich muß den anderen
tragen und dich tragen, der andere muß mich tragen (denndich kann mich oder den unterzeichnenden Dichter bezeichnen, an den sich die Rede ihrerseits wiederum zu
rückwendet), ebendort, wo die Welt nicht mehr zwischenuns oder unter unseren Füßen ist, um uns Vermittlungswege zu sichern oder Grundlagen zu festigen. Ich bin allein mit dem anderen, allein ganz sein und für ihn, alleinfür dich und ganz dein: ohne Welt. Diese Unmittelbarkeitdes Abgrunds verpflichtet mich gegenüber dem anderen,überall dort, wo das »ich muß« - ich mu ß dich tragen -ewig den Sieg über das »ich bin«, das sum und das cogitodavonträgt. Bevor ich bin, trage ich, bevor ich ich bin,trage ich den anderen. Ich trage dich und muß es, ich bin es
dir schuldig. Ich bleibe in der Schuld [devant], verschuldet[en dette] und in deiner Schuld [devant a oi] vor dir [devant toi], ich muß mich in deiner Tragweite halten, dochich muß auch deine Tragweite sein. Immer einzigartig und
unersetzbar, bleiben diese Gesetze oder diese Weisungenunübersetzbar: vom einen zum anderen, von den einen zu
den anderen und von einer Sprache in die andere, und
doch sind sie deshalb nicht weniger universell. Ich muß
das Unübersetzbare in einer weiteren Wendung übersetzen, überführen, übertragen, selbst dort, wo es, einmalübersetzt, unübersetzbar bleibt. Das ist das gewaltsameOpfer eines Über-Übergangs : Übertragen:: übersetzen.
5. Dieses Gedicht sagt die Welt, den Ursprung und dieGeschichte der Welt, die Archäologie und Eschatologiedes Welt-Konzeptes, sogar die Empfängnis [conception]
der Welt. Es sagt, wie die Welt gezeugt [ c o n ~ u ] wurde, wiesie geboren wird, und sogleich nich t mehr ist, wie sie sich
entfernt, und uns verläßt, wie sich ih r Ende ankündigt. De r
andere Eigenname,·den ich hier nennen muß, ist der Name
eines Menschen, mit dem Gadamers innerer Dialog, wieich glaube, immer und ununterbrochen verbunden war,gleich jenem Celans, vor und nach der Zäsur von Todtnauberg: Heidegger, der Denker des I n-der-Welt-seins,
hat nicht nur, und mehr als einmal, eine unumgänglicheMeditation über die - christliche oder nicht-christliche -Genealogie des Kosmos- und Welt-Konzeptes oder ihrerregulativen Idee im Kantischen Sinne vorgebracht. Er hat
nicht nur vom Welten der Welt oder von ihrer Planetarisierung gesprochen. Er hat auch die Ent-fernung zu bedenken gegeben, die das Nahe entfernt und ent-entfernt.Dies mit Blick auf das Vokabular, das sich um tragen herum zusammenfindet (Übertragung, Auftrag und Austrag), das in Identität und Differenz,25 un d nicht weit wegvon einer Anspielung auf jene Ent-fernung, die noch im
Herholen etwas entfernt un d ent-entfe rnt, jenes Zwischenbenennt: Worin Überkommnis und Ankunft zueinandergehalten, auseinander-zueinander getragen sind. Die Dif-
ferenz von Sein und Seiendem ist als der Unter-schied von
Überkommnis un d Ankunft der entbergend-bergendeAustrag beider. [ . .] Unterwegs zu dieser denken wir denAustrag von Überkommnis und Ankunft.
Vor allem hat Heidegger versucht, zwischen dem zu
unterscheiden, was weltlos, was weltarm und was weltbildend ist. Ich kann hier nur noch auf diese Reihe von Begriffen eingehen. Es handelt sich um eine Zusammenstellung von drei»Thesen«, die Heidegger übrigens kurz nachSein und Zeit in einem Seminar von 1929-3026 über dieWelt, die Endlichkeit und die Einsamkeit vorstellt, und
zwar folgendermaßen: der Stein ist weltlos, das Tier istweltarm, der Mensch ist weltbildend.
25 pfullingen 1957, S. 62f.26 Die Grundbegrif fe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit - Einsamkeit,
(Gesamtausgabe Band 29/30), Frankfurt am Main 1983, S. 273ff.
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Aus Gründen, die ich hier nicht ausführen kann, scheint
mir allerdings nichts problematischer als diese Thesen.
Doch was geschähe, wenn in unserem Gedicht das Fort
sein der Welt im Moment seines Ereignisses keiner dieser
Thesen oder Kategorien entspräche? Wenn es von einem
ganz anderen Ort aus über sie hinausginge? Wenn es alles
andere wäreals
weltlos, weltarm oder weltbildend? Müßteman dann nicht den Gedanken der Welt selbst von diesem
Fortsein aus denken, und dieses wiederum ausgehend von
dem, was es heißt, I eh muß dieh tragen?
Das ist eine der Fragen, die ich hilferufend Gadamer
gerne im Laufe eines unabschließbaren Gesprächs gestellt
hätte. Um uns im Denken zu orientieren, um uns in dieser
gefährlichen Aufgabe zu helfen, hätte ich zunächst daran
erinnert, wie sehr wir den anderen brauchen und wie sehr
wir ihn noch brauchen werden, wie sehr wir ihn tragen
müssen und von ihm getragen werden müssen, dort wo er
in uns spricht, noch bevor wir sprechen.
Vielleicht hätte ich, aus all diesen Gründen, mit einem
Hölderlin-Zitat beginnen sollen: Denn keiner trägt das
Leben allein (Die Titanen).
Aus dem Französischen von Martin Gessmann,
Christine Ott undFe/ix Wies/er
J cques Derrida
Guter Wille zur Macht (I)
Drei Fragen an Hans-Georg Gadamer
Gestern abend, beim Vortragund der
anschließenden Diskussion,l habe ich mich gefragt, ob es hier etwas anderes
geben würde als Auseinandersetzungen, deren Zustande
kommen unwahrscheinlich sein dürfte, Gegenfragen und
uneinlösbaren Sachbezug (um einige Formulierungen wie
der aufzunehmen, die wir gehört haben). Ich frage mich
das immer noch.
Versammelt s ind wir hier um Professor Gadamer. An
ihn möchte ich mich daher zunächst wenden un d ihm die
Ehre erweisen, ihm einige Fragen zu stellen.
Die erste Frage geht auf das, was er uns gestern abend
über den guten Willen gesagt hat, den Appell an den guten
Willen un d die absolute Verbindlichkeit im Bestreben
nach Verständigung. Wie könnte man nicht versucht sein,
die machtvolle Evidenz dieses Axioms zu unterschreiben?
Ist es doch nicht bloß eine ethische Forderung, sondern es
steht am Anfang aller für eine Sprechergemeinschaft gel
tenden Ethik, ja, es regelt sogar noch das Auftreten von
Streit und Mißverständnis. Das Axiom bringt den guten
Willen mit der »Würde« im Sinne Kants in Zusammen-
I Die Einlassung von Jacques Derrida, die wir hier nach ihrer Bandauf
nahme transkribieren, nimmt selbstredend auf den Vortrag Bezug, den
Professor Gadamer am 25. April 198 in Paris gehalten hat. Für die vor
liegende Veröffentlichung wurde derselbe umgearbeitet und stark er
weitert. Dabei wurden selbstverständlich Akzente verlagert. So war
z. B. die Problematik des guten Willens, die von Jacques Derrida fast
ausschließlich zum Thema des ersten Teils seiner Einlassung gemacht
wurde, in der Vortragsfassung etwas ausführlicher ausgefallen, als es
hier in der Druckfassung der Fall ist. De ssen Funktion als mitkonstitu
ierende Voraussetzung des Verstehens bei Gadamer ist aber auch hier,
wie der Leser selbst festgestellt haben wird, völlig erhalten geblieben.(Anm. d. Hg.)
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hang - und auf solche Weise mit dem, was in einem mora
lischen Wesen über jedem Marktwert, jedem auszuhan
delnden Preis und jedem hypothetischen Imperativ steht.
Es wäre demnach etwas Unbedingtes und stünde wohl
auch jenseits jeglicher Bewertung überhaupt, jenseits aller
Werte, wenn anders Werte eine Skala und Vergleichung
voraussetzen.
Meine erste Frage wäre also folgende: Setzt dieses unbe
dingte Axiom nicht gleichwohl voraus, daß der Wille die
Form dieser Unbedingtheit, ih r absoluter Rückhalt und in
letzter Instanz ihre Bestimmung bleibt? Un d was ist Wille,
wenn es, wie Kant sagt, nichts unbedingt Gutes außer dem
guten Willen gibt? Würde diese Bestimmung - als letzte
Instanz - nicht dem Seienden angehören, was Heidegger
mit vollem Recht die Bestimmung des Seins des Seienden
als Wille oder wollende Subjektivität nennt? Gehört nicht
eine solche Redeweise - bis in ihre Notwendigkeit hinein
- einer vergangenen Epoche an, nämlich jener der Meta
physik des Willens?
Zweite Frage, immer noch in bezug auf den Vortrag von
gestern abend: Was macht man mit dem guten Willen als
Voraussetzung von Verständigung, die auch noch im Streit
gilt, wenn eine psychoanalytische in eine allgemeine Her
meneutik integriert werden soll? Genau das aber hat Pro
fessor Gadamer gestern abend vorgeschlagen. Was bedeu
tet der gute Wille in einer Psychoanalyse? Oder auch nurin einem Diskurs, der mit dergleichen wie Psychoanalyse
rechnet? Wird da, wie Professor Gadamer offensichtlich
der Ansicht ist, eine einfache Ausweitung des interpreta
torischen Zusammenhangs genügen? Wird nicht vielmehr
im Gegenteil, wie ich eher sagen würde, ein Bruch not
wendig sein oder eine allgemeine N eustrukturierung des
Kontextes bis zum Kontextbegriff selber? Dabei beziehe
ich mich auf überhaupt keine spezifische psychoanalyti
sche Doktrin, sondern nur auf eine Frage, die durch dieMöglichkeit der Psychoanalyse ge(kenn)zeichnet ist, auf
eine psychoanalytisch interessierte Interpretation. Eine
solche Interpretation stünde doch vielleicht der Interpre
tation im Stile Nietzsches näher als jener anderen her
meneutischen Tradition von Schleiermacher bis zu Gada
mer - mit all den inneren Differenzierungen, die man in
ihr feststellen mag (wie das ja gestern abend der Fall war).
Hinsichtlich dieses Kontextes hat uns Professor Gada
mer mehrmals gesagt, er sei der Lebenszusammenhang (so
lautete sein Ausdruck) im lebendigen Dialog, in der leben
digen Erfahrung des lebendigen Miteinanderredens. Dies
war gestern abend einer der entscheidenden Punkte und
der in. meiner Sicht besonders problematische in allem,
was wir über kontextbezogene Kohärenz hörten - syste
matische oder auch nichtsystematische Kohärenz -, muß
doch nicht jede Kohärenz die Form des Systems haben.
Fü r mich ganz besonders problematisch in allem, was uns
über die Definition des literarischen, poetischen oder iro
nischen Textes gesagt wurde.
Ich erinnere auch an die letzte Frage, die einDiskussions
teilnehmer aufwarf. Es ging da um die Geschlossenheit
eines Corpus. Was ist in dieser Hinsicht Zusammenhang
und was ist eigentlich streng genommen die Erweiterung
eines Zusammenhangs? Kontinuierlich fortschreitende
Ausweitung? Oder nicht eher diskontinuierliche Um
strukturierung?
Dritte Frage: Auch diese geht auf die Axiomatik des guten Willens. Mögen nun psychoanalytische Hintergedan
ken mit im Spiele sein oder nicht, so ist doch die Frage be
rechtigt, was es mit dieser axiomatischen Bedingung des
Interpretationsdiskurses auf sich hat, mit dem, was Profes
sor Gadamer »verstehen«, »verstehen des anderen«, »sich
miteinander verstehen« nennt. Ob man nun von der Ver
ständigung oder vom Mißverständnis (Schleiermacher)
ausgeht, immer muß man sich doch fragen, ob die Bedin
gung des Verstehens, weit entfernt davon, ein sich kontinuierlich entfaltender Bezug zu sein (wie es gestern abend
53
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hieß), nicht doch eher der Bruch des Bezuges ist, der
Bruch als Bezug gewissermaßen, eine Aufhebung allerVermittlung?
Schließlich hat sich Professor Gadamer mit Nachdruck
auf jene »Erfahrung« berufen, »die wir alle kennen«, auf
eine Beschreibung von Erfahrung, die nicht selber eine
Metaphysik sein soll. Oft hat sich nun Metaphysik (und
womöglich sogar in allen Fällen) als Beschreibung der Er
fahrung, nämlich als eine Selbstdarstellung, vorgestellt.
Ich bin nun meinerseits auch nicht sicher, ob wir eben
diese Erfahrung überhaupt machen, die Professor Gada
mer meint, nämlich, daß im Dialog »Einvernehmen« oder
erfolgs bestätigende Zustimmung zustande kommt.
Kommt im Netz dieser Fragen und Bemerkungen, die
ich hier ihrer elliptischen und improvisierten Form über
lasse, nicht doch ein anderes Denken von »Text« in den
Blick?
Aus dem Französischen von Friedrich A. Kittler
Hans-Georg Gadamer
Wer bin Ich, und wer bist Du?
Kommentar zu Celans Gedicht/alge >Atemkristall<
Schöpft des Dichters reine Hand ,Wasser wird sich ballen
Goethe
In seinen späteren Gedichtbänden nähert sich Paul Celan
mehr und mehr der atemlosen Stille des Verstummens im
kryptisch gewordenen Wort. Im folgenden soll eine Ge
dichtfolge aus dem Gedichtband Atemwende betrachtet
werden, die zuerst 1965 unter dem Titel Atemkristall in
einer bibliophilen Ausgabe gedruckt wurde. Jedes der Ge
dichte hat seinen Ort in einer Folge, und es wächst dem
einzelnen Gedicht von da aus gewiß etwas an Bestimmt
heit zu - aber die ganze Folge dieser Gedichte ist herme
tisch verschlüsselt. Wovon ist die Rede? Wer redet?
Gleichwohl ist jedes Gedicht dieser Folge ein Gebilde
von eindeutiger Bestimmtheit, zwar nicht durchsichtig
und von unmittelbar sprechender Klarheit, aber doch nicht
so, daß etwa alles verhüllt bliebe oder Beliebiges zu be
deuten vermöchte. Das ist die Erfahrung des Lesens, die
sich dem geduldigen Leser ergibt. Gewiß darf es kein eili
ger Leser sein, der hermetische Lyrik verstehen und entschlüsseln will. Aber es muß keineswegs ein gelehrter ode r
besonders belehrter Leser sein - es muß ein Leser sein, der
immer wieder zu hören versucht.
Die besonderen Belehrungen, die ein Dichter über seine
verschlüsselten Schöpfungen zu geben vermag - auch Paul
Celan sagte man nach, daß solches Verlangen gelegentlich
an ihn gerichtet wurde und daß er es freundlich zu befrie
digen suchte -, haben stets etwas Mißliches. Bedarf es der
Auskunft über das, was ein Dichter sich bei seinem Gedicht gedacht hat? Es kommt doch wohl allein darauf an,
55
.,
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was ein Gedicht wirklich sagt - und nicht, was sein Verfasser meinte und vielleicht nicht zu sagen verstand. Gewiß kann der Wink des Verfassers, der auf den unverwandelten Zustand des >Stoffes< weist, auch bei einem in sichvollendeten Gedicht von Nutzen sein und vor Fehlversuchen des Verstehens bewahren. Aber es bleibt eine gefähr
liche Hilfe. Wenn derDichter
seine privatenund
okkasionellen Motive mitteilt, verschiebt er im Grunde das, wassich als dichterisches Gebilde ausbalanciert hat, nach derSeite des Privaten und Kontingenten - das jedenfalls nichtdasteht. Sicherlich ist man gegenüber hermetisch verschlüsselten Gedichten mit der Aufgabe der Deutung oftin großer Verlegenheit. Aber auch wenn man in die Irregeht, in wiederholendem Verweilen bei einem Gedichtwird man seines eigenen Vers agens doch immer wiederinne, und wenn das Verständnis im Ungewissen oder im
U ngefähren bleibt, ist es doch immer noch das Gedicht,das im Ungefähren und im Ungewissen zu einem spricht,und nicht ein Einzelner in der Privatheit seiner Erlebnisseoder Empfindungen. Ein Gedicht, das sich verweigert und
weitergehende Klarheit nicht gewährt, scheint mir immernoch bedeutungsvoller als eine Klarheit, die einem durch
die bloße Versicherung zuwachsen kann, die ein Dichterüber das, was er meinte, abgibt.
