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1 FRIEDRICH HOLL DIRK KIEFER A COLLABORATIVE VIEW ON CHALLENGES AND OPPORTUNITIES IN THE CREATIVE SECTOR

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FRIEDRICH HOLLDIRK KIEFER

A COLLABORATIVE VIEW ON CHALLENGES AND OPPORTUNITIES IN THE CREATIVE SECTOR

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4 VORWORT

PROF. DR. FRIEDRICH HOLLDIRK KIEFER

Der hier vorgelegte Booksprint wurde im Rahmen des vom Land Brandenburg aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds geförderten Projekts Creative Capital Conference (C2C) realisiert. Mit diesem transnationalen Projekt zum Erfahrungsaustausch wurden insbesondere innovative Instru-mente zur Arbeitsmarktförderung in der Kultur- und Kreativwirtschaft (KKW) in vier europäischen Modellregionen untersucht. Wir haben dazu im Projektzeitraum eine Vielzahl von Maßnahmen analysiert, die eine Förderung der Kultur- und Kreativwirtschaft als Treiber für wirtschaftliches Wachstum und Innovationen zum Ziel haben. Dieses Ziel sollte aus unserer Sicht allerdings nicht nur über traditionelle wissenschaftliche Methoden und Konzepte erreicht werden. Vielmehr haben wir das Untersuchungsdesign so gewählt, dass unter anderem über einen praxisorientierten Aus-tausch von Experten neue Methoden zur Unterstützung der Kultur- und Kreativwirtschaft von den in den Förderprozessen involvierten Stakeholdern selbst reflektiert und entwickelt wurden.

In diesem Zusammenhang verfolgten wir zwei methodische Ansätze, um die in der Recherche identifizierten innovativen Instrumente in einen konzeptionellen Rahmen zu stellen: dasBarcamp1 und den Booksprint2. In dem von uns durchgeführten international besetzten Barcamp konnten äußerst interessante Diskussionen bezüglich der heute realisierten und der in Zukunft twendiger-weise umzusetzenden Kultur- und Kreativwirtschaftsförderung geführt werden.3 Die dabei ent-standene grafische „Protokollierung“ findet in der hier vorliegenden Publikation des Booksprints als Illustrationen weitere Verwendung.

Aufbauend auf den Ergebnissen der Diskussionen des Barcamps sowie der davor durchgeführten wissenschaftlichen Untersuchungen gingen wir mit den von uns ausgesuchten Experten in den Booksprint. Hierbei zeigte sich schon vorab, dass die originäre Form eines Booksprints (fünf Personen eine Woche lang unter inspirierenden Rahmenbedingungen an einem Ort zusammenzuführen, um sie dort an einem Thema arbeiten zu lassen) in unserem Fall aus Organisations-, Zeit- und Ressour-cenproblemen nicht funktionieren würde. Insofern wagten wir eine „Virtualisierung“ der Methode, was uns aus unserer Sicht weitgehend gut gelungen ist.

Aus unserer Sicht liegt mit den hier vorliegenden Arbeiten des Booksprints nun ein Buch vor, das exemplarisch zeigt, wie durch Kollaboration zwischen KKW und anderen Branchen neue Geschäftsmodelle, Innovationen und Wettbewerbsvorteile entwickelt werden können. Wir danken deshalb den internationalen Expertinnen und Experten ganz herzlich für ihre Beteiligung. Dies gilt dabei nicht nur für die hervorragenden Beiträge, die sie erarbeitet haben, sondern insbesondere auch dafür, dass sie sich auf dieses im akademischen Umfeld neue Experiment eines Booksprints überhaupt eingelassen haben. Uns war bewusst, dass wir uns mit diesem Unterfangen auf Neuland begeben und auf einen Prozess mit offenem Ende einlassen. Die Rückmeldung der Autoren und das vorliegende Ergebnis zeigen u.E. jedoch eindrucksvoll, wie mit diesem Format – auch länderübergreifend – gearbeitet werden kann und dass durch die Zusammenarbeit etwas genuin anderes entstanden ist als durch die Arbeit im „stillen Kämmerlein”. Außerdem betonen die Autoren, dass sie sich gern auf ein erneutes Book-sprint-Abenteuer einlassen würden und dass sie sehr viel voneinander gelernt hätten.

1 Barcamps sind so etwas wie basisdemokratisch orientierte Workshops (siehe hierzu auch http://www.franztoo.de/?p=113 oder http://en.wikipedia.org/wiki/Unconference)

2 vgl. http://www.booksprints.net/book-sprint-methodology/ und Kapitel Noémie Causse “Transeuropa-Express: wie gelingt ein länderübergreifender Booksprint?”

3 Vgl. die Dokumentation des Barcamps unter http://creative2c.info/after-mapping-consulting-and-networking-whats-next-in-creative-industries-support-insights-from-our-barcamp-documentation/ [Zugriff 18.02.2014]

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5 Ganz besonders möchten wir allerdings auch unseren beiden wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Noémie Causse und Josephine Hage für ihr Engagement bei der Durchführung des Booksprints danken. Wir haben festgestellt, dass der Erfolg unseres Experiments ganz wesentlich von ihrem hervorragenden Management der zu Grunde liegenden Prozesse abhängig gewesen ist. So ist unter anderem ihrer straffen Führung der Prozesse, ihrer subtilen inhaltlichen Rückkopplungen und ihrer Beständigkeit im Umgang mit den Autoren das jetzt vorliegende exzellente Ergebnis zu verdanken.

Abschließend ist den beteiligten Ministerien, deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, der beglei-tenden Förderbehörde sowie der Fachhochschule Brandenburg als Trägerin des Projekts zu dan-ken. Sie alle haben dieses von uns beantragte Experiment mitgetragen und die Inhalte dieses Booksprints sowie die Projektergebnisse insgesamt wären ohne die fachlich fundierte und enga-gierte Unterstützung aller Beteiligten nicht möglich gewesen.

Brandenburg an der Havel, Februar 2014

Prof. Dr. Friedrich Holl, Dirk Kiefer

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6 TRANSEUROPA-EXPRESS: WIE GELINGT EIN LÄNDERÜBREGREIFENDER BOOKSPRINT?

NOÉMIE CAUSSE

WAS IST EIN BOOKSPRINT?

Ein Booksprint ist ein kollaborativer, zeitlich sehr kurzer Schreibprozess, an dessen Ende eine fertige Publikation steht. Das Format entstammt der Open Source-Bewegung, wie z.B. auch das Format Barcamp 1.Geprägt wurde der Begriff von Tomas Krag 2, Erfinder der Methode ist Adam Hyde, Projektlei-ter von Booktype 3, einer Open Source-Plattform für die Produktion und Veröffentlichung von Büchern oder Buchprojekten.

Booksprints werden veranstaltet, um möglichst schnell durch gemeinsame, kollaborative Arbeit und gegenseitiges Kommentieren neue Ideen und Visionen hervorzubringen, die ein einzelner, allein arbeitender Autor voraussichtlich so nicht zustande brächte. Am Ende dieser gemeinsa-men Schöpfung („co-creation“) steht neben einem üblicherweise qualitativ hochwertigen Text ein Zugewinn an geteiltem Wissen und Gemeinschaftsbildung. Dabei entzieht sich das endgültige Resultat der Vorabplanung und schafft Raum für „echte Innovation”. Der Booksprint ist somit mehr als nur die Summe seiner Teile.Bei einem Booksprint wird eine Gruppe von Autoren (üblicherweise fünf Personen) für maximal eine Woche an einem Ort zusammengeführt, an dem sie miteinander wohnen und arbeiten. Der eigentliche Schreibprozess folgt einer strengen, produktiven Struktur, in dem das verbindliche Engagement der Beteiligten ob ihrer umzusetzenden Arbeiten neben den permanenten Feed-backs durch Autoren und Prozessbegleiter wesentliche Elemente darstellen. Der gesamte Prozess folgt einem iterativen Rhythmus, bei dem sich Schreiben und Feedback abwechseln. In den Feed-back-Phasen wird rekapituliert, was erreicht wurde und wo Schwierigkeiten auftauchten, die den Input der anderen erfordern. Es werden außerdem Parallelen zwischen den Kapiteln identifiziert, was im Ergebnis dazu beiträgt, dass das Buch – obwohl jedes Kapitel von einer anderen Person verfasst wurde – im Ergebnis eine einheitliche Publikation mit erkennbarem roten Faden ergibt.Das permanente Feedback ist insofern wesentlich, als dadurch die für spezialisierte Fachtexte sonst oft typische „Elfenbeinturmperspektive” vermieden und ein besseres Verständnis auch für Laien erreicht werden kann, was wiederum zu einer höheren Qualität des Textes führt.Für den reibungslosen Ablauf spielen neben den Autoren die Prozessbegleiter eine entscheidende Rolle, die den gesamten Booksprint moderieren. Dazu ist es notwendig, dass sie mit dem Thema vertraut sind. Ihre Rolle geht daher über die eines „normalen“ Redakteurs hinaus 4.

DIE CREATIVE CAPITAL CONFERENCE (C2C)

Der Booksprint wurde im Rahmen des Projekts Creative Capital Conference (C2C) durchgeführt, einem 20 Monate währenden, transnationalen Forschungsprojekt im Rahmen der Richtlinie des Brandenburgischen Ministeriums für Arbeit, Soziales, Frauen und Familie (MASF) zur Förderung des transnationalen Wissens- und Erfahrungsaustausches für die Gestaltung einer zukunftsorien-tierten Arbeitspolitik im Land Brandenburg. Das Projekt wurde durch das MASF aus den Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) und des Landes Brandenburg gefördert. Projektträger ist die

1 siehe hierzu http://creative2c.info/after-mapping-consulting-and-networking-whats-next-in-creative-industries-support-insights-from-our-barcamp-documentation/

2 http://wire.less.dk/?page_id=10#t 3 http://www.sourcefabric.org/en/booktype/ 4 Für weitere Informationen zum Thema Booksprint siehe http://www.booksprints.net

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7 Fachhochschule Brandenburg. Das Team besteht aus Prof. Dr. Friedrich Holl (Projektleiter), Noé-mie Causse (Projektmanagerin und akademische Mitarbeiterin) und Josephine Hage (akademi-sche Mitarbeiterin). Vorsitzender des Fachbeirats ist Dirk Kiefer, wissenschaftlicher Ko-Leiter Prof. Dr. Klaus-Dieter Müller. Projektpartner sind Tillväxtverket – the Swedish Agency for Economic and Regional Growth (die schwedische nationale Agentur für regionales Wirtschaftswachstum), CKO – Center for cultural and experience economy (das dänische Zentrum für Kultur- und Erlebniswirt-schaft) sowie Prof. Giovanni Schiuma vom Arts for Business Institute in Matera, Italien.

Die zentralen Fragestellungen des Projektes lauten:– Welche Bedingungen müssen geschaffen werden, damit Kreativunternehmer im Land Bran-

denburg bleiben, hier ihre Ausbildung einsetzen und die regionalen Wirtschaftsstrukturen stär-ken?

– Wie können Kreativleistungen so mit anderen Branchen verknüpft werden, dass sich positive Effekte für Existenzgründer und Beschäftigungsverhältnisse ergeben?

– Welche begleitenden arbeitsmarktpolitischen Ansätze und Instrumente haben sich andernorts als tauglich oder als weniger tauglich erwiesen, um Akteure der KKW für einen Standort zu gewinnen und zu halten und die Zusammenarbeit zwischen ihnen und anderen Branchen zu fördern?

ÜBERREGIONALER, (TRANS-)EUROPÄISCHER RAHMEN DES PROJEKTS UND BEGRÜNDUNG DER AUSWAHL:

Da die Arbeitsmarkt- und Potenzialförderung für die Kultur- und Kreativwirtschaft auch immer eine regionalspezifische Frage und Aufgabe ist, wurde u.a. eine Recherche nach innovativen und erfolgsversprechenden Ansätzen in drei exemplarischen, europäischen Regionen durchgeführt:

– Skåne, Südschweden (Fokus Medienwirtschaft), – Kopenhagen-Hauptstadtregion, Dänemark (Fokus Design)– Norditalien (Fokus Wertschöpfungsketten zwischen Tradition und Moderne).

Diese Auswahl erfolgte zum einen aufgrund ihrer exemplarischen Erfolge bei der Arbeitsmarkt-förderung der Kultur- und Kreativwirtschaft und zum anderen, da dort Fragen hinsichtlich jeweils einer exemplarischen Wirkungsdimension gelöst wurden, die in Brandenburg aufgrund der dorti-gen Ausgangslage ebenfalls von großer Bedeutung sind oder sein könnten.

DIE ZIELE DES BOOKSPRINTS UND SEINE ROLLE IM PROJEKT

Ziel des Vorhabens war es, fünf länder- und zielgruppenübergreifende Themenfelder zu behan-deln, die sich weder an einem Förderinstrument festmachen noch aus nur einem durchgeführ-ten Interviews ableiten ließen, die aber im Laufe der Projektarbeit immer wiederkehrten und damit als revante Querschnittsthemen identifiziert wurden. Diese Themen und Trends sollten von Experten-Autoren aus allen beteiligten Regionen behandelt werden, denen aufgrund ihrer langen, professionellen Erfahrung in diesen Bereichen eine ungewöhnliche und persönliche Sicht auf die Dinge zugeordnet werden konnte.

Gleichzeitig sollte keine gewöhnliche Publikation entstehen, sondern – ganz gemäß dem Projektan-spruch – etwas Innovatives und Originelles geschaffen werden, ein Rahmen für den Wissenstransfer zwischen Experten der Kultur- und Kreativwirtschaft aus verschiedenen Ländern und aus sehr unterschiedlichen Kontexten mit unterschiedlichen Perspektiven. Da erst sechs Monate vor Ende des Projekts mit der Ansprache der Autoren begonnen werden konnte, musste tatsächlich „ein Sprint hingelegt werden”, damit die Publikation rechtzeitig zur Abschlusskonferenz fertig wurde.

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8 Der Booksprint war explizit nicht als Aufarbeitung der aktuell-einschlägigen Fachliteratur zum Thema angelegt, sondern sollte die ausgewählten Themenfelder in einer freieren Art und Weise vertiefen und die Diskussion erweitern und kann daher als eine Art „Experimentierfeld“ verstan-den werden.

Folgende Themen wurden von den Booksprint-Autoren bearbeitet:– Das Innovationspotenzial der Kultur- und Kreativwirtschaft im Allgemeinen (Kapitel 1, C. Becker)– Die (durch digitale Medien ermöglichten) gesellschaftlichen Veränderungen in Richtung offe-

nerer und kollaborativerer Arbeits-, Geschäfts- und letztlich Lebensmodelle (Kapitel 2, E. Estborn)– Neue Identifikationsformen kreativer Akteure insbesondere von Künstlern und die Notwendig-

keit von Innovation im öffentlichen Sektor (Kapitel 3, G. Boldrini)– Die Rolle von Design (Kapitel 4, S. Valade-Amland) – Gamification als ein Querschnittsthema mit starkem Spill-Over-Potenzial (Kapitel 5, C. Busch)

GRÜNDE FÜR AUSWAHL DES FORMATS UND DIE PROJEKTSPEZIFISCHE ABWANDLUNG

Im C2C-Projekt wurde schnell klar, dass das vorhandene Booksprint-Format abgewandelt wer-den musste, da vor allem die Anforderungen an die wissenschaftliche Qualität des Textes in der ursprünglichen Form eines Booksprints nicht hätten gewährleistet werden können. Beispielsweise hätten der für einen Autor/eine Autorin notwendige eigene „wissenschaftliche Apparat“ nicht an einen gemeinsamen Ort transportiert werden können und die Beschaffung eventuell notwendiger wissenschaftlicher Texte wäre voraussichtlich ebenfalls schwierig geworden. Um dennoch mit diesem innovativen Ansatz arbeiten zu können und den kollaborativen Charakter des Prozesses beizubehalten, wurde in einem ersten Schritt der Bearbeitungszeitraum auf sieben Wochen ver-längert. Als Ersatz für die fehlende physische Präsenz wurde „virtualisiert”, indem wöchentliche Skype-Meetings mit Videofunktion (mindestens eine Stunde) angesetzt wurden und ein System geteilter Online-Dokumente eingerichtet wurde, über das alle auf die von ihnen und den anderen geschriebenen Texte permanent zugreifen und an ihnen (gemeinsam und gleichzeitig) arbeiten konnten. Für Fragen und/oder Kommentare wurde die Kommentar-Funktion genutzt, um nicht in fremde Texte einzugreifen. Die Fragen und Kommentare wurden dann in den virtuellen Meetings besprochen.An physischen Treffen wurde dennoch festgehalten (am Anfang und Ende des Booksprints) und so in einem ersten Kennenlern-Treffen das „Concept Mapping” 5 (Definition von Zielen und Absich-ten, des Zeitplans, der „Spielregeln“, Entwicklung der Themen, Konzepte, Ideen usw. sowie die grundsätzliche Strukturierung – Entwurf der Kapitelüberschriften, Aufteilung der Arbeitspakete) erarbeitet. Kurz vor Ende des Bearbeitungszeitraums wurden in einem zweiten Treffen die Kapitel nochmals gemeinsam überprüft und zusammengefasst und es wurde Raum für ein ausführliches Feedback und Reflexion der eigenen Arbeit und des Prozesses geboten.

METHODIK

Die Methodik der Forschungsarbeit im Projekt kann allgemein als explorativ bezeichnet wer-den, u.a. da eine möglichst breite Palette an Förderinstrumenten – vom Coworking Space über den Inkubator, die Beratungsanlaufstelle, bis hin zum Matching-Programm, zum Wettbewerb und zur Marketingstrategie mit Publikumsentwicklungsabsichten – untersucht wurde und dabei stets sowohl Unterstützungsangebote für Angestellte als auch für Freelancer in die Ergebnisse

5 Siehe auch: http://www.booksprints.net/about/

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9 miteinbezogen wurden. 40 Interviews mit Vertretern unterschiedlicher – möglichst innovativer – Förderprogramme und -institutionen in den drei europäischen Regionen bildeten den ersten und zentralen Projektbestandteil der Recherchephase. Die bei den Interviews erhobenen Ergebnisse wurden in regionalen Workshops und Experten Round Tables mit Akteuren der Kultur- und Kre-ativwirtschaft, Vertretern aus Politik und Verwaltung sowie der Wirtschaftsförderung aus allen Regionen diskutiert und auf ihre Relevanz hin überprüft. Eine ähnliche Funktion erfüllte auch das Barcamp6, bei dem über einen Zeitraum von anderthalb Tagen 13 Themen rund um Fragen der Kultur- und Kreativwirtschaftsförderung7 mit internationalen Experten identifiziert und diskutiert wurden.

All diese Formate zielten darauf ab, das erarbeitete oder bereits vorhandene Wissen über bestimmte Themenfelder im Kontext der Kultur- und Kreativwirtschaftsförderung zu vertiefen, Akteure aus KKW, Politik und Verwaltung aus allen vier involvierten Regionen miteinander zu vernetzen, Synergien zu schaffen, das erlangte Wissen auszutauschen und neue Ideen und Pers-pektiven zu eröffnen.

Mit dem vorliegenden Booksprint haben wir uns für ein weiteres in diese Richtung zielendes Format entschieden. Er sollte ausgewählten Expertenautoren aus allen Regionen eine Plattform bieten, auf der sie ihre unterschiedlichen Sichtweisen auf die Zukunft der Kultur- und Kreativwirt-schaft(sförderung) präsentieren können.

Im Laufe des Projekts hat sich herausgestellt, dass wir uns mitten in einer Phase des Umbruchs befinden, die Auswirkungen auf unsere Lebens- und Arbeitsweisen hat. ,Diese neuen Lebenswei-sen erfordern ein Umdenken – auch im öffentlichen Sektor, auch in der Förderlandschaft.Mit der bisher geleisteten Projektarbeit, den darin gewonnenen Erkenntnissen und nicht zuletzt mit dem Booksprint möchte C2C dahin wirken, eine bereits begonnene Diskussion zu vertiefen und ein neues, frisches Denken anzuregen.

6 http://creative2c.info/after-mapping-consulting-and-networking-whats-next-in-creative-industries-support-insights-from-our-barcamp-documentation/

7 u.a. Coaching und Beratung, Kompetenzentwicklung und Professionalisierung, Räume, Internationalisierug, Innovationspotenziale.

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11 “FORSCHUNG UND ENTWICKLUNG ALLEIN REICHEN HEUTE NICHT MEHR AUS, INNOVATIONSUNTERSTÜTZUNG IST FACETTENREICHER GEWORDEN.”

CARSTEN BECKER

Prof. Dr. Carsten Becker ist geschäftsführender Gesellschafter und wissenschaftlicher Leiter der Gesellschaft für Innovationsforschung und Beratung (GIB) in Berlin. Als solcher evaluierte er in den letzten Jahren zahlreiche Programme zur Förderung von Innovationen in Deutschland. Dabei beobachtete er eine zunehmende Bedeutung auch nichtmonetärer Förderleistungen in Form von Netzwerk- und Beratungsleistungen. Er ist überzeugt, dass die Innovationsförderung heute nicht mehr ausschließlich auf Investitionen in Forschung und Entwicklung (F&E) setzen kann. Er stellte fest, dass - obwohl mittlerweile viele Hochschulkooperationen initiiert werden - sich  insbeson-dere kleine Unternehmen nach wie vor schwer tun, diesen Weg zu beschreiten.

Carsten Becker ist gelernter Bankkauffmann und diplomierter Volkswirt, er war wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität Berlin, an der er zu den sozioökonomischen Folgen des Computereinsatzes promovierte. Er hatte für sechs Jahre die Klaus-Krone-Stiftungsprofessur für innovative Dienstleistungen und technologieorientierte Existenzgründungen an der Fachhoch-schule Potsdam inne. In seinem Kundenkreis aus Industrie und dem Dienstleistungssektor kons-tatiert er teilweise noch große Berührungsängste mit der Kreativwirtschaft.

Carsten Becker gibt in seinem Kapitel einen kurzen Überblick über die wirtschaftliche Bedeutung der Kreativwirtschaft in Deutschland und analysiert Veränderungen in der Innovationsforschung der letzten Jahre. Der Schwerpunkt seines Beitrags liegt auf zwei idealtypischen Funktionen, die die Kreativwirtschaft im Wirtschafts- und Innovationssystem einnimmt:  Als Innovator sind kreativwirtschaftliche Freiberufler/-innen und Unternehmen selbst hochgradig innovativ, sei es hinsichtlich des Einsatzes neuer Technologien, der Arbeitsorganisation, sei es hinsichtlich der Innovationsmethoden oder der Interaktion mit Kunden.Erst in jüngster Zeit ist das Bewusstsein in der Wirtschafts- und Innovationspolitik gewachsen, dass die Kreativwirtschaft zugleich auch ein wichtiger Innovationstreiber für andere Wirtschafts-branchen ist. Carsten Becker identifiziert in seinem Beitrag zahlreiche Bereiche, die für kollabo-rative Innovationsprozesse bisher als noch weitgehend unerschlossen gelten. Zusammenfassend diskutiert er Barrieren für diese neuartigen Innovationsprozesse und skizziert Vorschläge, wie diese seitens der Wirtschafts- und Innovationsförderung zukünftig stärker adressiert werden kön-nen.

(Josephine Hage)

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12 DIE DOPPELFUNKTION DER KULTUR- UND KREATIVWIRTSCHAFT:INNOVATOR UND IMPULSGEBER FÜR INNOVATIONEN

CARSTEN BECKER

1. EINFÜHRUNGUnter dem Begriff der „Kultur- und Kreativwirtschaft” (KKW) werden diejenigen Kultur- und Kreativunternehmen erfasst, die überwiegend erwerbswirtschaftlich orientiert sind und sich mit der Schaffung, Produktion, Verteilung und/oder medialen Verbreitung von kulturellen/kreativen Gütern und Dienstleistungen befassen (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2012, S. 5). Während der letzten Jahre sind sich sowohl die Europäische Union als auch die Deutsche Bundesregierung der Bedeutung der Kultur- und Kreativwirtschaft immer deutlicher bewusst geworden.1 Sie wird nicht nur als treibende Kraft im Bereich der kulturellen Vielfalt verstanden, sondern auch als Wirtschaftsbranche mit gewaltigem Potenzial für Beschäftigung und Wachstum wahrgenommen. Es steckt allerdings noch mehr dahinter: Ein besonderes Interesse gilt der Kultur- und Kreativwirtschaft vor allem auch wegen ihres positiven Einflusses auf die Innovationsfähig-keit und das Innovationsverhalten anderer Wirtschaftszweige, sei es auf dem Weg der direkten Zusammenarbeit oder indirekt mittels der sogenannten „Spillover-Effekte”. Eben darin liegt die Doppelfunktion der Kultur- und Kreativwirtschaft, die einerseits ein wirtschaftlich wichtiger Player im Bereich Innovation ist, gleichzeitig aber auch als Impulsgeber für Innovation in anderen Wirtschaftszweigen fungiert. Worin liegen die Besonderheiten der Innovationsprozesse der Kul-tur- und Kreativwirtschaft, und warum sind diese für die Bereicherung des Innovationsverhaltens anderer Wirtschaftssektoren prädestiniert? Welches sind die Ausgangspunkte für Kultur- und Kre-ativunternehmen, um eine wirtschaftlich sinnvolle Kooperation mit anderen Wirtschaftssektoren einzugehen, und wie funktionieren die für die Übertragung auf einen anderen Bereich notwendi-gen Mechanismen? Auf welche anderen Hürden stoßen Innovation und Kooperation auf beiden Seiten, und was muss getan werden, um die in dieser Hinsicht vorhandenen Innovationspotenziale zu heben?

Diese Fragen werden in den folgenden Kapiteln erörtert. Im zweiten Kapitel werden die jüngs-ten Entwicklungen im Bereich Innovationsforschung und -management behandelt. Kapitel 3 beschäftigt sich dann mit dem Innovationsverhalten der Kultur- und Kreativunternehmen sowie insbesondere mit den Besonderheiten und Merkmalen der relevanten Innovationsprozesse. Auf dieser Grundlage widmet sich das 4. Kapitel den Ansatzpunkten sowie der besonderen Rolle, die Kultur- und Kreativunternehmen als Innovationstreiber im nationalen Innovationssystem bzw. im wirtschaftlich orientierten Innovationsmanagement spielen (oder in Zukunft eventuell spielen werden). Kapitel 5 befasst sich dann schließlich mit der Frage, welche Hindernisse für Innovation noch immer bestehen, sei es auf Seiten der Kultur- und Kreativtreibenden selbst oder auf Seiten der Akteure der kooperierenden Wirtschaftszweige. Darüber hinaus geht es um die Frage, welche zukünftigen Herausforderungen zu bewältigen sein werden.

2. ENTWICKLUNGEN IN DER INNOVATIONSFORSCHUNG

WANDEL DES BEGRIFFSVERSTÄNDNISSES VON INNOVATION UND INNOVATIONSPROZESSENIm Lauf der vergangenen Jahre hat sich das Verständnis von Innovation und der Art von Innova-tionsmanagement grundlegend verändert. Das Oslo-Handbuch beispielsweise, das erstmals 1992 von der OECD veröffentlicht wurde, beinhaltete lediglich zwei Arten von Innovation: auf der einen

1 Vgl. z. B. das Grünbuch „Unlocking the potential of cultural and creative industries“ und die darin aufgeführte Literatur: http://ec.europa.eu/culture/documents/greenpaper_creative_industries_en.pdf

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Seite die Produktinnovation durch neue oder deutlich verbesserte Produkte, auf der anderen Seite die Prozessinnovation durch neue oder deutlich verbesserte Produktions- oder Herstellungsver-fahren. Im Jahr 2005 wurden dann neue Erkenntnisse bezüglich der Innovation im Dienstleis-tungssektor aufgenommen, die Konzepte der Produkt- und Verfahrensinnovation erweitert und von da an auch Innovationen im Bereich Organisation und Marketing berücksichtigt.

Auf Ebene des nationalen Innovationssystems kam es zu einem Wandel dessen, was als Inno-vationsprozess verstanden wird. In den 1950er und 1960er Jahren bezog sich der Begriff der Innovation überwiegend auf die Industrie und wurde so verstanden, dass die Wissenschaft neue Technologien entwickelte, die dann als Teil des Technologietransfers von Unternehmen ange-wandt und danach durch Produkt- und Verfahrensinnovationen kommerziell umgesetzt wurden. Während der darauffolgenden Jahrzehnte hat sich diese Definition von Innovationsverfahren inso-fern verändert, als auch Bedürfnisse des Marktes und des Kunden als neue Faktoren in die Glei-chung für wirtschaftlich orientiertes Innovationsmanagement aufgenommen wurden. So wurde der Begriff des Technologietransfers als linearer Prozess zwischen Technologieangebot und kom-merzieller Innovationsaktivität im Lauf der Zeit zunehmend dahingehend verstanden, dass er einen komplexen und interaktiven Prozess mit zahlreichen Wechselwirkungen und Rückkopplun-gen beschreibt.2

Der zunehmende Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien, die damit einher-gehende Digitalisierung von Geschäfts- und Innovationsprozessen sowie die vermehrte Nutzung externer Informationsquellen haben in jüngster Zeit grundlegend zu einem neuen Begriffsver-ständnis von Innovation und zur Fokussierung auf den Ansatz der „Open Innovation” beigetragen.

2 Siehe Kline, Rosberg (1986).

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14 „OPEN INNOVATION“Die zunehmende Bedeutung der „Open Innovation” hängt in hohem Maße mit dem Fortschritt im Bereich der IT-Applikation einerseits, und veränderten umwelt- und produktionsabhängigen Bedingungen andererseits zusammen. Zum letztgenannten Aspekt gehören zunehmende Glo-balisierung, neue Marktteilnehmer, kürzere Produktlebenszyklen bis hin zu niedrigeren Budgets für Forschung und Entwicklung bei gleichzeitig immer weiter steigenden Ausgaben in diesem Bereich.3 Vor diesem Hintergrund gerät das Paradigma der „Closed Innovation” als Gegenentwurf zur offenen Innovation zunehmend unter Druck. Zu dieser Strategie gehört, dass Unternehmen bei der Entwicklung neuer Ideen oder der Vermarktung neuer Produkte kaum mit ihrem äußeren Umfeld interagieren. „Der nach Innen gerichtete Ansatz der geschlossenen Innovation hat einen positiven Innovationszyklus angestoßen: Investitionen in F&E haben zur Schaffung von Techno-logie- und Produktinnovationen geführt, die wiederum zu einer Umsatz- und Gewinnsteigerung bei unverändertem Geschäftsmodell beigetragen haben. Diese Gewinne wurden teilweise in neue Innovationsprojekte reinvestiert, die ihrerseits zu neuen Markterfolgen führten” (Braun et al. 2010, S. 3). Im Gegensatz dazu steht das Konzept der „Open Innovation“, bei dem Unternehmen in hohem Maße mit ihrer Außenwelt interagieren: „[…] Bei der offenen Innovation handelt es sich um die Nutzung zielgerichteten Zu- und Abflusses von Wissen zur Beschleunigung der internen Innovation und zur gleichzeitigen Ausweitung der Märkte mit dem Ziel der externen Nutzung von Innovation” (Chesbrough 2006, S. 1). Vor diesem Hintergrund können Innovationen, die dem „Open Innovation“-Schema folgen, drei unterschiedliche Richtungen einschlagen (siehe Gass-mann, Enkel 2006). Zum einen handelt es sich dabei um den „Outside-In-Prozess”, bei dem das Ziel verfolgt wird, externes Wissen oder über ein bestimmtes Wissen verfügende Personen zu integrieren. Ein anderer Weg besteht im „Inside-Out-Prozess“, der zur Zielsetzung hat, Innovati-onen und Technologien extern zu nutzen. Die dritte Variante ist der „Coupled-Prozess”. Hierunter ist ein Innovationsprozess zu verstehen, der auf einer Zusammenarbeit komplementärer Partner im Rahmen strategischer Bündnisse oder Netzwerke basiert (ibid).„Open Innovation”-Lösungen finden sich hauptsächlich in der Konsumgüterindustrie, aber auch zunehmend in der Investitionsgüterindustrie und auf dem Gebiet des Technologietransfers. Zwei Beispiele für Crowdsourcing4 als eines der Hauptinstrumente der „Open Innovation” sind die Ini-tiativen „Mobility Music” von Citroën und „250.000 New Burgers” von McDonald’s:

CITROEN MOBILITY MUSIC 5 Der Autohersteller Citroën sprach mit seiner Initiative hauptsächlich Musiker an, als er nach einer innovativen Komposition für sein neues DS5-Model suchte, die Tradition und Revolution unter dem Slogan „Vollkommen. Anders” miteinander verbinden sollte. Aufgabenstellung war, ausge-wählte musikalische Klassiker auf moderne Art neu zu interpretieren und an den Stil des Citroën DS5 anzupassen. Die Kampagne wurde in Zusammenarbeit mit den Musikzeitschriften Rolling Stone und Music Express durchgeführt. Zahlreiche Geldpreise wurden als Belohnung angeboten.

MCDONALD’S  6Um näher am Kunden zu sein und um seinem Produktportfolio eine individuellere Note zu ver-leihen, rief McDonald’s Deutschland eine interaktive Kampagne mit dem Titel „My Burger 2012” ins Leben. Dabei forderte das Unternehmen seine Fast-Food-Fans dazu auf, Vorschläge für neue Kreationen nach dem Vorbild des weltweiten Produktdesignstandards für Burger einzubringen. Auf der Webseite gab es einen sogenannten „Burger-Generator”, mit dessen Hilfe jeder Teilneh-mer Standardzutaten nach eigenem Geschmack miteinander kombinieren konnte. Die Endergeb-nisse wurden dann der Allgemeinheit zur Abstimmung vorgelegt, die auf Facebook erfolgreich durchgeführt wurde. Aus 250.000 Vorschlägen, die alle in der Online-Galerie einzusehen waren,

3 Siehe Gibbons et. al. (1994), insbesondere die Unterscheidungsmerkmale zwischen Modus 1 und Modus 2.4 Crowdsourcing bezeichnet die Auslagerung traditionell interner Teilaufgaben an eine Gruppe freiwilliger User über das

Internet.5 Siehe http://www.direktplus.de/praxistipps/mitmach-marketing-crowdsoucing/beispiele-erfolgreicher-crowdsourcing-

kampagnen/.6 Siehe das YouTube-Video der Kampagne.

