fünfte, überarbeitete und aktualisierte...

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Annemarie Pieper Einführung in die Ethik Fünfte, überarbeitete und aktualisierte Auflage A. Francke Verlag Tübingen und Basel

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Annemarie Pieper

Einfuumlhrung in die Ethik

Fuumlnfte uumlberarbeitete und aktualisierte Auflage

A Francke Verlag Tuumlbingen und Basel

Annemarie Pieper ist emeritierte o Professorin fuumlr Philosophie an der Universitaumlt Basel

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie detaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlber lthttpdnbdd bdegt a brufbar

5 uumlberarbeitete und aktualisierte Auflage 2003 4 uumlberarbeitete und aktualisierte Auflage 2000 3 uumlberarbeitete Auflage 1994 2 uumlberarbeitete und aktualisierte Auflage 1991 1 Auflage 1985 (Beck Verlag Muumlnchen)

copy 2003 A Francke Verlag Tuumlbingen und Basel Dischingerweg 5 D-72070 Tuumlbingen ISBN 3-7720 - 1698-7

Das Werk einschlieszliglich aller seiner Teile ist urheberrechdich geschuumltzt Jede Verwertung auszligerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Z ustimmung des Verlages unzulaumlssig und strafbar Das gilt insshybesondere fuumlr Vervielfaumlltigungen Uumlbersetzungen Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und saumlurefreiem Werkdruckpapier

Satz Nagelsatz Reurlingen Einbandgestaltung Atelier Reichert Stuttgart Druck und Bindung Hubert amp Co Gaumlttingen Printed in Germany

ISBN 3-8252-1637-3 (UTB-Bestellnummer)

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Vorwort

Die erste Auflage dieses Buches erschien 1985 unter dem Titel raquoEthik und Moral Eine Einfuumlhrung in die praktische Phishylosophie laquo im Beck Verlag (Muumlnchen) Der Text basiert auf dem dreiteiligen Kurs raquoEinfuumlhrung in die philosophische Ethiklaquo den ich 197980 im Auftrag der Fernuniversitaumlt Hagen fuumlr Studieshyrende der Erziehungswissenschaften erarbeitet hatte Die zweite gruumlndlich uumlberarbeitete und erweiterte Auflage die der Entwickshylung der Ethik seit 1985 Rechnung trug erschien 1991 im Francke Verlag (Tuumlbingen und Basel) unter dem Titel raquoEinshyfuumlhrung in die Ethiklaquo Die dritte Auflage in welcher das Literaturverzeichnis auf den neuesten Stand gebracht wurde kam 1994 heraus Die vierte Auflage (1999) wurde wiederum durchgehend aktualisiert und vor allem in den Kapiteln 25 321 332 und 8 ergaumlnzt Die nun vorliegende 5 Auflage wurde erneut durchgesehen Kapitel 7 wurde ergaumlnzt und das Literaturverzeichnis aktualisiert

Annemarie PieperBasel im April 2003

Inhaltsverzeichnis

Vorwort 5 Einleitung 11

1 Die Aufgabe der Ethik 17

11 Herkunft und Bedeutung des Wortes raquoEthik laquo 24 12 Die Rolle der Moral in der Alltagserfahrung 30 13 Der Ansatz ethischen Fragens 42 14 Der Vorwurf des Relativismus 49

2 Ethik als praktische Wissenschaft 60

21 Disziplinen der praktischen Philosophie 61 211 Politik 61 212 Rechtsphilosophie 63 213 Oumlkonomik 66

22 Disziplinen der theoretischen Philosophie 72 221 Anthropologie 72 222 Metaphysik 76 223 Logik 81

23 Teildisziplinen der Ethik 84 231 Pragmatik 84 232 Metaethik 86

24 Die Autonomie der Ethik 92

25 Angewandte Ethik 92 251 Medizinische Ethik 93 252 Bioethik 95 253 Sozialethik 97

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254 255 256 257 25 8

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51 52

Inhaltsverzeichnis

Wirtschaftsethik _ 98 99Wissenschaftsethik

Oumlkologische Ethik 100 103Friedensethik

106Weitere Spezialethiken Ethikkommissionen

Die Bedeutung der Ethik fuumlr die menschliche Praxis 114

Ethik als praktische Wissenschaft unter anderen praxis bezogenen Wissenschaften 119

Ethik im Verhaumlltnis zu empirischen Einzelshywissenschaften 120 Psychologie 120 Soziologie 124

Ethik im Verhaumlltnis zu normativen Wissenschaften 128 Theologie 128 Jurisprudenz 136

Ethik und Paumldagogik 139 Die ethische Dimension der Paumldagogik 140 Paumldagogisch vermittelte Ethik 150

Grundfragen der Ethik 160

Gluumlckseligkeit 161 164Freiheit und Determina tion

171Gut und Boumlse

Ziele und Grenzen der Ethik 178

Ziele 178 Grenzen 181

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Inhaltsverzeichnis 9

Grundformen moralischer und ethischer Argumentation 185

Moralische Begruumlndungen 185 Bezugnahme auf ein Faktum 185 Bezugnahme auf Gefuumlhle 189 Bezugnahme auf moumlgliche Folgen 191 Bezugnahme auf einen Moralkodex 195 Bezugnahme auf moralische Kompetenz 196 Bezugnahme auf das Gewissen 197

Ethische Begruumlndungen 200 Logische Methode 200 Diskursive Methode 205 Dialektische Methode 212 Analogische Methode 220 Transzendentale Methode 223 Analytische Methode 226 Hermeneutische Methode 229

Grundtypen ethischer Theorie 234

Neutralitaumlt oder Engagement Zur Haltung des Moralphilosophen 234 Das theoretische Erkenntnisinteresse 236 Das praktische Erkenntnisinteresse 23 7 Die Rolle der Kritik in der Ethik 237

Modelle einer deskriptiven Ethik 238 Der phaumlnomenologische Ansatz (Wertethik) 238 Der sprachanalytische Ansatz (Metaethik) 244 Der evolutionaumlre Ansatz 251

Modelle einer normativen Ethik 255 Der transzendentalphilosophische Ansatz (Willensethik konstruktive sprachpragmatische und generative Ethik) 255 Der existentialistische Ansatz (Daseinsethik) 262

10 Inhaltsverzeichnis

733 Der eudaumlmonistische Ansatz (Hedonistische und utilitaristische Ethik) 266

734 Der vertragstheoretische Ansatz (Gerechtigkeitsethik ) 273

73 5 Der traditionale Ansatz (Tugendethik und kommunitaristische Ethik) 275

736 Der materialistische Ansatz (Physiologische und marxistische Ethik) 278

8 Feministische Ethik 289

Anmerkungen 302

Zitierte Autoren und ergaumlnzende Literaturhinweise 311

Bibliographie 329

Register 333 Personen 333 Sachen 336

Einleitung

Im Mittelpunkt unserer Uumlberlegungen stehen drei Fragenbereiche

1 Womit hat es die Ethik als philosophische Disziplin zu tun Was ist ihr Gegenstand

2 In welcher Weise beschaumlftigt sie sich mit diesem Gegenstand Bildet sie methodische Verfahren aus die dazu berechtigen von der Ethik als einer Wissenschaft zu sprechen Oder steht sie auf einer Stufe mit Weltanschauungen und Ideologien die keine allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen koumlnnen

3 Worum geht es der Ethik letztendlich Was ist ihr Ziel

Vorab lassen sich noch ohne naumlhere Begruumlndung folgende Antworten auf diese Fragen skizzieren

Zu 1 Die Ethik hat es mit menschlichen Handlungen zu tun Dennoch ist sie keine Handlungstheorie schlechthin denn ihr geht es vorrangig um solche Handlungen die Anspruch auf Moralitaumlt erheben um moralische Handlungen also Sie fragt nach diesem qualitativen Moment das eine Handlung zu einer moralisch guten Handlung macht und befaszligt sich in diesem Zusammenhang mit Begriffen wie Moral das Gute Pflicht Sollen Erlaubnis Gluumlck ua

Zu 2 Die Ethik beschaumlftigt sich auf methodische Weise mit ihrem Gegenstand - mit moralischen Handlungen - da sie zu argumentativ begruumlndeten Ergebnissen gelangen will und somit weder moralisieren noch ideologisieren oder weltanschauliche Uumlberzeugungen als allgemein verbindliche Handlungsgrundlage verkuumlnden darf Ihr ist es demnach um Aussagen zu tun die nicht bloszlig subjektiv guumlltig sondern als intersubjektiv verbindshylich ausweis bar sind

Man unterscheidet in der Ethik grob zwei Kategorien von ethischen Methoden deskriptive und normative Methode Die

262 Grundtypen ethischer Theorie

sucht aber - der Intention nach wie FICHTE - uumlber den Kantishysehen Ansatz hinausgehend nach einem letzten houmlchsten Prinzip das nicht nur reduktiv ermittelt sondern auch aus sich selbst entfaltet und immanent expliziert wird Diese in den Bildern des Ursprungs oder des Entschlusses vorgenommene Selbstexplikashytion von Freiheit als oberste geltungsbegruumlndende Instanz ist letzter Grund fuumlr Moralitaumlt und damit unverzichtbarer Sinnshygrund menschlicher Praxis schlechthin

732 Der existentialistische Ansatz (Daseinsethik)

Der existentialistische Ansatz stellt den Begriff der menschlichen Existenz in den Mittelpunkt ethischer Uumlberlegungen und versucht menschliches Handeln aus der Gesamtheit menschshylichen Selbstseins das als Einheit von Denken Wollen Fuumlhlen und Handeln begriffen wird zu begruumlnden Diese Einheit im konkreten Vollzug seines Daseins je und je geschichtlich neu herzustellen ist die bleibende moralische Aufgabe jedes einshyzelnen

Als erster hat Soumlren KIERKEGAARD den Versuch unternomshymen die Ethik existentialistisch zu begruumlnden KIERKEGAARD setzt sich mit seinem Ausgangspunkt beim menschlichen Existieren zur Wehr gegen jede Wesensphilosophie (Gegensatz von essentia - Wesen und existentia - Dasein) Die traditionelle Philosophie als deren Repraumlsentanten er vor allem HEGEL sah war fuumlr ihn ausschlieszliglich Wesensmetaphysik indem sie nicht nach dem Sein sondern nach dem Wesen der Dinge fragte und dieses Wesen abstrakt vermittels allgemeiner Begriffe formuliershyte Was fuumlr die Dinge noch angehen mag ist im Hinblick auf den Menschen jedoch nach KIERKEGAARD nicht mehr zulaumlssig denn der Mensch interessiert als Individuum und hinsichtlich seiner Individualitaumlt so daszlig man die abstrakte Frage nach dem Wesen des Menschen nicszligt unabhaumlngig von der Frage nach der Seinsweise des einzelnen als Individuum stellen kann Wenn man aber danach fragt wodurch denn ein Individuum dieses bestimmte Individuum ist kann man diese Frage nicht mehr auf herkoumlmmliche Weise in Form eines philosophischen Systems

Modelle einer normativen Ethik 263

beantworten weil dieses System ja wieder nur ein abstrakter Begriffsapparat ist aus dem der einzelne als einzelner herausshyfaumlllt Wodurch der einzelne zu dem bestimmten Individuum wird das er ist laumlszligt sich nur gewissermaszligen biographisch an fiktiven Figuren zeigen Daher hat KIERKEGAARD so viele verschiedene Pseudonyme erfunden von denen jedes aus einem anderen Aspekt deutlich machen soll was Existieren fuumlr es heiszligt Selbstverstaumlndlich kommen auch hier abstrakte Eroumlrterunshygen vor aber sie stehen immer in irgendeinem Zusammenhang mit jenem urspruumlnglichen Seinsvollzug der als Existenz bezeichshynet wird Hier ist fuumlr KIERKEGAARD SOKRATES das Vorbild der seine Schuumller auch kein begriffliches Wissen keine Formeln von Tugend keine Definitionen des Gerechten und Guten gelehrt sondern ihnen exemplarisch vorgelebt hat was es heiszligt ein tugendhafter gerechter guter Mensch zu sein

Fuumlr KIERKEGAARD ist Menschsein als Existenz nicht statishysches ontisches Sein sondern wesentlich Bewegung Prozeszlig Selbstwerden Existieren heiszligt unter einem Unbedingtheitsshyanspruch handeln und sich durch solches Handeln als ein trotz seiner Gebundenheit an sein jeweiliges Sosein freies Individuum zu erweisen Um moralisch handeln zu koumlnnen muszlig sich der einzelne in einem Akt autonomer Selbstbestimmung unbedingt entschlossen haben er selbst zu sein und Freiheit als Moralshyprinzip anzuerkennen

raquodenn allein indern man unbedingt waumlhlt kann man das Ethische waumlhlen Durch die absolute Wahl ist somit das Ethische gesetztlaquo (Entweder-Oder II 189)

Dabei versteht KIERKEGAARD unter dem Setzen des Ethischenlaquo das Hervorbringen von Moralitaumlt aus dem unbedingten Streben nach dem Guten dh die Wahl der Freiheit

raquoDurch diese Wahl waumlhle ich eigentlich nicht zwischen Gut und Boumlse sondern ich waumlhle das Gute indern ich aber das Gute waumlhle waumlhle ich eben damit die Wahl zwischen Gut und Boumlse Die urspruumlngshyliche Wahl ist staumlndig zugegen in einer jeden folgenden Wahllaquo (Ebd 232f)

264 Grundtypen ethischer Theorie

Mit der urspruumlnglichen Wahl bringt der einzelne in freier Selbstbejahung sich selbst als moralische Person hervor die bereit ist ihr kuumlnftiges Wollen und Handeln den Normen des Guten und Boumlsen zu unterstellen Nur wer sich ethisch waumlhlt wird er selbst als der der er sein soll er wird ein Selbstlaquo

raquoDer Mensch ist Geist Was aber ist Geist Geist ist das Selbst Was aber ist das Selbst Das Selbst ist ein Verhaumlltnis das sich zu sich selbst verhaumllt oder ist das an dem Verhaumlltnis daszlig das Verhaumlltnis sich zu sich selbst verhaumllt das Selbst ist nicht das Verhaumlltnis sondern daszlig das Verhaumlltnis sich zu sich selbst verhaumlltlaquo (Die Krankheit zum Tode 31)

Menschsein realisiert sich nach KIERKEGAARD als doppeltes in sich reflexes Verhaumlltnissein als Taumltigkeit eines Sichverhaltens das sich im Verhaumlltnis zu anderem (Welt Mitmenschen Gott) zugleich wesentlich auf sich selbst und im Zusichselbstverhalten zugleich wesentlich auf anderes bezieht Diese Verhaumlltnisshystruktur menschlichen Existierens als geistigen Selbstseins gilt es stets von neuem in Akten freier Selbstbestimmung geschichtlich zu vollziehen Die ethische Aufgabe des einzelnen besteht darin zu existieren sich zu verhalten und in diesem Sichverhalten als der offenbar zu werden der er ist

Was KIERKEGAARD in Entweder-Oderltdurch den Akt des Waumlhlens als der Grundweise individuellen Existierens signalishysiert hat das praumlzisiert er in Die Krankheit zum Todelt weiter unter dem Begriff des Selbst als Sichverhalten Nur wer sich verhaumllt und in diesem Sichverhalten offenbar macht wie er sich entschieden hat gibt sich als der zu erkennen der er durch freie Selbstbestimmung geworden ist Er existiert im urspruumlnglichen Wortsinn vonmiddot ex-sistere - herausstehen sich zeigen und hanshydelnd eroumlffnen als der der man wirklich ist

Einen existenzphilosophischen Ansatz der aber nicht eigentlich zu einer Ethik ausgearbeitet wurde findet man in diesem Jahrhundert bei Martin HEIDEGGER und deutlicher ausgepraumlgt bei Karl JASPERS HEIDEGGER versteht sich zwar weniger als einen Existenzphilosophen und bezeichnet sich lieber zum mindesten in der Periode um Sein und Zeitlt als

Modelle einer normativen Ethik 265

Fundamentalontologen aber insofern die Frage nach dem Sinn von Sein eine Analytik des Daseins miteinschlieszligt dessen Seinscharaktere er als Existenzialien begreift - wie zB Angst Sorge Sein zum Tode - kann man auch HEIDEGGER zur Existenzphilosophie rechnen ebenso wie JASPERS der sich auch selbst dazu bekannte Entsprechend betreibt er die Daseinsshyanalyse als Existenzerhellung indem er vor allem jene Grundsishytuationen _ wie Kampf Leid Schuld Tod - thematisiert in denen der einzelne im Sichzusichselbstverhalten uumlber sich

hinausgetrieben wird auf das Transzendente hin Auch bei den franzoumlsischen Existentialisten finden sich