So ist es offenkundig sehr im Ungewissen, wer in diesen
Gedichten Celans Ich und Du sind, und doch soll mannicht den Dichter fragen. Ist es Liebeslyrik? Ist es religiöseLyrik? Ist es das Zwiegespräch der Seele mit sich selbst?De r Dichter weiß das nicht. Eher schon mag man s.ich
durch die Methoden der vergleichenden Literaturforschung, insbesondere durch die Heranziehung von gattungsmäßig Verwandtem, Aufklärung versprechen - aberman wird sie doch nur unter Bedingungen finden: nur
dann, wenn kein sachfremdes Gattungsschema benutzt
wird und wenn wirklich Vergleichbares verglichen wird.Um dessen sicher zu sein, bedarf es aber gewiß nicht nur
der Beherrschung der Methoden der Literaturforschung.Das gegebene Gebilde muß in der Polyvalenz seinerStruktur darüber entscheiden, welche von den Subsumtionsmöglichkeiten, die sich im Vergleichen bieten, angemessen ist und ob sie eine - in sich begrenzte - Aufschlußkraft gewährt. So erwarte ich für die Gedichte Paul Celans
im Grunde nicht viel von einer gattungstheoretischenZurüstung für die hier gestellte Frage, wer hier Ich istund wer Du. Alles Verstehen setzt die Antwort auf dieseFrage - oder besser: eine dieser Fragestellung überlegenevorgängige Einsicht - schon voraus.
Wer. ein lyrisches Gedicht liest, versteht in gewissemSinne schon immer, wer hier Ich ist. Nicht in dem trivialenSinne allein, daß er weiß, daß immer nur der Dichterspricht und keine von ihm eingeführte sprechende Person.Er weiß vielmehr darüber hinaus, was das Dichter-Ich eigentlich ist. Denn das »ich«, das in einem lyrischen Gedicht gesagt wird, läßt sich nicht mit Ausschließlichkeitauf das Ich des Dichters beziehen, das ein anderes wäre als
das des ichsagenden Lesers. Selbst wenn der Dichter sich»in Gestalten wiegt« und sich ausdrücklich von der Mengescheidet, die »gleich verhöhnet«, ist es, als ob er gar nichtmehr sich selbst meinte, sondern den Leser in seine IchGestalt selbst hineinzöge und von der Menge ebenso schiede, wie er sich selbst geschieden weiß. Un d gar hier bei
Celan, wo ganz unvermittelt, schattenhaft-unbestimmtund in beständig wechselnder Weise »ich«, »du«, »wir«gesagt wird. Dies Ich ist nicht nur der Dichter, sondernviel eher »jener Einzelne«, wie ihn Kierkegaard genannthat, der ein jeder von uns ist.
Enthält diese Überlegung nun eine Antwort auf dieFrage, wer hier Du ist, der in fast allen Gedichten diesesZyklus ebenso unvermittelt und unbestimmt angeredetwird, wie der Redende Ich ist? Du ist der Angeredete
schlechthin. Das ist die allgemeine semantische Funktionvon »ich« und «du«, und man wird sich fragen müssen,
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wie die Sinnbewegung der dichterischen Rede diese Funk-
tion ausfüllt. Ist die Frage sinnvoll, wer dieses Du ist?Etwa in dem Sinne: Ist es ein mir naher Mensch? MeinNächster? Oder gar der Allernächste und Allerfernste:Gott? Das ist nicht auszumachen. Es ist deshalb nicht auszumachen, wer jenes Du ist, weil es nicht ausgemacht ist.
Die Anrede zielt, aber sie hat keinen Gegenstand -es
seidenn den, der sich der Anrede stellt, indem er antwortet.Auch bei dem christlichen Liebesgebot ist es ja nicht ausgemacht, wieweit der Nächste Gott ist oder Gott derNächste. Das Du ist so sehr und so wenig ein bestimmtesanderes Ich, wie das Ich ein bestimmtes Ich ist.
Damit ist nicht etwa gemeint, daß in der Gedichtfolge,die hier »ich« und »du« sagt, der Unterschied zwischendem Ich, das spricht, und dem Du , das angeredet wird,sich verwischte, und auch nicht, daß das Ich nicht eine gewisse Bestimmtheit im Fortgang der Gedichtfolge erhielte. So ist zum Beispiel von vierzig Lebensbäumen dieRede und damit auf das Alte r des Ich angespielt. Aber entscheidend bleibt, daß auch dann noch in die Stelle desDichter- Ichs jedes Leser-Ich willig eintrit t und sich mitgemeint weiß und daß sich von da aus jeweils das Du mit Bestimmtheit ausfüllt. In der ganzen Folge scheint nur eineAusnahme zu bestehen, und das ist in jenen vier Versen,die der Dichter in Klammern gesetzt hat und die auch me
trisch durch ihre fast epische Diktion herausfallen. Sie
scheinen deswegen wie beiläufig gegeben, weil sie sichnicht, wie die anderen alle, allbereit verallgemeinern. - So
bleibt alles offen, wenn wir jetzt erprobend an die Gedichte der Celanschen Folge herantreten . Wir wissen nichtvorher und nicht aus einem distanzierten Überblick oder
Voraus blick, was »ich« oder »du« hier meint und ob es dasIch des Dichters ist, der sich selbst meint, oder das einesjeden von uns. Wir haben es zu lernen.
Du darfst mich getrostmit Schnee bewirten:sooft ich Schulter an Schultermit dem Maulbeerbaum schritt durch den Sommer,schrie sein jüngstesBlatt.
Das ist wie ein Proömium der ganzen Folge. Es ist einschwieriger Text, der seltsam unvermittelt beginnt. DasGedicht ist von einem scharfen Kontrast beherrscht.Schnee, das Gleichmachende, Kältende, aber auch Stillende, wird hier nicht nur hingenommen, sondern begrüßt.Denn der Sommer, der hint er dem Sprechenden liegt, war
offenbar in der Überfülle seines Treibens, Knospens und
Sich-Entfaltens kaum zu ertragen. Gewiß ist es kein wirklicher Sommer, der hinter dem Sprechenden liegt, so we
nig das angeredete Du etwa den Winter meint oder wirklichen Schnee anbietet. Offenbar war es eine Zeit derÜberfülle, der gegenüber die karge Armut des Winters wieeine Wohltat wirkt. De r Sprechende schritt Schulter anSchulter mit dem unermüdlich treibenden Maulbeerbaumdurch den Sommer. De r Maulbeerbaum ist ohne Zweifelhier der Inbegriff treibender Energie und immer neuenüppigen Herausbildens neuer Triebe, ein Symbol unstillbaren Lebensdurstes. Denn anders als anderes Gesträuch
treibt er nicht nur im Frühjahr frische Blätter, sondern denganzen Sommer hindurch. Es scheint mir nicht richtig, andie ältere metaphorische Tradition der Barockpoesie zu
denken. Zugegeben, daß Paul Celan auch ein Poeta doctuswar - noch mehr war er ein Mann von ganz erstaunlicherNaturkenntnis. Heidegger hat mir erzählt, daß Celan im
Schwarzwald hoch oben über Pflanzen und Tiere besserBescheid wußte als er selber.
Auch hier muß man in erster Näherung so konkret wie
möglich verstehen. Dabei giltes
freilich, die Sprachbewußtheit des Dichters richtig einzuschätzen, der Worte
59
r
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nicht nur in ihrem klaren Gegenstandsbezug nimmt, son
dern beständig mit dem spielt, was in den Worten an Be
deutungen und Nebenbedeutungen anklingt. So fragt es
sich hier, ob der Dichter etwa mit dem Wortbestand
»Maul« auf die Maulhelden des Wortes anspielt, deren Ge
schrei er nicht mehr erträgt. Selbst wenn das so ist, bleibt
aber die Forderung präziser Kohärenz als erste bestehenund muß zunächst erfüllt werden. Der Pflanzenname
»Maulbeerbaum« ist ganz geläufig, und wenn man dem
dichterischen Zusammenhang folgt, in dem der Name auf
tritt, so ist es dort ganz eindeutig, daß das Gedicht nicht
auf die Maulbeere oder das Maul verweist, sondern auf das
frischgelbe Grün, das an Maulbeerbäumen unermüdlich
den ganzen Sommer über sprießt. Von da muß auch jede
weitere Transposition ihre Sinnrichtung empfangen. Undwir werden sehen, daß diese weitere Transposition des
Gesagten am Ende in die Sphäre des Schweigens oder des
sparsamsten Redens weist. Aber offenkundig wird hier
durch die Parallele mit dem Maulbeerbaum überhaupt
nicht auf die Maulbeere, sondern auf die sprießende Üp-
pigkeit des Laubwerks gewiesen. So wird der Doppelsinn
von »Maul« nicht durch den Kontext getragen, sondern es
ist der Schrei des Blattes, auf den sich die Sinnbewegung
gründet. Das steht scharf akzentuiert als das letzte Wort
des Gedichtes im Text. Es ist also das Blatt und nicht die
Beere, was die Transposition in das eigentlich Gesagteträgt. In einer Ebene der Übertöne mag man dann von
dem Schrei auf den Wortbes tandteil »Maul« zurückgewie
sen werden und diesen mit Rede zusammenbringen: Es
gibt ja den Maulhelden. Und das könnte in unserem Zu:..
sammenhang alles eitle und leere Reden und Dichten an
klingen lassen. Das ändert aber nichts daran, daß das Wort
»Maul« als selbständige Sinneinheit überhaupt nicht auf
tritt, sondern nur als einleitende Bedeutung von »Maul
beerbaum«. Die Beere des Maules statt der Blume desMundes, das scheint mir nicht der Weg, von der ersten
60
i
Ebene des Sagens in die Transposit ionsbewegung des Be
sagens überzuleiten, in die ein solches vielschichtiges Ge
dicht versetzt.
Um so mehr ist nun zu fragen, was das ist, was das Ge
dicht >besagt<, das heißt, worauf der Sinnvollzug des Wort
lauts hinauswill. Achten wir auf einzelnes. »Schulter an
Schulter«: Mit dem Maulbeerbaum Schulter an Schulter
schreiten heißt offenbar nicht hinter ihm zurückbleiben
und so wenig, wie er es mit seinem Wachsen tut, je einhal
ten - und das wäre hier: e inkehren bei sich selbst. Ferner
muß man jedenfalls beachten, daß es »sooft« heißt. In die
ser Betonung wiederhol ten Weges liegt, daß sich die Hoff-
nung des immer aufs neue aufbrechenden Wanderers nie
erfüllt, auch nur ein einziges Mal still und stumm vom
Maulbeerbaum des Lebens begleitet zu werden. Immer
war neues Treiben, das wie der durstige Schrei des Säug
lings forder t und nicht zur Ruhe kommen läßt.Fragen wir weiter, we r mit dem ersten »Du« angeredet
ist. Wohl nichts Bestimmteres als das andere oder der an
dere, das nach diesem Sommer des ruhelosen Schreitens
einen empfangen soll. Da immer wieder ein neuer Schrei
des Lebensdurstes das Ich begleitete, ist ihm im Kontrast
der Schnee willkommen, dies Einförmige, in dem keiner
lei Verlockung und Reiz mehr ist. Gerade das aber soll
eine Bewirtung sein, das heißt das Willkommengeheißene.
Wer will das festlegen, was da zwischen Verlangen undVerzicht zwischen Sommer und Winter, Leben und Tod,
Schrei und Stille, Wort und Schweigen spielt? Was in die
sen Versen steht, ist Bereitschaft, dies andere anzunehmen,
was immer es sei. So scheint es mir durchaus möglich, sol
che Bereitschaft am Ende geradezu als Todesbereitschaft
zu lesen, das heißt als die Annahme des letzten, äußersten
Gegensatzes zu allzuviel Leben. Es ist ja unzweifelhaft,
daß das Todesthema bei Celan stets, auch in diesem Zy-
klus, gegenwärtig ist. Gleichwohl gilt es, sich der besonderen Kontextbestimmtheit zu erinnern, die diesem Gedicht
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als Proömium eines Zyklus zukommt, der >Atemkristall<
heißt. Das weist einen auf die Sphäre des Atmens und da
mit auf das von ihm geformte Sprach geschehen.
So fragen wir erneut: Was heißt hier »Schnee«? Ist es die
Erfahrung des Dichtens, auf die hier angespielt wird? Ist
es vielleicht gar das Wort des Gedichtes selbst, das sich
hier aussagt, sofernes
in seiner Diskretion die winterlicheStille gewährt, die wie eine Gabe dargeboten wird? Oder
meint es uns alle und ist dann jenes Stummsein nach zu
vielen Worten, das wir alle kennen und das uns allen als
eine wahre Wohltat erscheinen kann? Die Frage ist nicht
zu beantworten. Das Unterscheiden hier zwischen Ich
und Du, zwischen dem Ich des Dichters und uns allen, die
sein Gedicht erreicht, mißlingt. Das Gedicht sagt es dem
Dichter so gut wie uns allen, daß die Stille willkommen ist.
Es ist dieselbe Stille, die bei der Wende des Atems, diesem
leisesten Wiederbeginn des Atemschöpfens, zu hören ist.
Denn dies vor allem ist Atemwende, die sinnliche Erfah
rung des lautlosen, reglosen Augenblicks zwischen Ein
und Ausatmen. Ich will nicht leugnen, daß Celan diesen
Moment des wendenden Atems, den Augenblick, da der
Atem umkehrt, nicht nur mit dem reglosen Ansichhalten
verknüpft, sondern die leise Hoffnung mitklingen läßt, die
mit aller Umkehr verbunden ist. So sagt er in der Meri
dian-Rede: »Dichtung: das kann eine Atemwende bedeu
ten.« Aber schwerlich wird man deshalb die diese Folgebeherrschende Bedeutung des »leisen« Atems abschwä
chen dürfen. Dies Gedicht ist ein wahres Proömium, das
wie in einer musikalischen Komposition mit dem ersten
Ton die Tonlage für das Ganze angibt. Die Gedichte dieser
Folge sind in der Tat so leise und fast unmerklich wie die
Atemwende. Sie geben von einer letzten Lebensbeklem
mung Zeugnis und stellen zugleich auch immer aufs neue
ihre Lösung dar - oder besser: nicht ihre Lösung, aber ih r
Aufsteigen zur festen Sprachgestalt. Man hört sie so, wieman die tiefe Winterstille hört, die alles einhüllt. Ein Lei-
sestes fällt im Kristall aus, ein Kleinstes, Leichtestes und
zugleich Genauestes: das wahre Wort.
Von Ungeträumtem geätzt,
wirft das schlaflos durchwanderte Brotland
den Lebensberg auf.
Aus seiner Krume
knetest du neu unsere Namen,
die ich, ein deinem
gleichendes
.Aug an jedem der Finger,
abtaste nach
einer Stelle, durch die ich
mich zu dir heranwachen kann,
die helle
Hungerkerze im Mund.
Ein Maulwurf ist tätig. Man sollte dies als durch primäre
semantische Gegebenheit Evozierte nicht abstreiten. »Auf
werfen« ist eindeutig. Daß das Subjekt dieses »Aufwer
fens« das »Brotland« ist, kann nicht beirren, sondern nur
die erste Transposition einleiten - von dem Maulwurf auf
die blinde Lebensbewegung hin, die wie eine schlaflose
Wanderung erscheint, die durch das »Brotland« geht. Das
evoziert Brotarbeit und Broterwerb und alles, was mit dieser Lebenshypothek impliziert ist. Nu n sagt das Gedicht:
Was das rastlos wühlende Wesen treibt, das wir Leben
nennen, ist unget räumter Traum. Es ist also ein Versäum
tes oder ein Verwehrtes, das durch seine beständige Schär
fe immer weitertreibt: es »ätzt«. Ätzende Säure, die von
dem ausgeht, das durch seine Verweigerung versehrt, ist
eine der Leitmetaphern des Zyklus, den wir betrachten,
und wohl des Menschenschicksals, wie es der Dichter
sieht. Was durchwandert wird, ist das Brotland, das einen zwar satt zu machen verspricht, aber das Wandern
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r ~
führt nirgends hin. Dies Wandern und Wühlen g e ~ c h i e h t »schlaflos«, d. h., es gibt keine Einkehr in Schlaf und
Traum, u ~ d so. wird der Hügel mehr und mehr aufgewor
fen. Er wIrd em ganzer Lebensberg. Aber hier klingt das
so, als ob das Leben unter seinem immer lastenderen Ge
wicht b e g r a ~ e n wird. Es zieht seine Spur, so wie der
Maulwurf seme Gänge durch sein Aufwerfen der Hügel
erkennen läßt.In der !at, der »Lebensberg« sind wir, mit dem Ganzen
unserer sIch a u f t ~ r m e n d e n Erfahrung. Das zeigt die Fort-
setzung: »Aus semer Krume knetest du neu unsere Na-
~ e n « . M ö ~ l i c h , daß ~ i e r bestimmte biblische oder jüdIsch-mystIsche AnspIelungen darin stecken. Aber auch
w e ~ n . man sie nicht kennt, sondern nur die Verse der Ge
neSIS 1m Oh r hat und si.e z u g l ~ i c h hinter sich läßt, gewinnt
der Celansche Vers emen Smn. Wenn es die schwere
Fracht des Lebens ist, woraus unsere Namen neu geknetetwerden, so muß es doch wohl das Ganze unserer Welter
f a h r u n ~ s e i ~ , was sich aus diesem Erfahrungsstoff aufbaut.
Das heI0t h ~ e r »unsere Namen«. Der Name ist ja das, was
u,ns a n f ~ n g h c h g e g e b ~ n wird und das wir noch gar nicht
smd. ~ I e I ? a n d kann m der Namensgebung wissen, wasder sem wIrd, den er so tauft. So ist es mit allen Namen. Sie
a l ~ e w ~ r d e n erst im Laufe des Lebens das, was sie sind: So
':,Ie wlr.werden, was wir sind, wird auch erst, was die Welt
fur uns1St.