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15 wurden schließlich fünf ausgewählt, die letztlich alle als „limited edition burger creation” ins McDo-nald‘s-Menü Einzug hielten. Der Gewinner des Jahres 2012, „McPanther“, erhielt 51.501 Stimmen.

Klassische Beispiele für Plattformen, die dem Technologieaustausch dienen, sind „Open Inno-vation”-Plattformen wie InnoCentive, NineSigma oder Yet2com.7 Ihnen liegt die Geschäftsidee zugrunde, dass Unternehmen auf der Suche nach innovativen Lösungen für ihre technischen Angelegenheiten mittels Internet Kontakt zu potenziellen Lösungsanbietern aufnehmen können. Nach der Bewertung der eingereichten Vorschläge erhält der „Gewinner” im Normalfall vom Auf-trag gebenden Unternehmen einen Geldpreis (ein bestimmter Prozentsatz geht auch an die Platt-form des Providers).

3. KULTUR- UND KREATIVWIRTSCHAFT ALS INNOVATOR

MERKMALE DER INNOVATIONSPROZESSE DER KULTUR- UND KREATIVWIRTSCHAFTEin besonderes Merkmal der Kultur- und Kreativwirtschaft besteht darin, dass sich ein Großteil der Wertschöpfung nicht in „industrieller Massenfertigung“ erbringen lässt. „Produkte sind oft Uni-kate, Produktionsverfahren sind improvisatorisch und mit einem Innovationsprozess zu verglei-chen: nur begrenzt planbar und ergebnisoffen (Deutsche Bank Research 2011, S. 4). In Anbetracht dessen, dass die Kernkompetenz der Kultur- und Kreativwirtschaft das Ergebnis kreativer Arbeit ist, ist es nicht überraschend, dass sich viele Akteure der Kultur- und Kreativwirtschaft als inno-vativ bezeichnen. Im Rahmen einer neuen BMWi-Studie (2012) gaben 86,5 % der Befragten an, dass sie in den letzten drei Jahren Marktneuheiten entwickelt bzw. eingeführt haben. Die stärkste Innovationstätigkeit findet sich in der Games-Branche, gefolgt vom Pressemarkt, der Designwirt-schaft und dem Werbemarkt (BMWi 2012, S. 10).

Ein weiteres für die Kultur- und Kreativwirtschaft charakteristisches Merkmal scheint darin zu bestehen, dass deren hoch innovativer Output lange Zeit im Verborgenen blieb, da das Augen-merk der Innovationspolitik sowie der Statistiken allzu lange einseitig auf technische Innovationen gerichtet war. So fand die Bedeutung von sozialen und organisatorischen Innovationen, die einen maßgeblichen Beitrag der Kultur- und Kreativwirtschaft darstellen, geraume Zeit keine Berück-sichtigung. Um neue Produkte und Dienstleistungen schnell und offen entwickeln zu können, müs-sen die Akteure der Kultur- und Kreativwirtschaft, wie die Ergebnisse der neuesten BMWi-Studie zeigen, eine Vielzahl besonderer Merkmale aufweisen (siehe BMWi 2012, S. 10ff.):

– IT-Unterstützung: Digitale Technologien bilden eine wichtige branchenspezifische Wissens- und Technologiebasis. Online-Produkte und -Dienste werden via Online-Plattformen ständig kollaborativ erstellt, weiterentwickelt, vertrieben und konsumiert.

– Offene Innovationsprozesse: Innovationsprozesse sind herkömmlicherweise sehr offen (bzw. kommen der offenen Innovation sehr nahe), sowohl horizontal als auch vertikal, d. h., gekennzeichnet durch enge Kooperationsbeziehungen mit Zulieferern und Partnern der Kul-tur- und Kreativwirtschaft, die Ergänzungsdienste anbieten, sowie mit Kunden.

– Spezifische Arbeitsgestaltung: Da Produkte und Dienstleistungen der Kultur- und Kreativwirt-schaft typischerweise eher kurzlebig sind, ist die Branche zudem sehr stark durch eine projek-torientierte und interdisziplinäre Arbeitsweise gekennzeichnet. Darüber hinaus wurden neue Arbeitsformen entwickelt, wie z. B. Innovation Communities oder Coworking Spaces.

– Spezifische Arbeitsformen: Eine Kernkompetenz der Akteure der Kultur- und Kreativwirt-schaft ist deren Fähigkeit, ihre Perspektive auf das Problem zu ändern und somit zu neuartigen (Produkt-) Lösungen zu kommen. Sie zeichnen sich des Weiteren durch ihre sehr systema-tische Herangehensweise beim Erkennen von Nutzer- und Kundenbedürfnissen und bei der

7 Siehe Piller et. al. 2013, S. 39.

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16 Suche nach neuen Trends aus. Durch ihre Sicht von außen können die Akteure der Kultur- und Kreativwirtschaft ferner eine wichtige Rolle als Vermittler zwischen Produzenten und Nut-zern, zuweilen auch zwischen Branchen, übernehmen und dazu beitragen, Technologien und Arbeitsformen in neue Anwendungskontexte zu überführen.

DESIGN THINKING

Von den verschiedenen Arbeitsformen zählen „Design Thinking“ bzw. andere design-orientierte Arbeitsformen zu den grundlegenden methodischen Kompetenzen der Akteure der Kultur- und Kreativwirtschaft. Diese Arbeitsform stellt eine stark designorientierte Problemlösungsmethode zur Entwicklung neuer Ideen und Innovationen dar: Vertreter unterschiedlicher Disziplinen arbei-ten zusammen (in multidisziplinären Teams) und entwickeln durch ihre Interaktion neue Problem-lösungskonzepte. Ein wesentliches Merkmal des Design Thinking bezüglich der Entwicklung von Konzepten und Problemlösungen besteht darin, dass insbesondere die Bedürfnisse und Motivati-onen von Nutzern/Kunden berücksichtigt werden. Diese Arbeitsform orientiert sich weitgehend an der Arbeit von Industriedesignern, die als eine Kombination aus Arbeitsschritten und -metho-den verstanden wird (siehe Abbildung 1). Das Konzept des Design Thinking wird derzeit weiter erforscht, und die Prinzipien des Design Thinking werden seit 2005 an Instituten, wie beispiels-weise am Hasso Plattner Institute of Design, der sogenannten „d.school“, gelehrt. Ferner wurde es in verschiedenen Industriekooperationen geprüft.

IM IDEALFALL WÜRDE DER DESIGN THINKING-PROZESS WIE FOLGT ABLAUFEN:

VERSTEHEN: Im ersten Schritt geht es um das Verstehen des Problems, was in der Wahl einer geeigneten Fragestellung mündet, welche die Bedürfnisse und Herausforderungen des Projekts definiert.

BEOBACHTEN: Es folgt eine intensive Recherche und Feldbeobachtung, um wichtige Einsichten und Erkenntnisse zu gewinnen und die Rahmenbedingungen des Status Quo zu definieren.

SICHTWEISEN DEFINIEREN: Die gemachten Beobachtungen werden dann auf einen einzelnen, prototypischen Nutzer heruntergebrochen, dessen Bedürfnisse in einer klar definierten Brainstorming-Frage kondensiert werden.

IDEEN FINDEN: Dieser Schritt ist eines der Kernelemente des Design Thinking und besteht vor allem aus dem Brainstorming, welches der Entwicklung und Visualisierung unterschiedlicher Konzepte dient.

PROTOTYPEN ENTWICKELN: Zum Testen und Veranschaulichen der Ideen werden erste, aufwandsarme Prototypen entwickelt und an der Zielgruppe getestet.

TESTEN: Auf Basis der durch Prototypen gewonnenen Einsichten wird das Konzept weiter verbessert und solange verfeinert, bis ein optimales, nutzerorientiertes Produkt entstanden ist. Dieser Iterationsschritt kann sich auf alle bisherigen Schritte beziehen.

Jedes der vorgenannten Merkmale unterstreicht die potenziell sehr große Bedeutung der Kultur- und Kreativwirtschaft für andere Branchen. Mit ihren spezifischen Kernkompetenzen und inno-vativen Arbeitsformen unterstützen die Akteure der Kultur- und Kreativwirtschaft Unternehmen anderer Branchen dabei, ihre Geschäftsmodelle und Perspektiven neu zu bewerten und folglich zu kreativeren Denk- und Herangehensweisen zur Problemlösung zu gelangen.

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4. KULTUR- UND KREATIVWIRTSCHAFT ALS IMPULSGEBER FÜR INNOVATIONEN

KOLLABORATIVE INNOVATION 8Ebenso vielfältig wie die Teilbranchen der Kultur- und Kreativwirtschaft sind auch die Schnitt-stellen zwischen der Kultur- und Kreativwirtschaft und anderen Wirtschaftsbranchen. Einige der Akteure der KKW, z. B. aus den Bereichen Werbung, Radio, Fernsehen, Film oder Design, unter-halten traditionell intensive Geschäftsbeziehungen zu Kunden aus anderen Branchen. Abgesehen davon gibt es jedoch auch Teilbranchen der Kultur- und Kreativwirtschaft, in denen die Zusam-menarbeit mit anderen Branchen noch in den Anfängen steckt, obwohl diese sich als zweckmäßig erweisen würde. Im Folgenden sind beispielhaft einige für die kollaborative Innovation beste-hende Ansatzpunkte für ausgewählte innovationsrelevante Unternehmensbereiche aufgeführt:

Strategisches Management: Je wissensorientierter die Innovationsprozesse sind, desto weniger können diese kontrolliert und geplant werden. Abgesehen von Aspekten eines richtigen Pro-jektmanagements rücken folglich auch Fragen hinsichtlich des Personalmanagements und der Motivation verstärkt in den Fokus, um die erforderliche Flexibilität und Kreativität des Innovati-onsprozesses sicherzustellen. Hier eröffnet sich ein Tätigkeitsfeld insbesondere für Akteure der darstellenden Künste, die das Management in Sachen Überzeugungs- und Führungskraft mittels emotionaler Intelligenz oder Kreativitätstechniken qualifizieren, beraten und coachen können.

Entwicklung qualifizierter Humanressourcen: Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und dem damit einhergehenden Fachkräftemangel steht die kontinuierliche Weiterbildung der eigenen Arbeitnehmer für viele Unternehmen an erster Stelle (lebenslanges Lernen). So muss ins-besondere gewährleistet werden, dass das Personal weiterhin gewillt und fähig ist, innovativ tätig

8 Kollaborative Innovation wird in dem Beitrag von Estborn beschrieben (Kapitel 2).

UNDER- STANDING

OBSER-VA-TION

DEFINE VIEW

BRAIN- STORMING

PROTOTYPE DEVELOP-

MENTTESTING

ABBILDUNG 1: DESIGN THINKING-PROZESS (NACH HPI, PROF. HASSO PLATTNER)

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18 zu werden. Akteure der Kultur- und Kreativwirtschaft aus dem Bereich der darstellenden Künste werden hinzugezogen, wenn es um die Erhöhung emotionaler und persönlicher Kompetenzen geht – wodurch wiederum die Kreativität und Sicherheit bei einem sozial-kommunikativen Aus-tausch verbessert werden. Die Anwendung von Methoden und Techniken aus der Games-Bran-che wäre ferner eine geeignete Möglichkeit für den Bereich der fachlichen Fortbildung, um ein schnelleres Lernen und besseres Verständnis durch Spielen zu ermöglichen (siehe den Beitrag von Carsten Busch, Kapitel 5).

INNOVATIONSMANAGEMENT: Ein Tätigkeitsfeld für die Akteure der Kultur- und Kreativwirtschaft ist die Unterstützung von Unternehmen bei der Umsetzung der vorhergehend beschriebenen Design-Thinking-Methoden. Dieser Umsetzungsschritt ist insbesondere für Unternehmen geeignet, die im Rahmen ihres inno-vativen offenen Innovationskonzepts in der Lage sind, größere Kundenbedürfnisse zu generieren und neue Zielgruppen zu erschließen, diese Informationen in ihrem laufenden innerbetrieblichen Innovationsmanagementprozess jedoch nicht angemessen nutzen, da z. B. noch alte Denkmuster und überholte Lösungsroutinen vorherrschen.

MARKETING: Ferner gibt es verschiedene Tätigkeitsfelder für die Akteure der Kultur- und Kreativwirtschaft im Bereich des situationsbezogenen Marketings, die über die traditionellen Bereiche Werbung und Unternehmenskommunikation hinausgehen. In dem Bereich der Konsumgüter beispielsweise zeichnet sich ein neuer Trend ab, bei dem nicht nur die Bedürfnisse der Kunden ermittelt, son-dern zudem emotionalisierende Innovationsstrategien sowie Kundenbindungsstrategien in den Mittelpunkt gestellt werden. Design Thinking ist in dieser Hinsicht ebenfalls gefragt, da es Unter-nehmen bei der Entwicklung eines emotionalen Alleinstellungsmerkmals für ihre neuen Produkte und Dienstleistungen unterstützt. Darüber hinaus spielen jedoch auch die Implementierung und Überwachung von sozialen Netzwerken, die entsprechende Anpassung von Corporate-Identi-ty-Strategien sowie die künstlerische Gestaltung des Unternehmens-Erscheinungsbildes bis hin zur Entwicklung neuer Dienstleistungskonzepte und Geschäftsmodelle eine Rolle.

SPILLOVER-EFFEKTEAuch wenn dies darauf hinzudeuten scheint, dass sich die Methoden Open Innovation und Design Thinking noch in der Anfangsphase ihrer umfassenden industriellen Umsetzung befinden, wird damit auch deutlich, wie viel Wertschöpfungs- und Innovationspotenzial in ihnen steckt, und folg-lich, welcher Nutzen aus einer engeren Zusammenarbeit zwischen der Kultur- und Kreativbranche und den einzelnen Abnehmerindustrien gezogen werden kann. Im Zuge der stetig zunehmenden Digitalisierung von Unternehmensprozessen und der gleichzeitigen Einbindung von Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft passen die umsetzenden Unternehmen auch ihre Methoden sowie Arbeits- und Denkweisen an die der Kreativwirtschaft an. Herausragende Beispiele hierfür sind der Transfer neuer Arbeitsformen (z. B. Co-Working-Formen), die Fähigkeit zum Managen kreativer Talente oder der Transfer des sogenannten impliziten Wissens bezüglich des Ideen- und Innovationsmanagements. Neben diesem Transfer vorrangig sozialer Kompetenzen bzw. „Wis-sens-Spillover“ verfügt die Kultur- und Kreativwirtschaft über eine besondere Fähigkeit, die es ermöglicht, dass ihre kreativen Produkte und Dienstleistungen gleichzeitig in anderen Sektoren und Märkten eine Nachfrage für komplementäre Produkte und Dienstleistungen bewirken. Dies wird als „Product-Spillover“ bezeichnet. Abgesehen von Produkt- und Dienstleistungsinnovati-onen werden zudem innovative Marketingtools oder neue IT-Lösungen (z. B. Gamification oder Eye-Tracking) eingesetzt. Einige Autoren differenzieren ferner zwischen einer dritten Art Spil-lover-Effekt – dem „Network-Spillover“ – der eine Situation beschreibt, in der die Attraktivität eines Wirtschaftsstandorts oder regionalen Innovationsclusters durch die überproportionale Prä-senz von Kultur- und Kreativunternehmen erhöht wird. Die Anwesenheit kreativer Talente könnte beispielsweise dazu beitragen, die Attraktivität einer Region und ihr Image für ausländische Geschäftspartner zu erhöhen oder lokale Talentpools und Unternehmensnetzwerke zu entwickeln.

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19 CO-VENTURINGAkteure der Kultur- und Kreativwirtschaft und anderer Fachdisziplinen sollten nicht nur auf Unter-nehmensebene sondern auch auf dem Gebiet der Unternehmensgründung durch interdisziplinäre Start-up-Teams kooperieren. Zur Veranschaulichung sind im Folgenden zwei Beispiele begleiteter Gründungen in der Kultur- und Kreativwirtschaft in Brandenburg aufgeführt, da diese das erheb-liche Synergiepotenzial demonstrieren9:

– Ein Team bestehend aus Tonmeisterin, Tonmeister, Akustiker und Betriebswirt bereitet eine Unternehmensgründung vor, die die Optimierungvon Tonmischungen aller Art für die Bedürf-nisse von Millionen hörgeschädigter Zuschauer und Zuschauerinnen zum Geschäftszweck hat.

– Ein Filmtontechniker, eine Dokumentarfilmproduzent und ein Maschinenbauer entwickeln und vertreiben eine Technik, die es möglich macht, unter Wasser qualitativ hochwertigen Surround-Sound zu erzeugen und womit sie neuartige Touristikangebote auf dem Markt ermöglichen.

5. HERAUSFORDERUNGEN UND HEMMNISSE FÜR DIE INNOVATION

KULTUR- UND KREATIVWIRTSCHAFTDie vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass die Kultur- und Kreativwirtschaft eine füh-rende Rolle im nationalen Innovationssystem einnimmt und dass insbesondere der IT-Support ein entscheidender Erfolgsfaktor im Innovationsprozess der Kultur- und Kreativwirtschaft ist. Aus jüngster Erfahrung wissen wir allerdings, dass die IT-Technologie viele Bereiche der Kultur- und Kreativwirtschaft auch vor Herausforderungen stellte, da sie traditionelle Vertriebs- und Kom-munikationsstrukturen massiv unter Druck setzte. Der Schutz des geistigen Eigentums sowie die Sicherung von Urheberrechten und verwandten Schutzrechten stellte vor allem für die Musik- und Filmindustrie aber auch für die Buch- und Verlagsbranche

REFERENZEN

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9 Siehe Müller (2009), S. 9.

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22 „JE MEHR MAN GIBT, DESTO MEHR BEKOMMT MAN. DIE KOOPERATION MIT GEMEINSCHAFT ODER NUTZERN LEGT DEN GRUNDSTEIN FÜR INNOVATIONEN SOWIE NEUE ORGANISATIONS- UND GESCHÄFTSMODELLE.“

EMMA ESTBORN

Emma Estborn studierte Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Växjö und verbrachte ein Semester an der Universität Arhus in Dänemark. Nach dem Abschluss speziali-sierte sie sich auf die Bereiche Ideenentwicklung, Projekt- und Prozessmanagement und Change Leadership. Schon früh beschäftigte sich Emma Estborn mit der Entwicklung der schwedischen Kreativwirtschaft und koordinierte hierzu ein nationales Netzwerk. Was Kooperation bewirken kann, erkannte sie, als sie in Rock City in der Stadt Hultsfred mit Universitätsstudenten zum Thema Unternehmertum arbeitete. Dort machte sie die inspirierende Erfahrung, daran teilzuhaben, wie sich ein kleines, durch eine Graswurzelbewegung initiiertes Festival durch Kooperation zu Schwe-dens größtem Musikfestival entwickelte. Dabei wurden Menschen aktiv eingebunden, so dass sich eine echte Gemeinschaft entwickelte. Bis heute ist Musik ein wichtiger Teil ihres Lebens. Ab 2006 arbeitete Emma Estborn für ein nationales Projekt zur Kreativwirtschaft, das sich mit Medien in Malmö befasste und schließlich zur Entstehung des Clusters Media Evolution führte. Als Leiterin des Geschäftsbereichs Kooperation ist sie als Strategin und Prozessberaterin tätig und setzt mit Begeisterung Ideen in die Realität um.

Bei Unternehmensziel und Geschäftsmodell von Media Evolution steht der Kooperationsgedanke im Mittelpunkt. In den ersten Jahren hatte sich der Cluster auf Aufbau und Vertiefung von Bezie-hungen zwischen verschiedenen Medienbranchen konzentriert. Durch die Ermittlung gemeinsa-mer Herausforderungen für diese Branchen wurden gemeinschaftliche Innovationen erleichtert. Inzwischen hat der Cluster seine Aktivitäten ausgeweitet und beschäftigt sich mit den Möglich-keiten, die sich durch die Digitalisierung in der Gesellschaft für andere Sektoren eröffnen, was die Entwicklung neuer Kooperationen und Märkte erlaubt. Media Evolution arbeitet zunehmend mit Akteuren aus unterschiedlichsten Bereichen zusammen. So trat etwa eine Gewerkschaft mit der Bitte an Media Evolution heran, neue Werte und Organisationsformen für ihre Mitglieder zu schaffen. Baufirmen ebenso wie Kulturinstitute wenden sich mit der Absicht an Media Evolution, gemeinschaftliche Prozesse zu fördern.

In ihrem Kapitel erläutert Emma Estborn die Kluft zwischen „alten“ Organisationsstrukturen und neuen Verhaltensweisen, die sich im Zuge der Nutzung digitaler Plattformen herausgebil-det haben. Auch zeigt sie die Herausforderungen auf, die sich für den privaten ebenso wie den öffentlichen Sektor ergeben, wenn Probleme sich schlicht und einfach nicht mehr von einer ein-zelnen Abteilung lösen lassen, sondern dazu die Einbeziehung einer Vielzahl von Akteuren und die Beteiligung Andersdenkender notwendig wird. Emma Estborns Beitrag ist nicht nur ein starkes Argument für Kooperation als neue Arbeitsweise an sich, sondern zeigt auch deutlich, dass damit der Grundstein für neue Innovationen und Geschäftsmodelle gelegt wird.

(Josephine Hage)

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23 COLLABORATION 1

DIE KRAFT DER VIELEN – WIE ANDERSDENKENDE GEMEINSAM ZU INNOVATION GELANGEN

EMMA ESTBORN

EinleitungCollaboration ist eine Methode, über Co-Creation (gemeinsames Gestalten) mit anderen zu Inno-vationen zu gelangen. Durch die Digitalisierung der Gesellschaft verfügen wir über die Werkzeuge und Verhaltensweisen des Teilens und gemeinsamen Nutzens (sharing), die mehr Zusammen-arbeit ermöglichen. Das deutet auch auf einen Wandel in Gesellschaft und Wirtschaft hin, wo Verhaltensweisen dieser neuartigen Zusammenarbeit auf traditionelle Strukturen stoßen und sich neue Formen des Arbeitens herausbilden. In diesem Kapitel wird erläutert, was collaboration ist, warum und wann sie erforderlich ist, wie sie funktioniert und über neue Formen des Arbeitens Innovation ermöglicht. Außerdem wird dargestellt, wie collaboration Unternehmen in der Kultur- und Kreativwirtschaft (KKW) Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet und wie sie die Innovationsmo-delle auch in allen anderen Branchen beeinflussen kann und wird.

1. COLLABORATION: WAS IST DAS?

NEUES SCHAFFENKomplexe Aufgaben erfordern neue Lösungsansätze. Sie brauchen frische Blickwinkel und Ideen, die hilfreich dabei sein können, alternative Lösungen zu finden. Genau darum geht es bei colla-boration. Sie ermöglicht Innovation, indem sie den Zugang zu breiterem Wissen und Ressourcen eröffnet, als jeder einzelne sie hat. collaboration ist eine Möglichkeit, die Netzwerke und/oder Kunden in die Entwicklungsprozesse einzubeziehen. Durch Schaffung geeigneter Rahmenbedin-gungen, die Co-Creation ermöglichen, lassen sich die unterschiedlichen Kompetenzen und Pers-pektiven nutzen, so dass Neues entstehen kann.

collaboration ist selbst ein offener und innovativer Prozess und damit eine Form des Arbeitens, die erfinderische Lösungen ermöglicht.

Die Kultur des Zusammenarbeitens ist nicht völlig neu, sondern ein menschliches Verhaltens-muster, das seit Jahrhunderten zur Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft beiträgt. Der Mensch versucht, bestehende Ideen und Lösungen durch Ausprobieren und Weiterentwickeln zu verstehen und zu verbessern. Aufbauend auf bestehendem Wissen wird Neues geschaffen. Wir konsumieren gern, aber wir produzieren auch gern und wir teilen gern mit anderen, was wir denken und tun. Wir haben die Tendenz, uns ständig zu verbessern.

Innovation ist letztlich ein „Verbinden der Punkte“, wie Steve Jobs es formulierte. Deshalb bedarf es für Innovation der Zusammenarbeit. Letztere bedeutet, dass unterschiedliche Köpfe gemein-sam arbeiten und, ausgehend von den Ideen der jeweils anderen, gemeinsam Neues schaffen. Collaboration ist eine Form des Arbeitens, die aus den Unterschieden in Sichtweise und Wis-sen Nutzen zieht. Es ist eine Methode zur Entwicklung von Innovationen, die Netzwerkbeziehun-gen nutzt und unterschiedlich denkende Personen in Verbindung bringt. Wirkliche Innovation geschieht schließlich nicht in Isolation.

1 Anm. d. Redaktion: Der englische Begriff collaboration bezeichnet ein Konzept der kollaborativen Zusammenarbeit, das durch das deutsche Wort „Zusammenarbeit“ nur unzureichend erfasst wird. In der deutschen Fassung wird weiterhin der von der Autorin verwendete Begriff collaboration im englischen Original verwendet, wenn dieses spezielle Konzept gemeint ist. Collaboration ist nicht mit dem deutschen Begriff „Kollaboration“ gleichzusetzen.

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Im Industriezeitalter ging der Aspekt der Zusammenarbeit bei der Innovation allerdings irgend-wann verloren. Die Konzentration auf den Aufbau linearer hierarchischer Institutionen brachte Organisationsstrukturen hervor, in denen Entwicklung weitgehend innerhalb geschlossener Sys-teme vonstattengeht. Die Logik, eigene Ideen und Kenntnisse zu schützen, hat für einige zu einem Wettbewerbsvorteil geführt. Selbst innerhalb der Systeme lassen die in Denker und Macher unter-scheidenden, geregelten Hierarchien, keine wirkliche Verknüpfung von Wissen und Ideen zu, nicht einmal innerhalb des eigenen Organisationskontexts.

Die schnelle digitale Entwicklung, mit der wir in der heutigen Gesellschaft konfrontiert sind, erlaubte einmal mehr Aufstieg und Entwicklung der collaboration. Mit den neuen technischen Möglichkeiten konnten Plattformen der Zusammenarbeit für Produktion, Interaktion, Teilen und Co-Creation aufgebaut werden. Dadurch ist es möglich, mit allem und jedem in Verbindung zu treten, wann und wie wir es wünschen, sodass Orte und Zeitzonen nicht länger eine Einschrän-kung darstellen. Jetzt sind wir in der Lage, Netzwerke aufzubauen und aufrechtzuerhalten, also Beziehungen, die sich für collaboration nutzen lassen. Wir können uns beteiligen, gestalten und gemeinsam gestalten, Arbeit und Ideen miteinander teilen und gemeinsam neue entwickeln. Das eröffnet die Chance für neue Arbeitsformen, die als Ergänzung zu den neuen Verhaltensweisen im digitalen Umfeld entwickelt wurden und sich ebenso in unternehmerischen Zusammenhängen und Geschäftsmodellen anwenden lassen.

Collaboration steht für Transparenz, Offenheit und Co-Creation. Bei der collaboration gibt man, um zu nehmen, und nimmt, um zu geben. In dieser Hinsicht ist collaboration weit mehr als reine Kooperation. Es geht vielmehr darum, durch Teilhabe an und Aufbauen auf den Ideen und der Arbeit der anderen sowie durch das Profitieren von den Unterschieden, für die wir alle stehen, gemeinsam etwas Neues zu erschaffen und damit wahre Innovation zu ermöglichen.

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25 AUF COLLABORATION BASIERENDE MEDIENWie also hat die Digitalisierung der Gesellschaft collaboration möglich gemacht? An weithin bekannten, digitalen Bewegungen wie der Hackerbewegung, Open-Source-Programmierung, Crowdsourcing und Creative Commons wird deutlich, dass der heutigen Medienentwicklung die Kultur der collaboration zugrunde liegt. All diese Bewegungen nutzen collaboration als eine Form des Arbeitens, die ihnen die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle und die Bereitstellung alterna-tiver Vertriebsmodelle ermöglichte, die auf dem Prinzip des Teilens basieren.

Crowdsourcing zeigt, wie die Kultur der collaboration in die digital getriebene Entwicklung ein-gebaut ist. Der Begriff bezeichnet den Zusammenschluss einer großen Gruppe Menschen, die alle einen kleinen Beitrag zu einem Projekt leisten und dadurch gemeinsam etwas Großes erschaffen. Das Phänomen tritt beispielsweise beim Crowdfunding auf, wofür Kickstarter eines der bekann-testen Beispiele ist.2 Auf solchen Portalen können Kreative ein Projekt einstellen, das jeder fördern kann, nicht nur durch finanzielle Unterstützung der Durchführung des Projekts (z. B. Produzie-ren eines Films), sondern auch durch den Aufbau einer Fangemeinde, die sich mit dem Produkt schon während seiner Entwicklung beschäftigt und es in ihren persönlichen Netzwerken teilt und bewirbt. Crowdsourcing ist eine Methode, Inhalte zu entwickeln, eine Finanzierung zu bekommen und sich einen Markt zu schaffen, indem man eine größere Gemeinschaft um Hilfe bittet, die über eine Online-Plattform erreichbar ist.

Ein anderes Beispiel ist die Open-Source-Programmierung, bei der der Quellcode für jeden zur Nutzung und/oder Modifizierung der ursprünglichen Form offen verfügbar gemacht wird. In der Regel wird offener Quellcode in gemeinschaftlicher Arbeit entwickelt, d. h. Programmierer verwen-den und verbessern den Code und stellen der Community ihre Änderungen zur Verfügung. Offene Quellcodes ermöglichen es Firmen und Unternehmern, beispielsweise Webseiten mit „freier Soft-ware“ zu entwickeln, wobei die Nutzer ihrerseits etwas zurückgeben können, indem sie den Code verbessern und ihre Anwendungen und Verbesserungen für die Allgemeinheit zugänglich machen.

Eine weitere derartige Bewegung ist Creative Commons,3 eine Organisation, die eine Methode entwickelt hat, wie kreative Arbeit miteinander geteilt und anderen verfügbar gemacht werden kann, sodass sie darauf aufbauen können. Sie entwickelte und vergibt verschiedene Copyright-Li-zenzen, sogenannte „Creative-Commons-Lizenzen“, die es den Urhebern ermöglichen, ihre Arbeit mit anderen zu teilen und gleichzeitig Nutzungsbedingungen festzulegen. Zu den innovativsten Lizenzen gehört „share-alike“, die es erlaubt, jemandes Arbeit zu verwenden und/oder abzuwan-deln, sofern man die eigene Arbeit unter derselben Lizenz wieder veröffentlicht. Man baut also auf der Arbeit eines anderen auf und macht das Ergebnis in gleicher Weise zugänglich, damit andere weitere Änderungen daran vornehmen können. Das ist ein großartiges Beispiel dafür, wie eine bestehende Kultur eine neue Kultur nährt, und was collaboration für kreative Entwicklung bedeuten kann.

Die Hackerbewegung beruht auf denselben Prinzipien: Entwickeln, Teilen und Aufbauen auf der Arbeit der anderen. Derzeit wird die Hackerkultur auch im Bereich der Geschäftsentwicklung eingesetzt, beispielsweise in „Hackathons“, wo Hacker zusammenkommen, um ausgehend vom Bedarf und/oder den Herausforderungen der Wirtschaft neue Lösungen zu entwickeln. Während der Arbeit an diesem Kapitel fand das Malmö Music Hack Weekend4 statt, ein offenes Event für „Musiker, Entwickler, Künstler, Designer, Komponisten, Hardware-Bastler und andere“. Dabei kommen unterschiedlich denkende Menschen mit verschiedenen Kompetenzen – Kreative und Unternehmer ebenso wie größere Musik- und Technikfirmen wie Spotify und Soundcloud – für ein Wochenende zum ‚Project Hacking‘ zusammen und erkunden neue Wege für das Entdecken und Konsumieren von Musik.

2 Siehe http://www.kickstarter.com.3 Siehe https://creativecommons.org.4 https://www.facebook.com/events/1385339361703096/

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26 ZIRKULÄRER INNOVATIONSPROZESSBei der collaboration geht es also um Teilen und Co-Creation. Doch es geht auch darum, auf diese Weise das Entstehen neuer Ergebnisse zu ermöglichen, weshalb sie für Innovation wesentlich ist. Durch das Ermöglichen der Interaktion unterschiedlicher Kompetenzen schafft collaboration neue Lösungen – Lösungen, die innerhalb der bestehenden Strukturen und Systeme nicht gefunden werden können.

Im Gegensatz zu linearen Organisationsformen stellt sie eine zirkuläre Arbeitsweise dar. In zirku-lären, offenen Prozessen ist das konkrete Resultat vorab nicht bekannt, doch sicher ist, dass es völlig einzigartig sein wird und allein nicht erzielt werden kann. Im Mittelpunkt steht bei zirkulären und auf collaboration beruhenden Prozessen, wie eine Lösung erreicht werden kann, ohne dass bekannt ist, wie diese Lösung aussehen könnte. Aus einem solchen auf collaboration beruhenden Prozess können innovative Ergebnisse hervorgehen, wenn wir den richtigen Rahmen setzen, in dem gemeinsames Arbeiten möglich ist. Was in dem eigentlichen Prozess, in dem konkurrierende Kompetenzen und Sichtweisen aufeinandertreffen und zusammenarbeiten, geschieht und ent-deckt bzw. erforscht wird, bildet die Grundlage für diese bislang unerschlossenen Ideen, die wir auf andere Weise nicht denken könnten.