Ansaumltze zu einer existentiellen Moral so bei Jean-Paul SARTRE der davon ausgeht daszlig die Existenz der Essenz das Dasein dem Wesen vorausgeht Der Mensch ist eine Nullpunktexistenz dh er beginnt als radikal Freier dem nichts vorgegeben ist der sein Wesen selbst hervorbringt und somit sich selbst erst als der erschafft der er dann ist Der Mensch als Existierender waumlhlt sich selbst seinem Wesen nach indem er im Bewuszligtsein seiner Verantwortung zugleich alle Menschen waumlhlt (Vgl Ist der Existentialismus ein Humanismus Frankfurt 1983 12 f)

Wieder anders reflektiert Albert CAMUS auf die Existentialishytaumlt des Menschen Bestand fuumlr KIERKEGAARD der ethische Sinn menschlichen Handelns in der unbedingten Selbstwahl durch die der einzelne zu dem wird der er sein soll so findet Albert CAMUS im Protest gegen die Absurditaumlt des Lebens jenes Moment der Unbedingtheit aufgrund dessen sich die Menschen in der gemeinsamen Empoumlrung uumlber die Sinnlosigkeit der Welt

solidarisch miteinander verbinden

Weit entfernt eine allgemeine Unabhaumlngigkeit zu fordern will die Revolte die Anerkennung der Tatsache daszlig die Freiheit uumlberall da eine Grenze habe wo sich ein menschliches Wesen befindet denn die Grenze ist eben die Macht der Revolte dieses Wesens laquo (Der Mensch

in der Revolte 230)

Die einzige dem Menschen nach CAMUS moumlgliche Freiheit zu der er moralisch aufgerufen ist realisiert sich im Protest und als Protest gegen die Unmenschlichkeit des Daseins Der Mensch

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266 Grundtypen ethischer Theorie

existiert nur als Protestierender so haumllt er seinen Anspruch auf Humanitaumlt und ein menschenwuumlrdiges Leben hoch ohne daszlig damit freilich die Sinnlosigkeit der Welt aufgehoben wuumlrde

Eine existentielle Ethik akzentuiert also das Dasein des Menschen als eines Individuums unter anderen Individuen Sie denkt das Moralische in seiner geschichtlichen Struktur und Einmaligkeit als etwas das nicht in zeitloser Praumlsenz raquowest sondern sich in der Zeit ereignet den Augenblick zu einem sinnerfuumlIJten je Jetzt des Lebens macht Indem ein Individuum moralisch handelt existiert es als Mensch und indem es so existiert wird es einerseits es selbst als diese bestimmte Person offenbar andererseits als jemand der sich frei mit anderen verbunden hat um Freiheit zu realisieren Die menschliche Existenz erweist sich daher als der originaumlre Ort an dem Moralitaumlt als geschichtlicher Sinn des Lebens hervorgebracht wird wobei das Moment des Geschichtlichen Natuumlrlichen des Werdens das aIJe Existenzphilosophen betonen zugleich die Endlichkeit menschlichen HandeIns in den Blick ruumlckt Die Handlung selber als bestimmtes empirisches Geschehen vergeht ebenso wie der Mensch der diese Handlung ausgefuumlhrt hat eines Tages nicht mehr sein wird Was bleibt und die einzelne Handlung als moralische uumlberdauert ist ihre Guumlltigkeit ihrSinn

733 Der eudaumlmonistische Ansatz

(Hedonistische und utilitaristische Ethik)

Der eudaumlmonistische Ansatz (von griech eudaimonia _ Gluumlck) in der Ethik der teleologisch das Gluumlck als houmlchstes Ziel an dem aIJes menschliche Handeln interessiert ist bestimmt geht auf ARISTOTELES zuruumlck wird aber insbesondere von - der hedonistischen Ethik einerseits - der utilitaristischen Ethik andererseits ausdruumlcklich vertreten

Fuumlr ARISTOTELES ist das Gluumlck Inbegriff eines schlechthin gelungenen sinnerfuumlllten Lebens

Modelle einer normativen Ethik 267

raquoDas oberste Gut ist zweifellos ein Endziel Als vollkommen schlechthin bezeichnen wir das was stets rein fuumlr sich gewaumlhlt wird und niemals zu einem anderen Zweck Als solches Gut aber gilt in hervorragendem Sinne das Gluumlck Denn das Gluumlck erwaumlhlen wir uns stets um seiner selbst willen und niemals zu einem daruumlber hinausshyliegenden Zwecklaquo (Eth Nie I 5 1097a 25-b1)

Man erstrebt das Gluumlck also nicht um irgend etwas willen vielmehr erstrebt man alles was man erstrebt um des Gluumlcks willen Zwar streben nach ARISTOTELES alle Menschen nach Gluumlck aber wirklich gluumlcklich ist jedoch nur der zu nennen der moralisch handelt zugleich aber aller aumluszligeren und leiblichen Guumlter (guumlnstige Umstaumlnde Gesundheit etc) teilhaftig ist deren er ebenfalls bedarf um ein vollkommenes Leben zu fuumlhren

raquoDas Gluumlck setzt moralische Vollkommenheit voraus und ein I

Vollrnaszlig des Lebens laquo (Ebd 110 1100a 4-5) I

Die hedonistische Ethik (von griech hedone - Lust) geht ebenfalls davon aus daszlig das Gluumlck houmlchstes Ziel menschlichen Strebens ist versteht unter Gluumlck jedoch Lust Freude Daraus leitet sie den Grundsatz ab jeder solle tun was ihm Freude macht Bezuumlglich dessen was die meiste Freude macht gehen die hedonistischen Ansichten allerdings auseinander Waumlhrend ARISTIPPOS von Kyrene (435-355 vChr) den sinnlichen Genuszlig zum Maszligstab menschlichen Handelns erklaumlrt wobei es Kennzeichen des Weisen ist daszlig er die Lust genieszligt ohne sich von ihr beherrschen zu lassen erkennt EPIKUR (342-271) den geistigen und seelischen Freuden den Vorrang zu da sie dauerhafter und unabhaumlngiger von aumluszligeren Umstaumlnden und Stoumlrungen seien Gluumlckselig ist letztlich nur derjenige dem es gelingt seine Triebe und Beshygehrungen so zu harmonisieren daszlig keine uumlberschieszligende Leidenschaft mehr dominiert Eine solche Harmonisierung ist die Ataraxie (= Unerschuumltterlichkeit) eine gewisse Seelenruhe die es zB dem Philosophen erlaubt in heiterer Gelassenheit uumlber den Dingen zu stehen und das ist das eigentliche wahre Gluumlck die Lust am Gleichmaszlig an der Ausgewogenheit der Interessen

Der Hedonismus kann egoistisch oder altruistisch fundiert sein je nachdem ob er vorrangig die Befriedigung der eigenen

Annemarie Pieper ist emeritierte o Professorin fuumlr Philosophie an der Universitaumlt Basel

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie detaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlber lthttpdnbdd bdegt a brufbar

5 uumlberarbeitete und aktualisierte Auflage 2003 4 uumlberarbeitete und aktualisierte Auflage 2000 3 uumlberarbeitete Auflage 1994 2 uumlberarbeitete und aktualisierte Auflage 1991 1 Auflage 1985 (Beck Verlag Muumlnchen)

copy 2003 A Francke Verlag Tuumlbingen und Basel Dischingerweg 5 D-72070 Tuumlbingen ISBN 3-7720 - 1698-7

Das Werk einschlieszliglich aller seiner Teile ist urheberrechdich geschuumltzt Jede Verwertung auszligerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Z ustimmung des Verlages unzulaumlssig und strafbar Das gilt insshybesondere fuumlr Vervielfaumlltigungen Uumlbersetzungen Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und saumlurefreiem Werkdruckpapier

Satz Nagelsatz Reurlingen Einbandgestaltung Atelier Reichert Stuttgart Druck und Bindung Hubert amp Co Gaumlttingen Printed in Germany

ISBN 3-8252-1637-3 (UTB-Bestellnummer)

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Vorwort

Die erste Auflage dieses Buches erschien 1985 unter dem Titel raquoEthik und Moral Eine Einfuumlhrung in die praktische Phishylosophie laquo im Beck Verlag (Muumlnchen) Der Text basiert auf dem dreiteiligen Kurs raquoEinfuumlhrung in die philosophische Ethiklaquo den ich 197980 im Auftrag der Fernuniversitaumlt Hagen fuumlr Studieshyrende der Erziehungswissenschaften erarbeitet hatte Die zweite gruumlndlich uumlberarbeitete und erweiterte Auflage die der Entwickshylung der Ethik seit 1985 Rechnung trug erschien 1991 im Francke Verlag (Tuumlbingen und Basel) unter dem Titel raquoEinshyfuumlhrung in die Ethiklaquo Die dritte Auflage in welcher das Literaturverzeichnis auf den neuesten Stand gebracht wurde kam 1994 heraus Die vierte Auflage (1999) wurde wiederum durchgehend aktualisiert und vor allem in den Kapiteln 25 321 332 und 8 ergaumlnzt Die nun vorliegende 5 Auflage wurde erneut durchgesehen Kapitel 7 wurde ergaumlnzt und das Literaturverzeichnis aktualisiert

Annemarie PieperBasel im April 2003

Inhaltsverzeichnis

Vorwort 5 Einleitung 11

1 Die Aufgabe der Ethik 17

11 Herkunft und Bedeutung des Wortes raquoEthik laquo 24 12 Die Rolle der Moral in der Alltagserfahrung 30 13 Der Ansatz ethischen Fragens 42 14 Der Vorwurf des Relativismus 49

2 Ethik als praktische Wissenschaft 60

21 Disziplinen der praktischen Philosophie 61 211 Politik 61 212 Rechtsphilosophie 63 213 Oumlkonomik 66

22 Disziplinen der theoretischen Philosophie 72 221 Anthropologie 72 222 Metaphysik 76 223 Logik 81

23 Teildisziplinen der Ethik 84 231 Pragmatik 84 232 Metaethik 86

24 Die Autonomie der Ethik 92

25 Angewandte Ethik 92 251 Medizinische Ethik 93 252 Bioethik 95 253 Sozialethik 97

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Inhaltsverzeichnis

Wirtschaftsethik _ 98 99Wissenschaftsethik

Oumlkologische Ethik 100 103Friedensethik

106Weitere Spezialethiken Ethikkommissionen

Die Bedeutung der Ethik fuumlr die menschliche Praxis 114

Ethik als praktische Wissenschaft unter anderen praxis bezogenen Wissenschaften 119

Ethik im Verhaumlltnis zu empirischen Einzelshywissenschaften 120 Psychologie 120 Soziologie 124

Ethik im Verhaumlltnis zu normativen Wissenschaften 128 Theologie 128 Jurisprudenz 136

Ethik und Paumldagogik 139 Die ethische Dimension der Paumldagogik 140 Paumldagogisch vermittelte Ethik 150

Grundfragen der Ethik 160

Gluumlckseligkeit 161 164Freiheit und Determina tion

171Gut und Boumlse

Ziele und Grenzen der Ethik 178

Ziele 178 Grenzen 181

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Grundformen moralischer und ethischer Argumentation 185

Moralische Begruumlndungen 185 Bezugnahme auf ein Faktum 185 Bezugnahme auf Gefuumlhle 189 Bezugnahme auf moumlgliche Folgen 191 Bezugnahme auf einen Moralkodex 195 Bezugnahme auf moralische Kompetenz 196 Bezugnahme auf das Gewissen 197

Ethische Begruumlndungen 200 Logische Methode 200 Diskursive Methode 205 Dialektische Methode 212 Analogische Methode 220 Transzendentale Methode 223 Analytische Methode 226 Hermeneutische Methode 229

Grundtypen ethischer Theorie 234

Neutralitaumlt oder Engagement Zur Haltung des Moralphilosophen 234 Das theoretische Erkenntnisinteresse 236 Das praktische Erkenntnisinteresse 23 7 Die Rolle der Kritik in der Ethik 237

Modelle einer deskriptiven Ethik 238 Der phaumlnomenologische Ansatz (Wertethik) 238 Der sprachanalytische Ansatz (Metaethik) 244 Der evolutionaumlre Ansatz 251

Modelle einer normativen Ethik 255 Der transzendentalphilosophische Ansatz (Willensethik konstruktive sprachpragmatische und generative Ethik) 255 Der existentialistische Ansatz (Daseinsethik) 262

10 Inhaltsverzeichnis

733 Der eudaumlmonistische Ansatz (Hedonistische und utilitaristische Ethik) 266

734 Der vertragstheoretische Ansatz (Gerechtigkeitsethik ) 273

73 5 Der traditionale Ansatz (Tugendethik und kommunitaristische Ethik) 275

736 Der materialistische Ansatz (Physiologische und marxistische Ethik) 278

8 Feministische Ethik 289

Anmerkungen 302

Zitierte Autoren und ergaumlnzende Literaturhinweise 311

Bibliographie 329

Register 333 Personen 333 Sachen 336

Einleitung

Im Mittelpunkt unserer Uumlberlegungen stehen drei Fragenbereiche

1 Womit hat es die Ethik als philosophische Disziplin zu tun Was ist ihr Gegenstand

2 In welcher Weise beschaumlftigt sie sich mit diesem Gegenstand Bildet sie methodische Verfahren aus die dazu berechtigen von der Ethik als einer Wissenschaft zu sprechen Oder steht sie auf einer Stufe mit Weltanschauungen und Ideologien die keine allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen koumlnnen

3 Worum geht es der Ethik letztendlich Was ist ihr Ziel

Vorab lassen sich noch ohne naumlhere Begruumlndung folgende Antworten auf diese Fragen skizzieren

Zu 1 Die Ethik hat es mit menschlichen Handlungen zu tun Dennoch ist sie keine Handlungstheorie schlechthin denn ihr geht es vorrangig um solche Handlungen die Anspruch auf Moralitaumlt erheben um moralische Handlungen also Sie fragt nach diesem qualitativen Moment das eine Handlung zu einer moralisch guten Handlung macht und befaszligt sich in diesem Zusammenhang mit Begriffen wie Moral das Gute Pflicht Sollen Erlaubnis Gluumlck ua

Zu 2 Die Ethik beschaumlftigt sich auf methodische Weise mit ihrem Gegenstand - mit moralischen Handlungen - da sie zu argumentativ begruumlndeten Ergebnissen gelangen will und somit weder moralisieren noch ideologisieren oder weltanschauliche Uumlberzeugungen als allgemein verbindliche Handlungsgrundlage verkuumlnden darf Ihr ist es demnach um Aussagen zu tun die nicht bloszlig subjektiv guumlltig sondern als intersubjektiv verbindshylich ausweis bar sind

Man unterscheidet in der Ethik grob zwei Kategorien von ethischen Methoden deskriptive und normative Methode Die

262 Grundtypen ethischer Theorie

sucht aber - der Intention nach wie FICHTE - uumlber den Kantishysehen Ansatz hinausgehend nach einem letzten houmlchsten Prinzip das nicht nur reduktiv ermittelt sondern auch aus sich selbst entfaltet und immanent expliziert wird Diese in den Bildern des Ursprungs oder des Entschlusses vorgenommene Selbstexplikashytion von Freiheit als oberste geltungsbegruumlndende Instanz ist letzter Grund fuumlr Moralitaumlt und damit unverzichtbarer Sinnshygrund menschlicher Praxis schlechthin

732 Der existentialistische Ansatz (Daseinsethik)

Der existentialistische Ansatz stellt den Begriff der menschlichen Existenz in den Mittelpunkt ethischer Uumlberlegungen und versucht menschliches Handeln aus der Gesamtheit menschshylichen Selbstseins das als Einheit von Denken Wollen Fuumlhlen und Handeln begriffen wird zu begruumlnden Diese Einheit im konkreten Vollzug seines Daseins je und je geschichtlich neu herzustellen ist die bleibende moralische Aufgabe jedes einshyzelnen

Als erster hat Soumlren KIERKEGAARD den Versuch unternomshymen die Ethik existentialistisch zu begruumlnden KIERKEGAARD setzt sich mit seinem Ausgangspunkt beim menschlichen Existieren zur Wehr gegen jede Wesensphilosophie (Gegensatz von essentia - Wesen und existentia - Dasein) Die traditionelle Philosophie als deren Repraumlsentanten er vor allem HEGEL sah war fuumlr ihn ausschlieszliglich Wesensmetaphysik indem sie nicht nach dem Sein sondern nach dem Wesen der Dinge fragte und dieses Wesen abstrakt vermittels allgemeiner Begriffe formuliershyte Was fuumlr die Dinge noch angehen mag ist im Hinblick auf den Menschen jedoch nach KIERKEGAARD nicht mehr zulaumlssig denn der Mensch interessiert als Individuum und hinsichtlich seiner Individualitaumlt so daszlig man die abstrakte Frage nach dem Wesen des Menschen nicszligt unabhaumlngig von der Frage nach der Seinsweise des einzelnen als Individuum stellen kann Wenn man aber danach fragt wodurch denn ein Individuum dieses bestimmte Individuum ist kann man diese Frage nicht mehr auf herkoumlmmliche Weise in Form eines philosophischen Systems