Das besagt,.d a ~
die».N
amen« beständig neu geknetet werden, oder SIe smd mmdestens in einer fortdau
ernden ~ o r ~ u n g begriffen. Von wem, wird nicht gesagt.Aber es 1St em Du. Die Alliteration von »neu« und »Na
~ e n « ~ c h l i e ß t die zweite Vershälfte so zusammen, daß auf
d ~ , e MItte de,r Akzent eines leichten Hiats fällt, der in der
n a ~ h s t e n Zelle nachwirkt. Da vereinzelt sich das allen Ge
m ~ m , s a m e - unsere »Namen« - plötzlich zu einem Ich:
»dIe Ich .. . « Mit dem Ich plötzlich erst gewinnt die Bewe
gung des Lebens i h r ~ eigentliche heimliche Richtung, so-
fern das Ich gegen dIe beständig wachsende Verdeckung
64
ranstrebt und Durchlaß ins Freie sucht. Nicht erstickt un-
ter dem wachsenden Lebenshügel oder Lebensberg, der
hier aufgeworfen wird, ist das Ich immer noch tätig und
auf der Suche - nach Sehen und Helle, wenn auch blind
wie der Maulwurf.
Nu r das Nächste kann »ich« wahrnehmen mit tastender
Hand. Aber immerhin ist es Wahrnehmen: Unser blindes
Auge ist »deinem« gleichend. Vielleicht spielt der Dichter
hier auf die Maulwurfshand an, diese eigentümlich ge
formten hellen Flächen der Grabehand des Maulwurfs,
mit der er seine Gänge gräbt, die ihn im Dunkeln weiter
führen bis hin zu dem Hellen des Ausgangs. In jedem Falle
besteht' die Spannung zwischen dem Graben im Dunkeln
und dem Streben nach dem Licht. Der Weg im Dunkeln ist
aber nicht nur der Weg, der ins Helle führt, sondern ist
selbst ein Weg der Helle, selbst ein Hellsein. Man beachte,
wie sich in der vorletzten Zeile »die helle« durch das Für-
sichstehen dieses Attributs förmlich ausbreitet. Es ist eine
besondere Helle. Denn es ist die Tätigkeit des Ich, das hier
am Werke ist, und sie ist nichts als Wachen (»heranwa
chen«). Wachen aber nimmt den Verzicht auf Schlaf und
Traum auf, von dem eingangs die Rede war, und ebenso ist
in »Hungerkerze« Hungern gemeint, d. h. das Verschmä
hen des sättigenden Brotes, das den Lebensberg be
schwert, So ist dies Beharren auf der Helle und dem Drang
nach Helle wie eine Leistung des Fastens. Das Schlußbildvon der »Hungerkerze im Mund« legt das durch ein be
stimmtes religiöses Ritual aus, und damit wird das Du, das
Gesuchte, als kultisch Verehrtes gekennzeichnet. Wie, mir
Tschizewskij erzählt hat, gibt es auf dem Balkan emen
Brauch der Hungerkerze, der das fromme Fasten vor allen
sichtbar macht (an der Kirchentür) - eine Ar t Gebets- und
Bittfasten, das die Eltern, die auf die Rückkehr des Sohnes
hoffen, auf sich nehmen. Analog ist es ein »Fasten«, das
hier das Streben nach der Helle begleitet. Aber das Besondere dieses Fastens ist offenbar, daß das ins Helle Stre-
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bende die Hungerkerze im Munde hält. Das soll d ~ c h wohl heißen, daß es sich nicht um Fasten handelt, sondern
daß das Ic h sich all die reichlich sättigenden Worte verbie
tet, mit denen man sich im Leben abfindet - um selber für
das wahre, erleuchtete Wort fähig zu werden. So wird das
Ritual sprechend für eine Glaubensleistung ganz anderer
Art. Es gibt offenbar kein Ritual der Hungerkerze im
Mund! Mit dieser paradoxen Verbindung bricht das Ge
dicht vielmehr den evozierten Fastenbrauch um. Es ist ein
anderes Fasten, und das, wofür es geschieht, ist auch ein
anderes. Wie mir Milojcic erzählt, kennt er den Brauch der
Hungerkerze anders: Wenn jemand verarmt war und ihm
seine frühere gesellschaftliche Stellung verbot, betteln zu
gehen, legte er sich verhüllt mit der Hungerkerze an die
Kürchentür, um ungesehen und ohne zu sehen Gaben zu
empfangen. Danach wäre es nicht freiwilliges Fasten, son
dern die Not des Hungerns selber, was durch die Kerzeangezeigt wird . In jedem Fall heißt es »im Mund« - es geht
um das wahre Wort, nach dem ich hungere oder das ich
herbeihungere. Das kann man, meine ich, auch ohne folk
loristische Information erraten, wenn man nur über die
Spannung zwischen ritueller Hungerkerze und dem »im
Mund« nachdenkt. Spielt die Hungerkerze wie alle Ker
zen obendrein darauf an, daß unserem hungernden Stre
ben in die Helle eine Frist gesetzt ist? Vielleicht. Jedenfalls
aber: Man läßt nicht ab, nach der Helle zu streben, indemman die »Namen« abtastet. Die Bev.;egung des Gedichts
ist deutlich eine zweigeteilte: Die eine Bewegung vollfüh
ren alle, indem ungeträumte Träume sie treiben und eine
immer längere Lebensspur zeichnen und einen immer
schwerer lastenden Berg aufwerfen. Die andere Bewegung
ist die unterirdische des Ich, das wie ein blinder Maulwurf
ins Helle drängt. Man denkt an Jacob Burckhardt: »Der
Geist ist ein Wühler.«
Folgen wir der Transpositionsbewegung, in die wir ge
rieten, noch einmal: Wer ist hier das Du , das die Namen
66
neu knetet, das ein wahrhaft sehendes Auge besitzt, das
wahrhafte Sättigung und Erhellungverspricht? Wen meint
»ich« und wen »du«? Der Übergang zum Ich ist plötzlich
und stark akzentuiert. Es hebt sich aus dem allen gemein
samen Geschick heraus. De r Lebensberg aller wird be
ständig aufgeworfen, und aus ihm bildet sich Sinn und
Sinnlosigkeit eines jeden Lebens. So werden unser aller
»Namen« geknetet. Aber es sind n icht alle, es ist das eine
Ich, das hier »ich« meint, das diese Namen abtastet. Das
Tun des Dichters klingt an, der es mit den Namen, mit al
len Namen, versucht. Es bestätigt sich also: »Name« mein t
nicht nur die Namen der Menschen. Es meint sicherlich
den g a ~ z e n Berg der Worte, es meint die Sprache, die über
alle Erfahrung des Lebens gelagert ist wie eine deckende
Last. Sie ist es, die »abgetastet«, d. h. auf ihre Durchlässig
keit geprüft wird, ob sie nicht doch irgendwo den Durch-
bruch ins Helle gewährt. Mir scheint, es ist die Entbehrung und die Auszeichnung des Dichters, was hier be
schrieben wird. Aber ist es nur die des Dichters?
In die Rillen
der Himmelsmünze im Türspalt
preßt du das Wort,
dem ich entrollte,
als ich mit bebenden Fäusten
das Dach über unsabtrug, Schiefer um Schiefer,
Silbe um Silbe, dem Kupfer
Schimmer der Bettel-
schale dort oben
zulieb.
Das sind bittere Zeilen. In den Ausgaben liest man statt
»Himmelsmünze« »Himmelssäure«. Dies wird zu berich
tigen sein. Aber die Frage bleibt, wie die Lesart der Aus
gaben zu verstehen war. Denn ohne Zweifel hat man es in
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gewissem Umfang verstehen können.1Dafür spricht nicht
nur das Verhalten des Dichters als solches, der - nach Be
richten - beim Bemerken des Druckfehlers höchst gleich
mütig blieb. Die Sinnkohärenz des Ganzen ist im ganzen
stark genug, damit Einzelteile austauschbar sein können.
Das hat seinerzeit schon Walter Benjamin unter dem Be
griff »das Gedichtete« beschrieben. Wäre es nicht so, dann
wäre alle Auslegung, die mit unsicheren Vermutungen ar
beiten muß, ohne Wert. Wir erörtern die beiden Lesarten
nebeneinander, um eine jede von beiden im Ganzen des
Gedichtes zu orten. -
Zwischen der ätzenden Schärfe der Himmelssäure, von
der wir offenbar durch eine niemals sich öffnende Tür ge
schieden sind und die für uns gewiß unerträglich wäre,
und der kupfernen Bettelschale »dort oben« spannt sich
der Bogen eines einzigen Satzes. Eine Theologie des sich
verweigernden Himmels liegt zugrunde. Doch die Tür istundicht. Die Himmelssäure, gegen die wir durch die Tür
abgedichtet sind, hat Rillen in den Türspalt geätzt, und so
kommt etwas hindurch. Was hindurchkommt, ist das
Wort. Offenbar wird die Metapher der ätzenden Säure
deshalb vom Himmel gesagt, weil er sich verweigert. Als
der sich verweigernde hat er seine verzehrende Schärfe -
und doch sucht man jeden Tropfen dessen, was da zu uns
gelangt - eben »das Wort«.
Doch nun hat man zur Kenntnis zu nehmen, daß es imText nicht »Himmelssäure« sondern »Himmelsmünze«
heißt. Damit ist die Bildvorstellung eine gänzlich andere.
Der Genitiv »der Himmelsmünze« ist auf »Rillen« natür
lich nicht mehr kausativ bezogen, sondern als ein subjek
tiver Genitiv zu verstehen: die Münze hat Rillen. Wenn
man fragt, wie kommt die Münze in den Türspalt? - so hat
man keine Antwort. Genug, daß sie darin steckt. Man stellt
sich vor, daß sie dazu dienen sollte, die Tü r zu öffnen, aber
I Vgl. dazu unten, S. 435.
68
diese öffnet sich nicht, gibt keinen wirklichen Eintritt.
Statt dessen dringt durch die Tür etwas heraus. Nun ist es
offenbar so, daß die Rillen der Münze die Tür undicht ma
chen. Worauf es anzukommen scheint, das ist, daß nicht
die Münze selbst als legitime Einlaßgebühr für den Him-
mel (oder als Ausgangs- un d Durchlaßgebühr aus dem
Himmel?) die kleine Durchlässigkeit schafft, sondern et
was, das an ihr ist und das zwar auf ein blankes, neuge
prägtes Geldstück weist, aber nichts mit seinem Münz-
wert zu tun hat. Das ist recht dunkel. Handelt es sich um
ein raffiniertes Symbol für Gnade? Jedenfalls hatte der
Versuch, die Einlaßgebühr zu entrichten, keinen Erfolg.
Was aus diesem sich verweigernden Himmel allein bei uns
ist, ist »das Wort«. Ist das so gemeint? So lutherisch?
Gewiß ist freilich, daß die Himmelsmünze der Bettel
schale »dort oben« entspricht. Beides hat auf ein uner
reichbar Jenseitiges Bezug. In der Bettelschale werdenMünzen gesammelt (Himmelsmünzen ? Münzen für den
Himmel?) - und zu diesem ärmlichen Schatz scheint der
hinzustreben, der seine Bestimmung aus dem »Wort« her
leitet, dem einzigen, das aus dem ganzen Reichtum des
Himmels bei uns ist.
In der Tat, es sind bittere Zeilen, welche der beiden Les
arten man auch zugrunde legt. Das jedenfalls steht fest,
daß nichts aus jenem Himmel verlautet als das, was »du«-
wieder dieses unbekannte Du - durch die Undichte derversperrenden Tür preßt. Es ist keine strömende Heils
botschaft, sondern einmühsam erpreßtes Wort, und oben
drein scheint es wie eine seltsam verkehrte Mühe. Denn
offenbar sind nicht wir es, die sich mühen, da hineinzu
kommen oder da herauszukommen, sondern »das Wort«
soll offenbar heraus. So will es das Du. Meint das, daß wir
gegen die Wahrheit versperrt sind und die Wahrheit uns
gar nicht verweigert wird? Halten wir sozusagen die Tür
zu oder finden den Schlüssel nicht, weil wir an die Gültigkeit unserer Münze glauben? Ich stelle alle diese Fragen in
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dem Bewußtsein, daß jedenfalls die Theologie des Deus'
absconditus anklingt.
Eine weitere Schwierigkeit: Wenn das Wort heraus und
da ist, bin »ich« es, der ihm »entrollte«. Wer - ich? Bin ich
aus dem Wort? Bin ich das Wort, wie alle Kreatur ein
Schöpferwort ist? Ist es das Wort, aus dem ich komme, zu
dem ich nun und immerzu zurückstrebe ? Das gäbe auch
bei der äußersten Gottesferne Sinn. Denn unter dem Dach
der Sprache leben wir alle. Vielleicht gilt auch von uns al
len, daß ein jeder von uns das Dach, das uns allen gemein
samen Schutz gewährt, weil es den Durchlaß und Aus
blick nimmt, gleichwohl abtragen möchte, um nach oben,
ins Freie zu blicken. Vor allen anderen ist es gewiß der
Dichter, der hier von sich sagt, was vielleicht für uns alle
gilt. Die Decke der Worte ist wie ein Dach über uns. Sie
sichern das Vertraute. Indem sie aber uns ganz mit Ver
trautheit umschließen, verhindern sie jeden Ausblick indas U nvertraute. Der Dichter - oder wir alle? - sucht Silbe
um Silbe, das heißt mühsam und unermüdlich, abzutra
gen, was verdeckt. Offenbar entspricht dieses Abtragen
»Silbe um Silbe« dem, was im vorigen Gedicht als das Ab-
tasten der Namen und das Heranwachen begegnete. Hier
wie dort scheint eine verzweifelte Anstrengung dessen,
der ins Helle, nach oben strebt, beschrieben.
Aber gelangt man je zum Ziele? Die Antwort des Ge
dichtes ist niederschmetternd. Was hier durch die Arbeitder bebenden Fäuste allenfalls erreicht wurde, wäre in
Wahrheit nichts als die kupferne Bettelschale mit ihrem
jenseitigen Schimmer. Daß eine ganz gewöhnliche Bettel
schale auf einer Pariser Straße den Dichter inspiriert hat,
wie mir Bollack erzählt hat, ändert nichts daran, daß hier
von einer »Bettelschale dort oben« die Rede ist und damit
eine bestimmte Transposition von uns verlangt wird. Das
Gedicht versetzt die Bettelschale in den Zusammenhang
von Heiligkeit und Heilsverlangen. Freilich, mit welcherTönung? De r Erwartung? Kaum. Eher so: Wir reichen
nicht weiter mit unserer Vorstellung von Heil als noch ge
rade an die Bettelschale, in der die Op fergaben gesammelt
werden - im Kirchenraum das profanste aller Geräte.
Oder auch: Wir reichen nur bis an die dürftige Mildtätig
keit einer »Sammlung«, in der weder Wärme noch Liebe
ist. Jedenfalls ist es nicht einmal etwas von wahrhaft Hei
ligem, das auf mich wartet, wenn ich das schützende Dach
abzutragen suche. Es ist kaum der Abglanz des Heiligen.
Oder ist es überhaupt nichts Heiliges, sondern etwas, das
vielleicht wie Heiliges, aber in falschem Schimmer glänzt?
Jedenfalls ist der verzweifelt sich Anstrengende voll von
Bitterkeit und sich der Enttäuschung bewußt, die auf ihn
wartet.
Doch lassen wir einmal alle Theologie beiseite und prü-
fen die einzelnen Wendungen. Was heißt es, daß ich dem
Wort entrollte? Bei der Wendung »entrollte« und im Ab-
tragen »Silbe um Silbe« denkt man zunächst an die Tätigkeit des Entrollens einer Schriftrolle und des Entzifferns
eines Urtextes, wie er etwa das dichterische Wort sein
könnte. Hier ist aber das Wort »entrollte« intransitiv ge
braucht. »Ich entrollte« dem von oben durchsickernden
Wort, diesem geringsten Tropfen einer jenseitigen himm
lischen Substanz. Das klingt paradox. Nicht »ich« bin es,
der Silbe um Silbe das Wort - wie eine Schriftrolle - ent
rollte, sondern »das Wort« ist es, dem ich selber entrollte.
Es ist offenbar so, daß der Dichter selber aus dem Wortkommt und daß seine ganze Anstrengung darauf geht, dies
Wort wieder zu erreichen, aus dem er kommt und das er
als das Seine weiß. Kein Zweifel, daß dies atemlos ver
zweifelte Suchen nach dem Wort über all den Silben und
Wörtern dem gilt, was »das Wort« - das wahre Wort - ist:
das Wort, in dem der, der das Wort sucht, selber darin ist.
Das scheint in der Tat so, daß es der Dichter ist, der hier
von sich »ich« sagt und der ganz im Wort lebt. Die Auf
gabe des Dichters besteht eben darin, daß er nach dem
wahren Wort, das nicht das übliche schützende Dach aller
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Tage ist, sondern das von jenseits her ist, wie nach seiner'
wahren Heimat strebt und deshalb Silbe um Silbe das Ge
füge der alltäglichen Worte <1.btragen muß. Er muß gegen
die verbrauchte, gewöhnliche, verdeckende und alles ein
ebnende Funktion der Sprache ankämpfen, um den Blick
in den Schimmer dort oben freizulegen. Das ist Dichtung.