Das entspricht zutiefst dem kreativen Schaffensprozess selbst, in dem ein Künstler oder Kreativer zunächst eine Idee erforscht, ohne genau zu wissen, wohin sie führen wird, doch im Vertrauen darauf, dass die erfinderische Phase selbst den Weg hin zu einem kreativen Ergebnis ebnen wird.Collaboration ist, wenngleich in etwas strukturierterer Form, auch im IT-Sektor zu beobachten, wo Scrum und agile Prozesse entstanden sind und sich zu verlässlichen Modellen entwickelt haben. Agile Innovation bedeutet, ein Produkt zusammen mit den Anwendern, Kunden und Netzwerken zu entwickeln, d. h. den Entwicklungsprozess selbst als eine Methode zum Testen einer Idee oder eines Produkts in der Betaversion auf dem Markt zu nutzen. Dabei geht es nicht nur darum, das für die weitere Entwicklung des Produkts und seine Anpassung an die Bedürfnisse der Kunden nötige Wissen, Input und Feedback zu bekommen, sondern gleichzeitig wird dabei ein Markt geschaffen, da die Endverbraucher schon frühzeitig einbezogen werden und ihnen das Produkt präsentiert wird, als ob es bereits verfügbar wäre.

ENTSTEHUNG DES NEUENEs ist zielführender, collaboration als Praxis zu verstehen und nicht als Theorie. Bei der gemeinsa-men Arbeit erkunden wir ständig neue Wege, Dinge zu denken oder zu tun; ob sie funktionieren, muss sich in der praktischen Erprobung zeigen. Dennoch können theoretische Ansätze zur Emer-genz hilfreich sein, um zu verstehen, warum und wie das funktioniert.

Damit die Entstehung von Neuem ermöglicht wird, müssen sinnvolle Rahmen gesetzt werden, in denen Menschen etwas beitragen und zusammenarbeiten können. Inspiriert sind solche Rahmen von den natürlichen Ökosystemen. Wie kann ein Vogelschwarm in dieselbe Richtung fliegen,5 immer neue Formationen einnehmen, auf Änderungen oder Bedrohungen reagieren und dennoch eine Einheit bilden? Ein solches Phänomen kann nur in Abhängigkeit vom Grad der Verbindung zwischen seinen Teilen auftreten. Sie stehen miteinander über ein Regelwerk in Beziehung, das ihr Verhalten vorgibt. Je besser die Teile miteinander kommunizieren können, desto effizienter scheint der Organisationsprozess zu sein. Das sollte bedacht werden, wenn man Prozesse der collaboration einrichtet. Die Theorie der Emergenz zeigt, dass Design und Funktionalität der Rah-menbedingungen, d. h. das „Regelwerk“, dem die Menschen gehorchen und innerhalb dessen sie gemeinsam gestalten, Auswirkungen auf das Resultat des Prozesses haben. Wir, als die Moderato-ren, „verbinden die Punkte“ und bringen andere dazu, zu kommunizieren und zusammenzuarbei-ten, wir ermöglichen die Entstehung neuer Ergebnisse innerhalb eines Prozesses der collaboration (oder nicht).

5 Siehe Neel Castillions Bird Ballet, http://vimeo.com/58291553.

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Einen weiteren nützlichen Blick darauf, wie collaboration erfolgreich gestaltet werden kann, wenn alle Teile verbunden sind und synchronisiert kommunizieren, bietet Otto Scharmers Theorie U.6 In seinem Buch über „Führung von der entstehenden Zukunft her“ nimmt Scharmer eine gründliche Erklärung der Unterschiede zwischen verschiedenen Formen der Kooperation und Zusammenar-beit vor. Er zeigt, wie andere Arten des Zuhörens alternative Formen der Interaktion ermöglichen.

Damit Prozesse der collaboration erfolgreich sein und ihre Kernpotenziale erreicht werden kön-nen, müssen sie von Stufe 1 (auf der wir lediglich „herunterladen“, was wir bereits wissen) und Stufe 2 (auf der wir neue oder andere Blickwinkel bekommen) und sogar vom empathischen Zuhören der Stufe 3 weitergehen zu Stufe 4, auf der eine fruchtbare Art des Zuhörens gemeinsa-mes Gestalten und das Entstehen von etwas Neuem ermöglicht.

2. COLLABORATION: WANN?

LÖSEN KOMPLEXER HERAUSFORDERUNGENIn welchen Situationen sind collaboration und Co-Creation sinnvoll oder sogar notwendig? Für eine Antwort auf diese Frage ist es hilfreich, daran zu denken, wie wir in Wirtschaft und Gesell-schaft verschiedene Arten von Problemen angehen.

Es gibt einfache Probleme, bei denen man Best Practices anwenden und mit den gleichen Lösun-gen mehr oder weniger zu den gleichen Ergebnissen gelangen kann. Daneben gibt es kompli-zierte Probleme, für die unter Umständen ein erfahrener Spezialist benötigt wird, der weiß, wie die Dinge funktionieren und miteinander zusammenhängen, und Hinweise geben kann, wie sie sich umgehen lassen. Außerdem gibt es komplexe Probleme, für die keiner wirklich die Lösung kennt und auf die es nicht die eine „richtige“ Antwort gibt. Diese Probleme erfordern collabora-tion, damit neue Lösungsansätze dafür entwickelt werden können. In diesen Fällen müssen wir, da niemand die richtige Antwort kennt, verschiedene Wissens- und Erfahrungsebenen verbinden

6 Für eine Zusammenfassung siehe http://www.ottoscharmer.com/publications/summaries.php

ZIRKULÄRER PROZESS

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und in Netzwerken arbeiten, in denen breit gefächerte Kompetenzen und Blickwinkel vorhanden sind, um Lösungen zu finden. Komplexe Probleme erfordern collaboration. Ein vierter Problemtyp, das sogenannte „Chaos“, ist ein Zustand, den wir alle nur zu gut kennen. Wir tendieren dazu, dabei auf einfache Lösungen zurückzugreifen, um den leichtesten Ausweg zu finden, was das Problem oft nicht wirklich löst, sondern geradewegs ins Chaos zurückführt.

Zu jeder Zeit sind all diese Problemtypen in einem System vorhanden, und die Identifizierung der Art von Problem, mit dem man konfrontiert ist, kann hilfreich dafür sein, den für die Lösung benötigten Prozess zu wählen. In linearen Systemen mit klarer Ursache und Wirkung funktionieren einfache Lösungen oft gut. Komplizierte Probleme können oft von einer erfahrenen Person auf die richtige Weise behoben werden. Bei komplexen Problemen bedarf es jedoch gemeinsam erar-beiteter Lösungen. Bei fortgesetztem Einsatz der gleichen Art von Lösung erhält man in diesen Fällen tendenziell die gleichen Ergebnisse. Wenn also die Notwendigkeit für eine andere Art von Ergebnis besteht, müssen wir in einem Netzwerk von Kompetenzen zusammenarbeiten und den Prozess der Co-Creation nutzen, um diese neuen Lösungen zu identifizieren.

Das vielleicht drängendste aktuelle Beispiel eines komplexen und vertrackten Problems ist der globale Klimawandel. Dieses Problem kann nicht durch das oder in einem einzelnen Teil des Sys-tems gelöst werden, sondern hat wirtschaftliche und gesellschaftliche Auswirkungen für uns alle. Die LAUNCH’-Initiative7 von Nike, der NASA, USAID und dem Außenministerium der Vereinig-ten Staaten ist ein gutes Beispiel dafür, wie auch die Wirtschaft nach innovativen Lösungen für die komplexen globalen Herausforderungen suchen muss, mit denen wir heute konfrontiert sind. Die Initiative von Nike bringt Designer, Chemiker, Astronauten, Hochschulmitarbeiter, politische

7 Siehe http://www.launch.org/, http://vimeo.com/64939206

DISORDER

COMPLEX

ProbeSenseRespond

EMERGENT

CHAOTIC

ActSenseRespond

NOVEL

SIMPLE

SenseCategorizeRespond

BEST PRACTICE

COMPLICATED

SenseAnalyzeRespond

GOOD PRACTICE

QUELLE: „CYNEFIN FRAMEWORK“ VON DAVID SNOWDEN, CREATIVE COMMONS ATTRIBUTION 3.0 UNPORTED HTTP://UPLOAD.WIKIMEDIA.ORG/WIKIPEDIA/COMMONS/4/45/CYNEFIN_FRAMEWORK_FEB_2011.JPEG

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29 Entscheidungsträger, die Zivilgesellschaft und viele andere zusammen und fördert damit über einen Prozess der collaboration die Entwicklung von innovativen und nachhaltigen Lösungen für Materialien.

3. COLLABORATION: WARUM?

COMPETITIVE COLLABORATION VERSUS COLLABORATIVE COMPETITIONWir alle sind das Produkt unterschiedlicher Traditionen und Erfahrungen. Aus Sicht der Wirtschaft ist es schwer einzusehen, wie collaboration und Teilen von Ideen dem Geschäft nützen können. Wir sind es gewöhnt, gute Ideen zu schützen und nicht mit anderen zu teilen oder um Hilfe zu bitten, bis wir wissen, dass sie wirklich geschützt sind, sodass niemand sie stehlen kann. Diese Logik liegt dem Patentsystem zugrunde, das in linearen Systemen und traditionellen Wirtschafts-zweigen prosperiert. In den neueren Branchen, die stärker kreativ oder digital orientiert sind oder deren Nutzer sie digital verwenden, funktioniert das Patentsystem nicht. Diese neueren digitalen und kreativen Branchen verfolgen eine umgekehrte Logik: Wenn man eine Idee oder ein Betapro-dukt hat, geht man damit an die Öffentlichkeit und erzählt davon, um Input zu bekommen, wie das Produkt entsprechend dem Nutzerfeedback weiterentwickelt werden kann. Dabei wird es den anderen ermöglicht, am Testprozess teilzunehmen, womit wiederum ein Markt geschaffen wird. Die dadurch aufgeworfenen Fragen des geistigen Eigentums sind ein Thema für sich, ein Problem, an dessen Lösung noch gearbeitet wird. Unterdessen haben sich in der Branche neue Arten des Arbeitens und des Umgangs mit geistigen Eigentumsrechten in einer Kultur des Teilens heraus-gebildet, darunter beispielsweise Creative Commons (vgl. oben).

Eine sehr ausführliche Erklärung der verschiedenen Formen von und Sichtweisen auf Konkur-renz vs. Collaboration gab Cindy Gallop in ihrem Vortrag bei The Conference 2013,8 organisiert von Media Evolution. Sie kommt direkt zum Punkt, wenn sie sagt, dass wir uns entweder dafür entscheiden können, so weiterzuarbeiten wie bisher – in „competitive collaboration“ – wobei im Grunde jeder in der Branche mehr oder weniger dasselbe anbietet und wir als ziemlich Gleichden-kende konkurrieren, die die gleiche Art von Produkten auf die gleiche Weise herstellen und keine wirklichen Neuerungen vornehmen. Oder dass wir uns dafür entscheiden können, auf neue Weise zu arbeiten, indem wir Begriffe und Annahmen auf den Kopf stellen und in „collaborative compe-tition“ arbeiten. Das impliziert eine Methode, in der die enge Zusammenarbeit und der Austausch von Ideen, selbst innerhalb einer Branche, uns in die Lage versetzt, in dem, was wir tun, besser zu werden und einzigartige Produkte und Dienstleistungen anzubieten.

Nehmen wir zum Beispiel die Werbewirtschaft, die heute normalerweise stark vom Wettbewerb bestimmt ist und wo seit der Mad-Men-Ära traditionell auf jeden Kunden ein lineares Produktions-modell angewendet wurde. Mit der Verbreitung des Internets veränderte sich die Branche jedoch grundlegend. Plötzlich entstanden neue Arten von Agenturen, die nicht nur Webseiten anboten, sondern digitale Strategien und Kommunikation auf verschiedenen Plattformen. Diese Verände-rung der Kommunikation, ermöglicht durch eine technikgetriebene Entwicklung, bedeutete, dass es nicht länger den einen richtigen Weg für die Kommunikation mit den Kunden gab. Bedeutender ist jedoch, dass sie eine Verschiebung von Information hin zu Dialog mit sich brachte – die Kunden sind nicht mehr passives Ziel, sondern aktive Partner der Kommunikation. Da Werbung traditionell nicht so funktioniert hatte, bildeten sich neue Kompetenzen heraus, die die Kommunikationsin-dustrie und das, was sie anbieten konnte, grundlegend veränderten. Viele Jahre lang wirkten die unterschiedlichen Kompetenzen aus dem weiten Feld der Kommunikationsbranche weitgehend isoliert voneinander und boten ihren Kunden unterschiedliche Produkte über unterschiedliche Agenturen an. Derzeit ist zu beobachten, dass diese verschiedenen Kompetenzen verschmelzen;

8 http://videos.theconf.se/video/8577379/0/cindy-gallop.

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30 verschiedene Unternehmen teilen sich Büroflächen und arbeiten gemeinsam, alles um dem Kun-den die umfassenden Kommunikationslösungen bieten zu können, die er benötigt. An die Stelle der „Werbe-“ oder „Internetagenturen“ sind heute „Kommunikationsagenturen“ getreten. Das Interessante an dieser Entwicklung ist, dass ihre Stärke in der Zusammenarbeit zwischen diesen Unternehmen und Kompetenzen liegt und nicht in der Konkurrenz. Wir müssen erkennen, dass sich durch Zusammenarbeit jedes Unternehmen weiterentwickeln und die eigene Fachkompe-tenz erweitern kann, womit es für eine zukünftige Zusammenarbeit noch interessanter wird, was sowohl für seine Kunden als auch für die Unternehmen im Netzwerk von Vorteil ist.

Für Personen, die das Arbeiten in traditionellen Sektoren gewöhnt waren, mutet die Stärke dieser Arbeitsweise – nämlich dass man durch das Teilen von Gedanken und Ideen tatsächlich mehr oder bessere Ergebnisse bekommt – recht fremd an. Collaboration statt Konkurrenz? Aus einer her-kömmlichen Perspektive und dem Blickwinkel der linearen Logik klingt das etwas eigenartig, und natürlich steht es jedem frei, diesen Weg nicht zu gehen, wenn er nicht will. Doch sobald man sich darauf einlässt, wird man rasch feststellen, dass er tatsächlich funktioniert und die Entwicklung in einer sich schnell ändernden Welt vorantreibt.

KOLLABORATIVE INNOVATION VERSUS OFFENE INNOVATIONEs ist wichtig, sich darüber bewusst zu sein, dass der Gedanke des Teilens von Ideen sich nicht in ein traditionell strukturiertes System integrieren lässt. Da solche Systeme darauf ausgelegt sind, eben das zu verhindern, lassen ihre Strukturen keine Transparenz zu. Offene Innovation (open innovation) ist ein gutes Beispiel dafür: Linear funktionierende Branchen greifen zunächst die Idee der Co-Creation auf, setzen sie aber nicht vollständig um, sondern integrieren die erreichte Innovation wieder in ein geschlossenes System, das keine vollständige Offenheit oder Mitei-gentümerschaft zulässt. In Wikipedia wird offene Innovation zusammengefasst als „Paradigma, das davon ausgeht, dass Firmen, wenn sie ihre Technologie voranbringen wollen, externe Ideen ebenso verwenden können und sollten wie interne Ideen und interne ebenso wie externe Wege zur Markteinführung“.9 Normalerweise steht ein Unternehmen mit dem umgebenden Netzwerk oder der Community in Kontakt, indem es andere dazu anregt, ihre Ideen zur Verbesserung sei-nes Produkts zu teilen und beizusteuern. Beispielsweise erfragt Philips in seiner Initiative „Simply Innovate“ unter den Kunden Ideen, wie den Erfordernissen des Alltags durch den Einsatz inno-vativer Lösungen entsprochen werden kann.10 Prozessen zur offenen Innovation liegt der gleiche Gedanke zugrunde wie der collaboration – nämlich dass die Quelle echter Innovation oft in der Sichtweise anderer liegt –, doch wenn die Ideen erst einmal eingeholt wurden, werden diese Pro-zesse, wie im Fall vom Philips, oft wieder geschlossen. Die Ideen werden in ein System zurückge-führt, in dem sie während der Weiterentwicklung geschützt werden müssen – ganz das Gegenteil von transparenter und auf collaboration beruhender Innovation. Bei Media Evolution stießen wir auf die gleichen Verhaltensmuster, als wir versuchten, mit größeren Unternehmen, beispielsweise aus der Mobilfunk-, Lebensmittel- und Verpackungsindustrie, zusammenzuarbeiten. Zwar wollen diese Branchen Verbindungen herstellen, um innovative Ideen in anderen Bereichen zu entzün-den, sie sind jedoch nicht bereit, das in einer 100-prozentig offenen und transparenten Weise zu tun. Miteigentümerschaft ist da schwierig zu integrieren.

Brauchen wir also wirklich volle collaboration, und wenn ja, warum? Wie oben dargestellt, ist collaboration mit Sicherheit vonnöten, wenn wir mit komplexen Herausforderungen konfrontiert sind. Um das Potenzial der Ideen und Sichtweisen anderer voll nutzen zu können, müssen wir erkennen, dass Komplexität nicht nur in dem liegt, was wir tun, sondern auch darin, wie wir es tun. Die Einbeziehung unterschiedlicher Sichtweisen in die Co-Creation in einem vollständig transparenten Umfeld führt zu ganz anderen Ergebnissen als denen, die erreicht werden, wenn die neuen Ideen in das bestehende geschlossene System zurückgeführt werden. Wenn wir damit

9 http://en.wikipedia.org/wiki/Open_innovation10 Siehe http://www.simplyinnovate.philips.com.

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beginnen, den Innovationsprozess selbst innovativ zu verändern, dann werden wir wirklich inno-vative Ergebnisse sehen.

4. COLLABORATION: WIE?

NEUE WEGE DES ARBEITENS: WANDEL DURCH DIGITALISIERUNGWir befinden uns mitten in einem gesellschaftlichen Wandel, wo in der Folge einer digitalen Entwicklung neue Formen des Arbeitens entstehen, was bedeutet, dass Erschaffen, Co-Creation, Teilen und Kommunizieren jetzt auf modernere Art möglich sind. Wir sind nicht länger an geogra-fische Grenzen oder Zeitzonen gebunden und können somit überall auf der Welt mit Menschen zusammenarbeiten, die unsere Interessen teilen.

Nehmen wir zum Beispiel die vorliegende Booksprint-Veröffentlichung. Alle Kapitel wurden in Google Drive geschrieben und waren sofort für alle Projektbeteiligten zugänglich, sodass alle Ver-fasser und Editoren aus verschiedenen europäischen Ländern und Organisationen dem Schreiben in Echtzeit, als Work in Progress folgen konnten. Damit war es uns möglich, die Arbeit der anderen nicht nur zu lesen, sondern auch zu kommentieren, sodass wir die Tatsache, dass wir viele ver-schiedene Kompetenzen besitzen und unsere unterschiedlichen Hintergründe, einzelstaatlichen Erfahrungen und Blickwinkel in das Schreiben des Buches einbringen, optimal nutzen konnten. Durch die Zusammenarbeit in diesem Projekt, wofür jeder sein Fachwissen und seinen Blickwinkel sowohl in das jeweils eigene Kapitel als auch in die anderen Teile des Buches einbrachte, konnte die Booksprint-Publikation mehr und besser werden als die Summe ihrer Teile.

Ein weiteres Beispiel für den Wandel ist natürlich die Fülle der sozialen Medien, die von vielen nicht nur für die private Kommunikation, sondern auch geschäftlich genutzt werden. Facebook beispielsweise entwickelte sich von einem unbedeutenden „Anstups“-Spielzeug zu einer social

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32 gaming-Plattform, die einen ganz neuen Markt und eine Plattform für die Computerspieleindus-trie geschaffen hat, sowie zu einem der meistgenutzten Wege, Einladungen zu Konferenzen und Treffen auszutauschen. Bei Media Evolution nutzen wir seit Jahren geschlossene Facebook-Grup-pen für unsere gesamte interne Kommunikation. Nicht weil es die beste Lösung mit den besten Funktionen ist (wir probierten zunächst einige andere, die nur theoretisch besser waren), sondern weil jeder sowieso schon dort ist, es täglich verwendet, offensichtlich gern benutzt und daran gewöhnt ist, auf diesem Wege zu kommunizieren. Deshalb entschieden wir uns, unsere interne Kommunikation daran anzupassen, wie die Menschen sich bereits verhalten, und sie, darauf auf-bauend, zu neuen Arbeitsweisen zu bringen.

Die Kultur des Teilens hat sich auch zu einem eigenen Geschäftsmodell entwickelt. Kollaborativer Konsum (collaborative consumption)11 ist ein neues Wirtschaftsmodell. Das Modell beschreibt die Verschiebung in den Anforderungen der Verbraucher von Eigentum hin zu Zugang und wurde vom TIME Magazine als eine der „10 Ideen, die die Welt verändern werden“ aufgeführt.12 Durch die Nutzung von Netzwerktechnologien und der Kultur des Teilens ermöglichen es Webseiten wie eBay13, AirBnb14 und Zipcar15 den Menschen, die Ressourcen der anderen zu nutzen und gleichzei-tig dafür bezahlt zu werden. Es ist ein gutes Geschäftsmodell für die Nutzer auf beiden Seiten; der Käufer bekommt Zugang zu einer Wohnung oder einem Auto oder was er sonst braucht, wann und wo er ihn braucht, und der Verkäufer wird dank der Verbindung mit diesem jemand, der das Auto oder die Wohnung benutzt, bezahlt, wenn er es selbst nicht benutzt. Außer Käufer und Verkäufer profitieren auch das Klima und die Erde von diesem Geschäftsmodell. Dadurch wird ein neues Verbraucherverhalten ermöglicht, das bestehende Ressourcen nutzt, anstatt immer neue zu verbrauchen. Für die Gesellschaft gibt es ebenfalls Vorteile, da die Verbindung mit anderen, mit denen wir sonst keinen Kontakt hätten, uns die Welt aus neuen Perspektiven sehen lässt. Schließlich ist es ein wirklich gutes Geschäftsmodell für die Menschen, die hinter den kollabo-rativen Verbraucherdiensten stehen. Wie Robin Chase, Gründer von Buzzcar und von Zipcar es formuliert hat: „Collaboration bringt Vielfalt und Qualität mit sich.“ Durch die Einbindung derje-nigen, die eine Leistung in Anspruch nehmen, indem ein Kontakt hergestellt und sie nicht nur in das Ausprobieren der Leistung involviert werden, sondern auch ihre Mitgestalter sind, sodass sie aus der Nutzerperspektive so gut ist, wie sie nur sein kann, ist die Kultur des Teilens auch für die Geschäftsentwicklung bestens geeignet.

Dass uns all diese Kanäle für das Teilen, für die Kommunikation und Co-Creation zur Verfügung stehen und sie so einfach und nützlich sind, ist beachtlich. Wie wir uns in den digitalen Communi-ties verhalten, hat Einfluss darauf, wie wir mögliche Methoden des gemeinsamen Arbeitens wahr-nehmen. Gleichzeitig ist es wichtig zu verstehen, dass diese neuen Verhaltensweisen, die durch digitale und soziale Plattformen hervorgebracht werden, nicht nur auf die digitale Gesellschaft beschränkt sind. Ganz offensichtlich beeinflussen sie auch unsere Handlungen und Wahrneh-mungen im Alltag. Somit sind wir Zeugen einer gesellschaftlichen Veränderung; einer Verände-rung, in der wir einerseits über all diese neuen Verhaltensweisen verfügen und auf modernere Weise arbeiten, aber andererseits in unseren Organisationen immer noch auf recht traditionelle Weise funktionieren und lineare Strukturen verwenden, die die Zusammenarbeit oder Nutzung des bereits vorhandenen Potenzials der Menschen nicht wirklich zulassen.

ALTE STRUKTUREN VERSUS NEUE VERHALTENSWEISEN„You cannot do new world order business from an old world order place“, wie Cindy Gallop es formuliert. Oder in den Worten Albert Einsteins:„ Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Folglich werden collaboration und Innovation

11 Siehe http://www.collaborativeconsumption.com/about/.12 http://content.time.com/time/specials/packages/article/0,28804,2059521_2059717_2059710,00.html13 http://www.ebay.com14 https://www.airbnb.com15 http://www.zipcar.com

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nicht möglich sein, wenn wir es weiterhin über die bestehenden, linearen Arbeitsmethoden und mit denselben Einstellungen und Denkweisen versuchen. Um zu verändern, was wir tun – und innovative Ergebnisse zu erzielen – müssen wir die Art und Weise verändern, wie wir es tun, den bestehenden Innovationsprozess innovativ verändern, d. h. mehr kluge Köpfe an die Arbeit setzen und dadurch zusätzliche Sichtweisen bekommen.

Der Wandel muss erkannt werden, damit wir in der Lage sind, uns an die neuen Arbeitsweisen anzupassen. Wenn wir sehen, dass sich die Welt und die Art unserer Geschäftstätigkeit ändern, dann können wir die neue Logik und Verhaltensweisen nutzen, um unsere neuen Geschäfts- und Organisationsmodelle zu beeinflussen. Heute befinden wir uns mitten in diesem Wandel, die alten Modelle sind nicht mehr so erfolgreich, und das Herausfinden, wie Geschäfte auf neuere, funk-tionalere Weise betrieben werden können, ist noch nicht abgeschlossen. Es muss jedoch auch erkannt werden, dass es wahrscheinlich nicht mehr die eine „richtige Antwort“ oder das eine Modell gibt. Das ist der Unterschied zwischen der Perspektive der alten und der neuen Weltord-nung. In der alten Weltordnung wurden lineare Prozesse verwendet, weil sie alle im Grunde auf die gleiche Weise funktionierten; das ging so für eine lange Zeit. Somit konnte dieselbe Art von Lösung immer wieder eingesetzt werden. In der neuen Weltordnung befinden sich die Dinge in ständigem Wandel, sodass wir in stärker zirkulären Formen arbeiten müssen, um komplexe Her-ausforderungen zu lösen. Das ist ein ständiger Entwicklungsprozess, zu dem die Einbeziehung von Netzwerken und Kunden gehört, um mit der sich verändernden Gesellschaft Schritt zu halten.Am wichtigsten dabei ist es zu verstehen, dass diese Veränderung bereits begonnen hat. Die Kultur- und Kreativwirtschaft (KKW) ist mit diesen Herausforderungen bereits unmittelbar kon-frontiert. Deshalb sollten wir uns ansehen, welche neuen oder anderen Wege sie für den Umgang damit gefunden hat, und die bei der Entwicklung von Fördermodellen für KKW-Unternehmen gemachten Erfahrungen für die Erarbeitung der neuen Lösungen heranziehen, die für die Förde-rung in jedem anderen Sektor verwendet werden können, der morgen vor den gleichen Heraus-forderungen und der neuen Logik steht.

NUTZERGETRIEBENE INNOVATIONOft geht die Veränderung von den Nutzern aus, erfolgt von unten nach oben und konfrontiert die Unternehmen und Branchen mit einem neuen Nutzerverhalten. Das führt zu einem Punkt, an dem sie die Wahl haben, ob sie sich an die veränderte Lage anpassen oder sich dagegen wehren und die Veränderungen ignorieren wollen.

Wenn Unternehmen die Veränderung ignorieren, kann das zu ihrem langsamen Sterben führen. Dafür gibt es überall auf der Welt zahlreiche Beispiele. In Schweden ist FACIT der bekannteste Fall: Ein erfolgreiches Unternehmen, das mechanische Rechner herstellte, ignorierte die digi-tale Entwicklung der 1960er Jahre hin zu elektronischen Rechnern und unterschrieb damit das eigene Todesurteil. Aus der Anwenderperspektive waren die neuen Rechner einfach viel leichter

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34 zu benutzen. Damit ist nicht gesagt, dass sie besser waren, sondern einfach praktischer, tragbar und nutzerfreundlicher.

Aktuell ist die Musikindustrie eines der bekanntesten Beispiele dafür, wie die Digitalisierung und eine Veränderung des Nutzerverhaltens eine gesamte Branche mitsamt ihren Geschäftsmodellen auf den Kopf stellen können. Vor gar nicht so langer Zeit wurde die Musikindustrie noch als die Industrie der „Plattenlabel“ bezeichnet. Die Unternehmen nahmen Künstler unter Vertrag, produ-zierten, bewarben und verkauften ihre Musik und bekamen dafür hohe Margen. Der Verkauf von Alben war der Kern des Geschäftsmodells. Die großen Labels waren im Grunde die einzige Ver-triebsplattform für Künstler und hatten folglich große Macht darüber, wessen Musik das Publikum erreichte oder nicht erreichte. Das Aufkommen der neuen Technologien und des Internets, das es möglich machte, Musik digital zu konsumieren, war nicht das Ergebnis von Bemühungen der Schallplattenindustrie; deren Geschäftsmodell hatte bis dahin wunderbar funktioniert. Die Nutzer schufen die neuen Plattformen für Musik und entwickelten die neuen Vertriebsmodelle für Musik in digitalen Formaten. Und wir nutzten sie in großem Umfang. Die Branche reagierte jedoch nicht so darauf, dass sie diese neuen Leistungen als Innovationen begriff oder die große Zahl an Menschen, die auf diese neue Weise Musik hörten, als ihren neuen Markt ansah. Stattdessen betrachtete sie die Entwicklung als Bedrohung ihres Geschäftsmodells. Ihrer Ansicht nach hatte man Musik von Schallplatten oder CDs anzuhören. Die Rechte am Inhalt dieser Aufnahmen gehörten den Platten-firmen. Anstatt Napster, Pirate Bay und vergleichbare Dienste als nutzergetriebene Innovationen zu begreifen, mit denen man zusammenarbeiten und möglicherweise die Branche revolutionieren konnte, indem man die Anforderungen der Nutzer zur Basis des Geschäftsmodells machte, ging die Plattenindustrie den umgekehrten Weg, kämpfte gegen diese innovativen Nutzer und krimi-nalisierte eine ganze Generation in ihrem Nutzerverhalten. Doch die Veränderung erwies sich als dauerhaft, ob sie den Firmen nun gefiel oder nicht. Heute sehen wir eine Musikindustrie, die sich in sehr kurzer Zeit grundlegend verändert hat und ihre Gewinne nicht mehr über Platten erwirt-schaftet, sondern über ein neues Geschäftsmodell, das sich aus einer großen Live-Szene sowie aus digitaler Nutzung generiert. Die Menschen hören heute viel mehr Musik als je zuvor, nur auf andere Weise. Mit Spotify16 hat die Musikindustrie ein Modell für den digitalen Vertrieb mit einem moder-nisierten Geschäftsmodell akzeptiert und gefunden: Anstatt eine bestimmte Platte zu besitzen, zahlen die Nutzer jetzt für den Zugang zu Musik „on demand“ über ein Streaming-Modell. Die Nutzung dieser Streaming-Portale (mit zugehörigen Geschäftsmodellen) hat dazu geführt, dass für digital verbreitete Musik zunehmend bezahlt wird und nur noch sehr wenige Menschen ille-gal Musik herunterladen, da die Streaming-Dienste viel einfacher und bequemer zu nutzen sind. Alles ist da, wenn man es will, mit geringem bis gar keinem Aufwand. Das ist Innovation aus der Nutzerperspektive als Teil eines digital getriebenen Wandels und mit Verwendung eines völlig neuen Modells, um neuen Bedürfnissen und Verhaltensweisen gerecht zu werden. Spotify wurde wohlgemerkt nicht von der Musikindustrie entwickelt, sondern von einem Nutzer, der eine Zusam-menarbeit mit der Musikindustrie für wirtschaftlich vorteilhafter hielt als ein Vorgehen gegen sie, da er die technischen Möglichkeiten erkannte, die eine Zusammenarbeit mit den großen Labels mit sich bringen würde, auf deren Inhalte sich viele einen Zugriff wünschten.

5. ANGEWANDTE COLLABORATION

DURCH COLLABORATION DIE PUNKTE VERBINDENIm Kern beruht die collaboration auf der Nutzbarmachung von Beziehungen. Durch das Knüp-fen von Netzwerken lassen sich die Beziehungen aufbauen, die erforderlich sind, um mit ande-ren in Kontakt zu treten, wenn wir neuen Input, neue Ideen und gemeinsame Anstrengungen brauchen. Netzwerken im linearen, traditionellen Sinne ist allerdings etwas völlig anderes. Das Verteilen von Visitenkarten bei Zusammenkünften oder das Knüpfen von Geschäftskontakten

16 Siehe https://www.spotify.com.

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35 bei Networking-Veranstaltungen zielt in der Regel eher auf Kooperation oder den Transfer von Leistungen ab als auf collaboration. Um collaboration zu ermöglichen, ist Netzwerken in dem Sinne erforderlich, dass Beziehungen aufgebaut werden, die sich für den Austausch von Wissen und Ideen sowohl innerhalb eines Wirtschaftszweigs als auch branchenübergreifend nutzen lassen. Um diese Beziehungen in dem Kontext nutzbar zu machen, in dem collaboration und Innovation ermöglicht werden sollen, müssen wir ein geeignetes Umfeld und Zusammenkünfte schaffen und moderieren, wir müssen die Begegnungsorte schaffen, an denen sich die Punkte verbinden können.