Modelle einer normativen Ethik 263

beantworten weil dieses System ja wieder nur ein abstrakter Begriffsapparat ist aus dem der einzelne als einzelner herausshyfaumlllt Wodurch der einzelne zu dem bestimmten Individuum wird das er ist laumlszligt sich nur gewissermaszligen biographisch an fiktiven Figuren zeigen Daher hat KIERKEGAARD so viele verschiedene Pseudonyme erfunden von denen jedes aus einem anderen Aspekt deutlich machen soll was Existieren fuumlr es heiszligt Selbstverstaumlndlich kommen auch hier abstrakte Eroumlrterunshygen vor aber sie stehen immer in irgendeinem Zusammenhang mit jenem urspruumlnglichen Seinsvollzug der als Existenz bezeichshynet wird Hier ist fuumlr KIERKEGAARD SOKRATES das Vorbild der seine Schuumller auch kein begriffliches Wissen keine Formeln von Tugend keine Definitionen des Gerechten und Guten gelehrt sondern ihnen exemplarisch vorgelebt hat was es heiszligt ein tugendhafter gerechter guter Mensch zu sein

Fuumlr KIERKEGAARD ist Menschsein als Existenz nicht statishysches ontisches Sein sondern wesentlich Bewegung Prozeszlig Selbstwerden Existieren heiszligt unter einem Unbedingtheitsshyanspruch handeln und sich durch solches Handeln als ein trotz seiner Gebundenheit an sein jeweiliges Sosein freies Individuum zu erweisen Um moralisch handeln zu koumlnnen muszlig sich der einzelne in einem Akt autonomer Selbstbestimmung unbedingt entschlossen haben er selbst zu sein und Freiheit als Moralshyprinzip anzuerkennen

raquodenn allein indern man unbedingt waumlhlt kann man das Ethische waumlhlen Durch die absolute Wahl ist somit das Ethische gesetztlaquo (Entweder-Oder II 189)

Dabei versteht KIERKEGAARD unter dem Setzen des Ethischenlaquo das Hervorbringen von Moralitaumlt aus dem unbedingten Streben nach dem Guten dh die Wahl der Freiheit

raquoDurch diese Wahl waumlhle ich eigentlich nicht zwischen Gut und Boumlse sondern ich waumlhle das Gute indern ich aber das Gute waumlhle waumlhle ich eben damit die Wahl zwischen Gut und Boumlse Die urspruumlngshyliche Wahl ist staumlndig zugegen in einer jeden folgenden Wahllaquo (Ebd 232f)

264 Grundtypen ethischer Theorie

Mit der urspruumlnglichen Wahl bringt der einzelne in freier Selbstbejahung sich selbst als moralische Person hervor die bereit ist ihr kuumlnftiges Wollen und Handeln den Normen des Guten und Boumlsen zu unterstellen Nur wer sich ethisch waumlhlt wird er selbst als der der er sein soll er wird ein Selbstlaquo

raquoDer Mensch ist Geist Was aber ist Geist Geist ist das Selbst Was aber ist das Selbst Das Selbst ist ein Verhaumlltnis das sich zu sich selbst verhaumllt oder ist das an dem Verhaumlltnis daszlig das Verhaumlltnis sich zu sich selbst verhaumllt das Selbst ist nicht das Verhaumlltnis sondern daszlig das Verhaumlltnis sich zu sich selbst verhaumlltlaquo (Die Krankheit zum Tode 31)

Menschsein realisiert sich nach KIERKEGAARD als doppeltes in sich reflexes Verhaumlltnissein als Taumltigkeit eines Sichverhaltens das sich im Verhaumlltnis zu anderem (Welt Mitmenschen Gott) zugleich wesentlich auf sich selbst und im Zusichselbstverhalten zugleich wesentlich auf anderes bezieht Diese Verhaumlltnisshystruktur menschlichen Existierens als geistigen Selbstseins gilt es stets von neuem in Akten freier Selbstbestimmung geschichtlich zu vollziehen Die ethische Aufgabe des einzelnen besteht darin zu existieren sich zu verhalten und in diesem Sichverhalten als der offenbar zu werden der er ist

Was KIERKEGAARD in Entweder-Oderltdurch den Akt des Waumlhlens als der Grundweise individuellen Existierens signalishysiert hat das praumlzisiert er in Die Krankheit zum Todelt weiter unter dem Begriff des Selbst als Sichverhalten Nur wer sich verhaumllt und in diesem Sichverhalten offenbar macht wie er sich entschieden hat gibt sich als der zu erkennen der er durch freie Selbstbestimmung geworden ist Er existiert im urspruumlnglichen Wortsinn vonmiddot ex-sistere - herausstehen sich zeigen und hanshydelnd eroumlffnen als der der man wirklich ist

Einen existenzphilosophischen Ansatz der aber nicht eigentlich zu einer Ethik ausgearbeitet wurde findet man in diesem Jahrhundert bei Martin HEIDEGGER und deutlicher ausgepraumlgt bei Karl JASPERS HEIDEGGER versteht sich zwar weniger als einen Existenzphilosophen und bezeichnet sich lieber zum mindesten in der Periode um Sein und Zeitlt als

Modelle einer normativen Ethik 265

Fundamentalontologen aber insofern die Frage nach dem Sinn von Sein eine Analytik des Daseins miteinschlieszligt dessen Seinscharaktere er als Existenzialien begreift - wie zB Angst Sorge Sein zum Tode - kann man auch HEIDEGGER zur Existenzphilosophie rechnen ebenso wie JASPERS der sich auch selbst dazu bekannte Entsprechend betreibt er die Daseinsshyanalyse als Existenzerhellung indem er vor allem jene Grundsishytuationen _ wie Kampf Leid Schuld Tod - thematisiert in denen der einzelne im Sichzusichselbstverhalten uumlber sich

hinausgetrieben wird auf das Transzendente hin Auch bei den franzoumlsischen Existentialisten finden sich

Ansaumltze zu einer existentiellen Moral so bei Jean-Paul SARTRE der davon ausgeht daszlig die Existenz der Essenz das Dasein dem Wesen vorausgeht Der Mensch ist eine Nullpunktexistenz dh er beginnt als radikal Freier dem nichts vorgegeben ist der sein Wesen selbst hervorbringt und somit sich selbst erst als der erschafft der er dann ist Der Mensch als Existierender waumlhlt sich selbst seinem Wesen nach indem er im Bewuszligtsein seiner Verantwortung zugleich alle Menschen waumlhlt (Vgl Ist der Existentialismus ein Humanismus Frankfurt 1983 12 f)

Wieder anders reflektiert Albert CAMUS auf die Existentialishytaumlt des Menschen Bestand fuumlr KIERKEGAARD der ethische Sinn menschlichen Handelns in der unbedingten Selbstwahl durch die der einzelne zu dem wird der er sein soll so findet Albert CAMUS im Protest gegen die Absurditaumlt des Lebens jenes Moment der Unbedingtheit aufgrund dessen sich die Menschen in der gemeinsamen Empoumlrung uumlber die Sinnlosigkeit der Welt

solidarisch miteinander verbinden

Weit entfernt eine allgemeine Unabhaumlngigkeit zu fordern will die Revolte die Anerkennung der Tatsache daszlig die Freiheit uumlberall da eine Grenze habe wo sich ein menschliches Wesen befindet denn die Grenze ist eben die Macht der Revolte dieses Wesens laquo (Der Mensch

in der Revolte 230)

Die einzige dem Menschen nach CAMUS moumlgliche Freiheit zu der er moralisch aufgerufen ist realisiert sich im Protest und als Protest gegen die Unmenschlichkeit des Daseins Der Mensch

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266 Grundtypen ethischer Theorie

existiert nur als Protestierender so haumllt er seinen Anspruch auf Humanitaumlt und ein menschenwuumlrdiges Leben hoch ohne daszlig damit freilich die Sinnlosigkeit der Welt aufgehoben wuumlrde

Eine existentielle Ethik akzentuiert also das Dasein des Menschen als eines Individuums unter anderen Individuen Sie denkt das Moralische in seiner geschichtlichen Struktur und Einmaligkeit als etwas das nicht in zeitloser Praumlsenz raquowest sondern sich in der Zeit ereignet den Augenblick zu einem sinnerfuumlIJten je Jetzt des Lebens macht Indem ein Individuum moralisch handelt existiert es als Mensch und indem es so existiert wird es einerseits es selbst als diese bestimmte Person offenbar andererseits als jemand der sich frei mit anderen verbunden hat um Freiheit zu realisieren Die menschliche Existenz erweist sich daher als der originaumlre Ort an dem Moralitaumlt als geschichtlicher Sinn des Lebens hervorgebracht wird wobei das Moment des Geschichtlichen Natuumlrlichen des Werdens das aIJe Existenzphilosophen betonen zugleich die Endlichkeit menschlichen HandeIns in den Blick ruumlckt Die Handlung selber als bestimmtes empirisches Geschehen vergeht ebenso wie der Mensch der diese Handlung ausgefuumlhrt hat eines Tages nicht mehr sein wird Was bleibt und die einzelne Handlung als moralische uumlberdauert ist ihre Guumlltigkeit ihrSinn

733 Der eudaumlmonistische Ansatz

(Hedonistische und utilitaristische Ethik)

Der eudaumlmonistische Ansatz (von griech eudaimonia _ Gluumlck) in der Ethik der teleologisch das Gluumlck als houmlchstes Ziel an dem aIJes menschliche Handeln interessiert ist bestimmt geht auf ARISTOTELES zuruumlck wird aber insbesondere von - der hedonistischen Ethik einerseits - der utilitaristischen Ethik andererseits ausdruumlcklich vertreten

Fuumlr ARISTOTELES ist das Gluumlck Inbegriff eines schlechthin gelungenen sinnerfuumlllten Lebens

Modelle einer normativen Ethik 267

raquoDas oberste Gut ist zweifellos ein Endziel Als vollkommen schlechthin bezeichnen wir das was stets rein fuumlr sich gewaumlhlt wird und niemals zu einem anderen Zweck Als solches Gut aber gilt in hervorragendem Sinne das Gluumlck Denn das Gluumlck erwaumlhlen wir uns stets um seiner selbst willen und niemals zu einem daruumlber hinausshyliegenden Zwecklaquo (Eth Nie I 5 1097a 25-b1)

Man erstrebt das Gluumlck also nicht um irgend etwas willen vielmehr erstrebt man alles was man erstrebt um des Gluumlcks willen Zwar streben nach ARISTOTELES alle Menschen nach Gluumlck aber wirklich gluumlcklich ist jedoch nur der zu nennen der moralisch handelt zugleich aber aller aumluszligeren und leiblichen Guumlter (guumlnstige Umstaumlnde Gesundheit etc) teilhaftig ist deren er ebenfalls bedarf um ein vollkommenes Leben zu fuumlhren

raquoDas Gluumlck setzt moralische Vollkommenheit voraus und ein I

Vollrnaszlig des Lebens laquo (Ebd 110 1100a 4-5) I

Die hedonistische Ethik (von griech hedone - Lust) geht ebenfalls davon aus daszlig das Gluumlck houmlchstes Ziel menschlichen Strebens ist versteht unter Gluumlck jedoch Lust Freude Daraus leitet sie den Grundsatz ab jeder solle tun was ihm Freude macht Bezuumlglich dessen was die meiste Freude macht gehen die hedonistischen Ansichten allerdings auseinander Waumlhrend ARISTIPPOS von Kyrene (435-355 vChr) den sinnlichen Genuszlig zum Maszligstab menschlichen Handelns erklaumlrt wobei es Kennzeichen des Weisen ist daszlig er die Lust genieszligt ohne sich von ihr beherrschen zu lassen erkennt EPIKUR (342-271) den geistigen und seelischen Freuden den Vorrang zu da sie dauerhafter und unabhaumlngiger von aumluszligeren Umstaumlnden und Stoumlrungen seien Gluumlckselig ist letztlich nur derjenige dem es gelingt seine Triebe und Beshygehrungen so zu harmonisieren daszlig keine uumlberschieszligende Leidenschaft mehr dominiert Eine solche Harmonisierung ist die Ataraxie (= Unerschuumltterlichkeit) eine gewisse Seelenruhe die es zB dem Philosophen erlaubt in heiterer Gelassenheit uumlber den Dingen zu stehen und das ist das eigentliche wahre Gluumlck die Lust am Gleichmaszlig an der Ausgewogenheit der Interessen

Der Hedonismus kann egoistisch oder altruistisch fundiert sein je nachdem ob er vorrangig die Befriedigung der eigenen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort 5 Einleitung 11

1 Die Aufgabe der Ethik 17

11 Herkunft und Bedeutung des Wortes raquoEthik laquo 24 12 Die Rolle der Moral in der Alltagserfahrung 30 13 Der Ansatz ethischen Fragens 42 14 Der Vorwurf des Relativismus 49

2 Ethik als praktische Wissenschaft 60

21 Disziplinen der praktischen Philosophie 61 211 Politik 61 212 Rechtsphilosophie 63 213 Oumlkonomik 66

22 Disziplinen der theoretischen Philosophie 72 221 Anthropologie 72 222 Metaphysik 76 223 Logik 81

23 Teildisziplinen der Ethik 84 231 Pragmatik 84 232 Metaethik 86

24 Die Autonomie der Ethik 92

25 Angewandte Ethik 92 251 Medizinische Ethik 93 252 Bioethik 95 253 Sozialethik 97

8

254 255 256 257 25 8

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Inhaltsverzeichnis

Wirtschaftsethik _ 98 99Wissenschaftsethik

Oumlkologische Ethik 100 103Friedensethik

106Weitere Spezialethiken Ethikkommissionen

Die Bedeutung der Ethik fuumlr die menschliche Praxis 114

Ethik als praktische Wissenschaft unter anderen praxis bezogenen Wissenschaften 119

Ethik im Verhaumlltnis zu empirischen Einzelshywissenschaften 120 Psychologie 120 Soziologie 124

Ethik im Verhaumlltnis zu normativen Wissenschaften 128 Theologie 128 Jurisprudenz 136

Ethik und Paumldagogik 139 Die ethische Dimension der Paumldagogik 140 Paumldagogisch vermittelte Ethik 150

Grundfragen der Ethik 160

Gluumlckseligkeit 161 164Freiheit und Determina tion

171Gut und Boumlse

Ziele und Grenzen der Ethik 178

Ziele 178 Grenzen 181

6

61 611 612 613 614 615 616

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Inhaltsverzeichnis 9

Grundformen moralischer und ethischer Argumentation 185

Moralische Begruumlndungen 185 Bezugnahme auf ein Faktum 185 Bezugnahme auf Gefuumlhle 189 Bezugnahme auf moumlgliche Folgen 191 Bezugnahme auf einen Moralkodex 195 Bezugnahme auf moralische Kompetenz 196 Bezugnahme auf das Gewissen 197

Ethische Begruumlndungen 200 Logische Methode 200 Diskursive Methode 205 Dialektische Methode 212 Analogische Methode 220 Transzendentale Methode 223 Analytische Methode 226 Hermeneutische Methode 229

Grundtypen ethischer Theorie 234

Neutralitaumlt oder Engagement Zur Haltung des Moralphilosophen 234 Das theoretische Erkenntnisinteresse 236 Das praktische Erkenntnisinteresse 23 7 Die Rolle der Kritik in der Ethik 237

Modelle einer deskriptiven Ethik 238 Der phaumlnomenologische Ansatz (Wertethik) 238 Der sprachanalytische Ansatz (Metaethik) 244 Der evolutionaumlre Ansatz 251

Modelle einer normativen Ethik 255 Der transzendentalphilosophische Ansatz (Willensethik konstruktive sprachpragmatische und generative Ethik) 255 Der existentialistische Ansatz (Daseinsethik) 262