Aber es ist noch etwas anderes darin. Es heißt ja, der
Dichter entrollte dem Wort, als er in seinem Dichten,
Wort um Wort, nach seiner Herkunft aus dem wahren
Wort aufschaut, und kann doch von dem Heiligen nie
mehr gewahren als seinen profansten, ärmlichsten Schim
mer - vielleicht sogar: seinen falschen, durch das Betteln
entstellten Glanz. Damit gewinnt das Entrollen eine noch
andere, negative Tönung. Mit dem Abtragen des Daches,
dem Suchen der rechten Worte (»als ich abtrug«) kehrt er
nicht heim, sondern verliert sich der Dichter gerade. Er
»entrollte« dem Wort, das er eigentlich ist, wird hoffnungslos von ihm geschieden und ist vergeblich - »mit be
benden Fäusten« - bemüht, zu ihm zurückzugelangen.
»Wir übersetzen, ohne den Urtext zu haben« (G. Eich).
Un d wieder fragt man sich: Ist es wirklich nur der Dichter,
dem dies widerfährt , daß das eigentliche Wort unerreich
bar bleibt, obwohl es sein eigenstes ist? Oder ist es viel
mehr unser aller Erfahrung, von dem eigentlichen Wort
und seiner Wahrheit geschieden zu sein, gerade dadurch,
daß man Worte macht un d daß man »mit bebendenFäusten« auf etwas hin tätig ist, das man haben möchte,
das n icht erreichbar ist - un d das am Ende gar nicht einmal
so ist, daß es die Mühe lohnt?
In den Flüssen nördlich der Zukunft
werf ich das Netz aus, das du
zögernd beschwerst
mit von Steinen geschriebenen
Schatten.
Man muß das Gedicht in seinem Zeilenbruch nicht nur ge
nau lesen, man muß es so auch hören. Celans meist sehr
kurzzeilige Gedichte nehmen es damit sehr genau. Bei
breiter strömenden Versen, wie etwa den Duineser Ele
gien, die ohnehin viel technischen Zeilenbruch, insbeson
dere in den der Erstauflage folgenden Drucken, nicht ver
meiden konnten, sind nur sehr deutliche Verszäsuren von
so siegelhafter Prägnanz wie die Schlußzeilen dieser Ge
dichte Celans. In unserem Falle ist der Schlußvers ein ein
ziges Wort: »Schatten« - ein Wort, das so schwer sich
senkt wie das, was es bedeutet. Indessen, es ist ein Schluß,
und wie jeder Schluß rückt er die Maße des Ganzen fest.
Auch der evozierten Bedeutung nach: »Schatten fallen«
heißt immer auch: Sie werden geworfen. Wo Schatten fal
len und verdunkeln, ist immer auch Licht mit da und das
Lichte, und wirklich, es wird hell in diesem Gedicht. Was
es evoziert, ist Klarheit un d Kälte eisnahen Gewässers.Die Sonne durchscheint das Wasser bis auf den Grund.
Die Steine, die das Netz beschweren, sind es, die die Schat
ten werfen. Das ist alles höchst sinnlich und konkret: Ein
Fischer wirft das Netz aus, und ein anderer hilft ih m dabei,
indem er das Netz beschwert. Wer ist Ich? Und wer ist
Du?
Das Ich ist ein Fischer, der das Netz auswirft. Auswer
fen des Netzes ist eine Handlung reiner Erwartung. Wer
das Netz ausgeworfen hat, hat alles getan, was er tunkonnte, und muß warten, ob etwas sich fängt. Es wird
nicht gesagt, wann diese Handlung vollzogen wird. Es ist
eine Art gnomischer Gegenwart, d. h., es geschieht immer
wieder. Das wird durch das pluralische »in den Flüssen«
unterstrichen, das nicht wie das nahe liegende »Gewäs
sern« eine unbestimmte Ortsangabe bedeutet, sondern
sehr bestimmte Plätze, die man aufsucht, weil sie Fang
verheißen. Diese Plätze liegen alle »nördlich der Zu-
kunft«, d. h. noch weiter draußen, außerhalb der gewohn
ten Wege und Fahrten, dort, wo keiner sonst fischt. Es ist
73
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offenbar eine Aussage über das Ich, nämlich, daß es ein Ich'
solcher besonderer Erwartung ist. Es erwartet das Zu-
künftige dort, wo keine Erwartung der Erfahrung hin
reicht. Aber ist nich t jedes Ich ein Ich solcher Erwartung?
Ist nicht in jedem Ich etwas, das in eine Zukunft ausgreift,
die hinausliegt über das, womit man zukünftig rechnen
kann? Das Ich, das so anders ist als die anderen, ist gerade
das Ich eines jeden.
Nun beruht der kunstvoll gespannte Bogen dieses Ge
dichtes, das ein einziger schlichter Satz ist, darauf, daß das
Ich nich t alleine ist und nicht allein den Fischfang durch
führen kann. Es bedarf des Du. Betont steht das »du« am
Ende der zweiten Zeile, wie angehalten, wie eine unbe
stimmte Frage, die sich erst durch den Fortgang des drit
ten Verses - oder besser: der zweiten Hälfte des Gedichts
- mit ihrem Sinn erfüllt. Hier wird ein Tun sehr genau be
schrieben. »Zögernd beschwerst« meint nicht ein inneresZögern der Unentschiedenheit oder des Zweifels, das das
Du, wer es auch sei, die Zuversicht des fischenden Ich
nicht ganz teilen läßt. Es wäre völlig mißverstanden, wenn
man in das »zögernd« diesen Sinn legen würde. Was be
schrieben wird, ist vielmehr das Beschweren des Netzes.
Wer das Netz beschwert, darf nicht zuviel tun und nicht
zuwenig; nicht zuviel, dami t das Netz nicht ab sinkt, und
nicht zuwenig, damit es nicht obenhin treibt. Das Netz
muß, wieder Fischer sagt, »stehen«. Von hier bestimmt sichdas Zögernde des Beschwerens. Wer das Netz beschwert,
der muß vorsichtig Stein auf Stein hinzutun wie auf eine
Waagschale, in der man das Gewicht von etwas wägt.
Denn es kommt darauf an, den richtigen Augenblick des
Gleichgewichts zu treffen. Wer das beim Beschweren des
Netzes tut, hilft, daß der Fang überhaupt möglich wird.
Die sinnliche Konkretion des Vorgangs ist aber kunst
voll ins Imaginäre und Spirituelle gehoben. Schon die erste
Zeile nötigte durch die sinnlich uneinlösbare Fügung
»nördlich der Zukunft«, die Aussage in ihrer Allgemein-
74
heit zu verstehen. Die gleiche Funktion übt in der zweiten
Hälfte die nicht minder uneinlösbare Fügung einer Be
schwerung mit Schatten aus, un d gar »mit von Steinen ge
schriebenen Schatten«. Wie dort der Mensch als das Wesen
der Erwartung in der sinnlichen Gebärde des Fischers
sichtbar wurde, so bestimmt sich hier, was Erwartung ist
und möglich macht, näher. Denn offenbar sind hier zwei
Handlungen in ihrem Zusammenspiel gezeigt: das Aus
werfen und das Beschweren des Netzes. Zwischen ihnen
ist eine geheime Spannung, und doch sind sie das einheit
liche Tun, das allein Fang verheißt. Gerade der geheime
G e g e n ~ a t z zwischen Werfen und Beschweren ist es, auf
den es ankommt. Man würde mißverstehen, wenn man die
Beschwerung als eine Hemmung des reinen Wurfs in die
Zukunft verstünde, als eine Trübung der reinen Erwar
tung durch die beschwerende Einsicht in das, was nach
unten zieht. De r Sinn der Spannung ist vielmehr, daß nur
durch sie die Leere des Erwartens und die Eitelkeit des
Hoffens Bestimmtheit von Zukunft gewinnt. Die kühne
Metapher der »geschriebenen Schatten« läßt nicht nur das
Imaginäre und Spirituelle der ganzen Handlung hervor
treten, sondern bezeugt so etwas wie Sinn. Was »geschrie
ben« ist, läßt sich entziffern. Es bedeutet etwas und ist
nicht einfach der dumpfe Widerstand des Schweren. Soll
man übertragen: Wie der Ak t des Fischers nur aussichts
reich ist durch Zusammenspiel von Wurf und Beschwerung, so ist auch alle Zukünftigkeit, in die das menschliche
Leben hineinlebt, keine bloße unbestimmte Offenheit für
das Kommende, sondern bestimmt sich durch das, was
war und wie es aufbewahrt ist wie in einem von Erfahrun
gen und Enttäuschungen geschriebenen Buch.
Aber wer ist dieses Du? Es klingt fast, als wisse da einer,
wieviel er dem Ich aufladen kann, wieviel das hoffende
Herz des Menschen erträgt, ohne daß es die Hoffnung sin
ken läßt. Ein unbestimmtes Du, das vielleicht in dem Dudes Nächsten, vielleicht in dem Du des Fernsten seine
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Konkretion findet, oder gar in dem Du, das ich mir selbst
bin, wenn ich meiner eigenen Zuversichtlichkeit die Gren-
zen des Wirklichen fühlbar mache - in jedem Fall ist das
Zusammenspiel von Ich un d Du, das den Fang verheißt,
das, was in diesen Versen eigentlich präsent ist und dem
Ich seine Wirklichkeit verleiht.
Was ist es aber nun, was da Fang heißen soll? Der flu
tende Austausch zwischen dem Dichter und Ich erlaubt,
es in einem besonderen wie in einem allgemeineren Sinne
zu verstehen - oder besser: im besonderen den allgemei
nen Sinn zu erkennen. Der Fang, der glücken soll, mag das
Gedicht selbst sein. Der Dichter mag sich selbst darin mei
nen, daß er das Netz dort auswirft, wo Klarheit und Un-
berührtheit die Gewässer der Sprache ungetrübt findet
und ihn erwarten läßt, daß das über alles Herkömmliche
Hinausgehende seiner Kühnheit ihm einen Fang gewährt.
Daß der Dicht er sich selbst meint, wenn er in dieser Weisesich als ein fischendes Ich darstellt, läßt sich auch durch
den Zusammenhang stützen - nicht nur den großen welt
literarischen Zusammenhang, der den dichterischen Fund
gern aus dunkler Tiefe - eines Brunnens oder eines Sees -
hervorholen läßt. Man denke an die bekannten Gedichte
Stefan Georges Der Spiegel und Das Wort. Auch der be
sondere Zusammenhang der vorliegenden Gedichtfolge
läßt das wahre Gedicht, das kein »Meingedicht« ,kein täu
schender Schwur der Angeblichkeit ist, gegenüber demeitlen Worttreiben, in dem die Sprache hin- und hergezerrt
wird, zur Abhebung kommen. So ist es durchaus berech
tigt, auch in unserem Gedicht das ganze Geschehen vom
Dichter und seiner Erwartung des Wortes, das ihm ge
lingt, her zu verstehen. Un d doch ist das, was hier be
schrieben wird, so, daß es weit über das Besondere des
Dichters hinausgeht. Un d das nicht nur hier. Es ist eine der
großen Grundmetaphern der gesamten Neuzeit, daß das
Tun des Dichters wie ein Exempel des Menschseins selberist. Das Wort, das dem Dichter gelingt und dem er Bestand
verleiht, ist nicht sein spezielles artistisches Gelingen, son
dern ein Inbegriff menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten
überhaupt, der dem Leser erlaubt, das Ich zu sein, das der
Dichter ist. In unseren Versen sind Ich und Du in einer ge
heimen Solidarität des Gelingens beschrieben, die nicht
nur die des Dichters und seines Genius oder Gottes ist. Da
ist nicht ein beschwerendes Wesen, Mensch oder Gott , das
da Wortschatten auflädt, die die Freihe it beengen. In die
sem Gedicht, das ein eigenes Gelingen dichterischer Exi
stenz meinen mag, kommt in Wahrheit zur Aussage, wer
Ich ist, indem deutlich wird, wer Du ist. Wenn des Dich
ters Verse uns dieses Zueinander präsent machen, dann
rückt ein jeder von uns in eben den Bezug ein, den der
Dichter als den seinen aussagt. Wer bin ich und wer bist
du? Das ist eine Frage, auf die das Gedicht seine eigene
Antwort dadurch gibt, daß es die Frage offenhält.
O. Pöggeler schlägt vor, das »nördlich der Zukunft« als
eine Todeslandschaft zu verstehen, da von dem »ungreif
baren Abgrund« des Todes her jede auf uns zukomme nde
Zukunft schon überholt sei - eine Radikalisierung der
menschlichen Grunderfahrung, die es nötig machen wür-
de, das Du als den Todesgedanken zu verstehen, der allem
Dasein sein Gewicht gibt. Es ist wahr, daß so »nördlich
der Zukunft« präziser verstanden würde: dort, wo keine
Zukunft mehr ist - und das hieße: auch keine Erwartung .
Und dennoch: Fischzug. Es lohnt, darüber nachzudenken. Ist es das Einverständnis mit dem Tode, das neuen
Fang verheißt?
Vor dein spätes Gesicht
Allein-
gängerisch zwischen
auch mich verwandelnden Nächten,
kam etwas zu stehn,
das schon einmal bei uns war,un-
berührt von Gedanken.
77
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Dies Gedicht erschien mir lange besonders schwierig.'
Denn bei aller Eindeutigkeit seiner Aussage läßt es einen
besonders weiten Raum für die Ausfüllung. Ist es ein Lie
besgedicht? Oder spricht es von Mensch und Gott? Sind
es Liebesnächte oder die Nächte des Einsamen, die »mich«
verwandelt haben?
Es liegt, wie bei sehr kurzzeil igen Gedichten oft, gerade
durch die Kürze und Knappheit seines Baues ein be
sonders starkes Gewicht auf der letzten Verszeile. »Be
rührt von Gedanken« - das ist fast wie ein epigrammati
sches Siegel. Von hier muß im Grunde das Ganze wie von
seiner Verdichtung her begriffen werden. Die spannungs
volle Trennung »un-berührt von Gedanken« stellt das Be
rührtsein von Gedanken für sich. Aber in welchem Sinne?
Es gibt zwei Möglichkeiten, dies zu verstehen: als eine po
sitive und durch die Zeilentrennung verstärkte Aussage
über die Unberührtheit dessen, was da »vor dein Gesicht«t ra t - daß es nämlich nichts ausdrücklich Gewußtes und
Gedachtes ist. Oder aber es ist eine Aussage darüber, daß
das, was »schon einmal bei uns war«, nun anders, nämlich
»berührt von Gedanken«, also verwandelt ist. Es hieße
also gerade nicht: nach wie vor unberührt. Nu n ist die
Aussage des Gedichtes durchweg von der Spannung zwi
schen »nach« und »vor« beherrscht. Es ist von einem
»späten« Gesicht die Rede, das ein »früher« heraufruft; es
ist von einem »schon einmal« die Rede und ausdrücklichvon »verwandelnden« Nächten. So muß auch in dem »un
berührt«, das nicht umsonst Zeilentrennung in sich
austrägt, die Spannung zwischen Eins t un d Jetzt liegen.
Die Frage geht bis in die letzten Eigenheiten von Rhyth
mik, Versbau und Sinnfügung. Es handelt sich um eine
Frage letzter Sinnkohärenz - un d die scheint mir für die
von mir vorgeschlagene Deutung zu sprechen, daß eine
neue Bewußtheit eingetreten ist. Denn jenes »etwas«, das
da zu stehen kommt, bliebe allzusehr in der Unbestimmt
heit, wenn über es überhaupt nichts ausgesagt würde.
Wenn dagegen der Sinn ist, daß die Unberührtheit von
Gedanken durch den Gedanken zerstört wird, dann ver
steht man immerhin , daß »etwas« eingetreten ist, nämlich
bei aller Unbestimmtheit eine neue, Alleinsein einschlie
ßende Bewußtheit. Wachsende Bewußtheit, Abstand, Al
leinsein: das ist nicht die enttäuschte Feststellung eines
verlorenen Zugangs - wie eine Entfremdung es wäre -,
sondern es findet hier gegenseitige Anerkennung statt:
»auch mich« - also auch dich - »verwandelnd« heißen die
Nächte. De r Abstand, der jetzt bewußt wird, war an sich
immer da, als das, was man Diskretion nennt/ bis zu jener
»unendlichen Diskretion«, mit der Rilke sein Verhältnis
zu Gott beschreibt.
Aber das ist nu n die eigentliche Erfahrung, die aus die
sen Versen spricht: Inzwischen ist es anders geworden.
Was von Gedanken unberührt war, ist nicht länger so, und
das ein für allemal. Eben die Endgültigkeit dessen, wasnun eingetreten ist, spricht aus der epigrammatischen
Schlußzeile »berührt von Gedanken«.