Innovation beruht ebenso wie collaboration auf Beziehungen. Bei Media Evolution ist das die Basis für alles, was wir tun. Durch das Schaffen und Bereitstellen von Begegnungsorten, Projek-ten und Prozessen unterschiedlicher Art ermöglichen wir den Menschen das In-Verbindung-Tre-ten, Zusammenarbeiten, Teilen und die Innovation. Die Gruppe selbst ist eine Organisation mit 370 Mitgliedern aus dem privaten, öffentlichen und Hochschulsektor (Tripelhelix), die auf der Überlegung basiert, dass Innovation das Produkt von Beziehungen ist. Doch Innovation pas-siert nicht einfach von selbst. Dass die Mitglieder als Teil eines Netzwerks, Media Evolution, zusammenkommen, ist das eine – die Möglichkeiten, die aus ihrer Verbindung in einem Netzwerk entstehen, sind das andere. Unsere Rolle als Netzwerkmoderatoren und Vermittler ist wesent-lich dafür, dass die Beziehungen funktionieren, sodass unsere Mitgliederzahl wächst und unser Geschäft sich weiterentwickelt. Der Unterschied zwischen Media Evolution und anderen Gruppen und Netzwerken liegt vermutlich in der Art und Weise, wie wir das tun. Von Anfang an haben wir die Arbeit nicht als öffentliche Top-down-Initiative durchgeführt, sondern von unten nach oben. Wir konzentrieren uns darauf, wie wir das Zusammentreffen der Ideen und Kompetenzen unserer Mitglieder moderieren können, damit innovative collaboration entstehen kann und Überschnei-dungen zwischen Branchen gefördert werden. Unsere Aufgabe besteht darin, die Art von Treffen und Projekten einzurichten, die niemand sonst einrichten kann oder will, die für die Teilnehmer wie für die Branche einen Unterschied ausmachen. In unserem Fall sind wir bei dem In-Verbin-dung-Bringen recht unterschiedlicher Mediensektoren über die Jahre so vorgegangen, dass wir die sie verbindenden relevanten Fragen bzw. Herausforderungen herausgearbeitet haben; die Art komplexer Fragen, bei denen man mit anderen zusammenarbeiten muss und will, um sie lösen bzw. verstehen und entsprechend handeln zu können. Wir denken ständig neu darüber nach, wie wir das auf bestmögliche Weise machen können, um sicherzustellen, dass die Prozesse der collaboration zu einem maximalen Ergebnis führen: Durch die collaboration mit unseren Kunden erfinden wir den Prozess ständig neu.

In der Vermittlerfunktion zwischen verschiedenen Kompetenzen und der Moderation bedeutsa-mer Zusammenkünfte zwischen unterschiedlich denkenden Teilnehmern liegt die zentrale Stärke und Geschäftsstrategie von Media Evolution; nicht nur für das In-Verbindung-Bringen von Unter-nehmen und Ideen, sondern auch für die Entwicklung von Produkten und Dienstleistungen, die für unsere Kunden relevant und nützlich sind. Zwei gute Beispiele dafür, dass collaboration die Grundvoraussetzung für eine gute Geschäftsentwicklung darstellt, sind für uns unsere beiden Vor-zeigeprojekte und Begegnungsorte Media Evolution City und Media Evolution: The Conference.

Media Evolution City17 ist ein Gebäude in Malmö, Schweden, in dem jeden Tag rund 500 Menschen in mehr als 100 Unternehmen arbeiten und sich außerdem Sitzungsräume und ein Restaurant befinden. Wichtiger ist jedoch, dass es ein Ort für gemeinsames Arbeiten und ein Begegnungs-ort ist, an dem neue Verbindungen und Netzwerke geknüpft werden können. Allein dadurch, dass man Räumlichkeiten mit den Kompetenzen anderer Unternehmen teilt – sei es nun bei einem Kaffee, auf dem Flur, bei unseren After-Work-Events oder bei geplanten Zusammenkünf-ten – kommen die Menschen in Kontakt. Als wir erstmals die Idee eines Ortes vorstellten, an dem Büroflächen und Ressourcen gemeinsam mit den Mitbewerbern genutzt werden, wurde

17 Siehe http://www.mediaevolutioncity.se/en/.

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sie von den Medienunternehmen allerdings nicht besonders gut aufgenommen. Warum sollten sie in unmittelbare Nähe zu ihren Mitbewerbern ziehen und einen höheren Quadratmeterpreis bezahlen? Die Antwort lag in dem Aspekt der collaboration selbst. Dank unserer Beziehungen zu verschiedenen Medienunternehmen konnten wir sie dazu bringen, ihren Bedarf hinsichtlich der Arbeitsbereiche und der Art ihrer Verbindung zu prüfen, und davon ausgehend über Crowd-sourcing eine Geschäftsidee und ein Konzept für einen Begegnungsort entwickeln, die auf den tatsächlichen Bedürfnissen und Möglichkeiten der Branche basierten. Durch die Möglichkeit zur engen collaboration mit der Baufirma sowie dem Stadtplanungsamt waren wir außerdem in der Lage, den Bedarf der Wirtschaft (nicht an neuen Standorten, sondern an intelligenten Arbeitsbe-reichen und Verbindungen zu anderen Kompetenzen) mit dem Wunsch der Stadt, ein neues Areal für die Ansiedlung einheimischer Kreativunternehmen und Talente zu entwickeln, und der Anfor-derung der Baufirma, ein Gebäude in einer Gegend zu errichten, in der die Kreativwirtschaft wirk-lich sein wollte, verbinden. Dem Bauunternehmen war das allein nicht möglich, denn es verfügte weder über die erforderlichen Beziehungen zur Medienindustrie noch über die organisatorische Struktur oder ein Geschäftsmodell, das collaboration und das Entstehen innovativer Lösungen zuließ. Es war jedoch interessant, während des ganzen Prozesses von dem Bauunternehmen zu lernen. Media Evolution entwickelte das Konzept in Zusammenarbeit mit der Branche, und somit war der Gedanke, „Teil von Media Evolution City zu sein“, eine voll ausgebildete Idee, noch bevor das Gebäude vollendet war. Bei Fertigstellung war also bereits jeder Büroplatz belegt. Da wir um die Notwendigkeit von Flexibilität wussten, wurde das Gebäude so geplant, dass es den sich ver-ändernden Bedürfnissen der Unternehmen angepasst ist und sie nicht ausziehen müssen, sondern stattdessen innerhalb des Gebäudes umziehen können. Das ist Innovation durch collaboration und gleichzeitig ein nachhaltiges Geschäftsmodell. Die Nutzung unseres ausgedehnten Netzwerks war die Basis für die Verbindung dieser Anforderungen, und die Bereitstellung eines Rahmens für die collaboration sowie das Festhalten der Lösungen, die aus dem Crowdsourcing-Prozess hervorgingen, bildeten die Methode und den Schlüssel für die Umsetzung. Das ist nach wie vor das Geschäfts- und Entwicklungsmodell von Media Evolution City.

“MEDIA EVOLUTION CITY – OFFICE: FIRST FLIGHT” BY SEBASTIAN BORG, ATTRIBUTION-SHAREALIKE 2.0 GENERIC LICENSE (CC BY-SA 2.0)

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Im Lauf der Jahre wurde unser Begegnungsort The Conference18 zur wichtigsten internationalen Konferenz über gesellschaftliche Entwicklungen aus einer Medien- und Digitalisierungsperspek-tive in Skandinavien. Media Evolution: The Conference wurde bereits vor einigen Jahren in klei-nerem Rahmen und in einem anderen Format begonnen und entwickelte sich seitdem als Folge des ständigen Nachdenkens darüber, was wir tun, warum und wie wir es tun, weiter. Eine unserer wichtigsten Entscheidungen, die direkten Einfluss auf die Ausweitung von The Conference hatte, bestand darin, unsere Nutzer in die Gestaltung von Inhalt und Programm mit einzubeziehen. Wie vermutlich auch viele andere Unternehmen und Konferenzen haben wir eine Beratergruppe, die uns bei dieser Aufgabe unterstützt. Der Unterschied besteht darin, dass unsere Gruppe kein feststehendes, etwa zehnköpfiges Team ist, das sich regelmäßig zu festgelegten Zeiten trifft, son-dern eine Facebook-Gruppe mit derzeit mehr als 200 aktiven Mitgliedern, die täglich zu unserer Entwicklungsarbeit beitragen. Die Zusammenarbeit mit unserem Netzwerk als Mitgestalter hat die Entwicklung eines einzigartigen Produkts ermöglicht, das wir allein niemals hätten entwi-ckeln können. Damit geht einher, dass die Beteiligten sich dafür zuständig fühlen, wobei frühere Redner und Teilnehmer unsere größten Fans sind, was großartige Werbung bedeutet und uns in die Lage versetzt, mit ihren Kompetenznetzwerken in Verbindung zu treten. Wir alle wissen, dass die persönliche Empfehlung von jemandem, dem wir vertrauen, ausschlaggebend dafür ist, wie wir die Angebote wahrnehmen, die wir erhalten. Durch die Möglichkeit zur Verbindung mit einem größeren Netzwerk, zum Knüpfen neuer Kontakte über die bereits bestehenden und zum sorg-samen Umgang mit unseren Netzwerken als Entwicklungsressource wird The Conference jedes Jahr größer und interessanter.

Ein drittes Beispiel dafür, dass Netzwerken, Vermitteln und das Zusammenbringen von unter-schiedlich denkenden Menschen die Basis für collaboration und Innovation bilden, zeigt sich in unserer Arbeit mit anderen Sektoren und Branchen. Wir glauben, dass die Digitalisierung der Gesellschaft nicht nur Auswirkungen auf die Medien- und Kreativwirtschaft hat, sondern auch

18 Siehe http://www.theconference.se.

“MEDIA EVOLUTION CITY – FIX DESK MEDIESKOGEN” BY SEBASTIAN BORG, ATTRIBUTION-SHAREALIKE 2.0 GENERIC LICENSE (CC BY-SA 2.0)

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38 auf andere Wirtschaftszweige. Das Tor zur Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen auf Grundlage der neuen digitalen Verhaltensweisen der Nutzer liegt an der Schnittstelle zwischen diesen verschiedenen Branchen. Ein sehr interessanter und aktueller Entwicklungsbereich in die-sem Zusammenhang ist die Digitalisierung der Kultur. Dieser Bereich birgt viel Potenzial, nicht nur bezüglich der Digitalisierung bestehender kultureller Ausdrucksformen, sondern mehr noch in Hinblick auf das Schaffen neuer Formen von Kultur und ihre Bereitstellung auf mehr Platt-formen.19 Wir arbeiten bereits auf Hochtouren an einer Reihe von Projekten in diesem Bereich. Einige Beispiele dafür: Wir sind an der Entwicklung der regionalen Strategie zur Digitalisierung der Kultur beteiligt (verbunden mit dem Ziel, bis 2020 Europas innovativste Region zu werden); wir moderieren den Prozess der collaboration für die Digitalisierung des Kulturerbes rund um einen öffentlichen Fußweg; wir arbeiten mit einer Baufirma zusammen, um eine Plattform für die Produktion und Präsentation digitaler Kultur in einem öffentlich zugänglichen Raum eines neuen Gebäudes zu schaffen; wir kooperieren mit einem Museum, um neue Wege der physischen wie digitalen Interaktion mit den Besuchern zu entwickeln. Die Entwicklung digitaler Kultur kann jedoch nur an der Schnittstelle zwischen kulturellen und digitalen Kompetenzen entstehen. Die Digitalisierung der Kultur wird nicht auf einer Seite allein erfolgen, da jeder Seite die ganzheitli-chen Einsichten und Interessen fehlen, die erforderlich sind, um die Möglichkeiten sowohl für den Inhalt als auch für die Verbreitung zu sehen. Wir sind dabei, einen neuen Markt aufzubauen, auf dem neue Lösungen nur dann gedeihen können, wenn digitale und kulturelle Produzenten harmo-nisch zusammenarbeiten, am Know-how des jeweils anderen teilhaben und neue Wege zur Arbeit mit und Bereitstellung von Kultur finden, sie innovativ verändern.

RAHMEN FÜR COLLABORATIONCollaboration ist ein menschliches Verhalten, das heute die wirtschaftliche ebenso wie die gesell-schaftliche Entwicklung vorantreibt. Diese Art des Arbeitens ermöglicht und verlangt ein Neuden-ken der Strukturierung und Organisation von Dingen. Sie betrifft sowohl die Geschäftsmodelle als auch die für die Geschäftsentwicklung bereitgestellten Fördermodelle. Das wiederum hat Auswir-kungen auf unsere Organisationsmodelle.

Die Veränderungen sind heute eindeutig für die Kultur- und Kreativwirtschaft relevant, haben aber auch großen Einfluss auf andere Branchen, nicht nur im öffentlichen Sektor. Das geänderte Nutzerverhalten zwingt uns zu überdenken, was wir anbieten und wie wir das tun, um die beste-henden Möglichkeiten ergreifen zu können. Bei der Arbeit an Entwicklungsstrukturen für die KKW im öffentlichen Sektor wurde sehr deutlich, dass es zur umfassenden Erfüllung der Bedürfnisse dieses Wirtschaftszweigs branchenübergreifender Zusammenarbeit bedarf. Die Kultur- und Kre-ativwirtschaft ist weder reine Kultur noch reines Geschäft, sondern beides, und steht in enger Beziehung zu Tourismus und Stadtentwicklung. Die Logik der Kreativbranche hat die Förder-einrichtungen gezwungen, ihre Angebote und Methoden zu überdenken. Da wir uns in einem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel befinden, werden die geschäftlichen Herausfor-derungen, die Logik und die Voraussetzungen, mit denen heute die KKW konfrontiert ist, morgen auch für andere Branchen relevant sein. Wir müssen die Bedürfnisse der Kreativwirtschaft und die Fördermodelle, die wir dafür aufgestellt haben, als einen Weg betrachten, wie wir in Zukunft die Geschäftsentwicklung in jeder anderen Branche fördern können und werden. Der Wandel fin-det statt, komplexe Herausforderungen entstehen. Es werden auch Fragen aufgeworfen, auf die innerhalb der bestehenden Rahmen und Systeme keine Antworten gefunden werden können. An diesem Punkt müssen wir uns um Kontakt mit anderen Denkweisen und Perspektiven bemühen. Hier bereitet collaboration den Weg für echte Innovation. Kunden und Mitarbeiter werden das for-dern, die Systeme werden es verlangen und ein Rahmen für die collaboration macht es möglich.

collaboration impliziert neue Arbeitsformen. Sie erfordert eine Einstellung, die offener dafür ist,

19 Für weitere Informationen siehe eine Zusammenfassung unseres runden Tisches zu dem Thema http://mediaevolution.se/nyheter/2013/06/rundsbordssamtal-digital-culture-roundtable.

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39 davon abzuweichen, wie die Dinge normalerweise getan werden. Sie ist ein stärker zirkulärer Prozess, der von den traditionellen linearen Systemen und ihrer Logik insofern abweicht, als er in Verbindung mit Netzwerken und Nutzern immer wieder in einen fortlaufenden Entwicklungspro-zess einmündet. Dazu gehört das Arbeiten mit Andersdenkenden, was nicht nur bedeutet, ihren Input anzuhören, sondern sie als Mitgestalter einzubinden, um eine bessere und individuellere Lösung zu finden. Dazu ist es nötig, in einem offenen, demokratischen Prozess zu arbeiten, in dem jedermanns Stimme gleichen Wert hat und alle ihr Teil zu einem größeren Puzzle beitragen. Das bedeutet, dass wir bisweilen auf Kontrolle im herkömmlichen Sinne, also auf das Planen, zu welchen Ergebnissen wir schließlich gelangen werden, verzichten müssen.

Nicht zu vergessen ist aber die Anforderung, dass wir die Menschen dazu bringen, Zeit und Mühen beizutragen. Wie Clay Shirky (2010) in seinem Buch Cognitive Surplus am Beispiel von Wikipedia zeigt, machen die Rahmen für collaboration es möglich, dass Menschen in Beziehung treten, sich verbinden und sich beteiligen. Das bringt uns dazu, unsere Zeit und Mühen zur Verfügung zu stellen. Wie die Vögel auf Koordination beruhende Flugmuster brauchen, um als Einheit funkti-onieren zu können, so brauchen wir Menschen Rahmen oder Regelwerke, die festlegen, wie wir miteinander und mit der Aufgabe umgehen, damit etwas entstehen kann. Das wiederum schafft neue Arten der Organisation eines Teams, sodass sich collaboration weiter entwickeln kann.

Das Setzen von Rahmen, mit denen die Menschen in Beziehung treten und an denen sie sich bewusst beteiligen können, ist wesentlich für den Erfolg der collaboration. Meine Kollegen bei Media Evolution und ich betrachten es als unsere wichtigste Aufgabe und als etwas, das ständig neu entwickelt wird: Learning by Doing und collaboration. Bei unserer Arbeit haben wir einiges darüber gelernt, wie wir den Beteiligten diese Rahmen für collaboration bereitstellen können, darunter die folgenden Punkte:

DIE UNTERSCHIEDE NUTZEN. NEHMEN SIE SICH sowohl bei der Planung als auch bei der Moderation des Treffens ZEIT FÜR DIE ÜBERLEGUNG, welche Kompetenzen, Perspektiven und Erfahrungen der Beteiligten Sie ZUSAMMENBRINGEN WOLLEN. Sorgen Sie dafür, dass sie sich gegenseitig ergänzen, und achten Sie darauf, wie Sie verschiedene Branchen, Sektoren, Geschlechter, Altersgruppen, Hintergründe usw. zusammenbringen können; nicht nur, damit bestimmte Gruppen vertreten sind, sondern weil bessere Ergebnisse erreicht werden, wenn ver-schiedene Denkweisen und Fachwissen zusammenkommen.

BEGEGNUNGSORTE GESTALTEN, AN DENEN UNTERSCHIEDLICH DENKENDE MENSCHEN ZUSAMMENKOMMEN, DENKEN UND GEMEINSAM ETWAS ERSCHAF-FEN KÖNNEN. Betrachten Sie die Teilnehmer als Menschen, die einen guten Grund und einen vernünftigen Rahmen dafür brauchen, ihre Zeit und Mühen einzubringen, und die Methoden brau-chen, um die Punkte verbinden zu können. Nehmen Sie sich Zeit dafür, (immer wieder) darüber nachzudenken, auf welche Weise der Rahmen bereitgestellt werden muss, damit es zu collabora-tion kommt, und wie Sie einen Prozess gestalten können, an dem die Menschen sich voll beteiligen wollen und können und in dem sie Ideen teilen und darauf aufbauen.

DIE EINIGENDEN FRAGEN FINDEN, die dafür sorgen, dass die Menschen sich gemeinsam mit anderen beteiligen wollen und müssen – die komplexen Herausforderungen, die innerhalb des bestehenden Systems oder Kontexts nicht gelöst werden können. Bemühen Sie sich darum, zu sehen, was die Fragen tatsächlich beinhalten, und ermöglichen Sie es den Teilnehmern, sie ebenfalls zu verstehen und zu entwickeln.

SICH DARAUF EINLASSEN. SICHERSTELLEN, DASS DER PROZESS DURCHGÄNGIG TRANSPARENT UND OFFEN IST, damit die Menschen zur Co-Creation bereit sind. Dadurch wird eine gemeinsame Zuständigkeit für den Prozess ermöglicht. Dass Sie sich öffnen und teilen, ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass es auch Ihre Teilnehmer tun. Geben, um zu bekommen,

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40 und nehmen, um zu geben – das gilt für alle, für die Teilnehmer ebenso wie für die Case Owners und die Moderatoren. Machen Sie es gemeinsam.

DURCH OFFENHEIT DIE ENTSTEHUNG VON NEUEM ERMÖGLICHEN. Hören Sie zu und seien Sie offen für das, was bei der collaboration geschehen kann. Der Prozess führt mögli-cherweise zu etwas anderem als dem, woran man ursprünglich gedacht hatte. Der Verzicht auf das Gefühl von Kontrolle und Macht ist wesentlich dafür, die Entstehung neuer Lösungen zu ermöglichen. Stellen Sie sicher, dass der Prozess der collaboration so gestaltet ist, dass er auf Neues achtgibt, das unterwegs entsteht, sodass sicher ist, dass ein gemeinschaftliches Ergebnis erzielt wird, nur nicht, wie dieses Ergebnis aussehen wird.

REFERENZEN

Scharmer, O., 2013. THEORY U: LEADING FROM THE FUTURE AS IT EMERGES. Ber-rett-Koehler Publishers: San Francisco.(auf Deutsch erschienen unter dem Titel: THEORIE U: VON DER ZUKUNFT HER FÜHREN.)

Shirky, C., 2010. COGNITIVE SURPLUS: CREATIVITY AND GENEROSITY IN A CONNEC-TED AGE. New York: Penguin Press, 2010.

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42 „ES IST NICHT ZEIT FÜR EINE REVOLUTION, SONDERN FÜR EVOLUTION.“ GIORGIA BOLDRINIGiorgia Boldrini studierte an der Universität Bologna zunächst Architektur, bevor sie an die Fakul-tät für Schauspiel, Kunst- und Musikwissenschaften (DAMS) wechselte. Dort schloss sie das Stu-dium der Theaterwissenschaften mit einer Arbeit über die Rolle des Theaters in der Stadt in den „Architekturtraktaten“ der Renaissance ab. Als sich Umberto Eco dazu entschloss, eine Graduier-tenschule für Verlagswesen in Bologna zu eröffnen, weckte dies das Interesse von Giorgia Boldrini, denn die Schule suchte nach neugierigen Menschen und nicht nach Spezialisten für ein Fachge-biet. Nach Abschluss ihres Masterstudiengangs „Verlagswesen“ landete sie eher durch Zufall, über ein bezahltes Praktikum im Kulturreferat, in der Stadtverwaltung von Bologna, wo sie zunächst mit Theatern zusammenarbeitete und für die Förderung junger Künstler verantwortlich war. Seit dem Jahr 2000 ist Giorgia Boldrini auch für die öffentliche Zentralbibliothek und die Cineteca di Bologna tätig und am Management sektorübergreifender Projekte und internationaler Netzwerke beteiligt. Im Zuge der Entwicklung eines neuen Förderprogramms für Kultur- und Kreativschaf-fende („IncrediBOL!“) wechselte sie ins Referat Wirtschaft und Stadtmarketing der Stadt Bologna. Derzeit arbeitet sie außerdem gemeinsam mit einem Dichter und einem Videofilmer für eine NGO und produziert Videogeschichten in Form audiovisueller Karten, die Identitäten und Territorien erforschen. Sich selbst bezeichnet sie gerne als „Kreativagentin “. Während ihrer Tätigkeit im Bereich der Förderung junger Künstler stellte Giorgia Boldrini fest, dass die Vorgehensweise des öffentlichen Sektors mit seinen zeitlich begrenzten Auszeichnun-gen, Preisen, Stipendien und Projektzuschüssen nicht nachhaltig war und diese Instrumente die Situation der Künstler nicht langfristig verbesserten. Vielmehr blieben die Künstler in einer Art Subventionsspirale hängen, die es ihnen erschwerte, der Logik der rein öffentlichen Unterstüt-zung zu entkommen, echte Innovationen zu schaffen und sich weiterzuentwickeln. Der öffentliche Kultursektor, zumindest in Italien, hatte bis dahin einen eher paternalistischen Ansatz verfolgt und vorgegebene Formate, wie z. B. Künstlerresidenzen, angeboten. Deshalb erarbeitete Giorgia Boldrini ein Förderprogramm, das den Menschen erlauben sollte, sich weiterzuentwickeln und einen Prozess in Gang zu setzen, der die Fördersysteme nach und nach veränderte. Die Stadt lud Künstler zu Wettbewerben ein, bei denen sie als Agenten fungieren und auch mit dem privaten Sektor Kontakt aufnehmen mussten. Unter dem Motto „Geld ist vorbei“ führten Giorgia Boldrinis Aktivitäten schließlich zu dem Förderprogramm „IncrediBOL“, das 2013 italienischer Gewinner des Unternehmensförderpreises war und für den Europäischen Unternehmensförderpreis (European Enterprise Promotion Award) nominiert wurde.

In ihrem Beitrag zum Booksprint zeigt Giorgia Boldrini die Bedingungen und Herausforderungen auf, die zu den Veränderungen im öffentlichen Fördersystem für Kultur- und Kreativschaffende sowie Künstler in Bologna1 geführt haben. Ihr Kapitel ist ein Plädoyer für die Notwendigkeit, auch aufseiten der Unterstützer innovativ zu sein, wenn es darum geht, Innovationen zu fördern und Wachstum zu ermöglichen.

(Josephine Hage)

1 Anm. d. Übers.: im Ausgangstext befindet sich ein Punkt nach „cultural and creative professionals“, dann folgt das unvollständige Stück „artists in Bologna.“

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43 VOM „SCHÖPFER“ ZUM „KREATIVEN“:ERFAHRUNG NEUER IDENTITÄTEN UND FÖRDERMODELLE IM ZEITALTER DER KKW

GIORGIA BOLDRINI

EINFÜHRUNG

Die Bedeutung der Kultur- und Kreativwirtschaft (KKW) für den öffentlichen Sektor nimmt in Europa immer weiter zu, was noch vor zehn Jahren nicht abzusehen war. „Dank“ der anhaltenden schweren Rezession, in der wir uns derzeit befinden, stecken unsere wichtigsten traditionellen Wirtschaftszweige in einer tiefen Krise, sodass neue Entwicklungsfelder gefragt sind. Zahlreiche weitere, mehr oder weniger damit zusammenhängende Faktoren1 zwangen Europa, die Staaten, Regionen und Städte in den vergangenen Jahren, schnell Grundsätze, Strategien und Aktionen zur Stärkung der KKW festzulegen, die sie als Schlüsselsektor für die zukünftige Wirtschaft und Identität Europas betrachten.

Gleichzeitig ist die Identität der Branche und ihrer Akteure einer ständigen und schnellen Ent-wicklung unterworfen: Die zweifache Identität von Kultur und Kreativität – auf der einen Seite überwiegend klein, den sogenannten freien Künsten zugewandt und nach wie vor stark auf staat-liche Finanzierung angewiesen, auf der anderen Seite marktorientiert und sich selbst tragend (wobei die Situation natürlich in Wahrheit viel komplexer ist) – spiegelt sich darin wider, dass das Thema KKW auf europäischer Ebene aus verschiedenen Blickwinkeln behandelt wird, sowohl von der Generaldirektion der Europäischen Kommission Bildung und Kultur als auch von der Generaldirektion Unternehmen und Industrie sowie bisweilen von anderen Abteilungen wie der Generaldirektion Forschung und Innovation – Blickwinkel, die wohl zunehmend miteinander ver-flochten sein werden. Ob es sich dabei um ein dauerhaftes Phänomen handelt oder nur um einen vorübergehenden Aufschwung, wird anhand der Ergebnisse festzustellen sein, die die KKW in den kommenden Jahren erreichen wird.

Auf den nächsten Seiten möchte ich über meine Erfahrungen in der kommunalen Verwaltung eines Landes am Rande Europas berichten und hoffe, dass der eine oder andere Leser aus die-sem Praxisbeispiel Ideen, Hinweise und hoffentlich neue Vorschläge entnehmen kann, die sich anderswo umsetzen lassen …

MEINE GESCHICHTE: BOLOGNA, ITALIEN, IM VERGANGENEN JAHRZEHNT

Ich begann im Jahr 2000 für den Kultursektor der Stadt Bologna zu arbeiten. Bologna ist eine ziemlich reiche Stadt mit einem mittelalterlichen Stadtzentrum und rund 380.000 Einwohnern. Sie liegt in der Region Emilia-Romagna, am Kreuzungspunkt zwischen Florenz (100 km), Mailand (200 km) und Venedig (160 km), im Herzen Italiens. Die Bevölkerung ist relativ „alt“, es gibt jedoch etwa 85.000 Studenten in der Stadt, die altersmäßig ein Gegengewicht darstellen und für eine lebendige Atmosphäre und Kulturszene sorgen.

Die Emilia-Romagna war schon immer ein Nährboden für neue Entwicklungen in den Bereichen Politik, Gesellschaftsmodelle, Kultur und Industrie; eine reiche Region, die von jeher nicht nur für ihr „Brot“, sondern auch für ihre „Rosen“ gepriesen wurde.

1 Unter anderem die Infrastruktur der Informations- und Kommunikationstechnik (IKT), die das Entwickeln kreativer Produkte und Dienstleistungen online ermöglicht, verbunden mit niedrigen Gründungskosten und der „sauberen“ Identität kultureller und kreativer Arbeitsplätze – absolut umweltfreundlich.

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44 Im Jahr 2000 war Bologna europäische Kulturhauptstadt, doch im selben Jahr vollzog sich im Stadtrat eine 180°-Wende: 1999 wurde Bologna, „la Rossa“ (die Rote) – so genannt natürlich wegen der Farbe der mittelalterlichen Backsteine, aber mehr noch wegen ihrer politischen Farbe – mit einer Bürgerliste unter Führung des früheren Präsidenten der Handelskammer erstmals weiß.Ich kam über ein Praktikum im Rahmen eines postgradualen Studiums in die Stadtverwaltung, das ich kurze Zeit nach meinem DAMS-Studium an der hiesigen Universität abgeschlossen hatte, die als die älteste Europas gilt. Die Abkürzung DAMS steht für „drama, art and music studies“ (Thea-ter-, Kunst- und Musikwissenschaften). Als erste italienische Institution ihrer Art bot die Universität Bologna ab 1968 einen solchen Studiengang an, an dem Persönlichkeiten wie Umberto Eco und viele andere bedeutende Namen aus der künstlerischen und intellektuellen Avantgarde Italiens beteiligt waren. Innerhalb kürzester Zeit entwickelte sich DAMS zu einem Experimentierfeld für Kunst und Kultur und wurde zum Synonym für ein neues Hochschulmodell – mit dem Lebensstil der Bohème und einem Flair von „sex, drugs and rock ‘n’ roll“, angesiedelt in einer dynamischen Stadt – das Begabte aus ganz Italien anzog und wesentlich dazu beitrug, dass Bologna zu einem legendären Ort für aufstrebende Künstler aller Bereiche wurde.

Die Stadt Bologna, bereits ein Vorbild für „gute Verwaltung“, maß dem Thema aufstrebender Talente große Bedeutung bei und legte Förderprogramme für junge Künstler auf, die mit nationa-len und internationalen Netzwerken und Programmen verbunden waren. Es war ein sehr überzeu-gendes Modell, das von Fachleuten betrieben wurde und speziell auf die Charakteristika der Stadt zugeschnitten war, jedoch nur in wohlhabenden Zeiten funktionieren konnte. Der Status der euro-päischen Kulturhauptstadt 2000 markierte vielleicht den Höhepunkt dieser wohlhabenden Zeiten: Zuschüsse, Veranstaltungen, riesige Produktionen und neue Veranstaltungsorte gaben der städti-schen Kulturbranche die Illusion, die Stadtverwaltung könne die Kosten für die riesige Produktion und das Angebot an Kunst und Kultur tatsächlich langfristig aufbringen. Die Kulturförderung wurde damals im Grunde als zufriedenstellend betrachtet. Die Ausgaben für Kultur waren hoch, und unter den italienischen Kulturangeboten sowie für das Publikum rangierte Bologna an vorderster Stelle.

Dennoch war klar, dass die Stadt nicht die richtigen Grundsätze und Strategien entwickelt hatte, um Nachhaltigkeit und langfristige Effekte zu gewährleisten; von jenem Jahr an gingen die Aus-gaben für Kultur zurück, die gewährten Zuschüsse wurden jedes Jahr geringer, die Gebäude, die die Stadt geplant hatte, blieben unvollendet oder nur teilweise genutzt. Die Stadt wurde von politischer Instabilität gebeutelt, und der Kultursektor verfiel langsam, bis ihm die wirtschaftliche Rezession am Ende des zurückliegenden Jahrzehnts schließlich den letzten Schlag versetzte.

„DAS GELD IST AUS!“ – DAS PROJEKT INCREDIBOL!, EIN NEUES FÖRDERMODELL FÜR DIE KULTUR- UND KREATIVBRANCHE

Das Modell wurde im vergangenen Jahrzehnt zur Förderung von Kunst und Kultur eingerichtet und trug dazu bei, dass Bologna der perfekte Ort zum Studieren wurde. Die Stadt bot die ideale Bühne für das Debüt italienischer (und nicht nur italienischer) Kreativer, doch das Umfeld hatte sich grundlegend verändert. Am Ende des Jahrzehnts war klar, dass ein neues Fördermodell für die Branche benötigt wurde.

FAKTOREN FÜR DEN WANDEL:1: Auf der einen Seite stand der wachsende Einfluss der Kulturökonomie, die selbst in Italien, wo die Kunst- und Kulturbranche offenbar konservativer ist als anderswo, einen anderen Blick auf Kunst und Kultur aufzeigte, der stärker mit Management zu tun hat: Was andernorts selbstver-ständlich klingen mag, war in Italien geradezu Blasphemie, und diese Veränderung unterstrich die Bedeutung betriebswirtschaftlicher Kompetenzen, die seitdem von den meisten Kultureinrichtun-gen stets mit Argwohn betrachtet wurden.

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45 2: Außerdem sahen wir einen Wandel in der Identität junger Künstler und Kulturschaffender, die der Veränderung zumeist offen gegenüberstanden und bereit waren, ihre Rollen und Ziele neu zu definieren, weg von der traditionellen Identität des Kultur„schaffenden“ hin zu der weiter gefassten Identität des „Kreativen“, die sich herauszubilden begonnen hatte und so unterschied-liche Personengruppen umfasste wie Künstler, Kulturakteure und Angehörige der sogenannten „Kreativbranchen“. Dieser neue Typus passte nicht mehr in die alten bildungspolitischen und institutionellen Modelle, zumal Kunstwirtschaft und Kultursektor, insbesondere, doch nicht nur in Italien, nach wie vor zu sehr auf Zuschüsse und staatliche Förderung angewiesen waren.Die letzten Teilnehmer an unserem Projekt, die meiner Ansicht nach als repräsentative Versuchs-gruppe für die entstehende kreative Schicht der Stadt betrachtet werden können, lassen sich grob den beiden traditionellen Gruppen der „Kulturschaffenden“ und der „Kreativen“ zuordnen:

– „Kulturschaffende“ stützen sich oft auf einzelne spezifische Talente und sind definiert durch die individuelle Dimension des Schaffens. Charakteristisch für sie sind begrenztes dimensio-nales Wachstum und Schwierigkeiten beim Marktzugang sowie eine angesichts des Versagens der traditionellen Fördermodelle für Start-ups und Unternehmer (traditionelle Businesspläne, Risikokapital usw. sind für sie nicht geeignet) nach wie vor erhebliche Abhängigkeit von staat-licher Finanzierung sowie ein enormer Bedarf an neuen Ausbildungsmodellen und Fördermaß-nahmen;

– „Kreative“ sind enger mit der wirtschaftlichen Dimension und mit Technologien verbunden, die bereits andere Strukturen, Bedürfnisse und Sichtweisen erleben, offener gegenüber dem Markt, von den traditionellen Branchen jedoch nach wie vor nicht ausreichend als wertvolle gleichberechtigte Partner und Innovationstreiber anerkannt. Sie benötigen gute Kontakte, Maßnahmen zur Internationalisierung, Investoren, Business Accelerators.