10 Inhaltsverzeichnis

733 Der eudaumlmonistische Ansatz (Hedonistische und utilitaristische Ethik) 266

734 Der vertragstheoretische Ansatz (Gerechtigkeitsethik ) 273

73 5 Der traditionale Ansatz (Tugendethik und kommunitaristische Ethik) 275

736 Der materialistische Ansatz (Physiologische und marxistische Ethik) 278

8 Feministische Ethik 289

Anmerkungen 302

Zitierte Autoren und ergaumlnzende Literaturhinweise 311

Bibliographie 329

Register 333 Personen 333 Sachen 336

Einleitung

Im Mittelpunkt unserer Uumlberlegungen stehen drei Fragenbereiche

1 Womit hat es die Ethik als philosophische Disziplin zu tun Was ist ihr Gegenstand

2 In welcher Weise beschaumlftigt sie sich mit diesem Gegenstand Bildet sie methodische Verfahren aus die dazu berechtigen von der Ethik als einer Wissenschaft zu sprechen Oder steht sie auf einer Stufe mit Weltanschauungen und Ideologien die keine allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen koumlnnen

3 Worum geht es der Ethik letztendlich Was ist ihr Ziel

Vorab lassen sich noch ohne naumlhere Begruumlndung folgende Antworten auf diese Fragen skizzieren

Zu 1 Die Ethik hat es mit menschlichen Handlungen zu tun Dennoch ist sie keine Handlungstheorie schlechthin denn ihr geht es vorrangig um solche Handlungen die Anspruch auf Moralitaumlt erheben um moralische Handlungen also Sie fragt nach diesem qualitativen Moment das eine Handlung zu einer moralisch guten Handlung macht und befaszligt sich in diesem Zusammenhang mit Begriffen wie Moral das Gute Pflicht Sollen Erlaubnis Gluumlck ua

Zu 2 Die Ethik beschaumlftigt sich auf methodische Weise mit ihrem Gegenstand - mit moralischen Handlungen - da sie zu argumentativ begruumlndeten Ergebnissen gelangen will und somit weder moralisieren noch ideologisieren oder weltanschauliche Uumlberzeugungen als allgemein verbindliche Handlungsgrundlage verkuumlnden darf Ihr ist es demnach um Aussagen zu tun die nicht bloszlig subjektiv guumlltig sondern als intersubjektiv verbindshylich ausweis bar sind

Man unterscheidet in der Ethik grob zwei Kategorien von ethischen Methoden deskriptive und normative Methode Die

262 Grundtypen ethischer Theorie

sucht aber - der Intention nach wie FICHTE - uumlber den Kantishysehen Ansatz hinausgehend nach einem letzten houmlchsten Prinzip das nicht nur reduktiv ermittelt sondern auch aus sich selbst entfaltet und immanent expliziert wird Diese in den Bildern des Ursprungs oder des Entschlusses vorgenommene Selbstexplikashytion von Freiheit als oberste geltungsbegruumlndende Instanz ist letzter Grund fuumlr Moralitaumlt und damit unverzichtbarer Sinnshygrund menschlicher Praxis schlechthin

732 Der existentialistische Ansatz (Daseinsethik)

Der existentialistische Ansatz stellt den Begriff der menschlichen Existenz in den Mittelpunkt ethischer Uumlberlegungen und versucht menschliches Handeln aus der Gesamtheit menschshylichen Selbstseins das als Einheit von Denken Wollen Fuumlhlen und Handeln begriffen wird zu begruumlnden Diese Einheit im konkreten Vollzug seines Daseins je und je geschichtlich neu herzustellen ist die bleibende moralische Aufgabe jedes einshyzelnen

Als erster hat Soumlren KIERKEGAARD den Versuch unternomshymen die Ethik existentialistisch zu begruumlnden KIERKEGAARD setzt sich mit seinem Ausgangspunkt beim menschlichen Existieren zur Wehr gegen jede Wesensphilosophie (Gegensatz von essentia - Wesen und existentia - Dasein) Die traditionelle Philosophie als deren Repraumlsentanten er vor allem HEGEL sah war fuumlr ihn ausschlieszliglich Wesensmetaphysik indem sie nicht nach dem Sein sondern nach dem Wesen der Dinge fragte und dieses Wesen abstrakt vermittels allgemeiner Begriffe formuliershyte Was fuumlr die Dinge noch angehen mag ist im Hinblick auf den Menschen jedoch nach KIERKEGAARD nicht mehr zulaumlssig denn der Mensch interessiert als Individuum und hinsichtlich seiner Individualitaumlt so daszlig man die abstrakte Frage nach dem Wesen des Menschen nicszligt unabhaumlngig von der Frage nach der Seinsweise des einzelnen als Individuum stellen kann Wenn man aber danach fragt wodurch denn ein Individuum dieses bestimmte Individuum ist kann man diese Frage nicht mehr auf herkoumlmmliche Weise in Form eines philosophischen Systems

Modelle einer normativen Ethik 263

beantworten weil dieses System ja wieder nur ein abstrakter Begriffsapparat ist aus dem der einzelne als einzelner herausshyfaumlllt Wodurch der einzelne zu dem bestimmten Individuum wird das er ist laumlszligt sich nur gewissermaszligen biographisch an fiktiven Figuren zeigen Daher hat KIERKEGAARD so viele verschiedene Pseudonyme erfunden von denen jedes aus einem anderen Aspekt deutlich machen soll was Existieren fuumlr es heiszligt Selbstverstaumlndlich kommen auch hier abstrakte Eroumlrterunshygen vor aber sie stehen immer in irgendeinem Zusammenhang mit jenem urspruumlnglichen Seinsvollzug der als Existenz bezeichshynet wird Hier ist fuumlr KIERKEGAARD SOKRATES das Vorbild der seine Schuumller auch kein begriffliches Wissen keine Formeln von Tugend keine Definitionen des Gerechten und Guten gelehrt sondern ihnen exemplarisch vorgelebt hat was es heiszligt ein tugendhafter gerechter guter Mensch zu sein

Fuumlr KIERKEGAARD ist Menschsein als Existenz nicht statishysches ontisches Sein sondern wesentlich Bewegung Prozeszlig Selbstwerden Existieren heiszligt unter einem Unbedingtheitsshyanspruch handeln und sich durch solches Handeln als ein trotz seiner Gebundenheit an sein jeweiliges Sosein freies Individuum zu erweisen Um moralisch handeln zu koumlnnen muszlig sich der einzelne in einem Akt autonomer Selbstbestimmung unbedingt entschlossen haben er selbst zu sein und Freiheit als Moralshyprinzip anzuerkennen

raquodenn allein indern man unbedingt waumlhlt kann man das Ethische waumlhlen Durch die absolute Wahl ist somit das Ethische gesetztlaquo (Entweder-Oder II 189)

Dabei versteht KIERKEGAARD unter dem Setzen des Ethischenlaquo das Hervorbringen von Moralitaumlt aus dem unbedingten Streben nach dem Guten dh die Wahl der Freiheit

raquoDurch diese Wahl waumlhle ich eigentlich nicht zwischen Gut und Boumlse sondern ich waumlhle das Gute indern ich aber das Gute waumlhle waumlhle ich eben damit die Wahl zwischen Gut und Boumlse Die urspruumlngshyliche Wahl ist staumlndig zugegen in einer jeden folgenden Wahllaquo (Ebd 232f)

264 Grundtypen ethischer Theorie

Mit der urspruumlnglichen Wahl bringt der einzelne in freier Selbstbejahung sich selbst als moralische Person hervor die bereit ist ihr kuumlnftiges Wollen und Handeln den Normen des Guten und Boumlsen zu unterstellen Nur wer sich ethisch waumlhlt wird er selbst als der der er sein soll er wird ein Selbstlaquo

raquoDer Mensch ist Geist Was aber ist Geist Geist ist das Selbst Was aber ist das Selbst Das Selbst ist ein Verhaumlltnis das sich zu sich selbst verhaumllt oder ist das an dem Verhaumlltnis daszlig das Verhaumlltnis sich zu sich selbst verhaumllt das Selbst ist nicht das Verhaumlltnis sondern daszlig das Verhaumlltnis sich zu sich selbst verhaumlltlaquo (Die Krankheit zum Tode 31)

Menschsein realisiert sich nach KIERKEGAARD als doppeltes in sich reflexes Verhaumlltnissein als Taumltigkeit eines Sichverhaltens das sich im Verhaumlltnis zu anderem (Welt Mitmenschen Gott) zugleich wesentlich auf sich selbst und im Zusichselbstverhalten zugleich wesentlich auf anderes bezieht Diese Verhaumlltnisshystruktur menschlichen Existierens als geistigen Selbstseins gilt es stets von neuem in Akten freier Selbstbestimmung geschichtlich zu vollziehen Die ethische Aufgabe des einzelnen besteht darin zu existieren sich zu verhalten und in diesem Sichverhalten als der offenbar zu werden der er ist

Was KIERKEGAARD in Entweder-Oderltdurch den Akt des Waumlhlens als der Grundweise individuellen Existierens signalishysiert hat das praumlzisiert er in Die Krankheit zum Todelt weiter unter dem Begriff des Selbst als Sichverhalten Nur wer sich verhaumllt und in diesem Sichverhalten offenbar macht wie er sich entschieden hat gibt sich als der zu erkennen der er durch freie Selbstbestimmung geworden ist Er existiert im urspruumlnglichen Wortsinn vonmiddot ex-sistere - herausstehen sich zeigen und hanshydelnd eroumlffnen als der der man wirklich ist

Einen existenzphilosophischen Ansatz der aber nicht eigentlich zu einer Ethik ausgearbeitet wurde findet man in diesem Jahrhundert bei Martin HEIDEGGER und deutlicher ausgepraumlgt bei Karl JASPERS HEIDEGGER versteht sich zwar weniger als einen Existenzphilosophen und bezeichnet sich lieber zum mindesten in der Periode um Sein und Zeitlt als

Modelle einer normativen Ethik 265

Fundamentalontologen aber insofern die Frage nach dem Sinn von Sein eine Analytik des Daseins miteinschlieszligt dessen Seinscharaktere er als Existenzialien begreift - wie zB Angst Sorge Sein zum Tode - kann man auch HEIDEGGER zur Existenzphilosophie rechnen ebenso wie JASPERS der sich auch selbst dazu bekannte Entsprechend betreibt er die Daseinsshyanalyse als Existenzerhellung indem er vor allem jene Grundsishytuationen _ wie Kampf Leid Schuld Tod - thematisiert in denen der einzelne im Sichzusichselbstverhalten uumlber sich

hinausgetrieben wird auf das Transzendente hin Auch bei den franzoumlsischen Existentialisten finden sich

Ansaumltze zu einer existentiellen Moral so bei Jean-Paul SARTRE der davon ausgeht daszlig die Existenz der Essenz das Dasein dem Wesen vorausgeht Der Mensch ist eine Nullpunktexistenz dh er beginnt als radikal Freier dem nichts vorgegeben ist der sein Wesen selbst hervorbringt und somit sich selbst erst als der erschafft der er dann ist Der Mensch als Existierender waumlhlt sich selbst seinem Wesen nach indem er im Bewuszligtsein seiner Verantwortung zugleich alle Menschen waumlhlt (Vgl Ist der Existentialismus ein Humanismus Frankfurt 1983 12 f)

Wieder anders reflektiert Albert CAMUS auf die Existentialishytaumlt des Menschen Bestand fuumlr KIERKEGAARD der ethische Sinn menschlichen Handelns in der unbedingten Selbstwahl durch die der einzelne zu dem wird der er sein soll so findet Albert CAMUS im Protest gegen die Absurditaumlt des Lebens jenes Moment der Unbedingtheit aufgrund dessen sich die Menschen in der gemeinsamen Empoumlrung uumlber die Sinnlosigkeit der Welt

solidarisch miteinander verbinden

Weit entfernt eine allgemeine Unabhaumlngigkeit zu fordern will die Revolte die Anerkennung der Tatsache daszlig die Freiheit uumlberall da eine Grenze habe wo sich ein menschliches Wesen befindet denn die Grenze ist eben die Macht der Revolte dieses Wesens laquo (Der Mensch

in der Revolte 230)

Die einzige dem Menschen nach CAMUS moumlgliche Freiheit zu der er moralisch aufgerufen ist realisiert sich im Protest und als Protest gegen die Unmenschlichkeit des Daseins Der Mensch

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266 Grundtypen ethischer Theorie

existiert nur als Protestierender so haumllt er seinen Anspruch auf Humanitaumlt und ein menschenwuumlrdiges Leben hoch ohne daszlig damit freilich die Sinnlosigkeit der Welt aufgehoben wuumlrde

Eine existentielle Ethik akzentuiert also das Dasein des Menschen als eines Individuums unter anderen Individuen Sie denkt das Moralische in seiner geschichtlichen Struktur und Einmaligkeit als etwas das nicht in zeitloser Praumlsenz raquowest sondern sich in der Zeit ereignet den Augenblick zu einem sinnerfuumlIJten je Jetzt des Lebens macht Indem ein Individuum moralisch handelt existiert es als Mensch und indem es so existiert wird es einerseits es selbst als diese bestimmte Person offenbar andererseits als jemand der sich frei mit anderen verbunden hat um Freiheit zu realisieren Die menschliche Existenz erweist sich daher als der originaumlre Ort an dem Moralitaumlt als geschichtlicher Sinn des Lebens hervorgebracht wird wobei das Moment des Geschichtlichen Natuumlrlichen des Werdens das aIJe Existenzphilosophen betonen zugleich die Endlichkeit menschlichen HandeIns in den Blick ruumlckt Die Handlung selber als bestimmtes empirisches Geschehen vergeht ebenso wie der Mensch der diese Handlung ausgefuumlhrt hat eines Tages nicht mehr sein wird Was bleibt und die einzelne Handlung als moralische uumlberdauert ist ihre Guumlltigkeit ihrSinn

733 Der eudaumlmonistische Ansatz

(Hedonistische und utilitaristische Ethik)

Der eudaumlmonistische Ansatz (von griech eudaimonia _ Gluumlck) in der Ethik der teleologisch das Gluumlck als houmlchstes Ziel an dem aIJes menschliche Handeln interessiert ist bestimmt geht auf ARISTOTELES zuruumlck wird aber insbesondere von - der hedonistischen Ethik einerseits - der utilitaristischen Ethik andererseits ausdruumlcklich vertreten

Fuumlr ARISTOTELES ist das Gluumlck Inbegriff eines schlechthin gelungenen sinnerfuumlllten Lebens

Modelle einer normativen Ethik 267

raquoDas oberste Gut ist zweifellos ein Endziel Als vollkommen schlechthin bezeichnen wir das was stets rein fuumlr sich gewaumlhlt wird und niemals zu einem anderen Zweck Als solches Gut aber gilt in hervorragendem Sinne das Gluumlck Denn das Gluumlck erwaumlhlen wir uns stets um seiner selbst willen und niemals zu einem daruumlber hinausshyliegenden Zwecklaquo (Eth Nie I 5 1097a 25-b1)

Man erstrebt das Gluumlck also nicht um irgend etwas willen vielmehr erstrebt man alles was man erstrebt um des Gluumlcks willen Zwar streben nach ARISTOTELES alle Menschen nach Gluumlck aber wirklich gluumlcklich ist jedoch nur der zu nennen der moralisch handelt zugleich aber aller aumluszligeren und leiblichen Guumlter (guumlnstige Umstaumlnde Gesundheit etc) teilhaftig ist deren er ebenfalls bedarf um ein vollkommenes Leben zu fuumlhren

raquoDas Gluumlck setzt moralische Vollkommenheit voraus und ein I

Vollrnaszlig des Lebens laquo (Ebd 110 1100a 4-5) I

Die hedonistische Ethik (von griech hedone - Lust) geht ebenfalls davon aus daszlig das Gluumlck houmlchstes Ziel menschlichen Strebens ist versteht unter Gluumlck jedoch Lust Freude Daraus leitet sie den Grundsatz ab jeder solle tun was ihm Freude macht Bezuumlglich dessen was die meiste Freude macht gehen die hedonistischen Ansichten allerdings auseinander Waumlhrend ARISTIPPOS von Kyrene (435-355 vChr) den sinnlichen Genuszlig zum Maszligstab menschlichen Handelns erklaumlrt wobei es Kennzeichen des Weisen ist daszlig er die Lust genieszligt ohne sich von ihr beherrschen zu lassen erkennt EPIKUR (342-271) den geistigen und seelischen Freuden den Vorrang zu da sie dauerhafter und unabhaumlngiger von aumluszligeren Umstaumlnden und Stoumlrungen seien Gluumlckselig ist letztlich nur derjenige dem es gelingt seine Triebe und Beshygehrungen so zu harmonisieren daszlig keine uumlberschieszligende Leidenschaft mehr dominiert Eine solche Harmonisierung ist die Ataraxie (= Unerschuumltterlichkeit) eine gewisse Seelenruhe die es zB dem Philosophen erlaubt in heiterer Gelassenheit uumlber den Dingen zu stehen und das ist das eigentliche wahre Gluumlck die Lust am Gleichmaszlig an der Ausgewogenheit der Interessen