Hier scheint die Frage besonders dringlich, wer Ich ist
und wer Du. Aber auch hier ist nicht so zu fragen. Das ein
zige, worauf es ankommt, ist, daß zwischen dem Ich, das
hier spricht, und dem Du, das es anspricht, die Geschichte
einer innigen Beziehung heraufgerufen wird, deren Be
ginn länger zurückliegt. Darauf deutet das Beiwort »spät«,
das dem Gesicht zugesprochen wird, und weiter klingt esso, als ob dies Gesicht inzwischen in sich zurückging und
sich stärker in sich verschlossen hat. Denn es heißt »allein
gängerisch«, und das meint nicht einfach allein-gehend,
sondern ein bewußt gewähltes und festgehaltenes Allein
sein. Wieder ist es die Wortt rennung, welche die Spannung
dieses Alleinseins verleiblicht. Sie läßt beides anklingen,
das Alleinsein und den Willen dazu. Das bestätigt sich von
der anderen Seite durch »mein« Eingeständnis, daß auch
2 Zu diesem Begriff und seiner Rolle für das Verständnis mod erner Lyrikvgl. >Verstummen die Dichter?<, in: Gadamer, Gesammelte Werke, Bd.
9, Tübingen I993, s. 362ff.
79
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ich verwandelt bin. Was da »vor dein spätes Gesicht« tritt,
ist aber ausdrücklich nicht als etwas Fremdes anzusehen,
das früher nicht da war. Es war ja schon einmal »bei uns«.
Was inzwischen anders geworden ist, hebt die Vertraut
heit der gegenseitigen Bindung durchaus nicht auf. Es ist
nicht etwas Fremdes. Man soll nicht fragen, was das ist.
Offenbar weiß der Sprechende es selber nicht zu benen
nen. Es ist »nichts«.
Was das Gedicht darüber hergibt, liegt einzig in der
Wendung »un-berührt von Gedanken«. Das besagt, daß
man sich inzwischen Gedanken macht und daß gerade da
durch »etwas zu stehn« gekommen ist. Man achte darauf,
daß es nicht heißt: etwas trat dazwischen. Es ist überhaupt
keine besondere Begebenheit gemeint, die alles veränderte,
sondern eher der Niederschlag der Zeit selbst, der nicht
etwa etwas N eues enthüllt, sonde rn das, was an sich schon
bekannt ist, weil es »schon einmal bei uns war«, nun fürsich stehen läßt. Es heißt »bei uns« - und nicht: zwischen
uns. Was da zum Bewußtsein kommt, ist vielleicht nichts
anderes als Alleinsein in wechselseitiger Vertrautheit.
So scheint es kaum nötig zu wissen, wer Ich und wer Du
ist. Denn das, wovon die Rede ist, geschieht beiden. Ich
und Du sind beide Verwandelte, sich Verwandelnde. Es ist
die Zeit, die ihnen geschieht. Ob nu n dieses Du das Ge
sicht des Nächsten trägt oder das ganz andere des Gött
lichen - die Aussage ist, daß bei aller Vertrautheit zwischen beiden ihnen mehr und mehr der Abstand bewußt
wird, der zwischen ihnen bleibt. In jenen Nächten, das
heißt in der Nähe und Innigkeit des Beisammen, die alles
andere auszulöschen und alles Trennende aufzulösen ver
mag, gerade da verwandelte sich etwas und kam etwas zu
stehen. Ist das überhaupt etwas Trennendes? Es trat »vor
dein Gesicht«. Gewiß liegt darin auch, daß ich keinen so
unmittelbaren Zugang mehr zu dir habe, aber doch auch,
daß ich nicht von dir getrennt bin. Es war ja schon vorher
»bei uns«. Eher scheint es, als würde in einem neuen Wis-
80
rII\I
\
sen der Abstand bejaht, der immer war, der Abstand zum
verborgenen Gott oder die Ferne des Allernächsten.
Die Schwermutsschnellen hindurch
am blanken
Wundenspiegel vorbei:
da werden die vierzig
entrindeten Lebensbäume geflößt.
Einzige Gegen
Schwimmerin, du
zählst sie, berührst sie
alle.
Es geht um die Erfahrung der Zeit. An einem Punkte wird
es handgreiflich, worauf das Gedicht anspielt. Jemand
denkt an die vierzig Jahre, die er alt ist. Man wird sagen:der Dichter. Gewiß, und doch ist in dem, was der Dichter
hier von sich selbst sagt, ein Allgemeines da, ein so sehr al
len Gemeinsames, daß diese besonderen vierzig Jahre
nicht die des Dichters allein sind. In dem ganzen Gedicht
wird überhaupt nich t »ich« gesagt, so sehr ist im Sprechen
des lyrischen Wortes das Ich da, das wir alle sind. Dieses
Ich, das wir alle sind, denkt an seine vierzig Jahre, das heiß t
an alles, was an ihm, und an alles, woran es selbst vorüber
gekommen ist: Zeiten der Schwermut, Stromschnellen, dienicht so sehr durch ihr Dasein als durch die Plötzlichkeit
und Unvorhersehbarkeit ihres Auftretens Gefahr sind.
Die Gefährlichkeit dessen, was so plötzlich über einen
kommt, ist in dem einzigen Wort »Schwermutsschnellen«
beschworen - aber auch, daß das Ich durch alle Anfech
tungen hindurchkam. Jetzt geht es durch ruhigeres Wasser,
an dem spiegelnden See vorbei, der im Kontrast zu den
Stromschnellen eine so unbewegte Wasserfläche ist, daß
sich alles in ihm spiegeln kann. So ist in ihm Wissen und
Eingedenken. Was sich in ihm spiegelt, sind die sichtbaren
8r
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Spuren sichtbarer V e r l ~ t z u n g e n , Wunden, deren ~ a s d ~ ~ hinrauschende Leben sIch schmerzhaft bewußt wIrd. SIe
vor allem sind es, die in der Lebensbilanz auftreten.
Un d doch ist die eigentliche Bewegung des Gedichtes,
daß das Leben weitergeht, vorbei an den jähen Verdüste
rungen wie an der Klarsicht offener Leiden. Die Lebens
bäume der Jahre, die da dahintreiben, heißen ihrerseits
»entrindet«. Das kann heißen: Es liegt der Kern bloß (für
den sich Erinnernden?) , dergestalt, daß alles Unwesentli
che abgestreift ist. Vielleicht auch: Das eigentliche Leben
dige ist nicht mehr dabei. Die Entrindung läßt den Säfte
strom des Lebens nicht mehr steigen und sinken. Was da
ist, ist nur ein verholztes Gehäuse. In jedem Falle: sie wer
den geflößt. Die Kraft der Wasser trägt sie dahin, talab
wärts. Diesem Strom des Vergehens schwimmt jemand
entgegen, für den, als die »einzige Gegenschwimmerin«,
all diese Unterschiede von jähen Verdüsterungen undspiegelnder Klarheit der Wunden und all das, was sie an
Leben einschließen, überhaupt nicht zu existieren schei
nen. Diese Gegenschwimmerin wird als Du angeredet, be
wundernd, besiegelnd.
Die letz te Verszeile »alle« macht das Allumfassende die
ser Gegenbewegung deutlich. Die Gegenschwimmerin
zählt alle und berührt alle diese Bäume des Lebens. Das
Gleichmaß un d die unbeirrbare Genauigkeit, die hier am
Werke sind, machen es eindeutig, scheint mir, daß dieGegenschwimmerin die vergehende Zeit selber ist. Kein
menschliches Erinnern oder Gedächtnis oder gar die mit
gehende Sorge eines anderen vermöchte so beständig und
unverrückt und untrennbar vom ersten Jahre an dabeizu
sein. Plato lehrt uns: Die Zeit ist die Zahl, das bewegte
Außereinander. Die Gegenschwimmerin hier ist freilich
mehr als nur ein Maß, an dem sich die Bewegung mißt. Sie
tu t etwas, indem sie selber der Stromversetzung des Ver
gehens widersteht. Dadurch allein ist sie wie ein festes
Maß, mit dem sich alles zusammenfassen und messen läßt
und von dem aus sie sich zählend all des Vorüberfließen
den vergewissert, wie mi t berührender Hand. Nichts wird
dabei weggelassen, alles gehört dazu, auch all die >unge-
zählten< Leiden, die hinter sich zu lassen und zu vergessen
leben heißt. Das Gezählte ist also die ganze Summe der
durchlebten Zeit. Nun lehrt uns Aristoteles: Irgendwie ist
mit der Zeit die Seele da. Das »Gegen«, das sich nicht mit
reißen läßt und nicht davon abläßt, dabeizusein und alles
zU:2ählen, ist also nicht so sehr die Ze it selber wie das ste
hende und widerstehende Selbst, das Ich, das, worin die
Zeit ist. In ihm erst faßt sich, wie Augus tin gezeigt hat, die
Lebensgeschichte zu einem Ganzen zusammen. In ihm
erst ist Zeit da. Es ist etwas Rätselhaftes mit der Selbigkeit
des Ich. Es lebt, weil es vergißt - aber es lebt auch nur als
Ich, weil alle seine Tage »für es« gezählt werden und ge
zählt sind, die unvergeßlichen. Daß nichts, was ich war,
ausgelassen ist, macht das Wesen der Zeit aus. Aber gewißist es nicht das wirkliche Bewußtsein des Vierzigjährigen
oder irgendeines, der zurückblick t, derar t alles zu umfas
sen. Gerade dieser Unterschied der alles zählenden Zeit
und des Lebensbewußtseins des Ich wird diesem vielmehr
zur Erfahrung. De r Vierzigjährige wird an solchem
Gleichmaß der Zeit und am Gleichmut dieses Bewußt
seins, das die Zeit selber denkt, seiner wie eines höheren
Selbst bewußt.
Die Zahlen, im Bundmit der Bilder Verhängnis
und Gegen-
Verhängnis.
De r drübergestülpte
Schädel, an dessen
schlafloser Schläfe ein irr
lichternder Hammer
all das im Welt akt
besingt.
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Auch hier geht es um das Erleben der Zeit. »Die Zahlen<;
nimmt das Zählen der Zei t auf. Die Zeit erscheint hier alsVerhängnis, denn sie steht »im Bund mit der Bilder Verhängnis und Gegenverhängnis«. »Der Bilder Verhängnis«meint offenbar das, was hinter dem Schädel wach ist, dasunvermeidliche Verhängnis des Bewußtseins, in dem immer etwas sich abbildet. Es kann nicht fehlen, daß da etwas
ist - nicht ein Gerufenes, nicht ein Gewünschtes. Die Zahlen, das heißt dieses Ablaufen der Augenblicke, sind nichtfür sich. Sie sind »im Bund«, d. h. schließen immer zugleich ein, daß als Gegebenheiten der inneren ErfahrungBilder da sind. Diese Bilder nun, die so mit den Zahlenund der Zeit unlösbar mitgehen, sind nicht nur wie dieZei t» Verhängnis«, d.h. notwendiges, unabänderliches Geschehen, sie haben die Funktion eines »Gegenverhängnisses«. Das will sagen, daß sie zugleich gegen die Zahlen ste
hen, gegen das Einerlei der Folge, das unaufhörlich wie einHammer pocht. Doch diese Bilder sind auch selber Verhängnis. Als Verhängnis der Bilder erlangt indes das Wort»Verhängnis« einen neuen Gegensinn, nämlich, daß es etwas verhängt, so daß das Verhängte nicht mehr in seinereigentlichen Gestalt offen liegt und unverhüllt sichtbar ist.Indem das Gegenverhängnis der Bilder beides zugleich ist,nicht nur Verhängtes, sondern auch Verhängendes, gewinnt auch das Verhängnis selber etwas von dem Doppel
sinn, verhängt und zugleich verhängend zu sein. Das, wo-gegen die Bilder das Verhängende und Verhängte sind,sind die Zahlen, die Zeit, das unabänderliche Vergehen. Esist - als im Bunde mit den Bildern - nicht nur ein unaufhörliches Pochen der Vergänglichkeit, sondern ist zugleich wie ein Schleier, der über der Gegenwart liegt und
den zu vergessen jener andere Schleier sich herabsenkt, derbunte Teppich der Bilder.
Die Zeit ist der innere Sinn, in dem sich die Sukzessionder Vorstellungen findet. Das hatte schon Kant und imAnsatz schon Aristoteles gelehrt. Man versteht das Be-
fremdliche, daß diese Unendlichkeit der Folge und derBilder wie unter einem Helm eingeschlossen ist. Es ist derSchädel, an dessen Wand der Äußerlichkeit sich diese innere Unendlichkeit im Hammerschlag des Zeitpulses manifestiert. Nu n heißt es aber »im Welttakt besingt«: Daßder Taktschlag des Zeithammers Welttakt ist, ist klar - erumfaßt alles. Was heißt es aber, daß der pochende Ham-
mer diese ganze innere Folge» besingt«? Aus solchem Taktdes unaufhaltsamen Vorbei wird doch wahrlich keine Musik. Die kühne Metapher »besingt« bildet einen Endversund hat dadurch einen starken Nachdruck, die Emphasedes Paradoxon, das sich selbst setzt und entgegensetzt.Nu n meint »besingt« auf alle Fälle: nicht entgegenstehen,sondern preisen und in der Preisung gegenwärtig machen.Was bedeutet das? Wieso ist der »irrlichternde Hammer«,das Aufzucken des Bewußtseins, das dem Strom von Zeit
und Bild nur folgt und mit ihm geht, zugleich das, was zuihm ja sagt, ihn ganz zum meinigen macht - als jenes »Ichdenke«, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können?
Oder ist es gerade die Monotonie dieses Hammerschlages der Vergänglichkeit, die in einem bitteren Oxymoron
»singen« genannt ist? Doch die semantische Gegebenheitscheint mir eindeutig: Im großen Takt der Zeit, die wiederPulsschlag ist, ist das Aufleuchten des Bewußtseins wie ein
Gegenverhängnis. Es sind Bilder, deren Wechselgehalt dasEinerlei des Vergehens in unaufhörlicher Folge irrlichternd belebt. Wie nahe hier - wie überhaupt bei Celan -ein Wortspiel lauert, zeigt in der zweiten Strophe die Wendung »schlaflose Schläfe«. Wie alle Wortspiele verkörpertauch dieses einen Gedankenbruch - oder besser: eine verborgene Harmonie, die, wie Herakli t wußte, stärker ist alseine offene.) In der Tat ist es das Rätsel des Bewußtseins
3 Zur Tragweite dieses Heraklitischen Gru ndsatzes nicht nur für das Ce-
lan-Verständnis, sondern der modernen Kunst im allgemeinen siehe ,ImSchatten des Nihilismus<, in: Gadamer, a.a.O. , S. 379ff.
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selbst, wie dies Ineins von Schlaf und Schlaflosigkeit, diese
Schlaflosigkeit im Schlaf, sein kann. Wenn man sich seiner
selbst bewußt ist, ist man wach. Aber der, der sich da sei
ner selbst bewußt wird, ist stets wie ein aus dem Schlaf Er-
weckter. So sicher sind wir unserer Selbigkeit im Selbstbe
wußtsein, daß seine Wachheit auch seinen Schlaf, sein
Dämmern und Vergessen, fraglos umfaßt. Nun ist der
Hammer, der an die Schläfe pocht, im Einerlei des uner
bittlichen Weitergehens der Zeit, Gesang - oder wie Ge
sang? - In jedem Falle meint das etwas, was da zustande
und zum Stehen kommt. Das ist die eigentliche Aussage.
Indem der Hammer nicht nur den Welttaktschlägt, son
dern im Takt all das, was in der ganzen Greifbarkeit der
Bilder auftaucht, besingt, wird das Einerlei aufgehoben.
Die wechselnden Bilder treten in ein bleibendes Sein, das
dem Vergehen ins Tonlose widersteht und in dem Zustim
mung geschieht.
Wege im Schatten-Gebräch
deiner Hand.
Aus der Vier-Finger-Furche
wühl ich mir den
versteinerten Segen.
N ach hermeneutischem Grundsatz beginne ich mit derbetonten Schlußzeile. Denn darin liegt offenbar der Kern
dieses Kurzgedichtes. Es spricht von »versteinertem Se
gen«. Segen wird nicht mehr offen und strömend erteilt.
Die Nähe und die Spende des Segnenden muß vielmehr so
sehr entbehrt werden, daß Segen nur noch in Versteine
rung gegenwärtig ist. Nun sagt das Gedicht: Dieser Segen
der segnenden Hand wird mit der wühlenden, verzwei
felnden Inbrunst eines Bedürftigen gesucht. Damit ge
schieht ein kühner Umschlag von der segnenden Hand zu
der Hand, in der für das Handlesen eine segensreiche hof-
86
fende Botschaft verborgen ist. Was mit dem »Schatten
Gebräch« gemeint ist, lehr t der Zusammenhang. Wenn die
Hand sich etwas krümmt und die Falten Schatten werfen,
dann werden in dem »Gebräch« der Hand, das heißt in
dem Geflecht von Brechungen un d Faltungen, die Brüche
als Linien sichtbar, die der Handleser deutet. Er liest aus
ihnen die Sprache des Schicksals oder des Wesens heraus.
Die»Vi er-Finger-Furche« nu n ist die durchgehende Quer-
falte, welche die vier Finger im Unterschied zu dem Dau-
men in einer Einheit zusammenfaßt.
Wie ist das alles seltsam! Das Ich, wer auch immer es sei,
der Dichter ode r wir, sucht den fernen und ungreifbar ge
wordenen Segen aus der Segenshand herauszu»wühlen«.