3: Schließlich mussten wir uns mit dem Problem einer hier ansässigen, sehr lebendigen produkti-ven Szene auseinandersetzen, die nicht in der Lage war, eine wirtschaftlichere oder besser gesagt professionellere Dimension zu übernehmen: Die begabtesten, qualifiziertesten Künstler/Kreativen entschlossen sich nach dem Studium, die Stadt zu verlassen und anderswohin zu gehen, wo es strukturiertere „kreative Ökosysteme“ gibt und die Aussicht auf beruflichen Erfolg besteht (in Italien z. B. Mailand für Design und Mode, Rom für Film und Fernsehen).

Die starke wirtschaftliche Rezession und die veränderten Bedürfnisse dieser jungen kreativen Schicht, die nicht länger Antworten in den ungenügenden staatlichen Fördermodellen fanden, ließen uns über einen alternativen Weg zur Unterstützung des Kultur- und Kreativsektors der Emi-lia-Romagna nachdenken, der auf der Suche nach einem guten Lernumfeld und einer lebendigen Stadtatmosphäre in ihre Hauptstadt Bologna kam.

Das auf diese Bedürfnisse ausgerichtete Projekt, dessen Planung im Jahr 2009 begann, heißt IncrediBOL!, Bolognas kreative Innovation und beinhaltet ein Netzwerk zur Unterstützung von im Kreativbereich Tätigen aus der ganzen Region. Ich bezeichne es gern als einen Fall „frugaler Inno-vation“, eine Bottom-up-Initiative innerhalb des öffentlichen Sektors, die ohne festes Budget, von Tag zu Tag aufgebaut wurde; wir mussten Mittel für den Start des Projekts auftreiben, während unserer Arbeitszeit zusätzliche Zeit für seine Entwicklung finden und während des gesamten Pro-zesses ständig das Format des am Ende neuen, weitgehend nichtfinanziellen Förderprogramms verändern. Die gute Unterstützung durch die Leitungsebene der Stadtverwaltung (d. h. meinen Vorgesetzen Mauro Felicori) sowie die Chance, zusätzliche Mittel für das Projekt zu erhalten, ermöglichte dieses Experiment und im Mai 2010 den Startschuss für die erstmalige Durchführung der offenen Projektausschreibung.

Das Projekt richtet sich an aufstrebende Kultur- und Kreativschaffende und -unternehmer oder Start-ups am Beginn ihrer Karriere und unterstützt sie bei der Geschäftsentwicklung. Die jun-gen Unternehmer können der Gemeinschaft beitreten, indem sie bei der jährlich von IncrediBOL!

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46 ausgelobten offenen Ausschreibung ihr Projekt einreichen. Die vorgelegten Projekte müssen mit der KKW, gemäß der Definition in dem Weißbuch Kreativität des italienischen Kulturministeriums von 2007, verbunden sein.2

Zu Beginn war IncrediBOL! ein kleines,3 hausgemachtes Projekt zur Unterstützung und Förderung des Kultur- und Kreativsektors, das auf einigen neuen Prinzipien beruhte:– Ein aktiverer und informellerer Ansatz der öffentlichen Verwaltung; dazu gehörte unter ande-

rem die Einbeziehung Studierender des postgradualen Studiengangs Kulturökonomie in Form bezahlter Praktika (von 2010 bis 2013 arbeiteten sechs Personen in unserem Büro), die für die Teilnehmer an den Projektausschreibungen, zum besseren Verständnis ihrer Bedürfnisse, als Moderatoren und Tutoren sowie durch die Nutzung sozialer Medien und die Organisation von Netzwerk-Events als Förderer fungierten.

– Aufbau einer öffentlich-privaten Allianz, einer Partnerschaft für die Förderung des Kultur- und Kreativsektors auf überwiegend nichtfinanzielle Weise; das bedeutete, private Partner zu finden, die ihre Dienste und Beratung kostenlos anbieten, beispielsweise Anwälte, die an Erfahrungen in der Branche interessiert sind und ihre Unterstützung im ersten Jahr kostenlos anbieten, oder mit dem Netzwerk verbundene Wirtschaftsberater (sowohl selbständige als auch solche, die für andere Einrichtungen tätig sind).

– Bereitstellung maßgeschneiderter Beratung für Kulturschaffende und Kreative, um ihnen dabei zu helfen, die im Bildungssystem zu bestimmten Themen bestehenden Lücken zu füllen; wir organisierten nichtkonventionelle Fortbildungsangebote zu Management, Wirtschaft, Mar-keting usw., nicht um Kreative zu Managern zu machen, sondern um sie für diese Themen zu sensibilisieren und die Aufnahme von Beziehungen zwischen Kreativen und Managern zu befördern, wobei die von den Gewinnern geäußerten Bedürfnisse mit den Angeboten kombi-niert werden konnten, die wir von anderen in der Branche Tätigen erhielten.

– Strategische Nutzung des kulturellen Erbes durch kostenlose Bereitstellung kleiner Ateliers/Räumlichkeiten; in Italien sind die Kommunen oft Eigentümer zahlreicher leer stehender Gebäude, die nicht in bestem Zustand sind, doch die Städte haben nicht das nötige Geld für eine ordnungsgemäße Renovierung. Indem diese Gebäude jungen aufstrebenden Unterneh-mern als Arbeitsräume zur Verfügung gestellt werden, erhalten sie eine Chance, ihr Geschäft an einem realen Ort aufzubauen, wodurch die gesamte Stadt sozialen Zusammenhalt zurück-gewinnt und einige Bezirke sogar kleine Erholungsprozesse erleben.

– Angebot von Leistungen, die über das Finanzielle hinausgehen; beispielsweise sind Kreative unter Umständen sehr aktiv bei der Werbung in sozialen Medien, können jedoch erhebliche Schwierigkeiten haben, die traditionellen Massenmedien zu erreichen. Die Kommune bietet ihnen die Möglichkeit, das Pressebüro der Stadt und freie städtische Räumlichkeiten für die Organisation von Ausstellungen und Veranstaltungen zu nutzen.

– Förderung der Bildung einer regionalen Gemeinschaft von in der KKW Tätigen; dieses Projekt bietet einen „gemeinsamen Platz“ für einen strukturierteren Informationsaustausch zwischen Kreativen, den Aufbau von Zusammenarbeit und Netzwerken, die Sensibilisierung dafür, wie sie mehr Einfluss, Sichtbarkeit und Respekt für ihre Arbeit gewinnen können, die Nutzung der sozialen Medien, Werbung für Veranstaltungen und die regelmäßige Weitergabe von Informa-tionen zu bestehenden Möglichkeiten.

– Lobbyarbeit auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene für die Anerkennung des Potenzials der KKW als Triebkraft für Innovation; 2010 gab es in unserer Region noch immer keine Planungen, Strategien oder Projekte für den Kreativsektor. Nur zwei Jahre später ver-mittelte die umfassende Recherche zum Kultur- und Kreativsektor der Emilia-Romagna einen ersten Eindruck davon.4

2 Siehe http://www.ufficiostudi.beniculturali.it/mibac/multimedia/UfficioStudi/documents/1263201867891_White_paper_Creativity_JUNE_2009.pdf

3 24.000 EUR Gesamtbudget für das erste Jahr, dann 40.000 EUR und für die dritte Auflage 150.000 EUR zuzüglich Personalkosten.

4 Siehe http://cultura.regione.emilia-romagna.it/homepage-1/guarda/Rapporto_CulturaCreativita_19apr2012.pdf, leider nur in italienischer Sprache.

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47 Beim Start des Projekts im Juni 2010 war die Ausschreibung die erste ihrer Art in der Region und eine von sehr wenigen im Land. Mittlerweile hat sich die Lage erheblich verändert, was einerseits positiv ist, da die Anerkennung der Bedeutung des Sektors für die wirtschaftliche und gesell-schaftliche Entwicklung erreicht scheint. Andererseits jedoch kommt es nun häufig zu Über-schneidungen der zahlreichen Ausschreibungen und Möglichkeiten, was dazu führen kann, dass Verwirrung entsteht und die jungen Unternehmer in diesem Bereich sich mehr auf Stipendien und andere Finanzierungsmöglichkeiten verlassen als auf ihre eigenen Ressourcen und Ideen. Ich denke, davor müssen wir besonders auf der Hut sein, denn mittlerweile sollten wir diese Lektion gelernt haben, doch oft sehen wir eine Wiederholung der alten Fehler …

Der Slogan des Projekts, „Das Geld ist aus!“, wies auf die Notwendigkeit für Veränderung hin, für ein neues Modell, in dem die öffentliche Verwaltung mehr als Moderator und Dienstleister auftritt und weniger als Geldverteiler und die Branche sich stärker selbst trägt und sich über ihr Potenzial bewusst ist. Bei der ersten Durchführung der Ausschreibung wurden 89 Projekte aus der ganzen Region eingereicht, der Löwenanteil aus der Stadt Bologna.

Im Jahr 2011, nach den Wahlen, die einen neuen Bürgermeister und gewaltige Veränderungen für die Stadtverwaltung mit sich brachten, zogen IncrediBOL! und ich aus der Kulturabteilung in die Abteilung für wirtschaftliche Entwicklung um. Einerseits kann das als Erfolg betrachtet werden, als eine Art Aufwertung; doch auf der anderen Seite bedeutete es ein echtes Scheitern, zeigte es doch, dass die Herangehensweise an Kultur, wenigstens in der Kulturabteilung von Bologna, immer noch viel stärker auf das alte Modell der Kultureinrichtungen und Veranstaltungen aus-gerichtet war als auf die Förderung inhaltlicher Innovation und kulturellen Unternehmertums. Bemerkenswert ist also, dass ein und dasselbe Thema für eine Abteilung als Priorität betrachtet wurde und für eine andere als nicht so wichtig. Für mich ist dieser Aspekt in hohem Maße abhän-gig davon, wie die allgemeine Politik der Stadt entwickelt und strukturiert ist und wie die Stadt-räte mit branchenübergreifenden und integrierten Ansätzen umgehen. Dieser Faktor ist also eng mit der Einführung neuer Verwaltungsmodelle in den Kommunalbehörden verbunden, die über-nommen werden müssen und mit denen einige Städte in Europa bereits auf die eine oder andere Weise experimentieren. Die Zeit des individualistischen und branchenspezifischen Ansatzes ist vorbei, und wenn, wie ich hoffe, der öffentliche Sektor noch Gewicht hat, gibt es einen dringenden Bedarf an stärker politisch ausgerichteten und gut geführten Verwaltungen.

ZAHLEN UND FAKTEN

In den drei Runden von IncrediBOL! wurden insgesamt 296 unternehmerische Projekte einge-reicht, und 46 davon erhielten als Gewinner, je nach ihren Bedürfnissen, kleine Zuschüsse oder kostenlose Räume, Leistungen, Tipps und Beratung. Bis jetzt lag das durchschnittliche Alter der Empfänger bei 32 Jahren. In der Zusammensetzung der Teilnehmer gab es seit 2010, als die Beiträge hauptsächlich aus der traditionellen Kulturbranche kamen und die meisten Bewerber NGOs waren, deutliche Veränderungen, in der Folgezeit lag der Schwerpunkt mehr auf dem Kreativsektor und der wirtschaftlichen Entwicklung.Die Mehrheit (über 80 %) der sich bewerbenden Einzelpersonen und Organisationen sind im Großraum Bologna ansässig, nur knapp 20 % der Projekte kommen aus der umgebenden Region. Die ausgewählten Projekte decken ein breites Themenspektrum ab, von kulturellen Events bis zu Veröffentlichungen, von kreativen IKT-Leistungen bis hin zu gesellschaftlichen Innovationsprojekten usw.

Im Jahr 2011 gewann IncrediBOL! den nationalen Federculture Special Award für die beste Jugend-kulturpolitik. 2012 wurde es von der Wirtschaftsförderung der Emilia-Romagna als regionales Projekt zur Förderung der KKW umgesetzt (und bildete einen neuen Zweig des Projekts „Emilia

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48 Romagna Start-up“ speziell für den Kreativsektor 5). 2013 schließlich wurde es von der Generaldi-rektion Unternehmen und Industrie der Europäischen Kommission in der Kategorie „Verbesserung der Geschäftsumgebung“ in die engere Auswahlliste für die Europäischen Unternehmensförder-preise (European Enterprises Promotion Awards) aufgenommen, in denen die erfolgreichsten Förderer von Unternehmen und Unternehmertum in Europa identifiziert und anerkannt, die bes-ten politischen Strategien und Praktiken für Unternehmertum präsentiert, das Bewusstsein für den Zusatznutzen von Unternehmertum gefördert und potenzielle Unternehmer ermutigt und inspiriert werden.6

ERFOLGSGESCHICHTEN

An dieser Stelle sollen beispielhaft einige Gewinner der ersten Projektausschreibung vorge-stellt werden, die im Dezember 2010 ausgewählt wurden und ihr Geschäft sowie ihren kreati-ven Stil in den letzten drei Jahren mit tatsächlich sehr wenig Hilfe von IncrediBOL! erfolgreich weiterentwickeln konnten:Vicolopagliacorta7 und Esercizidistile8 sind kleine Designfirmen, die mit Recyclingmaterialien arbei-ten. Sie profitierten beide unter anderem von kostenlosen Atelierräumen. Esercizidistile ist seitdem in größere Räume umgezogen, und das Atelier wurde kürzlich an neue Preisträger vergeben9.

Apparati Effimeri 10 ist ein beeindruckendes Büro für visuelle Gestaltung, gegründet von Federico Bigi und Marco Grassivaro, die in Bologna Kunst studierten und aktive VJs in der hiesi-gen Szene waren. Das Unternehmen ist mittlerweile international tätig, erstellt großformatiges 3D-Mapping für Events und Werbung, Lösungen für Museen und Kulturerbe, virtuelle Szenogra-fie und künstlerische Forschungsprojekte. Als sie die Ausschreibung gewannen, baten sie nicht um Zuschüsse oder Räumlichkeiten, sondern um Rat und neue Geschäftsmöglichkeiten. Wir taten, was uns möglich war, machten Werbung für sie, halfen ihnen, Aufträge aus dem öffent-lichen Sektor zu bekommen, und unterstützten sie bei der Teilnahme an Messen und Events.

Zum Abschluss eine andere Art von Erfolgsgeschichte: Lorelei,11 ein Büro für Sound Design, gegründet im Jahr 2008 von Sara Lenzi, der ein Atelier zur Verfügung gestellt wurde, hatte in Italien Schwierigkeiten, ist jedoch mittlerweile erfolgreich in Singapur tätig!

Weitergehende Informationen zu all unseren Gewinnern befinden sich unter www.incredibol.net.

5 Siehe http://www.emiliaromagnastartup.it/creative.6 Siehe http://ec.europa.eu/enterprise/policies/sme/best-practices/european-enterprise-awards/index_en.htm.7 Siehe http://www.vicolopagliacorta.it/.8 Siehe http://www.saisei.eu (Erfreulicherweise wurde das auf der Webseite zu sehende Werbevideo für Saisei von einem

anderen Gewinner gemacht: www.seiperdue.org).9 Die neuen Nutzer der Räume und jüngsten Gewinner: http://www.studioazue.eu/.10 Siehe http://www.apparatieffimeri.com.11 Siehe http://loreleiproject.com.

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49 ERKENNTNISSE, IDEEN FÜR DIE ZUKUNFT UND EINIGE EMPFEHLUNGEN

Das wesentliche Merkmal des IncrediBOL!-Modells besteht darin, dass es anpassbar ist und in jedem Kontext eingesetzt werden kann (wo im öffentlichen Sektor ein gewisses Maß an Inno-vation erlaubt ist), entweder auf Stadt-/Universitätsebene oder auf regionaler Ebene, wobei die Akteure und ihre Aufgaben sich je nach Kontext unterscheiden können, das grundlegende Format jedoch gleich bleibt. Das ist wohl der Grund dafür, warum ein kleines Projekt so viel Aufmerksam-keit erhielt. Gleichzeitig kann es nicht immer und überall so umgesetzt werden, wie es ist, da es auf maßgeschneiderten Lösungen basiert; es gibt kein festgelegtes Fördermodell, und die Initiativen variieren je nach den Bedürfnissen der Teilnehmer. Dafür bedarf es motivierter Mitarbeiter und eines erheblichen Maßes an Empathie, was im Arbeitsalltag nicht so einfach ist.

In jedem Fall könnte meiner Ansicht nach, in Anbetracht der unterschiedlichen Lage in anderen Regionen Europas, wo die Distanz zwischen dem öffentlichen und kreativen Sektor vielleicht weniger stark ausgeprägt und die Lage des kreativen Sektors, sowohl in wirtschaftlicher als auch in unternehmerischer Hinsicht, besser ist, das generelle Format des Fördermodells überall hilfreich sein.

Das Feedback, das wir aus dem Kultur- und Kreativsektor bekamen, war äußerst positiv. Eine Gewinnerin sagte mir, dass sie zum ersten Mal das Gefühl hatte, Verbündete in der Stadtverwal-tung und unter so hilfreichen Personen wie Anwälten, Steuer- und Wirtschaftsberatern zu haben, denn sie hatte den Eindruck, dass wir auf derselben Seite standen und dieselben Ziele verfolgten. Beamte, Kreative und private Partner auf Augenhöhe an einen Tisch zu setzen, eröffnete eine Chance für die gemeinsame Gestaltung eines Programms, in dem jeder sich beteiligt und in einer Win-Win-Situation die Möglichkeit zur Erweiterung seiner eigenen Kompetenzen, Erfahrungen und seines Wissens hat, wobei der öffentliche Sektor den Zugang regelt.

Somit profitieren nicht nur die Gewinner von diesem Projekt, sondern jeder, der an den Projektak-tivitäten teilnimmt. Die Ausschreibung wird als Anlass wahrgenommen, ernsthaft über ein Projekt nachzudenken, und auch für Teilnehmer, die nicht gewinnen, gibt es viele Möglichkeiten zum Netzwerken und für Fortbildung, sodass sie dennoch von der Förderstruktur profitieren.

Das Projekt hat (wenn auch in kleinem Maßstab) neue Formate für Fortbildungskurse erbracht sowie neue Partnerschaften und ein stärkeres Bewusstsein für eine Branche geschaffen, die, nach-dem sie durch die vormalige Fülle an staatlichen Hilfen und das alte Verständnis von Kunst und Kultur als „zu bewahrenden Schutzraum“ zu sehr verwöhnt wurde, damit begonnen hat, die Mög-lichkeiten zu erfahren, die in einer Verschiebung der Paradigmen liegen können.

Mehr Menschen, als man erwarten würde, sind interessiert an einer aktiven Beteiligung an öffent-lich-privaten Projekten, bei denen der Lohn in der Erfahrung liegt und nur indirekt Einkommen erzielt werden kann, warum also versuchen wir es nicht einfach?

Durch die Entwicklung und Leitung des Projekts konnte ich die Freuden und Leiden kennenlernen, die darin liegen, aus dem öffentlichen Sektor heraus Innovationen zu versuchen. Ich stellte fest, dass es viele Randbereiche gibt, die nicht im Fokus der allgemeinen Politik stehen, in denen man mit neuen Ideen, Projekten und Formaten experimentieren kann (auch wenn ich im Rückblick nicht weiß, wo ich die Kraft dafür hernahm – es war ein täglicher Kampf gegen die Bürokratie).Mit zunehmender Größe des Projekts veränderte sich auch unsere Rolle: In unserer Lobbyarbeit wurden wir stärker, wir diskutierten auf Ebene der Regionalpolitik die Bedürfnisse der Branche, doch ich denke, wir verloren auch manche Vorteile. Das Projekt begann als Versuchsraum, als experimentelles Pilotprojekt, und entwickelte sich in drei Jahren zu einer „Erfolgsgeschichte“ (ich mag das Wort „best practice“ nicht), doch es besteht das Risiko, dass wir in zwar neu aufgelegten, aber dennoch alten Mustern hängenbleiben. Zu Beginn waren wir klein und flink, und in Hinblick

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auf die Ressourcen sind wir immer noch zu klein, doch die zunehmende Größe des Netzwerks hat unsere Effizienz beeinträchtigt, und ich glaube, dass die Koordinationsstelle nicht länger im öffentlichen Sektor eingeschlossen bleiben, sondern von einem Akteur des Kreativsektors über-nommen werden sollte.

Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass das Thema KKW in Europa mittlerweile Mainstream ist, glaube ich, dass wir die Erfolgsgeschichten aus verschiedenen Teilen Europas nicht in Modelle zwängen können, da der gesellschaftliche Wandel gerade erst begonnen hat. Stattdessen bin ich überzeugt, dass die nächste wichtige Herausforderung darin bestehen muss, kleine flexible „Kreativagenturen“ einzurichten, deren Betreiber als Mittelsleute zwischen den Kreativen und den traditionellen Sektoren agieren können sowie als Netzwerkmanager, um den Kreativen bei der Suche nach maßgeschneiderten Lösungen zu helfen und gegenüber dem internationalen Markt für Kunst, Kultur und Kreativität eine kritische Masse zu erreichen.

Ich sehe sie als private Einrichtungen, die auf die Unterstützung des öffentlichen Sektors zählen und von einigen seiner Aspekte profitieren könnten (beispielsweise konnten wir durch die Arbeit an internationalen Beziehungen und städtischen Projekten gute Möglichkeiten für die Empfänger von IncrediBOL! erreichen), jedoch für ihre Existenz so wenig wie möglich auf öffentliche Gelder angewiesen sein sollten. Wenn derartige Maßnahmen noch viel länger in den Händen des öffent-lichen Sektors verbleiben, besteht das Risiko, dass wir in politischen Debatten und Bürokratie steckenbleiben und letztlich den Kontakt mit dem tatsächlichen kreativen Sektor verlieren.

Andererseits können Kunst, Kultur und Kreativität nicht als ein Wirtschaftszweig wie jeder andere betrachtet werden, und wenn diese Projekte vollständig vom privaten Sektor betrieben würden, bestünde ein ernsthaftes Risiko, dass die KKW auf die Aspekte der IKT und einiger weniger weite-rer Themen reduziert würde. Einmal mehr, eine horizontale öffentlich-private Partnerschaft wäre ein guter Ausgangspunkt, und ein Netzwerkmanager, der in der Lage ist, beide zu verbinden, wäre entscheidend für den Erfolg.

Etwas, worum wir den öffentlichen Sektor bitten können und wofür die Strukturfonds ein geeigne-tes Instrument sein können, ist beispielsweise, dem Kreativsektor die Ausübung seines Potenzials

SCHMUCK VON VICOLOPAGLIACORTA ©VICOLOPAGLIACORTA

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51 in Hinblick auf die wirtschaftliche Entwicklung und gesellschaftliche Innovation zu ermöglichen. Die neue Förderperiode 2014–2020 des ESF sollte ein Experimentierfeld für das Ausprobieren neuer, nicht traditioneller Fortbildungsmodelle für die Branche sein, die auf einem interdisziplinären Ansatz und Zusammenarbeit beruhen. Die kürzlich an italienischen Universitäten entstandenen, sogenann-ten „contamination labs“, können als Beispiel für ein solches Modell betrachtet werden, dessen Ziel darin besteht, Menschen mit verschiedenen Hintergründen zusammenzubringen, um Innovation anzuregen. Das Konzept im weitesten Sinne ist insbesondere in Skandinavien gut bekannt.12

Über die italienischen „contamination labs“ heißt es, sie „führen Aktivitäten, Programme und Initiativen durch, die auf die Förderung einer Kultur der Innovation und des Unternehmertums in den Schulen ganz Italiens abzielen. Die Einrichtung von contamination labs an italienischen Universitäten dient der Förderung von Bildung, Mentoring-Programmen, der „Kontaminierung“ verschiedener Disziplinen und dem Hervorbringen innovativer Geschäftsideen 13.“ Die Leitlinien für die Einrichtung von contamination labs wurden 2012 von den beiden italienischen Ministerien für wirtschaftliche Entwicklung und für Universität & Forschung erarbeitet, wobei zwar nicht direkt auf den kreativen Sektor Bezug genommen wird, das Modell selbst jedoch perfekt zu den Cha-rakteristika der Branche passt.14

Derartige Orte sollten nicht nur an Universitäten gedeihen, sondern in jeder Einrichtung, in der Kultur und Kreativität eine zentrale Rolle spielen, beispielsweise in Kunstakademien, Konserva-torien usw. Sie sollten so „weich“ wie möglich bleiben; die Zeit für „harte“ Projekte ist vorbei. In Europa gibt es genügend über Strukturfonds finanzierte riesige „Inkubatoren“, die niemals in der Lage sein werden, Nachhaltigkeit zu erreichen.

STRUKTURFONDS FÜR KULTUR UND KREATIVITÄT

In Hinblick auf Strukturfonds und ihren Nutzen für die Kultur ist die Europäische Kulturagenda: Arbeitsplan für Kultur 2011–201415 ein gutes, wenn auch leicht überholtes Dokument, in dem einige Beispiele aus der vorangegangenen Förderperiode zusammengefasst und Hinweise für die nächste Generation an Finanzierungsmodellen gegeben werden. Die KEA-Studie von 201216 gibt ebenfalls einen guten Überblick.

Und schließlich, soweit wirtschaftliche Nachhaltigkeit und staatliche Hilfe betroffen sind: Sind wir sicher, dass Branchen, die traditionell als gute Geschäftsmodelle wahrgenommen werden, nicht auf staatliche Unterstützung angewiesen sind? Wie steht es denn um Landwirtschaft und Auto-mobilindustrie, andere Branchen gar nicht zu nennen?

Warum also werden Klagen und Forderungen zur wirtschaftlichen Tragfähigkeit nur erhoben, wenn es um Kultur geht? Das ist nicht fair! Dass öffentliche Gelder im Kultursektor oft sehr frei-zügig ausgegeben wurden, ohne dass Faktoren zur Evaluierung berücksichtigt wurden, kann kein Grund dafür sein, in die absurde Falle zu tappen, Kultur nur unter einem wirtschaftlichen Blickwin-kel zu betrachten. Für jedes gute Stück Forschung, das wir durchführen, um den wirtschaftlichen Einfluss der KKW zu zeigen, deren Bereiche allesamt notwendig sind, sollten wir zumindest die

12 Siehe z. B. die Erfahrung der Aalto Universität in Finnland http://www.aalto.fi/en, oder die Malmö Labs in Schweden http://medea.mah.se/labs/

13 Siehe http://www.sviluppoeconomico.gov.it/images/stories/documenti/layout_startup_summary-versione-inglese.pdf, Seite 5

14 Siehe http://www.sviluppoeconomico.gov.it/images/stories/documenti/CLab-LineeGuida-12marz13.pdf. Die Grundlage bildete ein Dokument, das den Schwerpunkt leider immer noch hauptsächlich auf Start-ups und technische Innovation legte: http://www.sviluppoeconomico.gov.it/images/stories/documenti/layout_startup_summary-versione-inglese.pdf (Das erste Dokument ist leider nur auf Italienisch verfügbar).

15 Online verfügbar unter http://ec.europa.eu/culture/our-policy-development/documents/120505-cci-policy-handbook.pdf.16 Online verfügbar unter http://www.keanet.eu/docs/structuralfundsstudy.pdf.

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52 gleiche Energie darauf verwenden, Beweise für den gesellschaftlichen Einfluss von Kultur und Kreativität zu finden (z. B. das Thema Kultur und Wohlbefinden, das in Finnland sehr populär ist, aber auch die riesigen Themenbereiche Bildung, soziale Innovation, Erlebnisökonomie und alle Fälle von „Nebeneffekten“ von Kunst und Kultur im weitesten Sinne) und innerhalb der Branche selbst nichtfinanzielle Indikatoren zu finden, die für Evaluierungszwecke herangezogen werden können. Das muss schnell geschehen, sonst wird die EU sicherlich bald einen Berater beauftragen, der der Branche sagt, was sie wie zu messen hat!

Eine weitere wesentliche Herausforderung für den Kreativsektor wird in Zukunft darin bestehen, ein Auge auf die globale Dimension der Branche zu richten und das andere auf die lokale Identität (d. h. das Kapital, das jede Stadt, Region und Gemeinschaft einmalig macht). Es gibt heute viel mehr Möglichkeiten als in der Vergangenheit, kulturelle und kreative Produkte und Leistungen mit starker lokaler Identität auf internationaler Ebene zu bewerben (und zu verkaufen!). Der staatli-che Sektor kann und sollte Internationalisierung mehr denn je fördern, insbesondere in diesem Bereich. Wenn die kreativen Produkte auf der Welt alle gleich aussehen, überall hätten erschaffen werden können und somit ihre Vielfalt verlieren, wo bleibt dann die Kreativität? Wenn Kreativität zu einem Marketinginstrument verkommt, zu reiner Zauberkunst, die an jeder Ecke wiederholt wird, weil jede Stadt für sich die Marke „Kreativität“ beansprucht, dann bleibt nur ein leeres Wort zurück, das bald überholt sein wird.

Die jüngsten Aktivitäten der UNESCO sind meines Erachtens ein Beispiel für das falsche Verständ-nis in diesem Bereich: In der Folge der bereits etwas alten (2001), aber sehr wichtigen Erklärung zur kulturellen Vielfalt17 litt die Initiative Creative Cities Network (warum eigentlich „Cities“, wo ein brandneuer Eintrag Fabriano, Italien, mit 30.000 Einwohnern ist?) unter einem offensichtlichen Mangel an Zielen und Auswahlkriterien18. Es besteht das Risiko, dass eine Initiative, die kulturelle Identitäten und Vielfalt berücksichtigen sollte, nur eine weitere Gelegenheit zur Markenentwick-lung der Städte wird und zur x-ten Plattform für Austausch zwischen Städten, die das UNES-CO-Logo als Handelsmarke verwenden.

Wenn ich an meine eigene Erfahrung zurückdenke, habe ich einen abschließenden Tipp: Die hilf-reichste Lektion, die ich gelernt habe, ist … Fehler sind in Ordnung!19

17 Siehe http://portal.unesco.org/en/ev.php-URL_ID=13179&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html.18 Eine Liste der Mitglieder siehe unter http://www.unesco.org/new/en/culture/themes/creativity/creative-cities-network.19 Siehe http://carolinamelis.com/TV-commercial-BBC.

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53 „DESIGN IST DER ATTRAKTIVERE WEG, UM PROBLEME ZU LÖSEN“

STEINAR VALADE-AMLAND

Steinar Valade-Amland kam 1989 nach Dänemark, als er für ein Unternehmen arbeitete, das däni-sche Produkte in Norwegen vertrieb. Als Export- und Marketing-Manager von designorientierten Unternehmen stand er in regelmäßigem Kontakt mit unabhängigen Designern lange bevor er im Jahr 2000 geschäftsführender Direktor und CEO der „Association of Danish Designers“ wurde, für die er bis 2012 tätig war. Noch im selben Jahr gründete er seine eigene Beratungsagentur für Design-Management „Three Point Zero“, die für öffentliche und private Organisationen und Unter-nehmen in ganz Europa arbeitet. Steinar ist ein begehrter Redner, Moderator und Autor. Obwohl sich seine gesamte berufliche Laufbahn um Design dreht, gilt Steinar Valade-Amlands private Leidenschaft der Architektur, Antiquitäten und der bildenden Kunst.

Steinar Valade-Amland ist für das europäische Projekt „European House of Design Management“ tätig. Dieses Projekt hat zum Ziel, das im Bereich Design Management der Privatwirtschaft gene-rierte Wissen und die dort entwickelten Methodologien zu nutzen, um die im öffentlichen Bereich mit Design-Management befassten Organisationen in die Lage zu versetzen, sich diese Aspekte zu Eigen zu machen. Wenngleich die Beiträge von Steinar Valade-Amland bereits einen breiteren Geltungsbereich abdecken, könnte der strukturelle Hintergrund für Design-Politik in Dänemark darüber hinaus auch in anderen Kontexten relevant sein: ein Land, in dem wenig Großindustrie angesiedelt ist und das ein hauptsächlich auf Familienbetriebe gestütztes Wirtschaftssystem aufweist, stellt einen kleinen Markt da. Aus diesem Grund mussten Unternehmen mit Wachstumsambitionen ihren Blick auf internationale Märkte richten und überlegen, wie sie sich mit ihren Produkten vom Wettbewerb abheben können. Diese Voraussetzungen begünstigten den nationalen Ansatz, die Geschäftstätigkeit auf Nischenmärkte und -produkte auszurichten. Obwohl soziale Ambitionen im Design heutzutage nicht mehr dieselbe Rolle spielen wie zuvor, wurden die Denkweise und Design-Ideen der 50er Jahre neu interpretiert, und Designer (nicht nur) in Dänemark arbeiten mittlerweile verstärkt an sozialem Design. In diesem Kapitel beschreibt Steinar Valade-Amland die Entwicklungsgeschichte des Designs sowie die sozialen Ambitionen, mit denen es früher verknüpft wurde. Seiner Meinung nach litt das Design darunter, als eine Art Modeerscheinung aufgefasst zu werden, die bestimmten Trends folgte. Er setzt sich nachdrücklich dafür ein, Design-Lösungen als Teil einer breiten Palette an Wertschöpfungsketten im weiteren Sinn zu verstehen und Design vielmehr als Werkzeug zur Einleitung von Veränderungen zu betrachten als es als individuelle künstlerische Ausdrucksform anzusehen. Für ihn geht Design über das Objekt hinaus, es stellt den attraktiveren Weg dar, um Probleme zu lösen. So bettet Steinar Valade-Amland die Design-Politik in einen europäischen Kontext ein und entwickelt Szenarien für die „next practice“, die sowohl für die Designbranche als auch für die Design-unterstützenden Politikfelder von Bedeutung sind.