Der Hedonismus kann egoistisch oder altruistisch fundiert sein je nachdem ob er vorrangig die Befriedigung der eigenen

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Inhaltsverzeichnis

Wirtschaftsethik _ 98 99Wissenschaftsethik

Oumlkologische Ethik 100 103Friedensethik

106Weitere Spezialethiken Ethikkommissionen

Die Bedeutung der Ethik fuumlr die menschliche Praxis 114

Ethik als praktische Wissenschaft unter anderen praxis bezogenen Wissenschaften 119

Ethik im Verhaumlltnis zu empirischen Einzelshywissenschaften 120 Psychologie 120 Soziologie 124

Ethik im Verhaumlltnis zu normativen Wissenschaften 128 Theologie 128 Jurisprudenz 136

Ethik und Paumldagogik 139 Die ethische Dimension der Paumldagogik 140 Paumldagogisch vermittelte Ethik 150

Grundfragen der Ethik 160

Gluumlckseligkeit 161 164Freiheit und Determina tion

171Gut und Boumlse

Ziele und Grenzen der Ethik 178

Ziele 178 Grenzen 181

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Inhaltsverzeichnis 9

Grundformen moralischer und ethischer Argumentation 185

Moralische Begruumlndungen 185 Bezugnahme auf ein Faktum 185 Bezugnahme auf Gefuumlhle 189 Bezugnahme auf moumlgliche Folgen 191 Bezugnahme auf einen Moralkodex 195 Bezugnahme auf moralische Kompetenz 196 Bezugnahme auf das Gewissen 197

Ethische Begruumlndungen 200 Logische Methode 200 Diskursive Methode 205 Dialektische Methode 212 Analogische Methode 220 Transzendentale Methode 223 Analytische Methode 226 Hermeneutische Methode 229

Grundtypen ethischer Theorie 234

Neutralitaumlt oder Engagement Zur Haltung des Moralphilosophen 234 Das theoretische Erkenntnisinteresse 236 Das praktische Erkenntnisinteresse 23 7 Die Rolle der Kritik in der Ethik 237

Modelle einer deskriptiven Ethik 238 Der phaumlnomenologische Ansatz (Wertethik) 238 Der sprachanalytische Ansatz (Metaethik) 244 Der evolutionaumlre Ansatz 251

Modelle einer normativen Ethik 255 Der transzendentalphilosophische Ansatz (Willensethik konstruktive sprachpragmatische und generative Ethik) 255 Der existentialistische Ansatz (Daseinsethik) 262

10 Inhaltsverzeichnis

733 Der eudaumlmonistische Ansatz (Hedonistische und utilitaristische Ethik) 266

734 Der vertragstheoretische Ansatz (Gerechtigkeitsethik ) 273

73 5 Der traditionale Ansatz (Tugendethik und kommunitaristische Ethik) 275

736 Der materialistische Ansatz (Physiologische und marxistische Ethik) 278

8 Feministische Ethik 289

Anmerkungen 302

Zitierte Autoren und ergaumlnzende Literaturhinweise 311

Bibliographie 329

Register 333 Personen 333 Sachen 336

Einleitung

Im Mittelpunkt unserer Uumlberlegungen stehen drei Fragenbereiche

1 Womit hat es die Ethik als philosophische Disziplin zu tun Was ist ihr Gegenstand

2 In welcher Weise beschaumlftigt sie sich mit diesem Gegenstand Bildet sie methodische Verfahren aus die dazu berechtigen von der Ethik als einer Wissenschaft zu sprechen Oder steht sie auf einer Stufe mit Weltanschauungen und Ideologien die keine allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen koumlnnen

3 Worum geht es der Ethik letztendlich Was ist ihr Ziel

Vorab lassen sich noch ohne naumlhere Begruumlndung folgende Antworten auf diese Fragen skizzieren

Zu 1 Die Ethik hat es mit menschlichen Handlungen zu tun Dennoch ist sie keine Handlungstheorie schlechthin denn ihr geht es vorrangig um solche Handlungen die Anspruch auf Moralitaumlt erheben um moralische Handlungen also Sie fragt nach diesem qualitativen Moment das eine Handlung zu einer moralisch guten Handlung macht und befaszligt sich in diesem Zusammenhang mit Begriffen wie Moral das Gute Pflicht Sollen Erlaubnis Gluumlck ua

Zu 2 Die Ethik beschaumlftigt sich auf methodische Weise mit ihrem Gegenstand - mit moralischen Handlungen - da sie zu argumentativ begruumlndeten Ergebnissen gelangen will und somit weder moralisieren noch ideologisieren oder weltanschauliche Uumlberzeugungen als allgemein verbindliche Handlungsgrundlage verkuumlnden darf Ihr ist es demnach um Aussagen zu tun die nicht bloszlig subjektiv guumlltig sondern als intersubjektiv verbindshylich ausweis bar sind

Man unterscheidet in der Ethik grob zwei Kategorien von ethischen Methoden deskriptive und normative Methode Die

262 Grundtypen ethischer Theorie

sucht aber - der Intention nach wie FICHTE - uumlber den Kantishysehen Ansatz hinausgehend nach einem letzten houmlchsten Prinzip das nicht nur reduktiv ermittelt sondern auch aus sich selbst entfaltet und immanent expliziert wird Diese in den Bildern des Ursprungs oder des Entschlusses vorgenommene Selbstexplikashytion von Freiheit als oberste geltungsbegruumlndende Instanz ist letzter Grund fuumlr Moralitaumlt und damit unverzichtbarer Sinnshygrund menschlicher Praxis schlechthin

732 Der existentialistische Ansatz (Daseinsethik)

Der existentialistische Ansatz stellt den Begriff der menschlichen Existenz in den Mittelpunkt ethischer Uumlberlegungen und versucht menschliches Handeln aus der Gesamtheit menschshylichen Selbstseins das als Einheit von Denken Wollen Fuumlhlen und Handeln begriffen wird zu begruumlnden Diese Einheit im konkreten Vollzug seines Daseins je und je geschichtlich neu herzustellen ist die bleibende moralische Aufgabe jedes einshyzelnen

Als erster hat Soumlren KIERKEGAARD den Versuch unternomshymen die Ethik existentialistisch zu begruumlnden KIERKEGAARD setzt sich mit seinem Ausgangspunkt beim menschlichen Existieren zur Wehr gegen jede Wesensphilosophie (Gegensatz von essentia - Wesen und existentia - Dasein) Die traditionelle Philosophie als deren Repraumlsentanten er vor allem HEGEL sah war fuumlr ihn ausschlieszliglich Wesensmetaphysik indem sie nicht nach dem Sein sondern nach dem Wesen der Dinge fragte und dieses Wesen abstrakt vermittels allgemeiner Begriffe formuliershyte Was fuumlr die Dinge noch angehen mag ist im Hinblick auf den Menschen jedoch nach KIERKEGAARD nicht mehr zulaumlssig denn der Mensch interessiert als Individuum und hinsichtlich seiner Individualitaumlt so daszlig man die abstrakte Frage nach dem Wesen des Menschen nicszligt unabhaumlngig von der Frage nach der Seinsweise des einzelnen als Individuum stellen kann Wenn man aber danach fragt wodurch denn ein Individuum dieses bestimmte Individuum ist kann man diese Frage nicht mehr auf herkoumlmmliche Weise in Form eines philosophischen Systems

Modelle einer normativen Ethik 263

beantworten weil dieses System ja wieder nur ein abstrakter Begriffsapparat ist aus dem der einzelne als einzelner herausshyfaumlllt Wodurch der einzelne zu dem bestimmten Individuum wird das er ist laumlszligt sich nur gewissermaszligen biographisch an fiktiven Figuren zeigen Daher hat KIERKEGAARD so viele verschiedene Pseudonyme erfunden von denen jedes aus einem anderen Aspekt deutlich machen soll was Existieren fuumlr es heiszligt Selbstverstaumlndlich kommen auch hier abstrakte Eroumlrterunshygen vor aber sie stehen immer in irgendeinem Zusammenhang mit jenem urspruumlnglichen Seinsvollzug der als Existenz bezeichshynet wird Hier ist fuumlr KIERKEGAARD SOKRATES das Vorbild der seine Schuumller auch kein begriffliches Wissen keine Formeln von Tugend keine Definitionen des Gerechten und Guten gelehrt sondern ihnen exemplarisch vorgelebt hat was es heiszligt ein tugendhafter gerechter guter Mensch zu sein

Fuumlr KIERKEGAARD ist Menschsein als Existenz nicht statishysches ontisches Sein sondern wesentlich Bewegung Prozeszlig Selbstwerden Existieren heiszligt unter einem Unbedingtheitsshyanspruch handeln und sich durch solches Handeln als ein trotz seiner Gebundenheit an sein jeweiliges Sosein freies Individuum zu erweisen Um moralisch handeln zu koumlnnen muszlig sich der einzelne in einem Akt autonomer Selbstbestimmung unbedingt entschlossen haben er selbst zu sein und Freiheit als Moralshyprinzip anzuerkennen

raquodenn allein indern man unbedingt waumlhlt kann man das Ethische waumlhlen Durch die absolute Wahl ist somit das Ethische gesetztlaquo (Entweder-Oder II 189)

Dabei versteht KIERKEGAARD unter dem Setzen des Ethischenlaquo das Hervorbringen von Moralitaumlt aus dem unbedingten Streben nach dem Guten dh die Wahl der Freiheit

raquoDurch diese Wahl waumlhle ich eigentlich nicht zwischen Gut und Boumlse sondern ich waumlhle das Gute indern ich aber das Gute waumlhle waumlhle ich eben damit die Wahl zwischen Gut und Boumlse Die urspruumlngshyliche Wahl ist staumlndig zugegen in einer jeden folgenden Wahllaquo (Ebd 232f)

264 Grundtypen ethischer Theorie

Mit der urspruumlnglichen Wahl bringt der einzelne in freier Selbstbejahung sich selbst als moralische Person hervor die bereit ist ihr kuumlnftiges Wollen und Handeln den Normen des Guten und Boumlsen zu unterstellen Nur wer sich ethisch waumlhlt wird er selbst als der der er sein soll er wird ein Selbstlaquo

raquoDer Mensch ist Geist Was aber ist Geist Geist ist das Selbst Was aber ist das Selbst Das Selbst ist ein Verhaumlltnis das sich zu sich selbst verhaumllt oder ist das an dem Verhaumlltnis daszlig das Verhaumlltnis sich zu sich selbst verhaumllt das Selbst ist nicht das Verhaumlltnis sondern daszlig das Verhaumlltnis sich zu sich selbst verhaumlltlaquo (Die Krankheit zum Tode 31)

Menschsein realisiert sich nach KIERKEGAARD als doppeltes in sich reflexes Verhaumlltnissein als Taumltigkeit eines Sichverhaltens das sich im Verhaumlltnis zu anderem (Welt Mitmenschen Gott) zugleich wesentlich auf sich selbst und im Zusichselbstverhalten zugleich wesentlich auf anderes bezieht Diese Verhaumlltnisshystruktur menschlichen Existierens als geistigen Selbstseins gilt es stets von neuem in Akten freier Selbstbestimmung geschichtlich zu vollziehen Die ethische Aufgabe des einzelnen besteht darin zu existieren sich zu verhalten und in diesem Sichverhalten als der offenbar zu werden der er ist

Was KIERKEGAARD in Entweder-Oderltdurch den Akt des Waumlhlens als der Grundweise individuellen Existierens signalishysiert hat das praumlzisiert er in Die Krankheit zum Todelt weiter unter dem Begriff des Selbst als Sichverhalten Nur wer sich verhaumllt und in diesem Sichverhalten offenbar macht wie er sich entschieden hat gibt sich als der zu erkennen der er durch freie Selbstbestimmung geworden ist Er existiert im urspruumlnglichen Wortsinn vonmiddot ex-sistere - herausstehen sich zeigen und hanshydelnd eroumlffnen als der der man wirklich ist

Einen existenzphilosophischen Ansatz der aber nicht eigentlich zu einer Ethik ausgearbeitet wurde findet man in diesem Jahrhundert bei Martin HEIDEGGER und deutlicher ausgepraumlgt bei Karl JASPERS HEIDEGGER versteht sich zwar weniger als einen Existenzphilosophen und bezeichnet sich lieber zum mindesten in der Periode um Sein und Zeitlt als

Modelle einer normativen Ethik 265

Fundamentalontologen aber insofern die Frage nach dem Sinn von Sein eine Analytik des Daseins miteinschlieszligt dessen Seinscharaktere er als Existenzialien begreift - wie zB Angst Sorge Sein zum Tode - kann man auch HEIDEGGER zur Existenzphilosophie rechnen ebenso wie JASPERS der sich auch selbst dazu bekannte Entsprechend betreibt er die Daseinsshyanalyse als Existenzerhellung indem er vor allem jene Grundsishytuationen _ wie Kampf Leid Schuld Tod - thematisiert in denen der einzelne im Sichzusichselbstverhalten uumlber sich

hinausgetrieben wird auf das Transzendente hin Auch bei den franzoumlsischen Existentialisten finden sich

Ansaumltze zu einer existentiellen Moral so bei Jean-Paul SARTRE der davon ausgeht daszlig die Existenz der Essenz das Dasein dem Wesen vorausgeht Der Mensch ist eine Nullpunktexistenz dh er beginnt als radikal Freier dem nichts vorgegeben ist der sein Wesen selbst hervorbringt und somit sich selbst erst als der erschafft der er dann ist Der Mensch als Existierender waumlhlt sich selbst seinem Wesen nach indem er im Bewuszligtsein seiner Verantwortung zugleich alle Menschen waumlhlt (Vgl Ist der Existentialismus ein Humanismus Frankfurt 1983 12 f)

Wieder anders reflektiert Albert CAMUS auf die Existentialishytaumlt des Menschen Bestand fuumlr KIERKEGAARD der ethische Sinn menschlichen Handelns in der unbedingten Selbstwahl durch die der einzelne zu dem wird der er sein soll so findet Albert CAMUS im Protest gegen die Absurditaumlt des Lebens jenes Moment der Unbedingtheit aufgrund dessen sich die Menschen in der gemeinsamen Empoumlrung uumlber die Sinnlosigkeit der Welt

solidarisch miteinander verbinden

Weit entfernt eine allgemeine Unabhaumlngigkeit zu fordern will die Revolte die Anerkennung der Tatsache daszlig die Freiheit uumlberall da eine Grenze habe wo sich ein menschliches Wesen befindet denn die Grenze ist eben die Macht der Revolte dieses Wesens laquo (Der Mensch

in der Revolte 230)

Die einzige dem Menschen nach CAMUS moumlgliche Freiheit zu der er moralisch aufgerufen ist realisiert sich im Protest und als Protest gegen die Unmenschlichkeit des Daseins Der Mensch

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266 Grundtypen ethischer Theorie

existiert nur als Protestierender so haumllt er seinen Anspruch auf Humanitaumlt und ein menschenwuumlrdiges Leben hoch ohne daszlig damit freilich die Sinnlosigkeit der Welt aufgehoben wuumlrde

Eine existentielle Ethik akzentuiert also das Dasein des Menschen als eines Individuums unter anderen Individuen Sie denkt das Moralische in seiner geschichtlichen Struktur und Einmaligkeit als etwas das nicht in zeitloser Praumlsenz raquowest sondern sich in der Zeit ereignet den Augenblick zu einem sinnerfuumlIJten je Jetzt des Lebens macht Indem ein Individuum moralisch handelt existiert es als Mensch und indem es so existiert wird es einerseits es selbst als diese bestimmte Person offenbar andererseits als jemand der sich frei mit anderen verbunden hat um Freiheit zu realisieren Die menschliche Existenz erweist sich daher als der originaumlre Ort an dem Moralitaumlt als geschichtlicher Sinn des Lebens hervorgebracht wird wobei das Moment des Geschichtlichen Natuumlrlichen des Werdens das aIJe Existenzphilosophen betonen zugleich die Endlichkeit menschlichen HandeIns in den Blick ruumlckt Die Handlung selber als bestimmtes empirisches Geschehen vergeht ebenso wie der Mensch der diese Handlung ausgefuumlhrt hat eines Tages nicht mehr sein wird Was bleibt und die einzelne Handlung als moralische uumlberdauert ist ihre Guumlltigkeit ihrSinn

733 Der eudaumlmonistische Ansatz

(Hedonistische und utilitaristische Ethik)

Der eudaumlmonistische Ansatz (von griech eudaimonia _ Gluumlck) in der Ethik der teleologisch das Gluumlck als houmlchstes Ziel an dem aIJes menschliche Handeln interessiert ist bestimmt geht auf ARISTOTELES zuruumlck wird aber insbesondere von - der hedonistischen Ethik einerseits - der utilitaristischen Ethik andererseits ausdruumlcklich vertreten