Das geschieht aber nicht in einem kundig vertrauten
Entziffern geheimnisvoller Linienspiele. Die Situation des
Handlesers, die hier deutlich heraufbeschworen ist, bildet
in Wahrheit und alles in allem eine Kontrastsituation . Mangestehe es sich ein: Handlesen, wo es im Ernst und nicht
zum reinen Scherz geschieht, behält eine merkwürdige
Berührungskraft. Die Unenthüllbarkeit der Zukunft er
füllt jede Aussage über solche Zeichen mit einem locken
den Geheimnis. Aber hier ist es alles ganz anders. Die In-
brunst und die verzweifelte Not des Suchenden ist so
groß, daß er nicht etwa im kundigen Deuten über der Rät
selschrift der Hand und der Zukunft halb scherzhaft und
halb ernsthaft verweilt - im Gewirr der Handlinien suchter wie ein Verdurstender nur die größte, tiefste, in Wahr
heit geheimnislose Furche allein, in deren Schatten nichts
geschrieben ist. Aber seine Not ist so groß, daß er selbst
noch aus dieser nichts mehr spendenden Handfurche so
etwas wie Segen erfleht.
Wessen Hand ist es? Es scheint schwer, in der Segens
hand, die nicht mehr segnet, etwas anderes als die Hand
des verborgenen Gottes zu sehen, dessen Segensfülle un-
kenntlich wurde und uns nur noch wie in Versteinerungen
überkommen ist, ob diese nun das erstarrte Zeremoniell
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der Religionen oder die erstarrte Glaubenskraft der Men
schen sein mögen. Aber wieder wird es so sein, daß das
Gedicht darüber nicht entscheidet, wer hier Du ist. Seine
alleinige Aussage ist die inständige Not dessen, der in
»deiner Hand« - wessen Hand es auch sei - nach Segen
sucht. Was er findet, ist »versteinerter« Segen. Ist das noch
Segen? Ein Letztes an Segen? Aus deiner Hand?
Dein vom Wachen stößiger Traum.
Mit der zwölfmal schrauben
förmig in sein
Horn gekerbten
Wortspur.
Der letzte Stoß, den er führt.
Die in der senkrechten, schmalen
Tagschlucht nach oben
stakende Fähre:
sie setzt
Wundgelesenes über.
Das Gedicht ist streng gebaut. Zwei Strophen, die erste
und die dritte, werden je von einer Kurzstrophe gefolgt,die jeweils eine Ar t Folgerung zieht. So zerfällt das Ge
dicht in zwei Hälften. Es sind durchaus verschiedene
Bildsphären, die in ihnen heraufgerufen werden. Aber sie
betreffen ein Gemeinsames: Schlaf und Traum sowie d.as
Erwachen. Offenbar sind es auch rhythmisch zwei sehr
verschiedene Vorgänge, die hier zusammengebunden sind.
Auf der einen Seite das Drängen des Traumes, der wie ein
Bock stößt, und auf der anderen Seite die mühsam nach
oben stakende Fähre. Indessen zielt beides, wenn auch
ganz verschieden gesehen, auf das gleiche.
88
Das ist ein Ausgangspunkt für die Frage, wie das Ganze
zu verstehen ist. Man muß es vom einzelnen her versu
chen. Der Traum ist »stößig« geworden wie ein Ziegen
bock. Dadurch gelangt etwas von demDunkel an den Tag.
Nun muß man beachten, daß es nicht etwa ein beim na
henden Erwachen stößig werdender Traum ist, wie wir
das sonst aus dem Traumerleben Schlafender kennen. Er
wird im Gegenteil vom Wachen stößig. Es ist also ein allzu
langer Vorgang des Wachens, der schließlich den Traum so
stößig werden läßt, daß am Ende etwas nach oben über
setzt, »übergesetzt« wird. Das steht jedenfalls fest, daß das
Gedicht nicht etwa den wirklichen Traum im Schlaf meint,
und das wird vollends deutlich und eindeutig durch das
Reizwort im letzten Verse: »Wundgelesenes«. Daraus geht
hervor, daß es die Welt der Wor te und des Lesens ist, in der
sich der Traum regt. Es entspricht dem, daß dieser stößige
Bock ein Horn hat, auf dem sich, wie man das von manchen Widderarten kennt, gekerbte Windungen zur Spitze
hinziehen, und daß diese gekerbte Spur »Wortspur« heißt.
So wird deutlich, daß es sich um die lange anstehende, sich
lange vorbereitende Geburt des Wortes handelt, die in
dem Gedicht beschrieben wird. Das Horn windet sich in
zwölf Windungen bis in die Spitze hinauf, mit der der
Bock den letzten Stoß führt. Die Zwölfzahl deutet auf ein
rundes Ganzes von Zeit, zwölf Monate, ein volles Jahr, je
denfalls eine lange Zeit. Mit anderen Worten: Schon langehält das Wachen den Traum nieder, und immer wieder
führt der Traum, der sich regt, seine S t ö ß e ~ Es ist also wie
ein langes »Heranwachen«, um einen Ausdruck des Ge
dichts »Von Ungeträumtem« zu verwenden. Offenbar
will das Gedicht sagen, daß ein Gedicht nicht ein plötz
licher Einfall ist, sondern lange Arbeit der Vorbereitung
verlangt. Aber die tatsächliche Arbeit an dem Gedicht, die
im zweiten Gleichnis als eine langsam und mühevoll sta
kende Fähre erscheint, ist gleichwohl nicht die eigentliche
Aussage desselben. Die eigentliche Aussage ist vielmehr,
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daß es »Wundgelesenes« ist, das so nach oben kommt.»Wundgelesenes«, Wundgelaufenes - das meint ein von
allzulanger Wanderschaft des Lesens Wundgewordenes.Oder ist»Wundgelesenes« von noch tieferer Zweideutig-keit und meint nicht nur den Schmerz des Lesens, des zu
vielen, des sinnlosen Lesens, sondern ebenso vielleicht denSchmerz und die »Wunde des Gelesenen«, das heißt des
schmerzhaft Erfahrenen überhaupt, das auch »gelesen«heißen kann: zusammengelesen, wie durch eine Ährenlesedes Leides?
In jedem Fall ist das, was ins Wort »übergesetzt« wor-
den, ins Wort übersetzt ist, das Gedicht, der aus dem Dun-
kel des Unbewußten mit Hilfe des Traumes durch eine Art
Arbei t des Traumes gewonnene Text.Muß man noch einzelnes erläutern? Die Bildsphären
sind von höchster Kraft anschaulicher Selbstauslegung:
die Stöße des Bocks, die schl ießlich - mit dem letzten Stoß- die Wachwelt durchstoßen und den Traum erwecken.Welch eine Vertauschung von Traum und Wachen! Un d
dann diese tiefe »Tagschlucht«: Wie in eine senkrechteschmale Schlucht das Tageslicht einfällt, so arbeitet sichwie an einer Leiter des Lichts das im Dunkeln Gesammelte, »Wundgelesene« ans Licht hinauf - auch dies nichtauf einen Schlag, sowenig wie der Bock auf einen Stoß denTraum aufweckt. Aber am Ende erweckt er den Traum,
am Ende langt das aus dem Dunkel ans Licht Übergesetztean - das ist das Gedicht.
Das Recht des Lesers
Wenn man die literaturwissenschaftliche und literaturkritische Resonanz auf das Werk von Paul Celan, wie siemittlerweile vorliegt, mustert, empfindet der LiebhaberCelanscher Verse vielfach eine gewisse Enttäuschung. Wasda von Kennern und Kundigen über dieselben gesagt
wird, oft mit viel Subtilität, manchmal mit wirklicher Penetrationskraft, macht doch alles, gewollt oder ungewollt,die Voraussetzung, man verstünde die Verse und urteileaufgrund dieses Verständnisses, etwa wenn man das beklemmende Scheitern des Dichters im kryptisch werdenden Wort oder sein jähes Verstummen feststellt. Für dasVerständnis des noch nicht verstummten Wortes dagegen
scheint mir bisher zu wenig getan. Fü r den Celan-Leserbleibt eine der dringendsten Aufgaben noch weitgehendunerfüllt. Wessen er bedarf, ist nicht eine kritische Beurteilung, die feststellt, daß man nicht mehr versteht, sondern dort anzusetzen, wo man zum Verständnis vorzudringen vermag, und dann zu sagen, wie man versteht. In
guten alten Zeiten nannte man das ganz schlicht >Real-
interpretation<. Man sollte deren Recht und Möglichkeitnicht leichtfertig preisgeben, am allerwenigsten bei einem
so traditionsbewußten Dichter, wie Celan war. Es geht dabei nicht darum, die Eindeutigkeit des vom Dichter Gemeinten zu ermitteln. Das schon gar nicht. Auch nichtdarum geht es, die Eindeutigkeit des »Sinnes« festzulegen,den die Verse aussprechen. Eher schon geht es um denSinn des Vieldeutigen und Unbestimmten, den das Gedicht aufgerührt hat und der kein Freiraum der Willkürund des Beliebens des Lesers ist, sondern der Gegenstandder hermeneuti schen Anstrengung, die diese Verse verlan
gen. Wer die Schwierigkeit dieser Aufgabenstellung kennt,weiß, daß es sich nicht darum handeln kann, alle Konno-
tationen namhaft zu machen, die das »Verständnis« dichterischer Gebilde anklingen läßt, sondern darum, dieSinn-Einheit, die einem solchen Text als einer sprachlichen Einheit zukommt, so weit sichtbar zu machen, daß die sich anihn anschließenden unüberschaubaren Konnotati onen ihrem Sinn-Halt finden. Das ist bei einem Dichter, der dieVerfremdung natiirlichen Sprechens so hochgezüchtet hat
wie Celan, stets voller Risiken und bedarf der kritischenKontrolle. Einem Versuch, in dem gewiß viele Irrtümer
91
..,.
iI
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stecken werden, der aber als Aufgabe durch nichts abge- 'löst oder ersetzt werden kann, ist dieser Kommentar gewidmet. 4
Daß gerade die Folge Atemkristall, die ehedem gesondert veröffentlicht worden ist und den Band Atem-
wende einleitet, hier behandelt wird, hat zunächst keinenanderen Grund, als daß ich diese Gedichte einigermaßen
verstanden zu haben glaube. Es ist aber ein alter hermeneutischer Grundsatz, daß man bei der Interpretation von
schwierigen Texten dort einsetzen muß, wo man ein erstes, halbwegs sicheres Verständnis besitzt. Ob die Folge>Atemkristall<, wie mir scheinen will, obendrein einenHöhepunkt der Celanschen Kunst darstellt und es insofern mehr als zufällig ist, daß ich diese Gedichte geradenoch zu verstehen glaube, weil sie mir weniger als mancheseiner späteren Gedichte ins Unentzifferbare versinken,
mag dahingestellt bleiben.Ich bin mir bewußt, daß die Welt Paul Celans von der
Überlieferungswelt, in der ich selber - wie die meisten seiner Leser - aufgewachsen bin, weit abliegende Ursprüngebesitzt. Mir fehlt originale Kennerschaft der jüdischenMystik, der Chassidim (die auch Celan wohl nur aus Buber kannte), und vor allem der östlich-jüdischen Volksbräuche, die für Celan den selbstverständlichen Grund
bildeten, aus dem heraus er sprach. Mir fehlt auch die er
staunlich detaillierte Naturkenntnis des Dichters, und oftwäre man für Belehrung in der einen oder anderen Richtung im Grunde dankbar. Aber solche Belehrung hätteauch ihr Bedenkliches. Man geriete in eine gewisse Gefahrenzone: es könnte geschehen, daß man Kenntnisse aufböte, die der Dichter vielleicht selber nicht besaß. Celan
4 Die vorangehenden Bemerkungen b e z ~ . e h e n sich auf die Beiträge in demSammelband von Dietlind Meinecke (Uber Paul Celan. Fr ankfurt 1970,erw. Aufl. 1973). Die reiche spätere Forschung bringt gewiß viel Wis
senswertes, aber muß sich doch de m Maßstab unterwerfen, den ein Leser hat, der die Sinn-Einheit dieser Gedichte sucht, die er liest.
hat gelegentlich vor solchem Wissenseifer gewarnt. Selbstwo uns Kenntnisse oder gar vom Dichter selber stammende Informationen helfen - noch die Legitimität solcher Hilfe entscheidet sich am Ende an der Dichtungselbst. Die Hilfe kann »falsch« sein - und sie ist »falsch«,wenn die Dichtung sie nicht voll einlöst. Eine gewisse Einübung verlangt freilich jeder Dichter, und so ist auch hier
die »Sprache« des Dichters aus dem Kontext seines Werkes nicht abgelöst. Vielleicht werden uns die erhaltenenVorstufen der Celanschen Gedichte weitere Hilfe bringen- selbst diese wäre aber keine eindeutige, wie das BeispielHölderlins uns gelehrt hat. Alles in allem scheint mir derGrundsatz gesund, Dichtung nicht als gelehrtes Krypto-
gramm für Gelehrte anzusehen, sondern als für die An-
gehörigen einer durch Sprachgemeinschaft gemeinsamenWelt bestimmt, in der der Dichter ebenso zu Hause ist wie
sein Hörer oder Leser. Wenn es dem Dichter gelungen istund wo es ihm gelungen ist, sprachliche Gebilde zu gestalten, die in sich stehen, sollte es dem dichterischen Ohr
möglich sein, das Gültige auch unabhängig von solchemEinzelwissen und jenseits von ihm zu einiger Klarheit zu
erheben und damit der Präzision nahezukommen, die dasoffene Geheimnis dieser krypti schen Poesie ist.
Freilich, das Verfahren, ein Gedicht zu verstehen, verläuft nicht auf einer einzigen Ebene. Zwar ist es zunächst
nur eine einzige Ebene, in deres
vorliegt: die der Worte.Die Worte verstehen ist daher das allererste. Ohnehin istjeder der betreffenden Sprache Unkundige ausgeschlossen, und da die Worte eines Gedichts die Einheit einerRede, eines Atems, einer Stimme sind, sind es auch durchaus nicht nur die einzelnen Wörter, deren Bedeutung man
verstehen muß. Vielmehr legt sich die genaue Bedeutungeines Wortes erst durch die Einheit einer Sinnfigur fest, diedie Rede bildet. Das kann eine noch so dunkle, spannungsvolle, rissige, zersprungene und brüchige Einheit
sein, die die Sinnfigur dichterischer Rede besitzt - die
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Polyvalenz der Wörter legt sich im Vollzug des Redesin-'
nes fest und läßt die eine Bedeutung sich ausschwingen,
andere nur mitschwingen. Darin ist Eindeutigkeit, die al
lem Sprechen mit Notwendigkeit eignet, auch dem der
poesie pure. Das sollte selbstverständlich sein, und es
scheint mir durchaus irrig, zu leugnen, daß nicht jedes
Wort erst einmal in der genauen Konkretion seiner Bedeu
tung in der Rede erfaßt werden muß und daß diese allererste Ebene des Verstehens nicht übersprungen werden darf.
Das gilt vollends für Paul Celan, bei dem das einzelne
Wort sehr konkret und präzise gesagt ist. Man kann gar
nicht genau genug erwägen und ermitteln, was die Rede
»zunächst« sagt, wenn sich auch die eigentliche Präzision
des Gesagtseins, die die Rede ein Gedicht sein läßt, auf
dieser ersten Ebene der Wörter, ihrer Bedeutungs- und
Benennungsfunktion und der Redeeinheit, die sie bilden,
nicht erfüllt. In Wahrheit kann man sich in ihr gar nichthalten. Denn immer schon sind verschiedene Ebenen in
einandergeschoben. Das macht die Aufgabe des Verste
hens so schwer.
Aber was heißt hier überhaupt »verstehen«? Es gibt sehr
verschiedene Formen von »Verstehen«, die sich in einer
gewissen Unabhängigkeit voneinander zu vollziehen ver
mögen. Doch ist schon in der älteren hermeneutischen
Theorie die Verflechtung der verschiedenen Interpreta
tionsarten miteinander immer betont worden, auch wennman, wie insbesondere F. A. Boeckh in seiner Methoden
lehre der Interpretation, sich bemüht, die verschiedenen
Interpretationsmethoden scharf voneinander getrennt zu
halten. Das gilt insbesondere von der älteren Lehre von
dem vierfachen Schriftsinn, daß sie nur eine Beschreibung
der Dimensionen des Verstehens ist. Was ist bei Celan
»sensus allegoricus«? Bekanntlich hat Celan nichts davon
wissen wollen, daß es bei ihm Metaphern gebe, und wenn
man Metaphern als Redeteile und Redemittel versteht, die
sich aus dem eigentlich Gesagten herausheben bzw. in es
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eingliedern, so versteht man diese Abwehr recht wohl. Wo
alles Metapher ist, ist nichts Metapher. Wo der schlichte
und genaue Wortlauf das, wovon da die Rede ist, nicht als
ein »Positives« im Hegelschen Sinne, als eine vorgegebene
Welt von Sinn und Form »meint«, sondern im einen das
andere, im Gesagten gar nicht es und im »Nicht es« gleich
wohl nichts anderes »meint«, sind nicht nur verschiedene
Ebenen des Sagens unterschieden, sondern gerade auch in
ihrer Verschiedenheit in eins gebunden. Da gibt es keine
Allegorien. Alles ist es selbst.
Das dichterische Wort ist in dem Sinne »es selbst«, daß
nichts anderes, Vorgegebenes, da ist, an dem es sich mißt -
und doch gibt es kein Wort, das nicht außer ihm selbst-
und das heißt: außer seiner vielschichtigen Bedeutung und
dem mit dieser Bedeutung in ihren verschiedenen Ebenen
Benannten - nicht auch noch sein eigenes Gesagtsein
wäre. Das aber heißt, daß es Antwort ist. Antwort schließtFragen ein und schließt Fragen ab, d. h. aber, das Gesagte
ist nich t aus sich selbst allein, auch wenn nichts sonst vor
zeigbar ist als seine Sprachwirklichkeit.