(Josephine Hage)

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54 DESIGN: EINE BETRACHTUNG DER WERTSCHÖPFUNGSKETTE: VOM ANEKDOTISCHEN ZUM SYSTEMISCHEN ANSATZ

STEINAR VALADE-AMLAND

EINFÜHRUNG

Die Rolle von Design und die damit untrennbar verbundene berufliche Identität des Designers haben sich im Laufe der Zeit tiefgreifend verändert. Die Designbranche selbst, Ausbildungsinsti-tutionen und die Politik sind daran interessiert, das Potenzial von Design zu heben und es an neue Programme, Fakten und Diskurse anzupassen. In diesem Kapitel wird versucht, diesen Wandel zu porträtieren, aber wie bei allen Porträts obliegt die Auswahl der als hervorhebenswert erachte-ten Aspekte subjektiv der Entscheidung des Porträtisten. Die Pinselführung ist gewagt, der Stil impressionistisch. Die Beobachtungen sowie Forderungen nach weiteren und noch radikaleren Veränderungen im Bereich der Design-Praxis, der Design-Förderung und -Unterstützung, der Design-Ausbildung und übergeordneten Design-Politik hingegen basieren auf meinen persönli-chen Erfahrungen, die ich im Rahmen einer detaillierten Auseinandersetzung und eines profun-den Wissenserwerbs mit bzw. bezüglich der Designbranche in ihrer ganzen Komplexität während mehrerer Jahrzehnte gesammelt habe.

DESIGN-GESCHICHTE

Das heutige Begriffsverständnis von Design als unabhängige berufliche Disziplin, die sich dar-auf konzentriert, Gegenständen, Räumen, visueller Kommunikation und zwischenmenschlichen Beziehungen Form und Gestalt zu verleihen, entstand im Zuge der Industrialisierung und der Massenproduktion. Die Tatsache, dass die Bedeutung von Design lange Zeit auf derart wenig Industriebereiche beschränkt war und hauptsächlich in der Hand von Architekten und Ingenieuren lag, ist der Grund dafür, dass die Rolle und Bedeutung von Design erst seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts Forschungsgegenstand ist.

Häufig wird als Referenz zur Untermauerung dieses Standpunkts die Dissertation von Anna Val-tonen aus dem Jahr 2007 herangezogen, in der sie die Berufspraxis von Design, ausgehend von den 1950er Jahren bis zur Veröffentlichung ihrer Doktorarbeit, analysiert. Obwohl sie ihre Unter-suchung auf Finnland konzentrierte, stießen die Forschungsergebnisse in den meisten Teilen Euro-pas auf Anerkennung.

Nachdem Design die Begrenzung, lediglich ein Kunsthandwerk zu sein, überwunden hatte – trotz der Visionen von Vorreitern wie dem Herzog von Weimar, der bereits 1902 den Architekten Henry van de Velde engagierte, um das Kunsthandwerk und die Industrie in der Region mittels Design anzukurbeln – wurde es und das Umfeld, in dem es sich entwickelt, durch seine potenzielle Bedeu-tung als Instrument für wirtschaftliches Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit für eine breitge-fächerte Gruppe von Menschen von Interesse. Mittlerweile scheinen einzelne Designer und die Design-Industrie selbst sowie Ausbildungs- und Forschungsinstitutionen, der Handel und die Industrie im Allgemeinen, die Politik und Regierungsbehörden bis hin zur bürgerlichen Gesell-schaft das Potenzial des Designs als Impulsgeber für Veränderungen zu schätzen. Zur Beurteilung des Potenzials einerseits sowie der Schwächen andererseits und zur Einschätzung der Initiativen, die ergriffen werden, um das auf Design basierende Wachstum durch Ausbildung, Förderung und Unterstützung zu steigern, ist es unabdingbar zu verstehen, wie sich Design innerhalb dieses Paradigmas entwickelt hat. Ich werde zu einem späteren Zeitpunkt darlegen, wie weit man bei dieser Analyse gekommen ist.

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DESIGN SWOTDesign wird bereits in vielfältigen Bereichen eingesetzt und dies mit Erfolg. Während des letzten Jahrzehnts wurde eine beträchtliche Menge an Material bezüglich der Auswirkungen von Design auf alle Arten von Gewinn erfasst. So verglich man in Untersuchungen, die 2003 und 2008 vom „Danish Design Centre“ in mehr als tausend Unternehmen durchgeführt wurden, die Design-Akti-vität mit den Unternehmensergebnissen. Vervollständigt wurden diese Ergebnisse durch zahlrei-che Berichte, die vom „UK Design Council“, vom „SVID“ in Schweden, von „Premsela“ in Holland und vielen anderen Design-unterstützenden Organisationen veröffentlicht wurden. Forschungs-resultate aus den 90er Jahren sowie jüngere Arbeiten bestärken die Annahme, dass Design als Methode und Ansatz das Potenzial hat, die Wettbewerbsfähigkeit von Produktherstellern und Dienstleistungsanbietern sowie die Kommunikation, Dienste und Ausstattung von öffentlichen Dienstleistungsanbietern erheblich zu verbessern. Alles in allem klingt Design doch recht vielver-sprechend.

Warum scheint es der Design-Industrie dann so schwer zu fallen, sich selbst und ihre Legitimität zu positionieren und sich als Anbieter von professionellen und effektiven Dienstleistungen auf-zuwerten, welche die Entwicklung von KMU und anderen Organisationen verbessern bzw. deren Prozesse verändern können, und zwar unabhängig davon, ob diese Unternehmen Produkte oder Dienstleistungen für Konsummärkte oder den B2B-Bereich anbieten?

Die Verbreitung von Design ist eindeutig als Stärke zu bewerten, da das Design eine Fülle von neuen Marktchancen eröffnet hat. Gleichzeitig traten auch die Schwächen zutage, da sich sowohl der Designberuf selbst als auch Institutionen zur Unterstützung und Förderung – ganz zu schwei-gen vom Bildungssektor – schwer damit taten, sich an diese neuen Chancen anzupassen und sich diese, so herausfordernd sie auch sein mögen, zu eigen zu machen. Dieses zögerliche Verhalten bringt die Gefahr mit sich, von anderen, oftmals flexibleren Berufsgruppen wie der Managem-entberatung überholt zu werden. Diese sind nämlich bereit, das aus der Designpraxis abgeleitete neue Denken zu absorbieren, das in jüngster Vergangenheit recht freisinnig „Design Thinking“ genannt wurde, und dieses Konzept für Veränderungs- und Verbesserungsprozesse sowie neue Entwicklungen anzuwenden. Mehr zum Thema „Design Thinking“ findet sich im Kapitel „Die Dop-pelfunktion der Kultur- und Kreativwirtschaft: Innovator und Impulsgeber für Innovationen“ von Carsten Becker.

DESIGN-GESCHICHTE

2000’SINNOVATION  & COMPETITIVE-NESS

“global competition & renewal”“the China-pheno-mena”

1990’SBRAND BUILDING

“total experience design – from concept to retail”

1980’SDESIGN MANAGEMENT

“our product portfolio is consistent”

1970’SDESIGN MANAGEMENT

“the user (be it a child or an elderly) is the most important”

1960’SINVOLVING INDUSTRY

“design as a part of the industrial product development process”

1950’SPROMOTING THE NATION

“we got a prize in Milano”

typical statement on design

proximity to the marketVISION STRATEGY ROADMAPS PRODUCT

DEFINITION

THE ENTIRE PRODUCT DE-VELOPMENT PROCESS

PRODUCTS AESTHETICS “STYLING”

typical role for the designer

design as a innovation driver

design for creating experiences for the customer

design as a coordinator

design for user understanding

design as a part of a team together with mechanics and marketing

the designer as a creator

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Damien Newman, Chef der in Kalifornien ansässigen Design-Agentur „Central“ veranschaulichte den Design-Prozess mit einer schnörkeligen Linie („squiggle of the design process“) (Newman 2011), die später als Modell des „Design Thinking“ Kultsymbolcharakter erlangen sollte. Wenn-gleich diese Zeichnung ein hervorragendes und fast selbsterklärendes Modell darstellt, verstärkt dieses auch die Wahrnehmung, dass der Design-Prozess Lichtjahre vom für die meisten Unter-nehmen gültigen, typischerweise linearen und mathematisch inspirierten Entwicklungsprozess entfernt und mit diesem inkompatibel zu sein scheint.

Wie so viele andere Methodologien und Unterstützungsmechanismen auch, ist Design nur bei einem strategischen Einsatz effektiv. Bei dieser Behauptung handelt es sich nicht mehr nur um eine reine Annahme, sondern um eine nachgewiesene Tatsache. In Dänemark und anderen Ländern durchgeführte Studien zeigen, dass auf Design zurückgreifende Unternehmen höhere Gewinne und Exporte verzeichnen als diejenigen, die dies nicht tun. Je mehr Design in die Entwicklungs- und Innovationsprozesse eines Unternehmens integriert ist, desto größer ist seine Auswirkung auf die Bruttogewinnsteigerung und Exportfähigkeit.

Schlüsselbegriff ist hier allerdings das Wort „strategisch“. Gemeint ist damit eine Vorgehensweise, die mit dem gleichen Maß an Professionalität in der Organisationskultur verankert und dement-sprechend gemanagt wird, wie alle anderen lebenswichtigen Unternehmensbereiche, so z. B. Finanzen, Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) oder Personalverwaltung. Tat-sächlich zeigen jüngere Forschungsergebnisse auf, dass es bezüglich der Rentabilität beim Design einen erheblichen Unterschied macht, ob der Designprozess professionell gesteuert wurde oder nicht (Chiva & Alegre, 2009). Dies deutet darauf hin, dass der willkürliche und ohne strategische Absicht erfolgende Einsatz von Design zu keiner Ergebnisverbesserung bei Unternehmen führt.

DAS PARADOX DES DESIGNS

Als kleine Anekdote möchte ich von einem Erlebnis aus dem Jahr 2001 berichten, als ich neu zum Direktor der „Danish Designers“, einem disziplinenübergreifenden Verband professioneller

Research

Uncertainty / patterns / insights Clarity / Focus

Concept Design

„THE SQUIGGLE“ VON DAMIEN NEWMAN CREATIVE COMMONS ATTRIBUTION-NO DERIVATIVE WORKS 3.0 UNITED STATES LICENSE. HTTP://V2.CENTRALSTORY.COM/ABOUT/SQUIGGLE/

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Designer, ernannt worden war. Eines meiner ersten Treffen führte mich zum dänischen Minister für Handel und Wirtschaft, der damals als einziger europäischer Minister für eine nationale Designpo-litik verantwortlich war. Nachdem wir über das unumgängliche Bollwerk Dänischen Designs wie die populären Möbel, die High-End-Unterhaltungselektronik und die international renommierten Wohnaccessoires gesprochen hatten, versuchte ich, die Diskussion in eine andere Richtung zu lenken und war recht zufrieden damit, es geschafft zu haben, nun über die Rolle von Design in komplexeren Produkten wie medizinischen und anderen in der Industrie eingesetzten Geräten sprechen zu können. Der dänische Minister verstand, dass Design auch in diesem Bereich eine recht große Bedeutung spielte. Ich war derart selbstsicher, dass ich beschloss, das Thema des Designs als Mittel zur Verbesserung bestehender und Entwicklung neuer Dienstleistungen nicht nur für private, sondern auch (und vielleicht ganz besonders) öffentliche Dienstleister anzuspre-chen – ein zwar etwas neuartigeres, in der Designbranche aber immer brennender diskutiertes Thema. Dieser Entschluss führte zu einem recht abrupten Ende unseres Gesprächs, da der Minister aufstand und sagte: „Stopp, Stopp… Hören Sie, es war gut, mit Ihnen über die Rolle von Design zu sprechen, aber nun kann ich nicht mehr folgen. Für mich besteht Design darin, Produkte gut aus-sehen zu lassen und ihnen möglicherweise eine andere Wertigkeit zu verleihen, um einen höheren Preis verlangen zu können. Und damit Schluss. Für darüber hinausgehende Diskussionen sollten Sie sich erstmal an Ihre eigenen Kollegen wenden. Ich glaube, dass Design für Dienstleistungen zu überzogen ist und nie Teil einer Design-Politik sein wird.“

Der dänische Minister für Unternehmen und Wachstum sprach 2013 von der Vision, „Dänemark bis 2020 weltweit als Designgesellschaft bekannt zu machen, die Design auf allen Ebenen einsetzt, um die Lebensqualität zu verbessern, Wertschöpfung für Unternehmen zu generieren und den öffentlichen Bereich effizienter zu gestalten.“

Zum Glück ändern sich die Dinge, aber allzu oft gehen diese Veränderungen viel zu langsam vonstatten. Diese scheinbar unvermeidliche Trägheit im Politik bestimmenden Umfeld hatte und hat nach wie vor eine zwar unbeabsichtigte, aber leider universelle Auswirkung auf Designpolitik, -programme und -initiativen. In den meisten Fällen fördern diese nicht Fortschritt und Entwick-lung, sondern begünstigen die Fortführung altmodischer, zuweilen überholter Praktiken nicht

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58 nur in der Ausbildung und der Designwirtschaft selbst, sondern auch auf Ebene der potenziellen Märkte.

Wie das oben aufgeführte Beispiel zeigt, gibt es für alles einen Grund und ich bedauere sagen zu müssen, dass die Ursachen hierfür in der Designbranche selbst zu suchen sind. Selbstgefällig hat sie die Definition der Bedürfnisse im Bereich Designunterstützung, -förderung und Design als solches anderen überlassen, nämlich Design-Zentren und -Räten sowie, wo vorhanden, dem politischen und bürokratischen Bereich im weitesten Sinn. Niemand kann den Politikern und Büro-kraten die Schuld daran geben, den neuesten Entwicklungen im Hinblick auf die Rolle und Her-ausforderungen von Design keine Rechnung zu tragen, wenn die Designbranche selbst politischen Entscheidungsprozessen so wenig Interesse entgegenbringt, wie dies oft der Fall war. Dies ist darum vor allem als Appell an Design-Schaffende und ihre Partner zu verstehen, sich zusammen zu tun und für die Zukunft ihres eigenen Berufs einen nachvollziehbaren und unbestreitbaren „Business Case“ zu erstellen, und dann dieselben Mechanismen im selben Umfang wie jede andere Berufsgruppe auch einzusetzen, um sich in Parlamenten und Ministerien Gehör zu verschaffen. Die Vertreter der Landwirtschaft, der grünen Technologie, der Windenergie und der pharmazeu-tischen Industrie, um nur einige zu nennen, werden nicht etwa gehört, weil ihre Vorschläge per se faszinierender oder überzeugender wären. Sie werden deshalb gehört und ernstgenommen, weil sie in ihre eigene Zukunft investieren.

Das Design hat einen langen Weg zurückgelegt. So war Design früher ein auf Kunst und Kunst-handwerk gestütztes professionelles Bestreben, in dessen Rahmen dem Designer die Rolle des Schöpfers zukam, und wandelte sich dann zu einem Element, das in eine Vielzahl von Wertschöp-fungsketten im privaten und öffentlichen Bereich integriert wurde und zu immateriellen als auch materiellen Ergebnissen führte. Diese lange Reise hat die Designbranche und ihre engsten Partner etwas fassungslos zurückgelassen.

Design als professionelle Tätigkeit sowie seine Rolle haben sich zwar von Jahrzehnt zu Jahrzehnt gewandelt und sind langsam zu dem Gebilde geworden, das wir heute kennen – ein Gebilde, in dem Design fast schon als transversaler Ansatz für Veränderung und Entwicklung gilt – und dennoch arbeiten nicht alle Designer auf strategischer Grundlage oder mit fortschrittlichen Sta-keholder-Engagement-Methoden. Als Folge entstand eine große Bandbreite an Design-Akteuren, beginnend bei jenen, die dem Design nachgehen, wie es in den fünfziger Jahren betrieben wurde, über jegliche Kombinationen aller dazwischen liegenden professionellen Vollkommenheitsgrade bis hin zu jenen, die sich vollständig von ihrem beruflichen Erbe gelöst haben, um sich ausschließ-lich auf Prozesse und methodische Weiterentwicklungen zu konzentrieren.

Um jedoch bedeutsame Maßnahmen zur Unterstützung der zukünftigen Entwicklung vorschlagen zu können, ist es vonnöten, diese Geschichte zu verstehen und wertzuschätzen. Dazu aufgefor-dert sind Politiker, Ausbildende, Praktizierende und die Begünstigten der mittlerweile sorgfältig dokumentierten Auswirkungen der Anwendung von Design im Bereich der Entwicklung sowohl greifbarer Produkte als auch nicht greifbarer Dienstleistungen, Kommunikation, Benutzer-Ober-flächen und -Erfahrungen sowie Online- und Offline-Räume. Dies ist für den einzelnen Menschen wie die Gemeinschaft insgesamt von Bedeutung. Selbst in den fortschrittlichsten Design-denken-den Gemeinschaften in Europa wurde dieses Ziel bis heute nur teilweise erreicht. Design wurde zu einem integralen und dennoch häufig nicht identifizierbaren Bestandteil von Entwicklungsprozes-sen in verschiedenen Sektoren. Design bietet nicht nur neue Chancen, sondern schafft auch einige beträchtliche Herausforderungen für den einzelnen Designer als kreativ Schaffenden.

Diese Situation kann mit der eines Musikers verglichen werden, der vom Solisten zum anonymen Violinisten degradiert wurde, und dessen Karriereziel darin besteht, zum Konzertmeister aufzu-steigen, der jedoch gleichzeitig von der Gemeinschaft mit Kollegen, von dem Gefühl, eine monu-mentale Leistung wie Gustav Mahlers 8. Sinfonie oder Krzysztof Pendereckis Polnisches Requiem

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59 zu liefern und von der Annehmlichkeit eines stabilen Einkommens und einer Rente profitiert. Eini-gen ist dieser institutionalisierte Ansatz der Designtätigkeit fremd, um nicht zu sagen komplett unbekannt. Für andere aber reduziert sich dieser Ansatz darauf, den Traum infrage zu stellen, ein neuer Stern am Designhimmel zu werden – was tatsächlich nur einigen wenigen vergönnt ist – und die Chancen und beruflichen Herausforderungen, Teil eines Wertschöpfungssystems zu sein, anzunehmen.

SZENARIEN UND „NEXT PRACTICE“

Nachdem Design ein halbes Jahrhundert um Anerkennung und Ansehen gerungen hatte, erreichte es erst vor relativ kurzer Zeit mit der Aufnahme in die Glossare und Überlegungen der Europäi-schen Kommission seinen Höhepunkt. Mit der Veröffentlichung von Grün- und Weißbüchern und anderen Dokumenten und nicht zuletzt durch den Einsatz einiger einflussreicher Personen in Füh-rungspositionen wurde 2011 zeitgleich eine Reihe von Initiativen angeschoben, um die Akzeptanz der Rolle von Design als Hebel für europäisches Wirtschaftswachstum, Wettbewerbsfähigkeit und soziale Entwicklung zu feiern. Zu diesen Initiativen gehörten unter anderem die Einrichtung eines „European Design Leadership Board“ und die Ankündigung des ersten Aktionsplans der „European Design Innovation Initiative“, die momentan sechs parallel laufende Projekte über die Rolle und das Potenzial von Design für Europa mitfinanziert. Design erhält seine Chance. Nun stellt sich jedoch die Frage, ob sich die Designbranche selbst als fähig erweist, das Beste aus dieser Situation zu machen.

Als Teil der Leitinitiative „Innovationsunion“ brachte die Europäische Kommission 2011 die „Euro-pean Design Innovation Initiative“ (EDII) auf den Weg, um das vollumfängliche Potenzial von Design für Innovation zu heben. Im Rahmen dieser Initiative wurde das „European Design Lea-dership Board“ zur Steuerung dieser Initiative und zur Ausarbeitung von Empfehlungen gegrün-det, die das Thema der Art und Weise, wie Design als Wachstums- und Innovationstreiber in Europa genutzt werden kann, zum Gegenstand haben. Der Bericht mit dem Titel „Design for Growth and Prosperity“1 enthält 21 für sechs Bereiche geltende Empfehlungen für strategische Maßnahmen, die der Freisetzung dieses Potenzials dienen könnten. Diese sechs Bereiche sind:

– Differenzierung des Europäischen Designs auf globaler Ebene – Positionierung von Design innerhalb des Europäischen Innovationssystems – Design für innovative und wettbewerbsfähige Unternehmen – Design für einen innovativen öffentlichen Sektor – Positionierung der Design-Forschung für das 21. Jahrhundert– Design-Kompetenzen für das 21. Jahrhundert

Der Begriff „Kultur“ erscheint in den 21 Empfehlungen nur ein einziges Mal, nämlich in der vor-letzten, in der zu Maßnahmen aufgefordert wird, um „das Niveau der Design-Kenntnisse aller europäischen Bürger zu erhöhen, indem eine Kultur des Design-Erlernens für alle auf jeder Ebene des Ausbildungssystems gefördert wird“ (S. 11).

Die Umsetzbarkeit und Relevanz von Design als wichtiger Ansatz zur Verbesserung bestehender Produkte, Dienste, Beziehungen und Erfahrungen sowie für die Entwicklung neuer Bereiche wurde im Rahmen der Design-Forschung und durch empirische Belege sorgfältig dokumentiert, unter anderem mittels staatlich geförderter Pilotprojekte und -experimente, die insbesondere während der letzten beiden Jahrzehnte durchgeführt wurden. Nun scheint die Zeit gekommen, sich auf die Skalierbarkeit und systemische Anwendung zu konzentrieren. Was wir jetzt brauchen, ist keine

1 Der Bericht steht im Internet zur Verfügung: http://ec.europa.eu/enterprise/policies/innovation/files/design/design-for-growth-and-prosperity-report_en.pdf.

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60 weitere Forschung, sondern eine Art Mobilmachung, um das bereits vorhandene Wissen in Orga-nisationen des privaten und öffentlichen Bereichs zu verankern. Was wir jetzt brauchen, sind keine weiteren Werkzeuge, sondern die strategische Absorption und Anwendung der bereits existieren-den Instrumente. Was wir jetzt brauchen, sind keine weiteren anekdotischen Pilotprojekte, son-dern ein vollständiges „Roll-Out“, um die systemische Anwendbarkeit von Design zu beweisen.

Design war keine vorübergehende Laune oder Modeerscheinung, sondern stellt eine Konstante dar. Wenn wir jedoch wollen, dass es Privileg der Designwirtschaft bleibt, die Zukunft von Design als kulturell-konnotierte Kreativdisziplin, seine Rolle als wertschöpfendes Element per se oder innerhalb bestehender Wertschöpfungsketten zu definieren und weiterzuentwickeln, muss sich noch vieles ändern. Wollen wir dieses Privileg behalten, bedarf es einer radikalen Veränderung im Bereich der Ausbildung von Designern. Es braucht eine genaue Analyse der Arbeitsmarktgesetz-gebung in vielen europäischen Ländern einerseits sowie eine detaillierte Betrachtung der Selbstor-ganisation der Designbranche andererseits. Des Weiteren sind neue Wege des Kommunizierens über Design sowie der Förderung und Unterstützung von Design vonnöten. Ferner bedarf es eines weniger dogmatischen Ansatzes hinsichtlich der Frage, was es bedeutet, ein Designer zu sein.

DESIGN-AUSBILDUNG & DESIGN-TÄTIGKEIT

Ein sich schnell wandelndes Umfeld bringt die Herausforderung mit sich, Ausbildungsprogramme weiterzuentwickeln. Obgleich niemand weiß, wie die Zukunft aussehen wird, brauchen wir eben genau diesen Weitblick, um junge Menschen auf eine berufliche Laufbahn vorzubereiten, die sie in frühestens sechs bis sieben Jahren einschlagen werden. Dies ist in der Tat eine Herausforde-rung, der sich nur wenige Design-Kurs-anbietende Ausbildungsinstitutionen mit Erfolg gestellt zu haben scheinen.

In meiner dreijährigen Tätigkeit als Vizepräsident des Vorstands einer der progressivsten Design-Schulen Dänemarks – und wahrscheinlich ganz Europas – der „Kolding School of Design“, bin ich mit dieser Herausforderung direkt konfrontiert. Welche Erwartungen hat, nach meinem Dafürhalten, der Arbeitsmarkt zukünftig an Designer, in welcher Rolle sieht er sie und als Teil wel-cher Wertschöpfungsketten? Und wie kann ich andere, die allesamt unterschiedliche Standpunkte vertreten, davon überzeugen, dass wir genau jetzt eine Kehrtwende vollziehen müssen, wenn es darum geht, festzulegen, wie wir Design als akademische und berufliche Disziplin verstehen?

Ausbildungserfolge werden vor allem an der Erwerbstätigenquote sowie an dem erwarteten Ertrag der Investition gemessen, die beide in unserem Teil der Welt meist von den Regierungen festgelegt werden.

Diese Erfolgsindikatoren sind jedoch nicht unbedingt die Gründe, aus denen sich junge Men-schen für eine bestimmte Ausbildung entscheiden. Darüber hinaus haben junge Menschen, die einen Kreativberuf wählen, oft eine ganz andere Vorstellung von Karriere als die meisten anderen Berufsgruppen.

Einerseits kann man sich leicht vorstellen, wie schwierig es für einen ausgebildeten Musiker wäre, ohne die Möglichkeit einer Anstellung oder eines Engagements in großen kulturellen Einrichtun-gen wie Symphonieorchestern, Opern oder Theatern seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Ande-rerseits werden Musiker oft von dem Traum und dem Ziel angetrieben, eine Klasse zu erreichen, die sie zum Starkünstler macht. Designer träumten schon immer davon, für das Erschaffen von Design mit Kultcharakter Ruhm und Erfolg zu erlangen, also sozusagen der nächste Arne Jacobsen oder Alvar Aalto, Ettore Sottsass oder Dieter Rahms zu werden, und der Traum, zur Berühmtheit zu werden, geht für einige auch immer in Erfüllung. Die große Mehrheit der Designer wird jedoch zu einem Mitglied eines multidisziplinären Teams und einer komplexen Wertschöpfungskette,

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entweder als unabhängiger Anbieter von Design-Leistungen oder als Mitglied eines unterneh-mensinternen Entwicklungsteams. Die Designbranche muss sich diese Situation eingestehen und entsprechend darauf reagieren, da dies zweifelsohne dazu führen würde, dass die Entscheidung für eine Design-Karriere auf rationaleren Gründen basieren würde als dies bislang der Fall zu sein schien. Design-Schulen sowie Design-Zentren oder die Medien halten diesen Traum vom Ruhm am Leben. Nur wenige Akteure verteidigen den subtileren, allerdings oftmals weitaus bedeutsameren Wert, den Designer im Team mit Ingenieuren, Medizinern, Soziologen und Beamten erschaffen, um die Ergebnisse der Wertschöpfungskette, der sie sich verschrieben haben entweder weiter-zuentwickeln, zu verbessern oder sogar radikal zu verändern. Was bislang im Design-Beruf als „good practice“ galt, reicht möglicherweise in Zukunft nicht mehr aus, um die Stellung, die die Design-Tätigkeit bis dato innehatte, weiter aufrechtzuerhalten. Die Forschungsergebnisse bezüg-lich der Effizienz von Design – in Situationen, in denen Designprozesse eng mit strategischen Zielen verknüpft sind und von der Wertschöpfungskette her betrachtet werden – spielen der Designindustrie in die Hände und geben ihr so die lang ersehnte Grundlage, für sich selbst ein-zutreten. Keine Rolle spielt hierbei, ob der durch das Design erschaffene Wert greifbar und in der Tradition der Designpraxis als Schöpfungsquelle von Schönheit und Funktionalität verankert ist, oder ob dieser Mehrwert aus Formen der Zusammenarbeit wie Co-Creation und Stakeholder Engagement hervorgeht, die wahrscheinlich die Verbesserung des wahrgenommenen Werts einer Transaktion oder einer Leistung anstreben.

Wie dem auch sei, die Designindustrie ist aufgefordert, die Logik und die Grundprinzipien ihrer Kunden zu verstehen und diesen Rechnung zu tragen. Die dringendste Herausforderung der Designwirtschaft ist deshalb, gewandter und bewusster zu werden in Bezug auf ihre Methoden, Formen der Zusammenarbeit, wie sie Emma Estborn in ihrem Kapitel beschrieben hat, und Pro-zessbedingungen zu erfüllen sowie entsprechend Verantwortung zu übernehmen. Statt sich als einziger Meister der kreativen Schöpfung zu inszenieren, muss die Designwirtschaft einsehen, dass sie Teil einer Wertschöpfungskette ist, deren Dynamik sie besser verstehen muss. Wie in Giorgia Boldrinis Kapitel beschrieben, muss die Berufsgruppe der Designer – wobei hiermit nicht nur der einzelne Designer sondern auch die gesamte Gemeinschaft der in diesem Bereich tätigen Akteure gemeint ist – anerkennen, dass sich eine Verschiebung vom „Schöpfer“ hin zum „Kreati-ven“ vollzogen hat.

Ein ausgezeichnetes Beispiel für ein Team mit einer klaren Vorstellung seiner eigenen Design-Tä-tigkeiten stammt aus dem Jahr 1969, und ist heute noch genauso gültig wie damals. Gemeint sind Ray und Charles Eames mit ihrem Diagramm des Designprozesses, das sie anlässlich der „What is Design?“-Ausstellung im „Musée des Arts décoratifs“ in Paris vorstellten.

Von Kunstakademien über Polytechnische und Business-Schulen bis hin zu traditionellen Uni-versitäten scheinen immer mehr Ausbildungsinstitutionen die Popularität von Design zu nutzen und neue Designer auszubilden. Allerdings tun sie dies hauptsächlich in den konventionellen

QR CODE ZU ABBILDUNG: EAMES WHAT IS DESIGN?

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62 Bereichen wie Mode- und Textildesign, Produktdesign, visuelle Kommunikation und Interface-design, obwohl der Arbeitsmarkt für traditionell ausgebildete Designer momentan nicht sehr rosig aussieht. Gleichzeitig besteht ein Mangel an Absolventen mit angemessenen Kompetenzen in den Bereichen Service-Design, kollaborative Prozesse und anderen aufstrebenden Design-Disziplinen.Darüber hinaus gehört das durchschnittliche Einkommen von Designern, verglichen mit dem anderer Hochschulabsolventen, zu den niedrigsten. Die Entscheidungsträger dieser Design-Schu-len sind jedoch bei der Umsetzung von Veränderungen, die sie als riskant ansehen, zurückhal-tend, und wie bei den meisten anderen Menschen auch, lösen radikale Einschnitte sofort das rote Warnsignal aus.

Wenngleich diese Situation leicht als Zwickmühle verstanden werden könnte, bin ich der Über-zeugung, dass wir nicht um eine eher grundsätzliche Neugestaltung der Design-Ausbildung her-umkommen.

Wir müssen begreifen, dass Design zum universellen Instrument für Veränderungen geworden ist, und müssen diese Tatsache als Chance und nicht als Gefahr verstehen. Gleichzeitig müssen wir den inneren Kern, die DNA von Design als Disziplin unter die Lupe nehmen: seine Berücksich-tigung ästhetischer Resonanz und sensorischer Empfindsamkeit, seine iterative – als Gegensatz zur linearen – auf Abstraktion und graduelle Validation mittels visueller und fassbarer Darstellung gestützte Methodik, die häufig als „Prototyping“ bezeichnet wird, sowie Design als Forschungs-methodologie.

Wenn wir das tun, müssen wir auch die Möglichkeiten von Master-Abschlüssen oder Promotionen in den oben genannten Bereichen überdenken und bewerten, egal ob diese von Kunstakademien, Technischen Universitäten oder Business-Schulen angeboten werden. Gleichzeitig müssen wir sicherstellen, dass sie alle den inneren Kern und die DNA von Design in sich tragen, damit es seine Bedeutung und Legitimation nicht verliert. Tun wir dies nicht, bleibt Design ein generisches Ausbildungsprogramm, in dem das Schicksal des Designers wahllos dem Zufall überlassen wird. Vom Grundsatz des „Nur der Stärkste überlebt” werden nur jene profitieren, die die verschiedenen Einzel- und Bestandteile der Design-DNA in sich aufnehmen, sich zu eigen machen und sie in ihr eigenes molekulares System als Fachberater oder Unternehmensberater einbauen.

Neue Design-Programme müssen deutlicher hervorheben, um welche Art von Design es sich han-delt und auf welchen Mehrwert diese fokussiert ist, d. h., es muss der genaue Kontext spezifiziert werden, für den das entsprechende Programm Designer ausbildet. Wir brauchen eine sehr viel breitere Palette an Design-Programmen als dies heute der Fall ist: angefangen von Programmen mit Design als Kunsthandwerk mittels der „klassischen“ Disziplinen bis hin zum systemischen Design, Prozess-Design und „Business-Modelling-Design“.