Fuumlr ARISTOTELES ist das Gluumlck Inbegriff eines schlechthin gelungenen sinnerfuumlllten Lebens

Modelle einer normativen Ethik 267

raquoDas oberste Gut ist zweifellos ein Endziel Als vollkommen schlechthin bezeichnen wir das was stets rein fuumlr sich gewaumlhlt wird und niemals zu einem anderen Zweck Als solches Gut aber gilt in hervorragendem Sinne das Gluumlck Denn das Gluumlck erwaumlhlen wir uns stets um seiner selbst willen und niemals zu einem daruumlber hinausshyliegenden Zwecklaquo (Eth Nie I 5 1097a 25-b1)

Man erstrebt das Gluumlck also nicht um irgend etwas willen vielmehr erstrebt man alles was man erstrebt um des Gluumlcks willen Zwar streben nach ARISTOTELES alle Menschen nach Gluumlck aber wirklich gluumlcklich ist jedoch nur der zu nennen der moralisch handelt zugleich aber aller aumluszligeren und leiblichen Guumlter (guumlnstige Umstaumlnde Gesundheit etc) teilhaftig ist deren er ebenfalls bedarf um ein vollkommenes Leben zu fuumlhren

raquoDas Gluumlck setzt moralische Vollkommenheit voraus und ein I

Vollrnaszlig des Lebens laquo (Ebd 110 1100a 4-5) I

Die hedonistische Ethik (von griech hedone - Lust) geht ebenfalls davon aus daszlig das Gluumlck houmlchstes Ziel menschlichen Strebens ist versteht unter Gluumlck jedoch Lust Freude Daraus leitet sie den Grundsatz ab jeder solle tun was ihm Freude macht Bezuumlglich dessen was die meiste Freude macht gehen die hedonistischen Ansichten allerdings auseinander Waumlhrend ARISTIPPOS von Kyrene (435-355 vChr) den sinnlichen Genuszlig zum Maszligstab menschlichen Handelns erklaumlrt wobei es Kennzeichen des Weisen ist daszlig er die Lust genieszligt ohne sich von ihr beherrschen zu lassen erkennt EPIKUR (342-271) den geistigen und seelischen Freuden den Vorrang zu da sie dauerhafter und unabhaumlngiger von aumluszligeren Umstaumlnden und Stoumlrungen seien Gluumlckselig ist letztlich nur derjenige dem es gelingt seine Triebe und Beshygehrungen so zu harmonisieren daszlig keine uumlberschieszligende Leidenschaft mehr dominiert Eine solche Harmonisierung ist die Ataraxie (= Unerschuumltterlichkeit) eine gewisse Seelenruhe die es zB dem Philosophen erlaubt in heiterer Gelassenheit uumlber den Dingen zu stehen und das ist das eigentliche wahre Gluumlck die Lust am Gleichmaszlig an der Ausgewogenheit der Interessen

Der Hedonismus kann egoistisch oder altruistisch fundiert sein je nachdem ob er vorrangig die Befriedigung der eigenen

10 Inhaltsverzeichnis

733 Der eudaumlmonistische Ansatz (Hedonistische und utilitaristische Ethik) 266

734 Der vertragstheoretische Ansatz (Gerechtigkeitsethik ) 273

73 5 Der traditionale Ansatz (Tugendethik und kommunitaristische Ethik) 275

736 Der materialistische Ansatz (Physiologische und marxistische Ethik) 278

8 Feministische Ethik 289

Anmerkungen 302

Zitierte Autoren und ergaumlnzende Literaturhinweise 311

Bibliographie 329

Register 333 Personen 333 Sachen 336

Einleitung

Im Mittelpunkt unserer Uumlberlegungen stehen drei Fragenbereiche

1 Womit hat es die Ethik als philosophische Disziplin zu tun Was ist ihr Gegenstand

2 In welcher Weise beschaumlftigt sie sich mit diesem Gegenstand Bildet sie methodische Verfahren aus die dazu berechtigen von der Ethik als einer Wissenschaft zu sprechen Oder steht sie auf einer Stufe mit Weltanschauungen und Ideologien die keine allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen koumlnnen

3 Worum geht es der Ethik letztendlich Was ist ihr Ziel

Vorab lassen sich noch ohne naumlhere Begruumlndung folgende Antworten auf diese Fragen skizzieren

Zu 1 Die Ethik hat es mit menschlichen Handlungen zu tun Dennoch ist sie keine Handlungstheorie schlechthin denn ihr geht es vorrangig um solche Handlungen die Anspruch auf Moralitaumlt erheben um moralische Handlungen also Sie fragt nach diesem qualitativen Moment das eine Handlung zu einer moralisch guten Handlung macht und befaszligt sich in diesem Zusammenhang mit Begriffen wie Moral das Gute Pflicht Sollen Erlaubnis Gluumlck ua

Zu 2 Die Ethik beschaumlftigt sich auf methodische Weise mit ihrem Gegenstand - mit moralischen Handlungen - da sie zu argumentativ begruumlndeten Ergebnissen gelangen will und somit weder moralisieren noch ideologisieren oder weltanschauliche Uumlberzeugungen als allgemein verbindliche Handlungsgrundlage verkuumlnden darf Ihr ist es demnach um Aussagen zu tun die nicht bloszlig subjektiv guumlltig sondern als intersubjektiv verbindshylich ausweis bar sind

Man unterscheidet in der Ethik grob zwei Kategorien von ethischen Methoden deskriptive und normative Methode Die

262 Grundtypen ethischer Theorie

sucht aber - der Intention nach wie FICHTE - uumlber den Kantishysehen Ansatz hinausgehend nach einem letzten houmlchsten Prinzip das nicht nur reduktiv ermittelt sondern auch aus sich selbst entfaltet und immanent expliziert wird Diese in den Bildern des Ursprungs oder des Entschlusses vorgenommene Selbstexplikashytion von Freiheit als oberste geltungsbegruumlndende Instanz ist letzter Grund fuumlr Moralitaumlt und damit unverzichtbarer Sinnshygrund menschlicher Praxis schlechthin

732 Der existentialistische Ansatz (Daseinsethik)

Der existentialistische Ansatz stellt den Begriff der menschlichen Existenz in den Mittelpunkt ethischer Uumlberlegungen und versucht menschliches Handeln aus der Gesamtheit menschshylichen Selbstseins das als Einheit von Denken Wollen Fuumlhlen und Handeln begriffen wird zu begruumlnden Diese Einheit im konkreten Vollzug seines Daseins je und je geschichtlich neu herzustellen ist die bleibende moralische Aufgabe jedes einshyzelnen

Als erster hat Soumlren KIERKEGAARD den Versuch unternomshymen die Ethik existentialistisch zu begruumlnden KIERKEGAARD setzt sich mit seinem Ausgangspunkt beim menschlichen Existieren zur Wehr gegen jede Wesensphilosophie (Gegensatz von essentia - Wesen und existentia - Dasein) Die traditionelle Philosophie als deren Repraumlsentanten er vor allem HEGEL sah war fuumlr ihn ausschlieszliglich Wesensmetaphysik indem sie nicht nach dem Sein sondern nach dem Wesen der Dinge fragte und dieses Wesen abstrakt vermittels allgemeiner Begriffe formuliershyte Was fuumlr die Dinge noch angehen mag ist im Hinblick auf den Menschen jedoch nach KIERKEGAARD nicht mehr zulaumlssig denn der Mensch interessiert als Individuum und hinsichtlich seiner Individualitaumlt so daszlig man die abstrakte Frage nach dem Wesen des Menschen nicszligt unabhaumlngig von der Frage nach der Seinsweise des einzelnen als Individuum stellen kann Wenn man aber danach fragt wodurch denn ein Individuum dieses bestimmte Individuum ist kann man diese Frage nicht mehr auf herkoumlmmliche Weise in Form eines philosophischen Systems

Modelle einer normativen Ethik 263

beantworten weil dieses System ja wieder nur ein abstrakter Begriffsapparat ist aus dem der einzelne als einzelner herausshyfaumlllt Wodurch der einzelne zu dem bestimmten Individuum wird das er ist laumlszligt sich nur gewissermaszligen biographisch an fiktiven Figuren zeigen Daher hat KIERKEGAARD so viele verschiedene Pseudonyme erfunden von denen jedes aus einem anderen Aspekt deutlich machen soll was Existieren fuumlr es heiszligt Selbstverstaumlndlich kommen auch hier abstrakte Eroumlrterunshygen vor aber sie stehen immer in irgendeinem Zusammenhang mit jenem urspruumlnglichen Seinsvollzug der als Existenz bezeichshynet wird Hier ist fuumlr KIERKEGAARD SOKRATES das Vorbild der seine Schuumller auch kein begriffliches Wissen keine Formeln von Tugend keine Definitionen des Gerechten und Guten gelehrt sondern ihnen exemplarisch vorgelebt hat was es heiszligt ein tugendhafter gerechter guter Mensch zu sein

Fuumlr KIERKEGAARD ist Menschsein als Existenz nicht statishysches ontisches Sein sondern wesentlich Bewegung Prozeszlig Selbstwerden Existieren heiszligt unter einem Unbedingtheitsshyanspruch handeln und sich durch solches Handeln als ein trotz seiner Gebundenheit an sein jeweiliges Sosein freies Individuum zu erweisen Um moralisch handeln zu koumlnnen muszlig sich der einzelne in einem Akt autonomer Selbstbestimmung unbedingt entschlossen haben er selbst zu sein und Freiheit als Moralshyprinzip anzuerkennen

raquodenn allein indern man unbedingt waumlhlt kann man das Ethische waumlhlen Durch die absolute Wahl ist somit das Ethische gesetztlaquo (Entweder-Oder II 189)

Dabei versteht KIERKEGAARD unter dem Setzen des Ethischenlaquo das Hervorbringen von Moralitaumlt aus dem unbedingten Streben nach dem Guten dh die Wahl der Freiheit

raquoDurch diese Wahl waumlhle ich eigentlich nicht zwischen Gut und Boumlse sondern ich waumlhle das Gute indern ich aber das Gute waumlhle waumlhle ich eben damit die Wahl zwischen Gut und Boumlse Die urspruumlngshyliche Wahl ist staumlndig zugegen in einer jeden folgenden Wahllaquo (Ebd 232f)

264 Grundtypen ethischer Theorie

Mit der urspruumlnglichen Wahl bringt der einzelne in freier Selbstbejahung sich selbst als moralische Person hervor die bereit ist ihr kuumlnftiges Wollen und Handeln den Normen des Guten und Boumlsen zu unterstellen Nur wer sich ethisch waumlhlt wird er selbst als der der er sein soll er wird ein Selbstlaquo

raquoDer Mensch ist Geist Was aber ist Geist Geist ist das Selbst Was aber ist das Selbst Das Selbst ist ein Verhaumlltnis das sich zu sich selbst verhaumllt oder ist das an dem Verhaumlltnis daszlig das Verhaumlltnis sich zu sich selbst verhaumllt das Selbst ist nicht das Verhaumlltnis sondern daszlig das Verhaumlltnis sich zu sich selbst verhaumlltlaquo (Die Krankheit zum Tode 31)

Menschsein realisiert sich nach KIERKEGAARD als doppeltes in sich reflexes Verhaumlltnissein als Taumltigkeit eines Sichverhaltens das sich im Verhaumlltnis zu anderem (Welt Mitmenschen Gott) zugleich wesentlich auf sich selbst und im Zusichselbstverhalten zugleich wesentlich auf anderes bezieht Diese Verhaumlltnisshystruktur menschlichen Existierens als geistigen Selbstseins gilt es stets von neuem in Akten freier Selbstbestimmung geschichtlich zu vollziehen Die ethische Aufgabe des einzelnen besteht darin zu existieren sich zu verhalten und in diesem Sichverhalten als der offenbar zu werden der er ist

Was KIERKEGAARD in Entweder-Oderltdurch den Akt des Waumlhlens als der Grundweise individuellen Existierens signalishysiert hat das praumlzisiert er in Die Krankheit zum Todelt weiter unter dem Begriff des Selbst als Sichverhalten Nur wer sich verhaumllt und in diesem Sichverhalten offenbar macht wie er sich entschieden hat gibt sich als der zu erkennen der er durch freie Selbstbestimmung geworden ist Er existiert im urspruumlnglichen Wortsinn vonmiddot ex-sistere - herausstehen sich zeigen und hanshydelnd eroumlffnen als der der man wirklich ist

Einen existenzphilosophischen Ansatz der aber nicht eigentlich zu einer Ethik ausgearbeitet wurde findet man in diesem Jahrhundert bei Martin HEIDEGGER und deutlicher ausgepraumlgt bei Karl JASPERS HEIDEGGER versteht sich zwar weniger als einen Existenzphilosophen und bezeichnet sich lieber zum mindesten in der Periode um Sein und Zeitlt als

Modelle einer normativen Ethik 265

Fundamentalontologen aber insofern die Frage nach dem Sinn von Sein eine Analytik des Daseins miteinschlieszligt dessen Seinscharaktere er als Existenzialien begreift - wie zB Angst Sorge Sein zum Tode - kann man auch HEIDEGGER zur Existenzphilosophie rechnen ebenso wie JASPERS der sich auch selbst dazu bekannte Entsprechend betreibt er die Daseinsshyanalyse als Existenzerhellung indem er vor allem jene Grundsishytuationen _ wie Kampf Leid Schuld Tod - thematisiert in denen der einzelne im Sichzusichselbstverhalten uumlber sich

hinausgetrieben wird auf das Transzendente hin Auch bei den franzoumlsischen Existentialisten finden sich

Ansaumltze zu einer existentiellen Moral so bei Jean-Paul SARTRE der davon ausgeht daszlig die Existenz der Essenz das Dasein dem Wesen vorausgeht Der Mensch ist eine Nullpunktexistenz dh er beginnt als radikal Freier dem nichts vorgegeben ist der sein Wesen selbst hervorbringt und somit sich selbst erst als der erschafft der er dann ist Der Mensch als Existierender waumlhlt sich selbst seinem Wesen nach indem er im Bewuszligtsein seiner Verantwortung zugleich alle Menschen waumlhlt (Vgl Ist der Existentialismus ein Humanismus Frankfurt 1983 12 f)

Wieder anders reflektiert Albert CAMUS auf die Existentialishytaumlt des Menschen Bestand fuumlr KIERKEGAARD der ethische Sinn menschlichen Handelns in der unbedingten Selbstwahl durch die der einzelne zu dem wird der er sein soll so findet Albert CAMUS im Protest gegen die Absurditaumlt des Lebens jenes Moment der Unbedingtheit aufgrund dessen sich die Menschen in der gemeinsamen Empoumlrung uumlber die Sinnlosigkeit der Welt

solidarisch miteinander verbinden

Weit entfernt eine allgemeine Unabhaumlngigkeit zu fordern will die Revolte die Anerkennung der Tatsache daszlig die Freiheit uumlberall da eine Grenze habe wo sich ein menschliches Wesen befindet denn die Grenze ist eben die Macht der Revolte dieses Wesens laquo (Der Mensch

in der Revolte 230)

Die einzige dem Menschen nach CAMUS moumlgliche Freiheit zu der er moralisch aufgerufen ist realisiert sich im Protest und als Protest gegen die Unmenschlichkeit des Daseins Der Mensch

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266 Grundtypen ethischer Theorie

existiert nur als Protestierender so haumllt er seinen Anspruch auf Humanitaumlt und ein menschenwuumlrdiges Leben hoch ohne daszlig damit freilich die Sinnlosigkeit der Welt aufgehoben wuumlrde

Eine existentielle Ethik akzentuiert also das Dasein des Menschen als eines Individuums unter anderen Individuen Sie denkt das Moralische in seiner geschichtlichen Struktur und Einmaligkeit als etwas das nicht in zeitloser Praumlsenz raquowest sondern sich in der Zeit ereignet den Augenblick zu einem sinnerfuumlIJten je Jetzt des Lebens macht Indem ein Individuum moralisch handelt existiert es als Mensch und indem es so existiert wird es einerseits es selbst als diese bestimmte Person offenbar andererseits als jemand der sich frei mit anderen verbunden hat um Freiheit zu realisieren Die menschliche Existenz erweist sich daher als der originaumlre Ort an dem Moralitaumlt als geschichtlicher Sinn des Lebens hervorgebracht wird wobei das Moment des Geschichtlichen Natuumlrlichen des Werdens das aIJe Existenzphilosophen betonen zugleich die Endlichkeit menschlichen HandeIns in den Blick ruumlckt Die Handlung selber als bestimmtes empirisches Geschehen vergeht ebenso wie der Mensch der diese Handlung ausgefuumlhrt hat eines Tages nicht mehr sein wird Was bleibt und die einzelne Handlung als moralische uumlberdauert ist ihre Guumlltigkeit ihrSinn