Das ändert nichts an dem unbegreiflich Verbindlichen
eines Gedichts, daß es in sich selbst steht, daß keines seiner
Worte in der Weise für etwas steht, für das etwa auch ein
anderes Wort stehen könnte. »Als die eigentliche Sprache
erscheint mir die, in der das Wort und das Ding zu-
sammenfallen« (G. Eich). Doch impliziert die Einzigkeitdes Wie seines Gesagtseins immer noch etwas anderes.
Auch das Gedicht hat - wie jedes Wort des Gesprächs -
den Charakter des Gegenwortes, das mithören läßt, was
gerade nicht gesagt wird, was aber als Sinnerwartung vor
ausgesetzt ist, ja durch das Gedicht geweckt wird - viel
leicht nur, um als Erwartung gebrochen zu werden. Das
scheint insbesondere für heutige Lyrik wie die Celans zu
beachten. Das ist nicht Barocklyrik, die ihre Aussagen
innerhalb eines einheitlichen Bezugsrahmens hält und
mythologisch-ikonographisch-semantisch eine gemein-
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same Vörgegebenheit besitzt. Celans W o r t e n t s c h e i d u n g e ~ waren in sich ein Geflecht sprachlicher Konnotationen,
dessen verborgene Syntax von nirgends anderswoher er
lernbar ist als aus den Gedichten selbst. Das schreibt der
Interpretation ihren Weg vor: Man wird nicht vom Text
auf eine in ihrer Kohärenz vertraute Sinnwelt verwiesen.
Sinnfragmente sind wie ineinandergekeilt, man kann nicht
den Weg der Transposition von einer Ebene schlichten
Gemeintseins zu einer zweiten Ebene des eigentlich Ge
sagtseins gehen - das eigentlich Gesagte ist vielmehr auf
eine schwer beschreibbare Weise noch immer dasselbe,
das die Rede meinte. Was im Verstehen geschieht, ist nicht
so sehr eine Transposition als die beständige Aktualisie
rung der Transponierbarkeit, d. h. die Aufhebung aller
~ > P o s i t i : ~ t ä t « j ~ n e r ersten Ebene, die man dadurch gerade
1m posItIVen Smne »aufhebt« un d erhält.
Das ist für die Celan-Interpretation - und nicht nur fürsie - ganz entscheidend. Denn von da aus bestimmt sich
der so überaus umstrittene Stellenwert der Informationen
die nicht aus dem Gedicht selbst stammen, sondern a u ~ Mitteilungen des Dichters und seiner Freunde gewonnen
we:-den und den »biographischen« Anlaß, das biogra
phIsch lokalisierte Motiv, die konkrete un d bestimmte Si
tuation eines Gedichts betreffen. Man weiß, nicht zuletzt
aus Celans eigenem Munde in der Büchner-Preis-Rede,.
daß es für Celan gerade auch gegenüber dem KunstbegriffMallarmes und seiner Nachfolger charakteristisch ist daß
~ e i n e Dichtung und Art Wortschöpfung und Wortfindung
1St, die jeweils wie ein Bekenntnis aus einer genauen
Lebenssituation aufsteigt. Diese ist freilich nicht in ~ l l e n ihren Einzelbestimmtheiten aus dem Gedichttext allein
faßbar. Man nehme ein Gedicht wie Blume, das inzwi
schen durch eine Arbeit von Rolf Bücher in seinen Text
stufen überschaut werden kann.
Martin Gessmann
Nachwort
Der ununterbrochene Dialog: zwischen zwei Unendlich-
keiten, das Gedicht, ist Jacques Derridas »Adieu« an
Hans-Georg Gadamer. Die Festrede zu r Gedenkfeier anden Heidelberger Philosophen wurde am 15. Februar
2003 in der Aula der Neuen Universität in Heidelberg
gehalten.
.Derridas Heidelberger Rede fügt sich in eine lange
ReIhe von Abschiedsreden, die er im Laufe der vergan
genen 20 Jahre verfaßt hat, un d sie steht an deren vorläu
figem Ende. Die Tode von Roland Barthes waren Derridas
erste. Trauerarb,eit, auch in Deutschland berühmt gewor
den1St
das Adzeu an Emmanuel Levinas, andere illustreNamen. kommen hinzu: Michel Foucault, F r a n ~ o i s Lyo
tard, Gilles Deleuze, zuletzt Maurice Blanchot.
Wenn er es überhaupt wagen wollte, all jenen Ab
schiedsreden eine »Einführung« voranzustellen dann
schreibt Derrida im Vorwort einer jüngst e r s c h i e n e n e ~ Sammlung dieser Beiträge, müßte es der Essay über den
ununterbrochenen Dialog sein. Auch dieser ist in seinem
Ursprung zwar eine Abschiedsrede, aber Derrida will
damit zugleich offenbar mehr - über die Trauer über einen
Freu"?-d hinaus ein Nachdenken beginnen über die philo
sophIschen Schwierigkeiten des Abschiednehmens selbst.
Eine dieser Schwierigkeiten, wenn nicht sogar die wichtig
ste, besteht für Derrida in dem Anspruch, am Ende eines
Lebens von der Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit
jene: Existenz angemessen Zeugnis abzulegen. Nicht
wellIger sollte man demnach von einer echten Trauerrede
~ r w a r t e n dürfen, als daß sie sagt, wer dieser Mensch im In
nersten seines Wesens wirklich gewesen ist. Hier beginnt
aber das Problem, denn zuerst einmal muß man sich sicher
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sein können, daß man den anderen tatsächlich kennt und'
weiß, wer er in Wahrheit ist. Man muß es erst so weit
bringen, den anderen im emphatischen Sinne verstehen zu
können, mit all seinen Besonderheiten und höchst indi-
viduellen Eigenarten.
Um eine Antwort auf die Frage, inwiefern dies über
haupt möglich ist, wie weit das Verständnis des Gegen-
über bestenfalls zu dessen Wesen vordringen kann, dar-über haben H a n s - G ~ o r g Gadamer un d J acques Derrida
Jahrzehnte miteinander gerungen. Jetzt erscheint der
ununterbrochene Dialog als eine letztmögliche Antwort
darauf, eine finale Annäherung, die nicht ohne ein
gewisses Paradox besteht. Schon in der Rede vom unun-
terbrochenen Dialog selbst wird dies deutlich: denn nur
wo der Dissens über das Verstehen als solcher verständig
kultiviert wird, hat das gegenseitige Einvernehmen als
ausgezeichnete Form philosophischer Freundschaft eineChance.
Der ununterbrochene Dialog
Dieser begann fü r Gadamer schon weit früher als für Der
rida. Dessen »Ousia et gramme« hat Gadamer bereits in
den frühen 60er Jahren gelesen. Derridas Gadamerlektüre
setzt dagegen erst sehr viel später ein, wobei man im Auge
behalten muß, daß Gadamers Hauptwerk Wahrheitund
Methode erst 1976 (und auch nur in einer stark gekürzten
Fassung) ins Französische übersetzt wurde. Im selben
Jahr sollte es zu einem Zusammentreffen in Italien kom
men, die Einladung ging von Gadamer aus, aus dem Tref-
fen wurde allerdings nichts. Was Derrida in seiner Rede als
die erste »Unterbrechung« in seinem Verhältnis zu
Gadamer anspricht, dat iert auf das Jahr 1981, in dem es am
Pariser Goethe-Institut um Fragen von »Text und Inter
pretation« gehen sollte. Thema waren schon hier die
Grenzen unseres Verstehens, vor allem mit Blick auf die
Möglichkeiten, den Besonderheiten von Autor und Text
in der Auslegung gerecht zu werden.
Im Hintergrund der Debatte steht die Gemeinsamkeit
eines von beiden geteilten Heideggererbes. Heidegger hatte
in den 20er un d 30erJahren ganz grundsätzlich die Philoso-
phie gegen die moderne Wissenschaft un d Technik in Stel-
lung gebracht, insofern diese es schon mit ihrem speziellen
Vokabular dem Menschen schwerrnachen, das spezifisch
Menschliche im Umgang mit sich und der Welt richtig zu
beschreiben. De r »Verdinglichung« un d »Vernutzung«
alles Humanen ausgehend von der Wissenschaftssprache
sollte <;lie Philosophie entgegentreten mit der Forderung
nach einer Besinnung auf tieferliegende und noch sinntra-
gende Schichten unserer sprachlichen Ressourcen.
Dieser Spur ins Grundsätzliche folgend hat Gadamer
auf die Notwendigkeit eines besonderen Umgangs mit der
Sprache geschlossen, den man zu einer eigenständigenVerstehensform ausbauen müsse. Daraus ließe sich dann
eine methodische Grundlage für all jene Geisteswis-
senschaften gewinnen, die sich dem Druck des modernen
Szientismus nicht beugen wollten. Im Anschluß an
Schleiermacher und Dilthey nennt er diese »methodische«
Form des Verstehens »Hermeneutik«.
Derrida bietet komplementär dazu ein Verfahren an,
wie die Selbstsicherheit der verdinglichenden Wis-
senschaftssprache noch im Zuge ihrer Entstehung in Fragegestellt werden könnte. De m Systemdenken wird hier
nicht wie bei Gadamer eine Alternative geboten, es wird
vielmehr anarchisch unterwandert. Die entsprechende
Methodenanweisung nennt Derrida »Dekonstruktion« in
Anlehnungun d Fortschreibungder Heideggerschen »De-
struktion von Metaphysik«. Wollte Heidegger noch mit
seiner Philosophie auf ein sicheres Sinn-Fundament in der
Sprache stoßen, nutzt Derrida jene Wiederentdeckung
sprachlicher Tiefendimensionen vo r allem zu Zwecken
der Verunsicherung. Geht es doch der »Dekonstruktion«
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letztlich darum, die Bodenlosigkeit all unseres Verstehensin der prinzipiellen Zwei- oder Vieldeutigkeit der Zeichenvor Augen zu führen.
In Paris wurde nu n ausgelotet, inwiefern beide Verstehens-Konzepte noch einmal einander angenähert werdenkönnten . Das Problem zeichnet sich dabei an der Stelle ab,an der die gemeinsame Opposition gegen das System
denken der exakten Wissenschaften zwar weiter vorausgesetzt ist, dafür aber innerhalb der Hermeneutik erneut einDissens um die nötige Systemhygiene droht. In DerridasAugen entsteht der Verdacht, Gadamer gehe möglicherweise mit seiner Skepsis gegenüber möglichen Sinnvermutungen im Felde der Geisteswissenschaften nicht weitgenug. Das zeige sich in letzter Instanz an der Frage,wieweit sich ein Text und dessen Autor hermeneutischschließlich doch auf eine bestimmte Aussage festlegen
lassen müssen. Derrida wirft Gadamer konkret vor, denAutor als den »Anderen« immer noch als eine feste Größe
ins Auslegungsgeschehen einzubeziehen, anstatt, gemäßden Maximen der Dekonstruktion, auch noch diesen in
seiner Identität mitsamt dem Gehalt seiner Aussageradikal in Frage zu stellen.
Hier beginnt nun im eigentlichen Sinne der »ununterbrochene Dialog« mit einer Replik Gadamers, der sich angesichts des Vorwurfs, seine Hermeneutik sei schließlich
noch eine Ar t Sinnfeststellungsverfahren, deutlich mißverstanden fühlt. Denn so, wie er das hermeneutische Wechselspiel zwischen» Text und Interpretation«, zwischen Au-
to r und Ausleger konzipiert, bestehe von Anfang nicht diegeringste Gefahr, daß es zu vorschnellen Festlegungenüber Sinn und Bedeutung von Textaussagen kommenkönne. Gadamer hilft dabei, daß er die Textarbeit desInterpreten immer schon nach dem Vorbild eines Zwiegesprächs verstanden hat, wobei für ihn natürlich dersokratische Dialog das philosophische Muster dazuabgibt. Un d ein solches Gespräch lebt ja in der Tat von
100
einer Grundevidenz: Ha t man sich erst einmal von persönlichen Eitelkeiten verabschiedet und diskutiert nur um derSache willen, ist es bereits dem Gesprächsverlauf überlassen, einen von selbst und ganz all eine weg von einer jeden voreiligen Fixierung auf bestimmte Vorverständnissezu führen. Kein Gesprächspartner findet sich mehr, sollteer ehrlich zu sich sein, am Ende einer echten Kontroverse
genau an dem Punkt wieder, von dem er am Anfang einmalausgegangen war. De r jeweilige Horizont der Betrachtung,sagt Gadamer, hat sich dann im lebendigen Austausch divergierender Ansichten wechselseitig geöffnet, und seinG e s p r ~ c h s i d e a l sieht zum Schluß sogar ein gemeinsam vertieftes Verständnis der diskutierten Angelegenheit vor.Eine derart glückliche Konvergenz wesentlicher Hin-
sichten heißt im hermeneutischen Vokabular eine »Hori-
zontverschmelzung«.
Der Gadamersche Verweis auf hermeneutische Gesprächstugenden reicht in Derridas Augen allerdings nichtaus. Er hakt dabei an dem Punkt ein, an dem Gadamer mit
der »Horizontverschmelzung« einen letzten Ruhepunkt
im Gespräch vorsieht. Eine solche Harmonie der Hin-
sichten sei letzten Endes immer von der Philosophieerzwungen, sie sei ein Oktroi eines quasi-metaphysischen»Willens zur Verständigung«. Anstatt den anderen zu
dekonstruieren, werde er vielmehr gemäß diesem Willen
zur Einigung erst hervorgebracht, er ist dessen Konstrukt.Derrida kann hier seinerseits auf eine Grundevidenz verweisen. Denn bleibt nicht auch noch im »besten«hermeneutischen Gespräch, trotz aller Einigung, aller Beteuerung des Einverständnisses in der Sache und sogargrößtmöglicher Annäherung im Grundsätzlichen, dennoch am Ende ein möglicher Zweifel: ob es nicht dochwieder nur wir selbst sind, die unsere eigenen Ansichten in
die Äußerungen des anderen hineinlegen oder hineinprojizieren; ob also der andere es tatsächlich so gemeint hat,wie wir meinen, daß er es gemeint haben müßte; und ob er
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deshalb nicht, und zwar um seiner selbst willen, in einer'
letzten Instanz ganz anders-verstanden werden wollte, als
wir dies mit unserer Aneignung des anderen ständig tun?
Man darf deshalb nicht glauben, schließt Derrida aus
alldem, das hermeneutische Gespräch würde dem phi
l ~ s o p h i s c h e n Anliegen allein schon aus seiner Eigenlo
gik heraus gerecht. Vielmehr gelte es, an einem jeden An
haltspunkt des Gesprächs von neuem allem Verdrängten,
Unterdrückten, Marginalisierten, kurz allem Nicht-Ver
standenen in allem hermeneutischen Verstehen nachzu
spüren und es aufzudecken. Dies nennt er eine »disse
minale« Lektürepraxis, weil sie jede Interpretation nur
als den »Keim« neuer Interpretationen nimmt, in denen
zugleich immer auch neues Nicht-Verstehen ans Licht
gebracht wird, dessen Auslegung wiederum neue, mehr
und mehr wuchernde Interpretationen nach sich zieht.
Gadamer nahm die Herausforderung an, wie manchemeinen, mit beinahe jugendlichem Eifer: »Wer mir De
konstruktion ans Herz legt und auf Differenz besteht,
steht am Anfang eines Gespräches, nicht am Ende.« Die
kommenden zehn Jahre sollten in der Tat dazu bestimmt
sein, Vorwürfe wie Vorurteile auszuräumen. Gadamer be
stand ganz zu Recht darauf, daß auch seine Hermeneutik
keineswegs im Verstehen einen Abschluß suche. Auch die
beste Interpretation berge ganz natürlich einen Keim für
weitergehende Deutunge n, und an keinem Punkt des Proz e s ~ e s .läßt sich endgültig feststellen, was eigentlich ge
meInt 1st. So verlaufen in der Tat die»Wirkungsgeschich
ten«, von denen Gadamer immer schon ausgeht: Jeder
Interpret meint vielleicht zwar, seinen Gegenstand oder
sein Gegenüber endgültig verstanden zu haben. Mit nur
ein wenig historischem Abstand zeigt sich aber dann
schon wieder, daß eine jede solche Sicherheit verfrüht sein
muß und immer neue Deutungen für sich ein Besser-Ver
stehen beanspruchenund
gegenüber den Vorgängern einklagen. Die Beruhigung selbst bei einer Horizontver-
I02
schmelzung ist immer nur vorläufig, denn Horizonte ha
ben es an sich, ihre Grenzen je nach Standpunkt in der Ge
schichte zu bewegen und zu verschieben. So bleibt auch
hermeneutisch gesprochen der endgültige Sinn einer Sache
bei jeder Deutung immer noch ausstehend. Nur in der
Unendlichkeit des Deutungsprozesses ließe sich der ge
suchte Sinn zur Erfüllung bringen.