VERFECHTUNG VON DESIGN: AKTUELLE PRAKTIKEN UND IHRE EFFIZIENZ

Bisher leiteten häufig Design-Zentren und Räte für Formgebung politische Initiativen zur Unter-stützung des Design-Bereichs ein. Die Finanzierung der Initiativen erfolgte auf Grundlage des wachsenden Verständnisses und neuer Ergebnisse bezüglich der potenziellen Rolle von Design. Allerdings spielten diese Zentren und Räte häufig vielfältige und manchmal widersprüchliche Rollen. Auf der einen Seite bestand ihre Aufgabe darin, einen Veränderungsmodus bei der Wahr-nehmung dessen, was Design ist und fähig ist zu tun, zu unterstützen, während ihnen auf der anderen Seite die Funktion zukam, Designs für preisgekrönte Lifestyle-Objekte zu fördern. Ein Gleichgewicht zwischen den zahlreichen Aufgaben herzustellen, war nie einfach und nur selten erfolgreich. Darin mag auch der Grund für die teilweise dramatischen Veränderungen hinsichtlich der Strategien zur Design-Unterstützung und -Förderung in ganz Europa liegen. Design-Schulen

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63 spiegeln auch wider, wie Design in der Politik und der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, wes-halb ihr Fokus wenig überraschend auf zwei Extreme des gesamten Spektrums gleichermaßen gerichtet war: auf das historisches Erbe von Design an dem einen und sein zukünftiges Potenzial am anderen Ende des Spektrums. Mittendrin befand sich eine zunehmend heterogene Gemein-schaft von Design-Schaffenden, die darum rangen, ihren eigenen Platz zu finden. Sie hatten weder eine sinnvolle Kommunikationsplattform noch einen Markt für ihre konstant wachsende Ange-bots- und Leistungspalette.

Gisele Raulik-Murphy führt in ihrer 2010 veröffentlichten Doktorarbeit „A Comparative Analysis of Strategies for Design Promotion in Different National Contexts“ sieben Faktoren auf, die zwar keine vollständige Liste, aber dennoch die Grundlagen darstellen, die als Basis für eine in sich geschlossene Strategie zur Design-Förderung verstanden werden müssen:

– Design-Politik: eine Maßnahme zur Schaffung eines Umfelds, in dem sich Design und Krea-tivität entfalten können, in dem Unternehmen zur Nutzung von Design ermutigt werden, in dem der öffentliche Sektor Design zur Prozessverbesserung einsetzt, die wiederum der Bevöl-kerung zugute kommt. Hierin besteht die formale Struktur der Strategien zur Förderung von Design.

– Design-Programme: Mittel, mit Hilfe derer Strategien zur Design-Förderung angeregt oder freigesetzt werden.

– Design-Ausbildung: ein integraler Bestandteil der Strategien zur Design-Förderung, mit Hilfe derer die ausreichende Anzahl, Qualität und Expertise von professionellen Designern sicher-gestellt wird.

– Professioneller Design-Sektor: dient als Hilfe zur Umsetzung von Design-Förderungsstrategien und/oder als Schlüsselelement bei der Design-Förderung.

– Nationales Design-System: Maßnahmen von Seiten eines komplexen Netzwerks von Akteuren, die über Erfahrungen, Wissen, Fertigkeiten und Führungsqualitäten in ihren eigenen Bereichen verfügen, um die Anforderungen für die Design-Förderung zu erfüllen.

– Grundgedanke: Warum ist es schwierig, Design zu fördern? Strategien zur Design-Förderung sind meistens auf Marktversagen und industrielle Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtet. Neue Trends zeigen, dass diese Strategien mehr in Richtung der sozialen Innovation tendieren.

– Nationaler Kontext: die Ebene, auf der Förderungsstrategien umgesetzt werden – Strategien zur Design-Förderung sollten nicht isoliert umgesetzt werden. Jede Politik oder Strategie ent-faltet sich in einem größeren Kontext und wird direkt oder indirekt durch andere politische Entscheidungen und die Umgebung beeinflusst.

Wenngleich viele europäische Länder, mit Dänemark und Finnland an der Spitze, diesen Aspekt vielleicht nicht genauso wissenschaftlich hinterlegt haben wie Frau Raulik-Murphy, so glaube ich doch, dass diese Länder viel unternommen haben, um den Bedarf an vielschichtigen und facet-tenreichen Initiativen zur Hebung des Potenzials von Design zu erkennen und entsprechend zu handeln. Leider wurde dies definitiv verspätet in Angriff genommen, vor allem im Vergleich zu den aktuellen Trends und Entwicklungen innerhalb der Designindustrie selbst, unter praktizierenden Fachleuten und „Design Thinkers“, die es, nur um es anzumerken, schon lange gab, bevor der Begriff des „Design Thinking“ zum geflügelten Wort wurde.Hieraus ergibt sich nun folgende Frage: Was können wir aus einem halben Jahrhundert unter-schiedlicher Initiativen lernen, um das vermeintliche Potenzial von Design zu erforschen und aus-zuschöpfen?

Als Politikbereich ist Design weitaus moderner als viele zu glauben scheinen. Bereits in den 1940er und 1950er Jahren wurde auf Design als Mittel zur Verbesserung der Produktivität und der Qua-lität von Industrieprodukten zurückgegriffen, wobei das bekannteste Beispiel der Bauhaus-Be-wegung noch weiter zurückliegt. Ein kohärenter politischer Ansatz hinsichtlich der Wirkweise von Design und bezüglich dessen, was nötig wäre, um das Potenzial von Design freizusetzen,

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64 entstand allerdings erst in den 1990er Jahren. 1997 war Dänemark eines der ersten Länder, das eine nationale Designpolitik auf den Weg brachte. Diese Initiative führte zur Einführung ähnlicher Politikfelder in einer Reihe europäischer Staaten und anderen, weiter entfernt gelegenen Ländern wie Korea und Neuseeland. Dabei fokussieren alle diese Länder die potenzielle Rolle von Design als Verstärker für Produkte und Kundenerfahrungen, folglich also von Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftswachstum. Design ist jedoch viel mehr als das – es ist viel reichhaltiger und facet-tenreicher und verändert sich darüber hinaus deutlich schneller als man es von jeder politischen Entwicklung erwarten könnte. Dennoch waren nicht alle Initiativen zur Förderung der Entwicklung und Aufnahme von Design in gleichem Maße erfolgreich.

Nur sehr wenige haben sich als offenkundig effektiv erwiesen. Durch einige Initiativen wurden Unternehmen zur finanziellen Förderung von Design veranlasst, wohingegen andere erfolgreich darin waren, gute, beste oder zumindest gängige Praktiken zu vereinigen und zu kommunizieren. Sie hofften so, andere dazu zu inspirieren, ihrem Beispiel zu folgen. Ich bin jedoch der Meinung, dass der globale Effekt dieser kollektiven Bemühungen begrenzt gewesen ist. Für die große Mehr-heit der Privatwirtschaft und der öffentlichen Organisationen stellt Design heute genauso wie vor einem Jahrzehnt einen unterschätzten und anekdotischen Ansatz für Entwicklung und Wachstum dar. Und dies trotz aller Beweise, die auf seine positiven Auswirkungen hindeuten sowie der Tatsa-che, dass Design in den meisten europäischen Ländern in die nationale Politik Einzug hielt sowie Bestandteil der Europäischen Wachstumsagenda und der Agenda für ein Kreatives Europa wurde.

ARBEITSRECHT

In vielen europäischen Ländern stammt das Arbeitsrecht aus dem Industriezeitalter und basiert auf dem Grundsatz der Vollzeitarbeit. Dieses Prinzip steht in eklatantem Widerspruch zu den komplexeren Merkmalen des heutigen Arbeitsmarktes im Allgemeinen und der Kultur- und Kre-ativwirtschaft im Besonderen. Diese Diskrepanz hat kuriose und häufig unbeabsichtigte Folgen. So läuft ein arbeitsloser Designer oder Architekt in Dänemark Gefahr, seine Arbeitslosenunter-stützung zu verlieren, wenn er an einem Designwettbewerb teilnimmt, da eine solche Teilnahme als berufliche Tätigkeit eingestuft wird und zwar unabhängig davon, ob er eine Chance auf den Sieg hat oder nicht. Wird ein großer oder kleiner freiberuflicher Auftrag angenommen, ist der Anspruch auf Arbeitslosengeld verwirkt, es sei denn, der Begünstigte kann garantieren, dass er dazu in der Lage ist, innerhalb eines Tages gleichzeitig einen Vollzeitjob anzunehmen. Außerdem geht die dänische Gesetzgebung grundsätzlich davon aus, dass (unter der Voraussetzung, dass jemand arbeitet) man entweder angestellt oder selbstständig ist. Diese Zuordnung ist deshalb nötig, weil sich die mit dem jeweiligen Status zusammenhängenden Begünstigungen und Ansprü-che erheblich voneinander unterscheiden. Aus Sicht der Kultur- und Kreativwirtschaft ist dies eine recht barock anmutende Situation.

Für die meisten Berufstätigen in der Kreativwirtschaft – und in dieser Hinsicht befinden sich Designer in allerbester Gesellschaft – sieht die Realität sehr viel interessanter und bunter aus. Ein typisches Profil gibt es vielleicht nicht, aber es kommt nicht selten vor, dass eine Arbeitswoche gefüllt ist mit eigener Projektarbeit im Atelier (möglicherweise durch Fördergelder unterstützt), einer freiberuflichen Aktivität für Kunden oder Kollegen, einigen Stunden Lehre, vielleicht einem Pauschalauftrag und möglicherweise einer Entwicklungsarbeit, die zu zukünftigen Einnahmen durch Lizenz- oder Nutzungsgebühren führen könnte. Sicherlich ist mir klar, vor welchen Heraus-forderungen Politiker stehen, wenn sie die Gesetzgebung ständig an sich verändernde Bedingun-gen anpassen müssen. Dennoch gibt es zweifelsohne eine große Kluft zwischen dem politischen Bestreben, Europas Wettbewerbsfähigkeit mittels Kreativität und Innnovation zu stärken, und dem mangelnden Mut, die jahrhundertealten Strukturen zu hinterfragen, die der Potenzialentfal-tung der Kultur- und Kreativwirtschaft im Wege stehen.

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65 BERUFLICHE IDENTITÄT

Bezugnehmend auf meine vorangegangenen Beobachtungen bezüglich der Kluft zwischen dem auf der einen Seite vorhandenen Traum nach Ruhm, den Teile der Designbranche hegen, und dem gegenwärtigen Design-Diskurs „comme il faut“ auf der anderen Seite, der sich auf die Rolle von Design bei der Förderung von Wachstum und Innovation konzentriert, bedarf es einer bewusste-ren und kritischeren Auseinandersetzung mit der beruflichen Identität der Design-Schaffenden. Folgende Fragen stellen sich: Wer oder was sind sie? Schöpfer funktionaler Schönheit? Vertreter des Wandels? Förderer kreativer Prozesse? Antwort: sie sind alles das. Gleichzeitig balancieren sie diese verschiedenen Aspekte behutsam und individuell aus. Aber das ist nicht wirklich die Frage, die sich hier stellt. Es geht vielmehr darum, ob sie darauf vorbereitet sind, sich in einem neuen Umfeld und unter neuen Voraussetzungen für ihre berufliche Disziplin einzusetzen. Sind sie bereit, sich an die Mechanismen und die Kultur der Messbarkeit und Entlehnbarkeit anzupassen, oder sind sie einfach nur dazu aufgefordert, die Welt ästhetischer zu machen? Die gute Nachricht ist, dass für beides genug Raum vorhanden ist. Die schlechte Nachricht ist, dass jeder einzelne Designer eine Entscheidung treffen muss. Dabei geht es nicht um eine Wahl zwischen Ästhetik und Messbarkeit, sondern um eine Wahl zwischen der Ästhetik, die dem Schönen innewohnt, d. h. der Erscheinung und Attraktivität aus Sicht der Lifestyle-Magazine, der Ästhetik bezüglich der emotionalen Resonanz auf Systeme und Dienste sowie der Ästhetik als Motivator für Verhalten-sänderungen.

Tim Brown, CEO des weltweit größten und bekanntesten Designserviceanbieters IDEO hat in eini-gen seiner Vorträge sieben Veränderungskräfte aufgeführt, die den Bedarf eines grundlegenden Kurswechsels in der Designpraxis nach sich ziehen (Plevin 2013). Wenngleich ich mich nicht not-wendigerweise jedem dieser Aspekte komplett und bedingungslos anschließen kann, so möchte ich doch alle Designer dazu auffordern, die Relevanz dieser Aspekte zu diskutieren und genau zu erörtern, wie sich der einzelne Designer seine berufliche Zukunft vorstellt:

– Von der Gewissheit zur Ungewissheit: das Innovationstempo legt zu und Zeitspannen werden immer kürzer.

– Vom Einfachen zum Komplexen: alles ist Teil eines Systems und erfordert Interdisziplinarität und Zusammenarbeit.

– Vom Newtonschen zum Darwinistischen Ausblick: das Konstante und Physische bewegt sich in Richtung des sich ständig Verändernden und Organischen.

– Von einigen zu allen: Durch die richtigen Werkzeuge und Prozesse Gestaltung ermöglichen, die Umsetzung dem Einzelnen überlassen.

– Von der zentralisierten Kontrolle zu Kollegen-Netzwerken: Veränderung der Strukturen vom Eigentum zum partizipatorischen Ansatz.

– Von der Botschaft zur Bedeutung: Hilfestellung beim Umgang mit Informationsüberflutung und dem Herausfiltern der Bedeutung, u. a. mittels der Fähigkeit, große Datenmengen zu ver-arbeiten.

– Von den Belangen der Industrie zu den Belangen eines bewussten Kapitalismus: die Herausfor-derung annehmen, einige der größten Probleme der Welt zu lösen, statt einzelne Kunden mit begrenzten Interessen zu bedienen.

Derartige Überlegungen werden derzeit vornehmlich in den elitärsten Kreisen der Designbran-che bei einem Glas Rotwein oder in Gesprächsrunden diskutiert. Sie müssen jedoch die gesamte Designbranche durchdringen – je schneller, desto besser – sofern wir nicht bereit sind, zu akzep-tieren, dass die Kluft zwischen der kollektiven Selbstwahrnehmung der Design-Tätigkeit und der Welt drumherum noch tiefer wird.

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66 DESIGN-FÖRDERUNG, DESIGN-INITIATIVEN UND DESIGN-POLITIK

Während des letzten Jahrzehnts stieß Design auf mehr Wohlwollen als jemals zuvor, zumindest wenn man es an seiner Anerkennung durch die Politik misst – ungeachtet der kaum messbaren öffentlichen Ausgaben für diesen Bereich. Eine unvorstellbar große Anzahl an lokalen, regionalen und nationalen Projekten und Initiativen wurde gefördert, so u. a. Ausstellungen und Preisverlei-hungen en masse, Auszeichnungen für sogenannte „Eisbrecher-Designs“ zur Unterstützung der neuesten Designideen, aber auch das umfangreiche Zusammentragen von Datenmaterial bezüg-lich der Wirkungen und der Effektivität von Design. Alles schön und gut, aber nichts davon hat uns vorangebracht. Dies scheint sich auch in der Generaldirektion Unternehmen und Industrie der Europäischen Kommission durchgesetzt zu haben, die eine Zeit lang Interesse an Design bekun-dete. Aber nicht nur dort, sondern auch innerhalb der Generaldirektion Bildung und Kultur und der Generaldirektion Forschung, deren früherer Verantwortlicher für die Innovationspolitik, Herr Rein-hard Büscher, uns im Lauf der letzten Jahre immer wieder daran erinnert hat. Seine Botschaft war glasklar: sollte keines der unzähligen, im Laufe des letzten Jahrzehnts von der EU unterstützten Projekte seine Nachhaltigkeit unter Beweis stellen und zeigen, dass es robust genug ist, um das Stadium des Pilotprojekts auf Versuchsniveau hinter sich zu lassen und endlich systemische und dauerhafte Früchte zu tragen, ist die EU dazu bereit, sich geschlagen zu geben und an anderer Stelle nach Hebeln für Wachstum und Innovation zu suchen.

Dieses Signal muss ernstgenommen werden. Herr Büscher ist nicht nur ein kluger Mann, sondern auch einer, dem viele nationale Regierungen aufmerksam zugehört haben. Design muss dringend seine neuen Aufgaben zementieren sowie seine alten Funktionen neu bekräftigen. Relevanz und Legitimität dürfen nicht als selbstverständlich erachtet werden und der Preis für Nachlässigkeit könnte verheerend sein. Design als das, was wir in der Vergangenheit kannten, also die Form- und Funktionsgebung von Gegenständen, Kommunikationsmitteln und der physischen Umgebung, wird immer seine Daseinsberechtigung haben. Dabei mit neuen Technologien und Methodologien Schritt zu halten, ist schon eine Herausforderung an sich. Die Anwendung von Design auf neue Bereiche nicht fassbarer und systemischer Komplexität wie Dienste, Beziehungen und Prozesse, stellt ein neues Bündel an Herausforderungen dar. Möchte man sicherstellen, dass Design als Konzept robust genug bleibt, um beide Bereiche abzudecken, ist mehr erforderlich als beliebige Design-Ausstellungen und -konferenzen, Versuchs-Pilotprojekte, Programme wie „World Design Capital“ oder die zahlreichen Design-Wochen und -Festivals, die den Design-Tourismus am Leben halten.

Um Design zu konsolidieren und von seiner gegenwärtigen anekdotischen Rolle auf eine Ebene zu bringen, auf der es eine tiefgreifende und anhaltende Wirkung als ein Hebel für verantwor-tungsvolles und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, als ein intelligenter und auf den Menschen fokussierter Ansatz für Herausforderungen im öffentlichen Bereich, für den Umgang mit großen Datenmengen und zur Aufwertung der einzelnen und gemeinschaftlichen Lebensqualität, nicht nur in unserem privilegierten Teil der Welt sondern überall, entfalten kann – und dabei gleichzeitig der alten Rolle von Design Raum zu lassen – bedarf es eines nie zuvor dagewesenen politischen Engagements. In Ländern wie Dänemark, Schweden und Großbritannien gibt es Anzeichen für einen fokussierteren und strategischeren Ansatz, der jedoch leider mit Budgetkürzungen einher-geht und ansonsten durchführbare Initiativen in der Schwebe lässt. Dennoch sollten wir darauf hoffen, dass der Kurswechsel kommt, und dass wir mit all dem genannten eben umgehen müssen, weil es der Preis ist, den wir bezahlen müssen, um letztlich Ernst genommen zu werden. Sollte sich dies als richtig erweisen, hoffe ich, dass wir, die Designbranche, der Lage gewachsen sein werden und handlungsfähig sind, indem wir beweisen, dass Design tatsächlich das Potenzial in sich trägt, das wir ihm jahrzehntelang beigemessen haben.

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67 EPILOG

Von der ursprünglichen Rolle, unsere physische Umgebung zu schmücken und die Wertigkeit von Artefakten und visueller Kommunikation zu erhöhen, hat Design alle bisher denkbaren Grenzen überschritten. Zu den gängigen Kompetenzbereichen von Design gehören sowohl das Materielle als auch das Immaterielle, sowohl das Streben nach Schönheit, Form und Funktion als auch die Ambition, die Innovation des öffentlichen Bereichs in Zeiten der Sparpolitik zu fördern, und das Ziel, einen verantwortungsvolleren Konsum in einer Welt zu erleichtern, die von Klimawandel und sozioökonomischem Kollaps bedroht ist. Alles, was sich dazwischen befindet, gehört ebenfalls dazu. Fragen wurden aufgeworfen, rote Flaggen gehisst. Kann eine berufliche Identität identifi-zierbar und einzigartig bleiben, während der Versuch unternommen wird, allen Herausforderun-gen dieser Welt gerecht zu werden?

Ich bin der Überzeugung, dass Design in der Tat eine immer wesentlichere Rolle bei der Antwort auf die Herausforderungen auf Mikro-, Makro- und Metaebene spielen wird, nur eben nicht allein. Design und Designer müssen die Grenzen ihrer Funktion überdenken und neu definieren, oder aber diese Begrenzungen bekräftigen und akzeptieren.Um unser tägliches Leben einfacher und angenehmer zu machen, braucht die Welt Schönheit, Form und Funktion, wie dies für Gegenstände und Anwendungen, die wir täglich nutzen, umge-setzt wird, sowie für die Umgebung unseres Zuhauses oder Arbeitsplatzes und die Kommunikati-onsmittel, von denen wir in so hohem Masse abhängig sind. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite brauchen wir Schönheit, Form und Funktion wie dies im Bereich medizinischer Geräte und Unterstützungstechnologien, Krankenstationen sowie Spiel- und Lernumgebungen angewandt wird, denn all diese Aspekte beeinflussen unsere Genesung, unsere Unabhängigkeit von überge-ordneten Strukturen und unsere Fähigkeit, Dinge zu verstehen. Wir brauchen Schönheit, Form und Funktion, weil es für die Lebensqualität des Einzelnen und der Gemeinschaft von entscheidender Bedeutung ist, wie wir Dinge wahrnehmen und in welchem Maße wir unsere Umgebung und Sys-teme, deren Teil wir sind, verstehen und annehmen.

Vor diesem Hintergrund brauchen wir auch klügere, präzisere, effizientere und nachhaltigere Ant-worten auf einige derjenigen Herausforderungen, denen wir selten als Einzelperson begegnen, sondern die sich uns und den nachfolgenden Generationen auf systemischer und globaler Ebene stellen. Wir müssen dazu in der Lage sein, neue Technologien und große Datenmengen zu steuern und menschlicher zu machen, und wir müssen uns mit Themen auseinandersetzen, die, sofern sie behandelt werden, Auswirkungen auf die gesamte wirtschaftliche und politische Stabilität haben. Gemeint sind damit Themen wie Migration, Armut, Analphabetismus und Raubbau an natürlichen Ressourcen. Auf beiden Ebenen haben Design und Designer etwas anzubieten, unter der Voraus-setzung, dass diese weder den gleichen Design-Ansatz noch die gleichen Designer darstellen. Aus diesem Grund müssen wir dringend erörtern, wie Design ins Bild passt und was für den einzel-nen Designer sowie die Designgemeinschaft allgemein nötig ist, um mit dieser Komplexität und Vielfalt umgehen zu können. Für die Informations- und Kommunikationstechnologie hat es sich bereits als möglich erwiesen. Vor 30 Jahren wurde dieser Bereich von Faktoren wie Kosten und Kapazität eingeholt und war daraufhin nur noch für große und fortschrittliche Unternehmen von Relevanz. Heute hingegen sind IKT ein integraler Bestandteil des täglichen sozialen und berufli-chen Lebens fast aller Menschen.

Design und Designer müssen sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, von der Gegen-wart lernen und einen Bezug zur Zukunft herstellen, indem sie sich der Herausforderung stellen, ihren legitimen Platz innerhalb der Wertschöpfungsketten zu finden, als deren Bestandteil sie sich selbst betrachten. Für designorientierte Dienste gibt es nicht nur einen Bedarf, sondern ein fast schon instinktives Verlangen. Diese Dienste stehen für die Fähigkeit, den Mehrwert und die Attraktivität zu erhöhen, indem die latent vorhandenen und unausgesprochenen Bedürfnisse von einzelnen Personen und Gemeinschaften entschlüsselt werden, und diese Bedürfnisse daraufhin in

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68 Form von Produkten, Diensten, Umgebungen und Kommunikation interpretiert und materialisiert werden, die der menschlichen Natur entsprechen.

REFERENZEN

Chiva, R., Alegre, J., 2009. INVESTMENT IN DESIGN AND FIRM PERFORMANCE: THE MEDIATING ROLE OF DESIGN MANAGEMENT. Journal of Product Innovation Manage-ment, 24(4), pp. 424–440.

DG Enterprise and Industry of the European Commission (Ed.) 2012. REPORT AND RECOM-MENDATIONS OF THE EUROPEAN DESIGN LEADERSHIP BOARD: DESIGN FOR GROWTH AND PROSPERITY [pdf] DG Enterprise and Industry of the European Com-mission. Verfügbar unter: >http://ec.europa.eu/enterprise/policies/innovation/files/design/design-for-growth-and-prosperity-report_en.pdf< [Zugriff, 20. Januar 2014]

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69 „TECHNIK MUSS ZUM INHALT PASSEN; SIE HILFT, WENN SIE AKTIVIERT UND DAMIT ENTDECKENDES LERNEN ERMÖGLICHT.“

CARSTEN BUSCH Carsten Busch ist Professor für Medienwirtschaft/Medieninformatik an der Hochschule für Tech-nik und Wirtschaft Berlin (HTW) und Dekan des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften II. Als Diplom-Informatiker sammelte er zunächst als Planungsreferent Erfahrungen an der Universität der Künste Berlin (UdK), baute Unternehmenskooperationen auf, arbeitete im Bereich Medienge-staltung und Multimedia und lehrte Medientheorie. An der HTW leitet Carsten Busch u.a. die Forschungsgruppe Creative Media, die sich der bes-seren Vernetzung zwischen Hochschule und kreativwirtschaftlichen Unternehmen widmet und die bereits Labore für verschiedene Themenfelder eingerichtet hat, darunter für „Interaktive Lernkulturen“ oder „Interaktive Medien in Restaurierung und Museumskunde“. Als Mitinitiator des GamesLab liegen ihm vor allem die anspruchsvolle Gestaltung von Computerspielen und die Unterstützung lokaler Unternehmen mit „Games-Kompetenz“ am Herzen. Carsten Buschs Kindheit und Jugend waren zwar in erster Linie von ganz analogen Spielen wie Skat oder Malefiz geprägt, seine Leidenschaft gilt heute jedoch dem Zusammenspiel von Inhalt und Technik. Das für Carsten Busch spannendste Anwendungsfeld ist das der Lernspiele. Darin kommen zwei anspruchsvolle Aufgaben zusammen: sie erfordern einerseits eine zielgruppenge-naue Aufbereitung der Inhalte, andererseits den Einsatz modernster Technik. Diese Kombination kommt etwa bei der Schulung von Pflegekräften zum Einsatz oder dabei, Kindern den Zusam-menhang zwischen Fieber und Medikamenteneinnahme zu erklären. Auch die Simulation eines Kreditgesprächs für die Schulung von Firmeninhabern wurde in Kooperation mit BWL-Kollegen bereits entwickelt. Dass er sich dabei immer wieder auf neue Disziplinen und Fragestellungen einlassen muss, macht für ihn einen besonderen Reiz aus. Nach seiner Erfahrung scheitern heute viele Lernspiele, weil sie zumeist nur in einer dieser beiden Dimensionen ausgereift sind: sie sind entweder zu einseitig auf die Inhalte ausgerichtet oder nur in technischer Hinsicht state of the art.International engagiert sich Carsten Busch unter anderem als Programme Chair der Europäischen Konferenz für Game-Based Learning, die 2014 erstmals in Berlin stattfindet. Carsten Busch verdeutlicht in seinem Kapitel über Gamification nicht nur die bemerkenswerte Ent-wicklung der Games-Industrie in den letzten Jahren an sich, sondern richtet den Blick auch auf die vielfältigen Möglichkeiten, die durch die Methoden und Techniken von Spielen in Kontexten außer-halb von Spielen entstehen: von der Safer Sex-Kampagne in Stockholm, die mithilfe von QR-Codes für die Benutzung von Kondomen wirbt, bis zur Werbung für vegetarische Döner in Berlin. Von digitalen Spielen inspirierte und unterstützte Lehr- und Lernkontexte gehören für Carsten Busch zu den anspruchsvollsten Anwendungsfeldern, auch wenn sie aus ökonomischer Sicht oftmals noch in hohem Maße von staatlichen Zuschüssen abhängig sind. Schließlich fragt Carsten Busch nach den Potenzialen und Barrieren der Anwendung von Games in anderen Branchen.

(Josephine Hage)

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70 GAMIFICATIONTECHNIKEN UND METHODEN DIGITALER SPIELE ALS INNOVATIONSTREIBER IN DER KREATIVWIRTSCHAFT UND ANDEREN BRANCHEN

CARSTEN BUSCH

1. EINFÜHRUNG UND DEFINITIONEN

GAMIFI- WAS?Natürlich „kennt“ jeder Spiele. Man denke nur an Grand Theft Auto, Counter-Strike, Moorhuhnjagd oder Farmville – um nur einige wenige der erfolgreichsten digitalen Spiele der letzten Jahre zu nennen.

Doch was genau ist Gamification und in welchem Verhältnis steht sie zur Kultur- und Kreativwirt-schaft?

In den Oxford Dictionaries online wird Gamification definiert als:the application of typical elements of game playing (e.g. point scoring, competition with others, rules of play) to other areas of activity, typically as an online marketing technique to encourage engagement with a product or service: gamification is exciting because it promises to make the hard stuff in life fun1(die Anwendung spieltypischer Elemente (z. B. Punktezählen, Wettstreit mit anderen, Spielregeln) auf andere Tätigkeitsbereiche, typischerweise als Technik des Online-Marketings, um die Beschäf-tigung mit einem Produkt oder einer Leistung zu fördern: Das Spannende an Gamification ist die Verheißung, die unangenehmen Seiten des Lebens in Spaß zu verwandeln.)

Ich ziehe die folgende Definition von Gamification vor: VERWENDUNG DER METHODEN UND TECHNIKEN ANALOGER ODER DIGITALER SPIELE MIT DEM KONKRETEN ZIEL DER BEREICHERUNG EINES SPIELFREMDEN KONTEXTS.

Dass diese Definition ganz eindeutig weiter gefasst ist als die erste, ist aus mehreren Gründen wichtig. Zunächst einmal sind Spiele weitaus mehr als nur die digitalen Spiele der letzten 60 Jahre. Schon seit Anbeginn der Menschheit ist Spielen eine menschliche Tätigkeit und Leidenschaft (wobei die Beobachtung von Tieren wie Vögeln, Katzen oder Affen zeigt, dass Spielen nicht aus-schließlich dem Menschen vorbehalten ist). In dieser Hinsicht gleicht das Spielen anderen anthro-pologischen Konstanten wie der Zusammenarbeit oder dem Bedürfnis nach Kommunikation und sozialer Interaktion. Zweitens bedeutet Gamification viel mehr als Punktesammeln, Wettstreit mit anderen oder Spielregeln. Vielmehr stehen dahinter Methoden wie das Rollenspiel, das Erzeugen eines Spielflusses, das Finden eines Gleichgewichts zwischen Zusammenarbeit und Wettbewerb, Verfremdung usw., und es kommen Technologien zum Einsatz, die das befördern, beispielsweise die Sensor gesteuerte Interaktion, Augmented Reality, Echtzeitinteraktion mit der Masse, dreidi-mensionale Displays und anderes mehr. Drittens ist meine Definition nicht ausschließlich auf das Online-Marketing beschränkt, das zwar zweifellos zu den Anwendungsgebieten der Gamification zählt, die derzeit am meisten in Mode sind, doch bestimmt nicht das einzige ist und gewiss nicht das wichtigste für die Zukunft.

Bevor wir tiefer in die Materie eindringen, sollten wir zunächst kurz darauf eingehen, was wir unter „Spielen“ verstehen:

1 Siehe http://www.oxforddictionaries.com/definition/english/gamification [Zugriff, 3. Januar 2014]

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Der niederländische Historiker Johan Huizinga beschäftigte sich als einer der ersten Autoren umfassend mit der Theorie des Spielens. In seinem Buch Homo Ludens („Der spielende Mensch“, erstmals erschienen 1938) schreibt er:

Der Form nach betrachtet kann man das Spiel also zusammenfassend eine freie Handlung nennen, die als „nicht so gemeint“ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft und Gemeinschaftsverbände ins Leben ruft, die ihrerseits sich gern mit einem Geheimnis umge-ben oder durch Verkleidung als anders als die gewöhnliche Welt herausheben. (1949, S. 21 f.)2

Noch vor ihm, bereits 1795, betonte Friedrich Schiller die Bedeutung des Spielens in diesem bekannten Zitat aus seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen:„Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“

Einen kurzen Überblick über einige Meilensteine des Spielens, von den frühesten, in Ägypten und Griechenland gefundenen Puppen bis hin zu elektronischen und digitalen Spielen, gibt der Artikel „Spielzeit“ von Bremer und mir (Bremer & Busch 2009).

2 Deutsch zitiert nach: Huizinga: Homo ludens; Versuch einer Bestimmung des Spielelementes der Kultur. (Aus dem Niederländischen übertragen von H. Nachod), Basel, Brüssel, Köln, Wien: Akadem. Verl. Anst. Pantheon, 3. Aufl., 1949.

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72 2. BEISPIELE

Für die Zwecke dieses Kapitels ist es nicht erforderlich, die Geschichte analoger oder digitaler Spiele in allen Einzelheiten zu kennen. Der wichtigste Aspekt, dessen man sich bewusst sein muss, ist, dass Spielen in all seinen Formen ein inhärenter Bestandteil des Menschseins ist – das gilt für Unterhaltungsspiele ebenso wie für Serious Games, für komplexe wie leicht zu erlernende, Einzel- wie Gemeinschaftsspiele, für Spiele, bei denen Gegenstände zum Einsatz kommen, wie für High-tech- und/oder Fantasy-Spiele. Das daraus folgende, bei Kindern ebenso wie bei Erwachsenen bestehende Bedürfnis zu spielen und die Freude daran sind die wichtigsten Gründe für den Erfolg von Gamification. Hält man sich das vor Augen, so wird klar, dass Gamification kein modernes Phänomen ist, sondern seine Geschichte Tausende von Jahren zurückreicht. Dies vorausgeschickt, lässt sich ihr Erfolg vielleicht besser verstehen, wenn man einen Blick auf einige neuere Beispiele wirft:

– Gestaltung einer Treppe als Klaviertastatur, die durch das Hinauf- und Hinabsteigen der Stufen gespielt wird, als Alternative zur daneben befindlichen Rolltreppe. Im Ergebnis stieg die Zahl der Menschen, die die „Klaviertreppe“ benutzten, und die Nutzung der Rolltreppe ging zurück.3

– Verwendung von QR-Code und mobilen Geräten in einer Kampagne für Safer Sex und die Benutzung von Kondomen in Stockholm, Schweden.4

– Eindrucksvolle Webseite mit zahlreichen lustigen, interaktiven Elementen als Werbung für vegetarische Döner Kebab in Berlin, Deutschland.5

– Verwendung von Minispielen als Marketingtool für die Ansprache bestimmter Zielgruppen.6

– Gamification zur Unterstützung der NASA bei der Klassifizierung von Bildern des Mondes mit Moon Zoo.7

– Hilfestellung zum Zielen für Männer in einem Urinal.8

– Swirp Fever: iPad-Spiel für Kinder mit mehreren Levels, in dem sie lernen, was Fieber ist und wie sie mit Medizin, die sie durch gezieltes Herumwirbeln der drei Münzen bekommen, dafür sorgen können, dass es dem kranken grauen Monster besser geht:9

– …

In all diesen Beispielen kommen interaktive Medien und Spieltechnologien und/oder Spielme-thoden in unterschiedlichen Kombinationen zum Einsatz und dienen der Bereicherung unter-schiedlichster Gebiete, darunter Sport, Safer Sex, gesundes Fastfood, Shopping, Erforschung des Mondes, Verhinderung von Missgeschicken beim Urinieren und Vermittlung von Wissen über Krankheiten und Medizin an Kinder.