733 Der eudaumlmonistische Ansatz

(Hedonistische und utilitaristische Ethik)

Der eudaumlmonistische Ansatz (von griech eudaimonia _ Gluumlck) in der Ethik der teleologisch das Gluumlck als houmlchstes Ziel an dem aIJes menschliche Handeln interessiert ist bestimmt geht auf ARISTOTELES zuruumlck wird aber insbesondere von - der hedonistischen Ethik einerseits - der utilitaristischen Ethik andererseits ausdruumlcklich vertreten

Fuumlr ARISTOTELES ist das Gluumlck Inbegriff eines schlechthin gelungenen sinnerfuumlllten Lebens

Modelle einer normativen Ethik 267

raquoDas oberste Gut ist zweifellos ein Endziel Als vollkommen schlechthin bezeichnen wir das was stets rein fuumlr sich gewaumlhlt wird und niemals zu einem anderen Zweck Als solches Gut aber gilt in hervorragendem Sinne das Gluumlck Denn das Gluumlck erwaumlhlen wir uns stets um seiner selbst willen und niemals zu einem daruumlber hinausshyliegenden Zwecklaquo (Eth Nie I 5 1097a 25-b1)

Man erstrebt das Gluumlck also nicht um irgend etwas willen vielmehr erstrebt man alles was man erstrebt um des Gluumlcks willen Zwar streben nach ARISTOTELES alle Menschen nach Gluumlck aber wirklich gluumlcklich ist jedoch nur der zu nennen der moralisch handelt zugleich aber aller aumluszligeren und leiblichen Guumlter (guumlnstige Umstaumlnde Gesundheit etc) teilhaftig ist deren er ebenfalls bedarf um ein vollkommenes Leben zu fuumlhren

raquoDas Gluumlck setzt moralische Vollkommenheit voraus und ein I

Vollrnaszlig des Lebens laquo (Ebd 110 1100a 4-5) I

Die hedonistische Ethik (von griech hedone - Lust) geht ebenfalls davon aus daszlig das Gluumlck houmlchstes Ziel menschlichen Strebens ist versteht unter Gluumlck jedoch Lust Freude Daraus leitet sie den Grundsatz ab jeder solle tun was ihm Freude macht Bezuumlglich dessen was die meiste Freude macht gehen die hedonistischen Ansichten allerdings auseinander Waumlhrend ARISTIPPOS von Kyrene (435-355 vChr) den sinnlichen Genuszlig zum Maszligstab menschlichen Handelns erklaumlrt wobei es Kennzeichen des Weisen ist daszlig er die Lust genieszligt ohne sich von ihr beherrschen zu lassen erkennt EPIKUR (342-271) den geistigen und seelischen Freuden den Vorrang zu da sie dauerhafter und unabhaumlngiger von aumluszligeren Umstaumlnden und Stoumlrungen seien Gluumlckselig ist letztlich nur derjenige dem es gelingt seine Triebe und Beshygehrungen so zu harmonisieren daszlig keine uumlberschieszligende Leidenschaft mehr dominiert Eine solche Harmonisierung ist die Ataraxie (= Unerschuumltterlichkeit) eine gewisse Seelenruhe die es zB dem Philosophen erlaubt in heiterer Gelassenheit uumlber den Dingen zu stehen und das ist das eigentliche wahre Gluumlck die Lust am Gleichmaszlig an der Ausgewogenheit der Interessen

Der Hedonismus kann egoistisch oder altruistisch fundiert sein je nachdem ob er vorrangig die Befriedigung der eigenen

262 Grundtypen ethischer Theorie

sucht aber - der Intention nach wie FICHTE - uumlber den Kantishysehen Ansatz hinausgehend nach einem letzten houmlchsten Prinzip das nicht nur reduktiv ermittelt sondern auch aus sich selbst entfaltet und immanent expliziert wird Diese in den Bildern des Ursprungs oder des Entschlusses vorgenommene Selbstexplikashytion von Freiheit als oberste geltungsbegruumlndende Instanz ist letzter Grund fuumlr Moralitaumlt und damit unverzichtbarer Sinnshygrund menschlicher Praxis schlechthin

732 Der existentialistische Ansatz (Daseinsethik)

Der existentialistische Ansatz stellt den Begriff der menschlichen Existenz in den Mittelpunkt ethischer Uumlberlegungen und versucht menschliches Handeln aus der Gesamtheit menschshylichen Selbstseins das als Einheit von Denken Wollen Fuumlhlen und Handeln begriffen wird zu begruumlnden Diese Einheit im konkreten Vollzug seines Daseins je und je geschichtlich neu herzustellen ist die bleibende moralische Aufgabe jedes einshyzelnen

Als erster hat Soumlren KIERKEGAARD den Versuch unternomshymen die Ethik existentialistisch zu begruumlnden KIERKEGAARD setzt sich mit seinem Ausgangspunkt beim menschlichen Existieren zur Wehr gegen jede Wesensphilosophie (Gegensatz von essentia - Wesen und existentia - Dasein) Die traditionelle Philosophie als deren Repraumlsentanten er vor allem HEGEL sah war fuumlr ihn ausschlieszliglich Wesensmetaphysik indem sie nicht nach dem Sein sondern nach dem Wesen der Dinge fragte und dieses Wesen abstrakt vermittels allgemeiner Begriffe formuliershyte Was fuumlr die Dinge noch angehen mag ist im Hinblick auf den Menschen jedoch nach KIERKEGAARD nicht mehr zulaumlssig denn der Mensch interessiert als Individuum und hinsichtlich seiner Individualitaumlt so daszlig man die abstrakte Frage nach dem Wesen des Menschen nicszligt unabhaumlngig von der Frage nach der Seinsweise des einzelnen als Individuum stellen kann Wenn man aber danach fragt wodurch denn ein Individuum dieses bestimmte Individuum ist kann man diese Frage nicht mehr auf herkoumlmmliche Weise in Form eines philosophischen Systems

Modelle einer normativen Ethik 263

beantworten weil dieses System ja wieder nur ein abstrakter Begriffsapparat ist aus dem der einzelne als einzelner herausshyfaumlllt Wodurch der einzelne zu dem bestimmten Individuum wird das er ist laumlszligt sich nur gewissermaszligen biographisch an fiktiven Figuren zeigen Daher hat KIERKEGAARD so viele verschiedene Pseudonyme erfunden von denen jedes aus einem anderen Aspekt deutlich machen soll was Existieren fuumlr es heiszligt Selbstverstaumlndlich kommen auch hier abstrakte Eroumlrterunshygen vor aber sie stehen immer in irgendeinem Zusammenhang mit jenem urspruumlnglichen Seinsvollzug der als Existenz bezeichshynet wird Hier ist fuumlr KIERKEGAARD SOKRATES das Vorbild der seine Schuumller auch kein begriffliches Wissen keine Formeln von Tugend keine Definitionen des Gerechten und Guten gelehrt sondern ihnen exemplarisch vorgelebt hat was es heiszligt ein tugendhafter gerechter guter Mensch zu sein

Fuumlr KIERKEGAARD ist Menschsein als Existenz nicht statishysches ontisches Sein sondern wesentlich Bewegung Prozeszlig Selbstwerden Existieren heiszligt unter einem Unbedingtheitsshyanspruch handeln und sich durch solches Handeln als ein trotz seiner Gebundenheit an sein jeweiliges Sosein freies Individuum zu erweisen Um moralisch handeln zu koumlnnen muszlig sich der einzelne in einem Akt autonomer Selbstbestimmung unbedingt entschlossen haben er selbst zu sein und Freiheit als Moralshyprinzip anzuerkennen

raquodenn allein indern man unbedingt waumlhlt kann man das Ethische waumlhlen Durch die absolute Wahl ist somit das Ethische gesetztlaquo (Entweder-Oder II 189)

Dabei versteht KIERKEGAARD unter dem Setzen des Ethischenlaquo das Hervorbringen von Moralitaumlt aus dem unbedingten Streben nach dem Guten dh die Wahl der Freiheit

raquoDurch diese Wahl waumlhle ich eigentlich nicht zwischen Gut und Boumlse sondern ich waumlhle das Gute indern ich aber das Gute waumlhle waumlhle ich eben damit die Wahl zwischen Gut und Boumlse Die urspruumlngshyliche Wahl ist staumlndig zugegen in einer jeden folgenden Wahllaquo (Ebd 232f)

264 Grundtypen ethischer Theorie

Mit der urspruumlnglichen Wahl bringt der einzelne in freier Selbstbejahung sich selbst als moralische Person hervor die bereit ist ihr kuumlnftiges Wollen und Handeln den Normen des Guten und Boumlsen zu unterstellen Nur wer sich ethisch waumlhlt wird er selbst als der der er sein soll er wird ein Selbstlaquo

raquoDer Mensch ist Geist Was aber ist Geist Geist ist das Selbst Was aber ist das Selbst Das Selbst ist ein Verhaumlltnis das sich zu sich selbst verhaumllt oder ist das an dem Verhaumlltnis daszlig das Verhaumlltnis sich zu sich selbst verhaumllt das Selbst ist nicht das Verhaumlltnis sondern daszlig das Verhaumlltnis sich zu sich selbst verhaumlltlaquo (Die Krankheit zum Tode 31)

Menschsein realisiert sich nach KIERKEGAARD als doppeltes in sich reflexes Verhaumlltnissein als Taumltigkeit eines Sichverhaltens das sich im Verhaumlltnis zu anderem (Welt Mitmenschen Gott) zugleich wesentlich auf sich selbst und im Zusichselbstverhalten zugleich wesentlich auf anderes bezieht Diese Verhaumlltnisshystruktur menschlichen Existierens als geistigen Selbstseins gilt es stets von neuem in Akten freier Selbstbestimmung geschichtlich zu vollziehen Die ethische Aufgabe des einzelnen besteht darin zu existieren sich zu verhalten und in diesem Sichverhalten als der offenbar zu werden der er ist

Was KIERKEGAARD in Entweder-Oderltdurch den Akt des Waumlhlens als der Grundweise individuellen Existierens signalishysiert hat das praumlzisiert er in Die Krankheit zum Todelt weiter unter dem Begriff des Selbst als Sichverhalten Nur wer sich verhaumllt und in diesem Sichverhalten offenbar macht wie er sich entschieden hat gibt sich als der zu erkennen der er durch freie Selbstbestimmung geworden ist Er existiert im urspruumlnglichen Wortsinn vonmiddot ex-sistere - herausstehen sich zeigen und hanshydelnd eroumlffnen als der der man wirklich ist

Einen existenzphilosophischen Ansatz der aber nicht eigentlich zu einer Ethik ausgearbeitet wurde findet man in diesem Jahrhundert bei Martin HEIDEGGER und deutlicher ausgepraumlgt bei Karl JASPERS HEIDEGGER versteht sich zwar weniger als einen Existenzphilosophen und bezeichnet sich lieber zum mindesten in der Periode um Sein und Zeitlt als

Modelle einer normativen Ethik 265

Fundamentalontologen aber insofern die Frage nach dem Sinn von Sein eine Analytik des Daseins miteinschlieszligt dessen Seinscharaktere er als Existenzialien begreift - wie zB Angst Sorge Sein zum Tode - kann man auch HEIDEGGER zur Existenzphilosophie rechnen ebenso wie JASPERS der sich auch selbst dazu bekannte Entsprechend betreibt er die Daseinsshyanalyse als Existenzerhellung indem er vor allem jene Grundsishytuationen _ wie Kampf Leid Schuld Tod - thematisiert in denen der einzelne im Sichzusichselbstverhalten uumlber sich

hinausgetrieben wird auf das Transzendente hin Auch bei den franzoumlsischen Existentialisten finden sich

Ansaumltze zu einer existentiellen Moral so bei Jean-Paul SARTRE der davon ausgeht daszlig die Existenz der Essenz das Dasein dem Wesen vorausgeht Der Mensch ist eine Nullpunktexistenz dh er beginnt als radikal Freier dem nichts vorgegeben ist der sein Wesen selbst hervorbringt und somit sich selbst erst als der erschafft der er dann ist Der Mensch als Existierender waumlhlt sich selbst seinem Wesen nach indem er im Bewuszligtsein seiner Verantwortung zugleich alle Menschen waumlhlt (Vgl Ist der Existentialismus ein Humanismus Frankfurt 1983 12 f)

Wieder anders reflektiert Albert CAMUS auf die Existentialishytaumlt des Menschen Bestand fuumlr KIERKEGAARD der ethische Sinn menschlichen Handelns in der unbedingten Selbstwahl durch die der einzelne zu dem wird der er sein soll so findet Albert CAMUS im Protest gegen die Absurditaumlt des Lebens jenes Moment der Unbedingtheit aufgrund dessen sich die Menschen in der gemeinsamen Empoumlrung uumlber die Sinnlosigkeit der Welt

solidarisch miteinander verbinden

Weit entfernt eine allgemeine Unabhaumlngigkeit zu fordern will die Revolte die Anerkennung der Tatsache daszlig die Freiheit uumlberall da eine Grenze habe wo sich ein menschliches Wesen befindet denn die Grenze ist eben die Macht der Revolte dieses Wesens laquo (Der Mensch

in der Revolte 230)

Die einzige dem Menschen nach CAMUS moumlgliche Freiheit zu der er moralisch aufgerufen ist realisiert sich im Protest und als Protest gegen die Unmenschlichkeit des Daseins Der Mensch

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middotrt

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266 Grundtypen ethischer Theorie

existiert nur als Protestierender so haumllt er seinen Anspruch auf Humanitaumlt und ein menschenwuumlrdiges Leben hoch ohne daszlig damit freilich die Sinnlosigkeit der Welt aufgehoben wuumlrde

Eine existentielle Ethik akzentuiert also das Dasein des Menschen als eines Individuums unter anderen Individuen Sie denkt das Moralische in seiner geschichtlichen Struktur und Einmaligkeit als etwas das nicht in zeitloser Praumlsenz raquowest sondern sich in der Zeit ereignet den Augenblick zu einem sinnerfuumlIJten je Jetzt des Lebens macht Indem ein Individuum moralisch handelt existiert es als Mensch und indem es so existiert wird es einerseits es selbst als diese bestimmte Person offenbar andererseits als jemand der sich frei mit anderen verbunden hat um Freiheit zu realisieren Die menschliche Existenz erweist sich daher als der originaumlre Ort an dem Moralitaumlt als geschichtlicher Sinn des Lebens hervorgebracht wird wobei das Moment des Geschichtlichen Natuumlrlichen des Werdens das aIJe Existenzphilosophen betonen zugleich die Endlichkeit menschlichen HandeIns in den Blick ruumlckt Die Handlung selber als bestimmtes empirisches Geschehen vergeht ebenso wie der Mensch der diese Handlung ausgefuumlhrt hat eines Tages nicht mehr sein wird Was bleibt und die einzelne Handlung als moralische uumlberdauert ist ihre Guumlltigkeit ihrSinn

733 Der eudaumlmonistische Ansatz

(Hedonistische und utilitaristische Ethik)

Der eudaumlmonistische Ansatz (von griech eudaimonia _ Gluumlck) in der Ethik der teleologisch das Gluumlck als houmlchstes Ziel an dem aIJes menschliche Handeln interessiert ist bestimmt geht auf ARISTOTELES zuruumlck wird aber insbesondere von - der hedonistischen Ethik einerseits - der utilitaristischen Ethik andererseits ausdruumlcklich vertreten

Fuumlr ARISTOTELES ist das Gluumlck Inbegriff eines schlechthin gelungenen sinnerfuumlllten Lebens

Modelle einer normativen Ethik 267

raquoDas oberste Gut ist zweifellos ein Endziel Als vollkommen schlechthin bezeichnen wir das was stets rein fuumlr sich gewaumlhlt wird und niemals zu einem anderen Zweck Als solches Gut aber gilt in hervorragendem Sinne das Gluumlck Denn das Gluumlck erwaumlhlen wir uns stets um seiner selbst willen und niemals zu einem daruumlber hinausshyliegenden Zwecklaquo (Eth Nie I 5 1097a 25-b1)