Auch Derrida nahm die Herausforderung an, wenn
auch zuerst mehr aus der Ferne. Es brauchte noch mehrere
Treffen, in Heidelberg, auf Capri, und nach zehn Jah
ren ein weiteres Mal in Paris, bis es zu einer wirklichen
Annäherung kam. Persönlich wie philosophisch. Der rida
schickte von nu n an Gadamer seine Publikationen mit
herzlicher Widmung. Gadamer fand dagegen »Aspekte
von Derridas Begriffsbildung« in seiner eigenen Herme
neutik wieder. Unterschiede blieben aber auch jetzt, von
beiden Seiten. Das Angebot der Hermeneutik, auch nochin der gelungenen Deutung mit einem Entzug des endgül
tigen Sinns zu rechnen, geht der Dekonstruktion naturge
mäß nicht weit genug. Zwar kommt es in der Tat dadurch
nicht mehr zu einem Abschluß im Verstehen. Derr ida geht
aber davon aus, daß selbst dann noch ein Rest an Unver
standenem bliebe, wenn man den unabschließbaren Wir
kungsgeschichten bis an ih r virtuelles Ende folgen könnte.
Selbst wenn alle Verstehensmöglichkeiten vollkommen
erschöpft wären, bliebe noch dasselbe Unbehagen, das
sich schon bei jedem einzelnen Einverständnis gemeldet
hatte: daß man das Wesentliche immer noch nicht oder
noch gar nicht erfaßt habe. Hinzu käme nur die unend
liche Wiederholung jener Erfahrung, über die als solche
freilich dadurch nich t hinauszukommenwäre. Ausschlag
gebend dafür ist Derridas Intuition, daß am Ende das
ganze Dialogverfahren und das hermeneutische Gespräch
sich als unzureichend erweisen könnten. Wenn die Her
meneutik richtigerweise davon ausgehe, daß sich in jedem
Deutungsakt immer noch etwas der verstehenden Aneig-
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nung entziehe, so sei diese Einsicht entsprechend zu radi- '
kalisieren. Die Zugangsweis,e .4er Hermeneutik insgesamt
sei in Frage zu stellen. Dem »entfaltende(n) Bezug« stellt
Derrida so erst einmal den»Bruch des Bezuges« entgegen,
dem Gesprächsangebot die Gesprächsverweigerung. Aus
dekonstruktiver Sicht ist dies nichts weniger als konse
quent gedacht. Denn es hieße schon, sich auf die Wahr
heitsansprüche der Hermeneutik einzulassen, würde man
das Gespräch mit ihr beginnen von einer Position aus, die
sich von vornherein skeptisch zeigt, was den philosophi
schen Ertrag eines solchen Gesprächs angeht. Gadamer
hatte ja nicht umsonst auf die Unhintergehbarkei t des Ge
sprächs verwiesen - noch um den Dissens zu formulieren,
bräuchte es ein vorangehendes Einverständnis. Im »Bruch
des Bezuges« wird dies freilich unterlaufen, auch wenn ein
solcher Bruch seinerseits wiederum erst einer Deutung
bedarf, um als solcher richtig verstanden zu werden. ImRückblick Derridas jedenfalls scheint es beinahe unum-
gänglich, daß ein echter »entfaltender Bezug« zwischen
dem Doyen der Dekonstruktion und dem Erfinder der
philosophischen Hermeneutik nur durch das anfängliche
Ausschlagen eines Gesprächsangebotes begründet werden
konnte. Oder, anders gesagt, als ein Dialog, der nur über
den Bruch hinaus »ununterbrochen« werden konnte.
Zwischen zwei Unendlichkeiten, das Gedicht
Was den Dialog zwischen Derrida und Gadamer über alle
Brüche hinaus tatsächlich »ununterbrochen« machen
konnte, ist, wie Derrida gleich eingangs bemerkt, die
philosophische Aufmerksamkeit beider für das Gedicht,
die große Lyrik. Auch hier ist wieder der gemeinsame
Heideggerbezug vorauszusetzen, Derrida spielt darauf in
Gadamers Wendung von »Denken oder Dichten« an. De r
späte Heidegger sah in der Formel einer Verbindung von
»Dichten un d Denken« die letzte Möglichkeit der Philo-
1°4
sophie, über das rein negative Verfahren einer »Destruk
tion von Metaphysik« hinauszukommen und überhaupt
noch »positive« Einsichten zu formulieren. Durch die
moderne metaphysische Wissenschaftssprache wird uns
der Weltzugang verstellt, un d das philosophische Verfah
ren zielt darauf, diese Vers teIlungen abzubauen und mög
lichst die verschütteten Zugänge wieder freizuräumen.
Das Dichten dagegen ist allererst in der Lage, uns in dieserSituation wieder einen Weltzugang zu eröffnen, uns Welt
zu erschließen. Dichten im Sinne großer Dichtung muß
nämlich nicht von Vers teIlungen befreit werden, weil
Dichtung selbst keine Lehre ist. Sie erklärt die Welt nicht
und kann auch selbst nicht erklärt werden. Und doch gilt
gemeinhin als ausgemacht, daß im Gedicht nichts weniger
als eine ganze Welt aufscheint, daß die lyrische Sprache in
ganz besonderer Weise in der Lage ist, als »weltbildend«
verstanden zu werden. Sie kann den Sinn der Welt und ihreErfahrung zwar nicht wissenschaftlich erklären, dafür
aber künstlerisch »evozieren«. An diese Grunderfahrung
knüpfen Gadamer und Derrida gleichermaßen an, wie zu
vor auch schon der späte Heidegger. Anders als die Philo
logie interessiert sie allerdings im Aufscheinen einer Welt
nicht die Welt, die da aufscheint, was es von ihr alles zu sa
gen und zu explizieren gibt, sondern vielmehr der schiere
Umstand des Aufscheinens von Welt, das Erscheinen der
Welt in der Spracheoder
die Sprache als der Ort ihrerEr-
scheinung. Nicht das Was des Ausgesagten, sondern das
Wie des Aussagens ist entscheidend, oder anders gewen
det: Daß überhaupt Welt zugänglich ist, und zwar sprach
lich zugänglich ist, ist die philosophische Botschaft des
Gedichts. Lyrik sagt dies nicht wie die Wissenschaften, sie
zeigt es aber. Sie zeigt nichts anderes als die ganze sprach
liche Färbung und Tönung von Welt, so sie uns überhaupt
zugänglich ist. Was damit an »positiver« Einsicht für die
Philosophie gewonnen ist, müßte man so formulieren:
Wenn sich auch Philosophie unwiderruflich davon verab-
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schieden muß, selbst einen bestimmten Sinn der Welt fest- '
zustellen und wissenschaftlich zu definieren, so bleibt
durch die Verbindung von D{cllten und Denken immerhin
noch so viel an Aussage bestehen, daß uns überhauptnoch
ein Sinn der Welt zugänglich ist, daß nicht nichts ist, son
dern vielmehr etwas, noch ganz unabhängig davon, was
dieses dann bedeutet - wenn es nur gelingt, große Dich
tung richtig auszulegen.Paul Celan suchte das Gespräch mit Philosophen, und
Philosophen suchten das Gespräch mit ihm. Martin Buber
und Gershorn Sholem, Martin Heidegger und Theodor
W Adorno, Emmanuel Levinas und J cques Derrida ge
hörten zu seinen Gesprächspartnern und Freunden, und
nicht zuletzt Hans-Georg Gadamer. Die philosophische
Kontroverse um sein Werk beginnt mit Adornos Ein
spruch, eine Lyrik nach Auschwitz sei ':l:ndenkbar. Celans
Todesfuge gerät in den Verdacht einer Asthetisierung desGrauens, einer Verharmlosung des Holocaust, einer Be
schwichtigungsliteratur. Dahinter steht freilich auch ein
grundsätzlicher Disput um das Wesen der Lyrik, der am
Beispiel Celans zwischen der Phänomenologie und der
Frankfurter Schule aufbricht. Für Heidegger wie dann
später auch noch für Gadamer ist das, was sich im Celan
schen Gedicht zeigt, immer noch die sprachliche Erschei
nung von Welt, wie geschunden, versehrt und rätselhaft
diese Welt auch sein mag, wie brüchig und gebrochen auch
das Wort sein muß, in der diese Welt zur Erscheinung
kommt, und wie irrlichternd, schillernd und zuletzt un-
verständlich die Erscheinung selbst der Welt in der Spra
che sich zeigt; für Adorno dagegen ist alleine schon wieder
die ästhetische Erscheinung einer solchen Welt nichts
mehr als ein bunter Schleier, der über die wahre Abgrün
digkeit der Welt gelegt wird. Was in Celans Lyrik zur
Sprache kommt, ist an sich so unfaßlich, so unsäglich und
unbegreiflich in seiner bodenlosen Absurdität, daß es
keine lyrische Behandlung erträgt. Schon die dichterische
106
Darstellung jener maßlosen Sinnlosigkeit rechnet nur un
genügend mit der Radikalität eines Sinnentzugs, der über
jede sprachliche Erscheinungsform hinausgeht. Gebotenund angemessen ist hier alleine noch das lyrische Schwei
gen, oder noch entschiedener das Schweigen der Lyrik.
Am Beispiel Celans wird damit auch noch die letzte phä
nomenologische Möglichkeit in Frage gestellt, wie im Ge
dicht noch ein Sinn von Welt zugänglich werden könnte.Denn selbst noch das Entschwinden des Welt sinns aus der
Sprache wäre jetzt nicht mehr in der Sprache darstellbar.
»Zwischen« diesen beiden »Unendlichkeiten«, einer Er
scheinung eines unendlichen Sinnentzugs und eines un
endlichen Sinnentzugs der Erscheinung, einer Darstellung
der Verbergung und einer Verbergung der Darstellung,
plaziert Derrida seine Celanlektüre. Es geht darum, jenen
unterbrochenen Dialog zwischen zwei U nendlichkeiten
am Ende zumindest ununterbrochen zu machen, was fürDerrida methodisch jetzt das Spuren ziehen eines einzigar
tigen Mittelwegs verlangt. Auf der einen Seite steht der
»entfaltende Bezug« der Hermeneutik, auf der anderen
Seite deren vollkommener Abbruch im »Bruch des Be
zugs«, angesichts eines Entzugs der Welt im Gedicht, ge
mäß dem Celanschen Dichterwort »die Welt ist fort«.
Derridas Ansatz ist es nun, noch die Verschwiegenheit des
Gedichts und seiner hermetischen Weltabgeschlossenheit
selbst hermeneutisch zum Sprechen zu bringen, so paradox dies klingt, also eine Auslegung dessen zu wagen, was
sich jeder Auslegung grundsätzlich entzieht. Dies gelingt
durch eine entscheidende U minterpretation. Das, was sich
bisher als verborgener Rätselsinn der Welt selbst noch
dem Gedicht entziehen sollte, was sich also noch hinter al
lem Dichterwort unendlich verbirgt, wird für Derrida in
einem »linguistic turn« selbst zum Teil des Gedichts. Es
findet sich dort wieder, wo das Dichterwort selbst ver
stummt, wo sich noch im Gedicht selbst ein Schweigen
auftut, in dem die Sprache versagt. Sinnbildlich ist dies in
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dem Celangedicht GROSSE GLÜHENDE WÖLBUNG ander Stelle zu finden, wo zwischen der letzten Strophe unddem Schlußvers ein »blanc silence« einsetzt, ein weißesSchweigen, das aus mehreren Zeilenabständen im Textbesteht. Jene Leerzeilen gehören aber für Derrida jetztselbst zum Text, sie sind nichts anderes als die Vertextungjenes Sinnentzuges, von dem zuvor die Meinung war, daß
er sich der Sprache absolut entzieht. Dieser erscheint nunselbst als eine Schrift, eine Rätselschrift von der Art, als ob
das weiße Schweigen auf dem Papier geradezu mit Buchstaben übersät wäre, die nur alle mit weißer Tinte geschrieben sind. Un d genaugenommen ist dieses weißeSchweigen nicht nur dort, wo es dichterisch in Szene gesetzt ist durch den Rahmen einer großen Auslassung.Treibt man die Deutung weiter, findet es sich vielmehrzwischen allen Strophen, allen Versen und Worten, selbst
noch zwischen allen Silben und Buchstaben, wie DerridasAnalyse des »syllabaire« des Textes es nahelegt.
Derrida will »Gadamer treu bleiben oder ihn sogarnachahmen«, »bis zu einem gewissen Punkt und soweit es
irgend geht«. Die Auslegung unterscheidet sich allerdingsvon der üblichen Text-Hermeneutik in einem wesentlichen Punkt. Die Aneignung jenes »Unheimlichen«, dassich im Text als dessen innere Verschwiegenheit auftut,kann nur noch schwer nach dem Muster einer Deutung
und deren sukzessiver Verbesserung gedacht werden. DasSinnangebot, das der Interpret jener unendlich verschlüsselten Rätselschrift macht, wird nicht mehr wenigstenszum Teil bestätigt, so daß dann ein Rest bleibt, den es ineinem »entfaltenden Bezug« anschließend zu klären gelte.Das Angebot wird vielmehr vom unheimlich gewordenenText vollkommen ausgeschlagen, insofern es hier garkeine Antwort seitens des Textes gibt, keinerlei Evidenz,ob das Gemein te auch nur ein Stück weit getroffen ist. Esfolgt aber eben wegen der Textgestalt jenes Sinnentzugesnicht wiederum der bloße Abbruch aller Deutungsbemü-
10 8
hungen, ein »Bruch des Bezuges«, im Gegenteil: Die dekonstruktive Lehre aus der Antwortverweigerung desTextes besteh t vielmehr darin, andere, viel weitergehendeund außergewöhnliche Deutungen vorzuschlagen. Jeneverbessern die Lage des Interpreten zwar nicht, sie machen wiederum nur das Schweigen des Textes noch rätselhafter, noch undurchdringlicher, und im Überbieten aller
Sinnangebote zugleich unendlich tiefsinnig. Hiermit beginnt sich die Spirale zu drehen, denn eine weiter gesteigerte Sinnvermutung hat nur wiederum eine gesteigerteAuslegungsanstrengung zur Folge. Wahrhaft gesteigertwird so zum Schluß nicht die Annäherung der Deutung
an die Sache, sondern vielmehr nur die Wut des Interpreten, mit immer neuen Vorschlägen jenes Unheimlicheendgültig einzuholen, das sich mit jedem Deutungsschrittnur um so konsequenter entzieht. Das Moment der Be
stätigung, daß die Deutung auf dem richtigen Wege ist,kippt damit zugleich von der Evidenz einer jeden Deu-
tung zur Evidenz des Versagens einer jeden Deutung.Dort, in dem Augenblick, in dem klar wird, daß auchdiese Auslegung das Gemeinte vielleicht vollkommenverfehlt, zeigt sich allein noch das, was sich der Deutung
immer wieder entzieht. In der Unterbrechung der Deu-
tung, in ihrem Umschlag, im Moment ihres Versagensleuchtet die Vermutung auf, hier habe das Unheimliche
im Text tatsächlich seine paradoxe Ent faltung. So kommtes schließlich auch zu der methodischen U mwidmung des»entfaltenden Bezugs« der Hermeneutik über einen»Bruch des Bezugs« zu einem »Bezug als Bruch«. Denn
nur hier ist die Deutung wahrhaft auf ihre »Sache« gerichtet, wo sie diese verfehlt, denn die Sache ist gar nichtsanderes mehr als der Entzug selbst einer unheimlich gewordenen Welt.
Dort, an dieser methodischen wie auch inhaltlichenGrenze, wo sich die Welt in ihrem äußersten Erscheinennur darstellen läßt, indem sie sich unserer Deutung mehr
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und mehr entzieht, beginnt in Wahrheit erst Derridas Me
ditation über philosophische Melancholie und Abschied.
Sie kreist beständig um die Frage nach dem Schwinden der
Welt, und mit Celans Schlußvers des Gedichts GROSSE
GLÜHENDE WÖLBUNG auch darum, was dann ist,
wenn schließlich »die Welt fort« ist. Hier ginge es darum,
auch noch die letzte Grenze des Gedichts zu überschrei
ten in Richtung eines einzigartigen und unwiederbringlichen Entzuges der Welt und des anderen, eines Er
eignisses, das philosophisch vollkommen undenkbar
bleibt, da es sich im Denken wie im Dichten nie mehr ein
holen läßt. Der »ununterbrochene Dialog« mit Gadamer
erscheint in diesem Zusammenhang als jenes vorläufige
Oszillieren zwischen der Erscheinungsseite und der Ent
zugsseite der Welt selbst, die in einem schon unmöglich
gewordenen Gespräch am Ende doch zueinandergefun
den haben. Hölderlins Sentenz: »Denn keiner trägt dieWelt allein« ist hier ein angemessenes Schlußwort.
Textnachweise:
J acques Derrida, Le dialogue ininterrompu: entre deux in/inis, le
poeme. Festrede zur akademischen Gedenkfeier zu Ehren von
Hans-Georg Gadamer am 15. Februar 2003 in der Neuen Aula
der Universität Heidelberg.
Jacques Derrida, »Guter Wille zur Macht (I)«, in: Ph. Forget
(Hg.), Text und Interpretation, München 1984, S. 56-58.
Hans-Georg Gadamer, Wer bin ich und wer bist Du? Kommentar
zu Celans Gedicht/olge >Atemkristall<, in: ders., Gesammelte
Werke, Bd. 9, Tübingen 1993, S. 383-406; 412 -4 14; 427-431.