Man erstrebt das Gluumlck also nicht um irgend etwas willen vielmehr erstrebt man alles was man erstrebt um des Gluumlcks willen Zwar streben nach ARISTOTELES alle Menschen nach Gluumlck aber wirklich gluumlcklich ist jedoch nur der zu nennen der moralisch handelt zugleich aber aller aumluszligeren und leiblichen Guumlter (guumlnstige Umstaumlnde Gesundheit etc) teilhaftig ist deren er ebenfalls bedarf um ein vollkommenes Leben zu fuumlhren

raquoDas Gluumlck setzt moralische Vollkommenheit voraus und ein I

Vollrnaszlig des Lebens laquo (Ebd 110 1100a 4-5) I

Die hedonistische Ethik (von griech hedone - Lust) geht ebenfalls davon aus daszlig das Gluumlck houmlchstes Ziel menschlichen Strebens ist versteht unter Gluumlck jedoch Lust Freude Daraus leitet sie den Grundsatz ab jeder solle tun was ihm Freude macht Bezuumlglich dessen was die meiste Freude macht gehen die hedonistischen Ansichten allerdings auseinander Waumlhrend ARISTIPPOS von Kyrene (435-355 vChr) den sinnlichen Genuszlig zum Maszligstab menschlichen Handelns erklaumlrt wobei es Kennzeichen des Weisen ist daszlig er die Lust genieszligt ohne sich von ihr beherrschen zu lassen erkennt EPIKUR (342-271) den geistigen und seelischen Freuden den Vorrang zu da sie dauerhafter und unabhaumlngiger von aumluszligeren Umstaumlnden und Stoumlrungen seien Gluumlckselig ist letztlich nur derjenige dem es gelingt seine Triebe und Beshygehrungen so zu harmonisieren daszlig keine uumlberschieszligende Leidenschaft mehr dominiert Eine solche Harmonisierung ist die Ataraxie (= Unerschuumltterlichkeit) eine gewisse Seelenruhe die es zB dem Philosophen erlaubt in heiterer Gelassenheit uumlber den Dingen zu stehen und das ist das eigentliche wahre Gluumlck die Lust am Gleichmaszlig an der Ausgewogenheit der Interessen

Der Hedonismus kann egoistisch oder altruistisch fundiert sein je nachdem ob er vorrangig die Befriedigung der eigenen

264 Grundtypen ethischer Theorie

Mit der urspruumlnglichen Wahl bringt der einzelne in freier Selbstbejahung sich selbst als moralische Person hervor die bereit ist ihr kuumlnftiges Wollen und Handeln den Normen des Guten und Boumlsen zu unterstellen Nur wer sich ethisch waumlhlt wird er selbst als der der er sein soll er wird ein Selbstlaquo

raquoDer Mensch ist Geist Was aber ist Geist Geist ist das Selbst Was aber ist das Selbst Das Selbst ist ein Verhaumlltnis das sich zu sich selbst verhaumllt oder ist das an dem Verhaumlltnis daszlig das Verhaumlltnis sich zu sich selbst verhaumllt das Selbst ist nicht das Verhaumlltnis sondern daszlig das Verhaumlltnis sich zu sich selbst verhaumlltlaquo (Die Krankheit zum Tode 31)

Menschsein realisiert sich nach KIERKEGAARD als doppeltes in sich reflexes Verhaumlltnissein als Taumltigkeit eines Sichverhaltens das sich im Verhaumlltnis zu anderem (Welt Mitmenschen Gott) zugleich wesentlich auf sich selbst und im Zusichselbstverhalten zugleich wesentlich auf anderes bezieht Diese Verhaumlltnisshystruktur menschlichen Existierens als geistigen Selbstseins gilt es stets von neuem in Akten freier Selbstbestimmung geschichtlich zu vollziehen Die ethische Aufgabe des einzelnen besteht darin zu existieren sich zu verhalten und in diesem Sichverhalten als der offenbar zu werden der er ist

Was KIERKEGAARD in Entweder-Oderltdurch den Akt des Waumlhlens als der Grundweise individuellen Existierens signalishysiert hat das praumlzisiert er in Die Krankheit zum Todelt weiter unter dem Begriff des Selbst als Sichverhalten Nur wer sich verhaumllt und in diesem Sichverhalten offenbar macht wie er sich entschieden hat gibt sich als der zu erkennen der er durch freie Selbstbestimmung geworden ist Er existiert im urspruumlnglichen Wortsinn vonmiddot ex-sistere - herausstehen sich zeigen und hanshydelnd eroumlffnen als der der man wirklich ist

Einen existenzphilosophischen Ansatz der aber nicht eigentlich zu einer Ethik ausgearbeitet wurde findet man in diesem Jahrhundert bei Martin HEIDEGGER und deutlicher ausgepraumlgt bei Karl JASPERS HEIDEGGER versteht sich zwar weniger als einen Existenzphilosophen und bezeichnet sich lieber zum mindesten in der Periode um Sein und Zeitlt als

Modelle einer normativen Ethik 265

Fundamentalontologen aber insofern die Frage nach dem Sinn von Sein eine Analytik des Daseins miteinschlieszligt dessen Seinscharaktere er als Existenzialien begreift - wie zB Angst Sorge Sein zum Tode - kann man auch HEIDEGGER zur Existenzphilosophie rechnen ebenso wie JASPERS der sich auch selbst dazu bekannte Entsprechend betreibt er die Daseinsshyanalyse als Existenzerhellung indem er vor allem jene Grundsishytuationen _ wie Kampf Leid Schuld Tod - thematisiert in denen der einzelne im Sichzusichselbstverhalten uumlber sich

hinausgetrieben wird auf das Transzendente hin Auch bei den franzoumlsischen Existentialisten finden sich

Ansaumltze zu einer existentiellen Moral so bei Jean-Paul SARTRE der davon ausgeht daszlig die Existenz der Essenz das Dasein dem Wesen vorausgeht Der Mensch ist eine Nullpunktexistenz dh er beginnt als radikal Freier dem nichts vorgegeben ist der sein Wesen selbst hervorbringt und somit sich selbst erst als der erschafft der er dann ist Der Mensch als Existierender waumlhlt sich selbst seinem Wesen nach indem er im Bewuszligtsein seiner Verantwortung zugleich alle Menschen waumlhlt (Vgl Ist der Existentialismus ein Humanismus Frankfurt 1983 12 f)

Wieder anders reflektiert Albert CAMUS auf die Existentialishytaumlt des Menschen Bestand fuumlr KIERKEGAARD der ethische Sinn menschlichen Handelns in der unbedingten Selbstwahl durch die der einzelne zu dem wird der er sein soll so findet Albert CAMUS im Protest gegen die Absurditaumlt des Lebens jenes Moment der Unbedingtheit aufgrund dessen sich die Menschen in der gemeinsamen Empoumlrung uumlber die Sinnlosigkeit der Welt

solidarisch miteinander verbinden

Weit entfernt eine allgemeine Unabhaumlngigkeit zu fordern will die Revolte die Anerkennung der Tatsache daszlig die Freiheit uumlberall da eine Grenze habe wo sich ein menschliches Wesen befindet denn die Grenze ist eben die Macht der Revolte dieses Wesens laquo (Der Mensch

in der Revolte 230)

Die einzige dem Menschen nach CAMUS moumlgliche Freiheit zu der er moralisch aufgerufen ist realisiert sich im Protest und als Protest gegen die Unmenschlichkeit des Daseins Der Mensch

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266 Grundtypen ethischer Theorie

existiert nur als Protestierender so haumllt er seinen Anspruch auf Humanitaumlt und ein menschenwuumlrdiges Leben hoch ohne daszlig damit freilich die Sinnlosigkeit der Welt aufgehoben wuumlrde

Eine existentielle Ethik akzentuiert also das Dasein des Menschen als eines Individuums unter anderen Individuen Sie denkt das Moralische in seiner geschichtlichen Struktur und Einmaligkeit als etwas das nicht in zeitloser Praumlsenz raquowest sondern sich in der Zeit ereignet den Augenblick zu einem sinnerfuumlIJten je Jetzt des Lebens macht Indem ein Individuum moralisch handelt existiert es als Mensch und indem es so existiert wird es einerseits es selbst als diese bestimmte Person offenbar andererseits als jemand der sich frei mit anderen verbunden hat um Freiheit zu realisieren Die menschliche Existenz erweist sich daher als der originaumlre Ort an dem Moralitaumlt als geschichtlicher Sinn des Lebens hervorgebracht wird wobei das Moment des Geschichtlichen Natuumlrlichen des Werdens das aIJe Existenzphilosophen betonen zugleich die Endlichkeit menschlichen HandeIns in den Blick ruumlckt Die Handlung selber als bestimmtes empirisches Geschehen vergeht ebenso wie der Mensch der diese Handlung ausgefuumlhrt hat eines Tages nicht mehr sein wird Was bleibt und die einzelne Handlung als moralische uumlberdauert ist ihre Guumlltigkeit ihrSinn

733 Der eudaumlmonistische Ansatz

(Hedonistische und utilitaristische Ethik)

Der eudaumlmonistische Ansatz (von griech eudaimonia _ Gluumlck) in der Ethik der teleologisch das Gluumlck als houmlchstes Ziel an dem aIJes menschliche Handeln interessiert ist bestimmt geht auf ARISTOTELES zuruumlck wird aber insbesondere von - der hedonistischen Ethik einerseits - der utilitaristischen Ethik andererseits ausdruumlcklich vertreten

Fuumlr ARISTOTELES ist das Gluumlck Inbegriff eines schlechthin gelungenen sinnerfuumlllten Lebens

Modelle einer normativen Ethik 267

raquoDas oberste Gut ist zweifellos ein Endziel Als vollkommen schlechthin bezeichnen wir das was stets rein fuumlr sich gewaumlhlt wird und niemals zu einem anderen Zweck Als solches Gut aber gilt in hervorragendem Sinne das Gluumlck Denn das Gluumlck erwaumlhlen wir uns stets um seiner selbst willen und niemals zu einem daruumlber hinausshyliegenden Zwecklaquo (Eth Nie I 5 1097a 25-b1)

Man erstrebt das Gluumlck also nicht um irgend etwas willen vielmehr erstrebt man alles was man erstrebt um des Gluumlcks willen Zwar streben nach ARISTOTELES alle Menschen nach Gluumlck aber wirklich gluumlcklich ist jedoch nur der zu nennen der moralisch handelt zugleich aber aller aumluszligeren und leiblichen Guumlter (guumlnstige Umstaumlnde Gesundheit etc) teilhaftig ist deren er ebenfalls bedarf um ein vollkommenes Leben zu fuumlhren

raquoDas Gluumlck setzt moralische Vollkommenheit voraus und ein I

Vollrnaszlig des Lebens laquo (Ebd 110 1100a 4-5) I

Die hedonistische Ethik (von griech hedone - Lust) geht ebenfalls davon aus daszlig das Gluumlck houmlchstes Ziel menschlichen Strebens ist versteht unter Gluumlck jedoch Lust Freude Daraus leitet sie den Grundsatz ab jeder solle tun was ihm Freude macht Bezuumlglich dessen was die meiste Freude macht gehen die hedonistischen Ansichten allerdings auseinander Waumlhrend ARISTIPPOS von Kyrene (435-355 vChr) den sinnlichen Genuszlig zum Maszligstab menschlichen Handelns erklaumlrt wobei es Kennzeichen des Weisen ist daszlig er die Lust genieszligt ohne sich von ihr beherrschen zu lassen erkennt EPIKUR (342-271) den geistigen und seelischen Freuden den Vorrang zu da sie dauerhafter und unabhaumlngiger von aumluszligeren Umstaumlnden und Stoumlrungen seien Gluumlckselig ist letztlich nur derjenige dem es gelingt seine Triebe und Beshygehrungen so zu harmonisieren daszlig keine uumlberschieszligende Leidenschaft mehr dominiert Eine solche Harmonisierung ist die Ataraxie (= Unerschuumltterlichkeit) eine gewisse Seelenruhe die es zB dem Philosophen erlaubt in heiterer Gelassenheit uumlber den Dingen zu stehen und das ist das eigentliche wahre Gluumlck die Lust am Gleichmaszlig an der Ausgewogenheit der Interessen

Der Hedonismus kann egoistisch oder altruistisch fundiert sein je nachdem ob er vorrangig die Befriedigung der eigenen

266 Grundtypen ethischer Theorie

existiert nur als Protestierender so haumllt er seinen Anspruch auf Humanitaumlt und ein menschenwuumlrdiges Leben hoch ohne daszlig damit freilich die Sinnlosigkeit der Welt aufgehoben wuumlrde

Eine existentielle Ethik akzentuiert also das Dasein des Menschen als eines Individuums unter anderen Individuen Sie denkt das Moralische in seiner geschichtlichen Struktur und Einmaligkeit als etwas das nicht in zeitloser Praumlsenz raquowest sondern sich in der Zeit ereignet den Augenblick zu einem sinnerfuumlIJten je Jetzt des Lebens macht Indem ein Individuum moralisch handelt existiert es als Mensch und indem es so existiert wird es einerseits es selbst als diese bestimmte Person offenbar andererseits als jemand der sich frei mit anderen verbunden hat um Freiheit zu realisieren Die menschliche Existenz erweist sich daher als der originaumlre Ort an dem Moralitaumlt als geschichtlicher Sinn des Lebens hervorgebracht wird wobei das Moment des Geschichtlichen Natuumlrlichen des Werdens das aIJe Existenzphilosophen betonen zugleich die Endlichkeit menschlichen HandeIns in den Blick ruumlckt Die Handlung selber als bestimmtes empirisches Geschehen vergeht ebenso wie der Mensch der diese Handlung ausgefuumlhrt hat eines Tages nicht mehr sein wird Was bleibt und die einzelne Handlung als moralische uumlberdauert ist ihre Guumlltigkeit ihrSinn

733 Der eudaumlmonistische Ansatz

(Hedonistische und utilitaristische Ethik)

Der eudaumlmonistische Ansatz (von griech eudaimonia _ Gluumlck) in der Ethik der teleologisch das Gluumlck als houmlchstes Ziel an dem aIJes menschliche Handeln interessiert ist bestimmt geht auf ARISTOTELES zuruumlck wird aber insbesondere von - der hedonistischen Ethik einerseits - der utilitaristischen Ethik andererseits ausdruumlcklich vertreten

Fuumlr ARISTOTELES ist das Gluumlck Inbegriff eines schlechthin gelungenen sinnerfuumlllten Lebens

Modelle einer normativen Ethik 267

raquoDas oberste Gut ist zweifellos ein Endziel Als vollkommen schlechthin bezeichnen wir das was stets rein fuumlr sich gewaumlhlt wird und niemals zu einem anderen Zweck Als solches Gut aber gilt in hervorragendem Sinne das Gluumlck Denn das Gluumlck erwaumlhlen wir uns stets um seiner selbst willen und niemals zu einem daruumlber hinausshyliegenden Zwecklaquo (Eth Nie I 5 1097a 25-b1)

Man erstrebt das Gluumlck also nicht um irgend etwas willen vielmehr erstrebt man alles was man erstrebt um des Gluumlcks willen Zwar streben nach ARISTOTELES alle Menschen nach Gluumlck aber wirklich gluumlcklich ist jedoch nur der zu nennen der moralisch handelt zugleich aber aller aumluszligeren und leiblichen Guumlter (guumlnstige Umstaumlnde Gesundheit etc) teilhaftig ist deren er ebenfalls bedarf um ein vollkommenes Leben zu fuumlhren

raquoDas Gluumlck setzt moralische Vollkommenheit voraus und ein I

Vollrnaszlig des Lebens laquo (Ebd 110 1100a 4-5) I

Die hedonistische Ethik (von griech hedone - Lust) geht ebenfalls davon aus daszlig das Gluumlck houmlchstes Ziel menschlichen Strebens ist versteht unter Gluumlck jedoch Lust Freude Daraus leitet sie den Grundsatz ab jeder solle tun was ihm Freude macht Bezuumlglich dessen was die meiste Freude macht gehen die hedonistischen Ansichten allerdings auseinander Waumlhrend ARISTIPPOS von Kyrene (435-355 vChr) den sinnlichen Genuszlig zum Maszligstab menschlichen Handelns erklaumlrt wobei es Kennzeichen des Weisen ist daszlig er die Lust genieszligt ohne sich von ihr beherrschen zu lassen erkennt EPIKUR (342-271) den geistigen und seelischen Freuden den Vorrang zu da sie dauerhafter und unabhaumlngiger von aumluszligeren Umstaumlnden und Stoumlrungen seien Gluumlckselig ist letztlich nur derjenige dem es gelingt seine Triebe und Beshygehrungen so zu harmonisieren daszlig keine uumlberschieszligende Leidenschaft mehr dominiert Eine solche Harmonisierung ist die Ataraxie (= Unerschuumltterlichkeit) eine gewisse Seelenruhe die es zB dem Philosophen erlaubt in heiterer Gelassenheit uumlber den Dingen zu stehen und das ist das eigentliche wahre Gluumlck die Lust am Gleichmaszlig an der Ausgewogenheit der Interessen

Der Hedonismus kann egoistisch oder altruistisch fundiert sein je nachdem ob er vorrangig die Befriedigung der eigenen