Eines der komplexesten Beispiele ist die Safer-Sex-Kampagne in Stockholm, bei der folgende Elemente zum Einsatz kommen:– interaktive Medien und Spieltechnologien wie– QR-Code– Smartphones– Sensoren– Apps– das Internet– (und Kondome!)

3 Siehe http://www.thefuntheory.com/piano-staircase [Zugriff, 3. Januar 2014]4 Siehe http://2d-code.co.uk/qr-code-condom-campaign/ [Zugriff, 3. Januar 2014]5 Siehe http://www.mustafas.de [Zugriff, 3. Januar 2014]6 Siehe http://www.topshop.com/en/tsuk/category/scvngr-41/home?geoip=noredirect [Zugriff, 3. Januar 2014]7 Siehe http://www.moonzoo.org [Zugriff, 3. Januar 2014]8 Im Internet gibt es eine Fülle davon. Als Suchwörter einfach „pissoir goal“ oder „uro goal“ eingeben.9 Das Spiel wurde 2012 von Sabine Classnitz im Rahmen ihrer Masterarbeit „Entwicklung eines iPad-Spiels mit Multi-Touch-

Fähigkeiten“ an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin entwickelt.

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in Kombination mit Spielmethoden, darunter– gemeinsam Spaß haben– Zusammenarbeit– Gleichzeitigkeit– Punkte– Rollenspiel und– Veröffentlichung der Ergebnisse.

Die Integration klassischer Kommunikationsmedien wie Plakate und Handzettel sowie die Einbin-dung von face-to-face-Elementen, Betten usw. machen die Kampagne sogar noch beeindrucken-der. Am anderen Ende des Spektrums nutzt das Fußballtor im öffentlichen Urinal einfach d i e männliche Fußballbegeisterung zusammen mit der Freude daran, das „eigene Tor“ zu schießen, und so eine Änderung hin zu mehr Hygiene und Sauberkeit herbeizuführen.

Kenntnisse über Gamification sind ja schön und gut, aber was in aller Welt hat das mit dem Geschäftsleben und der Wirtschaft zu tun, also mit – selbstverständlich – seriösen Unternehmen, was Spiel und Spaß doch irgendwie ausschließt?

3. GAMIFICATION IN DER KULTUR- UND KREATIVWIRTSCHAFT

Wenn von der Kultur- und Kreativwirtschaft gesprochen wird, geht es natürlich auch um die Spieleindustrie. In Deutschland sind Spiele seit 2008 als Kulturgüter anerkannt, und der G.A.M.E Bundesverband der Computerspielindustrie ist im deutschen Kulturrat vertreten.Man sollte sich außerdem nicht täuschen lassen – die Spieleindustrie gehört nicht gerade zu den kleinen Branchen. In Deutschland beispielsweise lagen die Verkaufszahlen für Videospiele im Jahr 2008 weit über denen für Musik, womit die Spieleindustrie mit der Filmindustrie gleichzog (PwC

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74 2012, S. 31). Aufmerksamen Lesern mag aufgefallen sein, dass hier erstmals konkret „Videospiele“ genannt werden, denn diese Stärke betrifft nur den außerhalb des Hardwarebereichs liegenden Teil der Spieleindustrie, dessen Umsatz bei mehr als 2 Mrd. € liegt. Dieser Bereich umfasst Video-spiele für Konsolen, PC-Spiele, Onlinespiele, Spiele für mobile Endgeräte und In-Game-Werbung.Betrachtet man die weltweite Statistik, so verzeichnete die Spieleindustrie im Jahr 2009 einen Jahresumsatz von mehr als 19 Mrd. US$, die Schätzungen für 2014 liegen bei über 30 Mrd. US$. (statista.com 2014)

Wichtiger als diese Zahlen ist jedoch die Entwicklung, die das Gaming im Lauf der Jahre genom-men hat: In den letzten Jahren verzeichnete die Spieleindustrie ein größeres Wachstum als nahezu alle anderen Bereiche der kreativen und/oder Medien- und Unterhaltungsbranche. Für Videospiele lag das durchschnittliche Wachstum in Deutschland von 2006 bis heute bei rund 7,9 % – viel höher als der Branchendurchschnitt der gesamten Medien- und Unterhaltungsindustrie, der 2,8 % betrug. Nur ein Sektor konnte ein noch schnelleres Wachstum verzeichnen: Onlinewerbung mit rund 9,9 %. Die Prognosen für die nächsten paar Jahre gehen von einer ähnlich starken Ent-wicklung aus, das Wachstum für Videospiele wird demnach rund dreimal höher ausfallen als die durchschnittliche Wachstumsrate des Medien- und Unterhaltungssektors insgesamt. Selbst in Krisenzeiten wie in den Jahren 2008 und 2010 erlitt die Spieleindustrie geringere Verluste als die meisten anderen Branchen.

Folglich nimmt der Marktanteil der Spieleindustrie jedes Jahr zu.

Außerhalb der Spieleindustrie im engeren Sinn gibt es weitere nennenswerte Phänomene, die aus der Beziehung zwischen der Spieleindustrie und der Kultur- und Kreativwirtschaft hervorgehen:In-Game-Werbung (Werbung in Computerspielen) und umgekehrt Gamification in der Marketing- und Werbebranche;– Spieltechnologien wie 3D oder Augmented Reality in Architektur, Design, Bildhauerei, Tanz,

Theater, Film usw.;– Spiele und Filme: Filme, die auf Spielen basieren, wie WingCommander, und umgekehrt aus

Filmen hervorgegangene Spiele, wie Harry Potter, Lord of the Rings oder Star Wars; – Spiele und Fernsehen: Spiele als Ableger von TV-Shows, wie z. B. Wer wird Millionär? oder

Germany’s Next Topmodel. Ein etwas stärker integriertes Beispiel ist das kostenlos herunter-ladbare Online-Game Ski Challenge, das von dem deutschen Computerspiele-Unternehmen Bigpoint GmbH entwickelt wurde und realitätsnahe Skirennen umfasst. Sowohl das Spiel als auch die Rennen werden vom Fernsehsender Pro7 promotet und von einigen seiner Sponsoren gesponsert;

– Spiele und Internet: MMORPGs, wie z. B. EVE Online oder World of Warcraft, und Spiele auf sozialen Plattformen, wie z. B. Farmville auf Facebook;

– Spiele und Apps: Viele Spiele verfügen über Ableger in Form einer App und viele Apps wurden als kleine Spiele konzipiert;

– Spielmethoden als Techniken zur Erhöhung der Kreativität, wie z. B. das Rollenspiel oder Ver-fremdung;

Und die Liste ließe sich noch fortsetzen.

Auf den ersten Blick könnte diese Vielfalt der Beziehungen zwischen der Spiele- und der Kultur- und Kreativwirtschaft recht überraschend anmuten. Wer sich jedoch eingehender mit der Thema-tik befasst, erkennt, dass dies aufgrund der engen Beziehung zwischen Kreativität und Spieltrieb so sein muss; die Voraussetzungen für Kreativität sind einigen der spieltypischen Elemente ähn-lich. Nach Johan Huizinga ist das Spiel:

„[…] eine freie Handlung, die als „nicht so gemeint“ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird, […] an die kein materielles Interesse geknüpft ist, […] die sich inner-halb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, […] die

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75 Gemeinschaftsverbände ins Leben ruft, die ihrerseits sich gern mit einem Geheimnis umgeben oder […] als anders als die gewöhnliche Welt herausheben.“ (1949, S. 21 f.)10

Die meisten Menschen würden zustimmen, dass diese Definition auch eine gute Beschreibung der Kreativität darstellt.

Folglich gibt es viele Überschneidungen zwischen Spielen und der Kreativität sowie vielfältige Beziehungen zwischen der Spieleindustrie und der Kultur- und Kreativwirtschaft. Es wäre überra-schend, wenn dies nicht der Fall wäre.

Natürlich gehen der Einfluss und das Potenzial der Gamification (wie vorstehend definiert) auch für andere Wirtschaftszweige über das bisher Erwähnte hinaus. In den folgenden beiden Abschnit-ten werde ich zunächst auf Spiele und Gamification im Bereich der Lehre und des Lernens und anschließend auf deren Bedeutung für andere Branchen eingehen.

4. SPIELE UND GAMIFICATION IM BEREICH DER LEHRE UND DES LERNENS

Eine Vielzahl von Autoren schreibt über „Serious Games“, die den Einsatz von Spielen (die eigent-lich als „unernst“ gelten) zur Vermittlung ernsthafter Themen implizieren, während andere Edu-tainment bevorzugen – eine Kombination aus Bildung und Unterhaltung. Selbstverständlich gibt es auch einen gewissen Bezug zu E-Learning und Webbasiertem Lernen. Die britische Stiftung Nesta erörterte „Spaß und Spiele in der Lehre“ in einem Blog-Eintrag11 vom 10. Oktober 2010.

An der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin (HTW Berlin) – insbesondere im Gameslab12 – wird eine vergleichsweise weit gefasste Definition vom Digital Game-based Learning angewandt:

Digital game based learning is the process of being taught and/or learning via digitally enriched play-/game-like activities or by playing/designing/creating/modifying digital games. (Bodrow, W. et al. 2011)[Digital Game-based Learning ist der Prozess der Wissensvermittlung und des Lernens mittels digitaler Lernspiele bzw. mittels Spielen/Gestalten/Entwickeln/Modifizieren digitaler Spiele.]

Kurzum umfasst das Digital Game-based Learning drei mehr oder weniger verschiedene Szena-rien: 1. Lernen durch Spielen eines digitalen Spiels mit oder ohne eigener Reflexion oder Grup-pendiskussion. 2. Lernen durch Gestalten, Entwickeln oder Modifizieren digitaler Spiele – Schaffen eines Unterhaltungs- oder Lernwerts. Und 3. Lernen im Rahmen einer spielerischen Interaktion mit digitalen Medien oder Spielekomponenten.

Beispiele für das erste Szenario auf dem Gebiet des interkulturellen Lernens sind: Culture Assimi-lators, Tactical Language and Culture Training Systems oder der Culture Trainer Europe13. Viele Beispiele dafür sind in der Praxis vorzufinden. Für das 2. Szenario sind Programmiersprachen wie Kodu14 von Microsoft oder Sony’s ‚LittleBigPlanet‘15 von Nutzen. Das dritte Szenario zählt zu den

10 Deutsch zitiert nach: Huizinga: Homo ludens; Versuch einer Bestimmung des Spielelementes der Kultur. (Aus dem Niederländischen übertragen von H. Nachod), Basel, Brüssel, Köln, Wien: Akadem. Verl. Anst. Pantheon, 3. Aufl., 1949.

11 Siehe Blog von Nesta unter http://www.nesta.org.uk/blog/ [Zugriff, 3. Januar 2014]12 Das Gameslab der HTW Berlin wurde von C. Busch und T. Bremer im Jahre 2007 als eine Institution für Forschung und

Entwicklung auf dem Gebiet digitaler Spiele gegründet. [Zugriff, 3. Januar 2014]13 Ein internetbasiertes Lernprogramm vom deutschen Automobilhersteller Volkswagen. Für Informationen siehe z. B.: http://

lernverbindung.de/downloads/PDF1.pdf [Zugriff, 3. Januar 2014]14 Kodu ist eine neue visuelle Programmiersprache von Microsoft, die speziell für das Programmieren von Spielen entwickelt

wurde. Sie ist insbesondere für Kinder geeignet, kann aber von jedermann genutzt werden. Siehe http://research.microsoft.com/en-us/projects/kodu/ [Zugriff, 3. Januar 2014]

15 Wikipedia beschreibt LittleBigPlanet als ‚ein Jump-’n’-Run-Videospiel‘ mit Puzzleelementen für verschiedene PlayStation-Modelle, das von der britischen Firma Media Molecule entwickelt und von Sony Computer Entertainment veröffentlicht

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Favoriten in meiner Forschungsgruppe an der HTW Berlin, da es uns die Möglichkeit gibt, mit verschiedenen interaktiven Technologien und Spielmethoden zu experimentieren. Beispielsweise programmierte ein Studententeam eine Art Tetrisspiel, das man nicht alleine sondern nur zu zweit (entweder miteinander oder gegeneinander) spielen kann; die Spieler steuern das Spiel mit Ges-ten und Bewegungen, die von Microsofts Kamerasystem ‚Kinect‘ erfasst werden:

Dies führt zu einer besonderen Form des Game-based Learning, die als Embodied Learning („Lernen mit physikalischer Interaktion“) bezeichnet wird. Traditionell basiert das Lernen auf der Informationsvermittlung und der Wissenserweiterung. Ebenso setzen herkömmliche Selbstlern-systeme zum Großteil auf einer passiven, kognitiven Ebene an, d. h. wir nehmen Informationen über uns selbst und unsere Umwelt auf, in der Hoffnung, dass wir dadurch unsere Selbsterkenntnis sowie unser Verständnis darüber verbessern, wodurch unsere Gedanken, Gefühle, unser Verhalten, Körper und unser Wohlbefinden beeinflusst werden. Vertextete und verbildlichte Informationen stellen nur eine Möglichkeit für Menschen dar, sich mit sich selbst zu beschäftigen, indem sie (d. h. Texte und Bilder) persönliche und umgebungsabhängige Daten präsentieren. Spiele und inter-aktive Medien stellen einen anderen Umgang mit sich selbst dar, indem sie Digitales (persönliche Daten) für Zusammenspiel und Vorstellung in der realen Welt, allein oder in Gruppen, bereitstellen. Spiele können das Verständnis, die Reflexion und das Lernen auf verschiedene Weise fördern, so z. B. durch das Einbeziehen didaktischer Elemente (traditioneller Ansatz), dadurch, dass Laien zum Programmieren von Spielen veranlasst werden, durch die Nutzung von Spielen als Mediator beim gemeinsamen Lernen, durch die Entwicklung von Spielen mit Biofeedback-Funktionen oder von Spielen, die Informationen aus der Umwelt mit digitalen Elementen zusammenführen. Der Körper spielt normalerweise, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle in derartigen Lernszenarien. Im Zusammenhang mit der psychischen Gesundheit beginnt sich inzwischen jedoch die Erkennt-nis durchzusetzen, dass dem Körper nebst Kognitionen, Emotionen und Verhalten eine wichtige Rolle bei der Erhaltung des Wohlbefindens bzw. beim Auslösen mentaler Krisen zukommt. Denn ausgehend von der Auffassung, dass eine Vielzahl von Gedanken und Erfahrungen entscheidend

wurde. In den Spielen geht es um die Abenteuer von Sackboy sowie vorrangig um das Spielen und nicht um die Story. Alle Spiele der Reihe legen einen besonderen Schwerpunkt auf nutzergenerierte Inhalte. Siehe http://de.wikipedia.org/wiki/LittleBigPlanet, http://en.wikipedia.org/wiki/LittleBigPlanet und http://www.littlebigplanet.com/. [Zugriff, 3. Januar 2014]

SREENSHOT DES MIT EINER KINECT GESTEUERTEN TETRIS

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durch das Fungieren in der Welt mit spezifischen körperlichen Fähigkeiten geprägt werden, geht die Entwicklung in der Psychologie und den Kognitionswissenschaften zunehmend dahin, den Nutzen eines verkörperlichten (embodied) Verständnisses von Kognition herauszustellen. Von Bedeutung ist das zum einen, weil physische Empfindungen die Aufmerksamkeit auf ‚verborgene‘ Informationen über den eigenen Körper lenken und folglich ungewollte Reaktionen hervorrufen können, und zum anderen, weil dieser Ansatz nahelegt, dass körperliche Erfahrungen auf dem Wege der Beobachtung von und Reflexion über persönliche und umgebungsabhängige Daten eine aktivere und positivere Rolle im Lernprozess spielen könnten. Eine der wichtigsten Fragen in diesem Zusammenhang betrifft die Klärung, welches Niveau an Feedback – in Form von Daten, die durch Selbstlernen, Empfindung (sensing) und andere neue Ansätze im Bereich der psychi-schen Gesundheit gewonnen werden – am besten geeignet ist, das enorme Potenzial der neuen Technologien nutzbar zu machen, ohne sich dabei in der Falle einer möglichen Informationsüber-flutung zu verfangen.

Obwohl diese Gebiete aus forschungs- und entwicklungspolitischer Sicht ziemlich spannend sind und viel über Serious Games, Edutainment, Game-based Learning usw. zu hören und zu lesen ist, muss an dieser Stelle klargestellt werden, dass es sich hierbei bisher nicht um einen Markt im ökonomischen Sinne handelt. Möglicherweise wird sich aber in den nächsten Jahren ein regulärer Markt mit Kunden und Herstellern herausbilden, auf dem beachtliche Umsätze erzielt werden. Zum jetzigen Zeitpunkt handelt es sich jedoch allenfalls um einen noch in den Kinderschuhen steckenden Markt, der hauptsächlich durch den Enthusiasmus einiger Leute anstatt durch gut durchdachte Geschäftsmodelle vorangetrieben wird und häufig auf Subventionen angewiesen ist. Die aus wirtschaftlicher Sicht interessantesten Beispiele sind Gehirnjoggingprogramme wie Dr. Kawashima oder ähnliche Produkte. Die Beurteilung, ob es sich dabei um gute Beispiele des Game-based Learning handelt oder nicht, bleibt dem Leser überlassen.

ZWEI PERSONEN SPIELEN TETRIS MIT HILFE EINER KINECT-KAMERA UND EINES BEAMERS.

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78 5. SPIELE UND GAMIFICATION IN ANDEREN BRANCHEN

Obwohl der vorhergehende Absatz ein wenig pessimistisch klingt, sehen Gegenwart und Zukunft für den Einsatz von Spielen und Gamification in anderen Branchen ziemlich rosig aus.

In einem von 2007 bis 2010 durchgeführten und vom Bundesministerium für Bildung und For-schung geförderten Forschungsprojekt hat mein Team eine auf Interviews mit Experten aus verschiedenen Branchen basierende Studie über die Potenziale von Spieletechnologien und -kon-zepten in Branchen außerhalb der Spieleindustrie durchgeführt. Die Ergebnisse der Studie16 sind Folgende:

DIE AM HÄUFIGSTEN GENANNTEN, AUF ANDERE BRANCHEN ZU ÜBERTRAGENDEN SPIELTYPISCHEN ELEMENTE:– Echtzeitumgebungen (insbesondere 3D-Engines, Spielephysik und künstliche Intelligenz)– Netzgestützte Interaktion (insbesondere Gemeinschaftssysteme und Multi-User-Umgebungen)– Anwenderschnittstellen– Spielekonzepte

ERMITTELTE POTENZIELLE ABSATZMÄRKTE:– Architektur, Stadtplanung und Logistik– Sensortechnik, Maschinenbau und Automatisierungsbranche– Gesundheit und Fitness – Bildung und Forschung– Museen und Tourismus– Öffentlichkeitsarbeit und Werbung– Film- und Fernsehproduktionen

Mehr Ideen können der inspirierenden 30-minütigen Präsentation von Jesse Schell entnommen werden, der seit 2010 eine Professur am Entertainment Technology Center der Carnegie Mellon University hat. Schell beschließt mit einer Art Utopie (nach Meinung einiger einem Horrorszena-rio) – einer Welt, in der unser Alltag von Elementen der Gamification durchzogen ist – angefangen von unserem Schlaf bis hin zum Aufwachen, Zähneputzen, Frühstücken, Arbeitsweg, zur Freizeit und der Erziehung unserer Kinder.17

MEINE DERZEITIGEN PERSÖNLICHEN FAVORITEN SIND:– 3D-Technologie in der Fertigung, der Automobilbranche und der Verfahrenstechnik– Die Echtzeit-Interaktion zwischen vielen Menschen in sämtlichen Bereichen, in denen die welt-

weite Zusammenarbeit notwendig ist – Punktesammeln und spieleähnliches Gleichgewicht zwischen Wettbewerb und Zusammenar-

beit im Gesundheitswesen, Customer Relationship Management oder Gutscheinsysteme und die Versicherungsbranche

– Technik der Augmented Reality in Betrieben, der Verkehrs- und Weltraumtechnik.

Es geht jedoch nicht um persönliche Vorlieben: Seit 2008 fördert beispielsweise das Bundesminis-terium für Bildung und Forschung zusammen mit der deutschen Automobilindustrie das Projekt Avilus zu Techniken der Virtual Reality und der Augmented Reality, des Game-based Learning und zu anderen spielebezogenen Technologien in den Fahrzeugfertigungsprozessen. Avilus ist eines der drei vom BMBF mit rund 39 Millionen Euro18 geförderten Verbundprojekte im Bereich

16 er Abschlussbericht des Forschungsprojekts trägt den Titel: Realitätsnähe und Symbolische Interaktion in Computer spielen und Online-Games (‚Reality concepts and symbolic interaction in digital games’). (Busch, 2010, S. 47).

17 iehe http://www.g4tv.com/videos/44277/dice-2010-design-outside-the-box-presentation [Zugriff, 3. Januar 2014]18 Informationen z. B. unter http://www.bmbf.de/press/2323.php und http://www.uni-koblenz-landau.de/koblenz/fb4/

institute/icv/agmueller/projects/avilus_o/avilus [Zugriff, 3. Januar 2014]

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79 der Virtual Reality.In den letzten 10 Jahren setzte die Volkswagen AG ihre eigenen Projekte und Anwendungen für ein virtuelles Autohaus, In-Game-Werbung/Produktplatzierungen in Spielen wie z. B. Need for Speed oder World Racing, das sich an junge Mechatroniker richtende Serious Online-Game Gatscar19, die Technik der Augmented Reality und die 3D-Technologie beim Konzipieren und Produzieren von Fahrzeugen – und selbstverständlich das schöne Beispiel der Gamification, das zu Anfang erläutert wurde, um.

Nun geht es nicht mehr um die Frage, ‚ob‘ es möglich ist, die Spieletechnologien und -methoden in der Automobilbranche usw. einzusetzen, sondern darum, ‚wie‘ und ‚wann‘ oder ‚in welcher Größenordnung‘.

TROTZ ALLEDEM WIRD DER WEG ZUM ERFOLG DER GAMIFICATION AUFGRUND EINIGER GRAVIERENDER HINDERNISSE KEIN LEICHTER SEIN:– Gaming-Unternehmen oder mit der Spieleindustrie verbundene Unternehmen haben nur

in seltenen Fällen rationale Gründe dafür, den Eintritt in andere Märkte zu riskieren, da die meisten Gaming-Märkte von stetigem Wachstum geprägt sind und bereits eine Vielzahl von gewinnbringenden Marktchancen bieten.

– Aus Sicht der nicht mit der Spieleindustrie verbundenen Branchen gibt es sogar noch größere Hindernisse, wobei an erster Stelle sicherlich das Vorurteil steht, dass Gaming irgendwie das Gegenteil vom ehrlichen Verdienen des Lebensunterhalts und dem Tätigen von Geschäften ist. Für die meisten Menschen steht Gaming im Zusammenhang mit Freizeit und fühlt sich zu sehr nach einem Hobby an, als dass es für solch ‚harten Tobak‘ wie z. B. die Automobilpro-duktion, das Führen eines Betriebs, den Vertrieb von Finanzdienstleistungen usw. von Nutzen sein könnte. Ein zweites Hindernis steht im Zusammenhang mit dem negativen Image einiger Spielgenres, wie z. B. den sogenannten Gewalt-Videospielen, oder der Angst der Menschen, zu viel Zeit mit dem Spielen zu verbringen und spielsüchtig zu werden.

– Und zu guter Letzt wissen die Gaming- und die Non-Gaming-Branche nur wenig voneinander; die meisten in der Gaming-Branche oder verwandten Wirtschaftszweigen tätigen Menschen werden sich bewusst gegen den Eintritt in eine von ihnen als ‚ernsthaft‘ oder ‚langweilig‘ emp-fundene Branche entscheiden und umgekehrt.

WAS TUN?Die erfolgreichste Strategie könnte darin bestehen, die Entwicklung abzuwarten anstatt sie zu erzwingen. Meist ist es nur eine Frage der Zeit, bis einzelne Personen oder Unternehmen neue Geschäftschancen wittern, für die sie zu Anfang auch Misserfolge in Kauf nehmen. Verzeichnen sie jedoch Erfolge, werden auch andere Unternehmen aus anderen Branchen nachziehen. Krisen in der Spieleindustrie – von denen es in den letzten 10 Jahren einige gab und von denen es zwei-felsohne auch noch weitere geben wird – spornen immerhin die in den Spieleunternehmen tätigen Entwickler zu neuen Ideen an, wie sie z. B. ihr Wissen in anderen Branchen einsetzen können.

Weiterhin wäre es möglich, interessierte Vertreter und Experten aus dem Spielesektor und ande-ren Branchen zu einem zwanglosen Gedankenaustausch und Dialog zusammenzubringen, um so ein Umfeld zu schaffen, in dem neue Ideen gedeihen können. An der HTW Berlin führen wir 2014 ein auf dieser Idee beruhendes Projekt durch.

Meine persönliche Prognose sieht insgesamt ein wenig anders aus: Die Technologien und Kon-zepte aus dem Bereich des digitalen Spiels sind derart stark und bieten so viele Möglichkei-ten, dass sie sich eines Tages selbst in andere Bereiche des Lebens und der Industrie ausbreiten

19 Ein Projekt, das gemeinsam von der Volkswagen AG und meiner Forschungsgruppe an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin initiiert wurde.

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80 und dort etablieren werden, meist ohne dass man sich bewusst ist, dass sie ursprünglich für das Gaming entwickelt wurden. Das Ziel besteht in der Entwicklung gut funktionierender und über-zeugender Prototypen, die in gewinnbringende bzw. kostensenkende Geschäftsumfelder einge-bracht werden können.

6. SCHLUSSFOLGERUNG

In seinem weithin bekannt gewordenen Artikel in der Harvard Business Review 1983 stellt Theo-dore Levitt fest: „The globalization of markets is at hand.“ [dt: „Die Globalisierung von Märkten steht bevor“]. Eine recht seltsame Behauptung in einer Zeit, in der die Welt in zwei feindliche Machtblöcke geteilt, die Mitgliedschaft Chinas und Indiens im globalen Markt noch nicht ganz geklärt und das Internet das Hirngespinst von ein paar Computerfreaks war.Eine weitere eindrucksvolle Erfolgsgeschichte ist die des „Web 2.0“, das auf einer gleichnamigen Konferenz im Oktober 2004 vorgestellt und in dem vielzitierten Aufsatz „What is Web 2.0?“ [dt.: Was ist Web 2.0?] von Tim O’Reilly20 erläutert wurde.

Beide Artikel legten ihre Thematik klar und überzeugend dar und machten deutlich, dass eine Art Wendepunkt erreicht war, an dem ein bedeutendes, sich entwickelndes Phänomen die Welt tiefgreifend verändern sollte.

Ich denke nicht, dass Gamification ebenso von Bedeutung und weltverändernd ist wie die Globa-lisierung oder das Web 2.0. Es sprechen jedoch gute Gründe für die Annahme, dass Gamification auf dem besten Wege dahin ist …

So ironisch das Leben auch häufig sein mag, der Erfolg dieses Phänomens wird sich nicht auf sei-nem Namen ausruhen – der möglicherweise eher hinderlich als hilfreich ist – sondern auf seinen Technologien und Konzepten, auf denen es beruht …

REFERENZEN:

Bodrow, W., Busch, C., Steinicke, M. (2011): DIGITAL GAME BASED LEARNING, Proceedings of the International Conference on E-Learning and the Knowledge Society, ASE Publishing House.

Bremer, Thomas & Busch, Carsten. (2009): SPIELZEIT – MEILENSTEINE DER SPIELENT-WICKLUNG, EIN ABRISS. In: Sieck, Jürgen; Herzog, Michael (ed.): Kultur und Informatik: Seri-ous Games. Boizenburg. Verlag Werner Hülsbusch; S. 7-19.

Busch, Carsten. (2010): ABSCHLUSSBERICHT DES FORSCHUNGSPROJEKTS „REA-LITÄTSNÄHE UND SYMBOLISCHE INTERAKTION IN COMPUTER SPIELEN UND ONLINE-GAMES“ (Reality concepts and symbolic interaction in digital games). Berlin 2010. S. 47.

Huizinga, Johan. (1955): HOMO LUDENS; A STUDY OF THE PLAY-ELEMENT IN CUL-TURE. Boston: Beacon Press. English Version. S. 37.

Levitt, Theodore. (1983): THE GLOBALIZATION OF MARKETS. Harvard Business Review. May-June 1983. S. 92-102

O’Reilly, Tim. (2005): What is Web 2.0? Online verfügbar unter http://www.oreilly.de/artikel/

20 O‘Reilly, Tim (2005): „What is Web 2.0? Design Patterns and Business Models for the Next Generation of Software“. Online verfügbar unter: http://www.oreilly.de/artikel/web20.html [Zugriff, 3. Januar 2014]

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81 web20.html.

PwC. (2012): GERMAN ENTERTAINMENT AND MEDIA OUTLOOK 2012. S. 31.

Schiller, Friedrich. (1794): ON THE AESTHETIC EDUCATION OF MAN; Letter 15. Online verfügbar unter http://en.wikiquote.org/wiki/Friedrich_Schiller#On_the_Aesthetic_Education_of_Man_.281794.29

Schell, Jesse. (2010): IS YOUR LIFE JUST ONE BIG ROLE PLAYING GAME? Presenta-tion held on the Conference DICE 2010. Online verfügbar als Video unter http://www.g4tv.com/videos/44277/dice-2010-design-outside-the-box-presentation.

Statista.com. (13.1.2014): WELTWEITER UMSATZ IN DER VIDEOGAMES BRANCHE VON 2000 BIS 2014 (Worldwide revenues in video games from 2000 to 2014). Online ver-fügbar unter http://de.statista.com/statistik/daten/studie/160518/umfrage/prognostizierter-um-satz-in-der-weltweiten-videogames-branche/

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82 DAS FORMAT BOOKSPRINT: EINE REFLEXION ÜBER ERFOLGSFAKTOREN UND HERAUSFORDERUNGEN DER METHODE

NOÉMIE CAUSSE

Das Ergebnis des hier durchgeführten Booksprints halten wir für sehr gelungen, obwohl wir mit Problemen konfrontiert wurden, die nicht vorhersehbar waren. Da davon ausgegangen werden kann, dass unser „virtueller“ Booksprint Wiederholung finden wird, möchten wir im Folgenden auf einige dieser Problempunkte eingehen, auf die besondere Beachtung gelegt werden sollte.

BRIEFING DER AUTOREN VOR BEGINN DES PROZESSES:

Es muss darauf geachtet werden, dass das Briefing aller Autoren in ähnlicher Weise durchgeführt wird. Dabei müssen neben der inhaltlichen Definition des Themas insbesondere Ziel und Anspruch (in Form von Umfang, Zitierweise etc.) an die Autoren klar kommuniziert werden. Hilfreich ist sicherlich ein „Code of Conduct” mit entsprechenden „Guidelines”, die im Verlauf des Projekts als Richtlinien herangezogen und gegebenenfalls flexibel angepasst werden können. Dabei wurde von den Autoren darauf hingewiesen, dass strengere Spielregeln aufgestellt und durchgesetzt werden müssen, deren Missachtung in letzter Konsequenz auch zu einem Ausschluss aus dem Prozess führen sollte. Besonders wichtig für den reibungslosen und produktiven Ablauf des Pro-zesses sind eine zuverlässige Teilnahme an allen vereinbarten Terminen und die regelmäßige, über den Zeitraum verteilte Arbeit am eigenen Text.

PERSÖNLICHE TREFFEN:

Es hat sich gezeigt, dass persönliche Treffen als äußerst wichtig empfunden werden, um sich ausreichend kennenlernen zu können. Hierzu reichen die virtuellen Treffen nicht aus, insbeson-dere wenn die technischen Voraussetzungen kein echtes Video-Conferencing ermöglichen. Aus unserer Sicht sollten während eines Booksprints mindestens drei personalisierte Treffen erfol-gen, zu Beginn, in der Mitte und gegen Ende des Prozesses. Vorgeschlagen wurde zudem eine „Schreibwerkstatt“ über einen halben Tag im unmittelbaren Anschluss an das Kick-Off-Meeting, bei dem ein erster, grober Entwurf des Booksprints entwickelt werden sollte. Hierdurch lassen sich Schreibstil und Tempo der einzelnen Akteure von den anderen Beteiligten einschätzen und eventuelle Problempunkte im Vorhinein identifizieren und gegebenenfalls beseitigen bzw. regeln. Ein ähnliches Arbeitstempo ermöglicht nämlich erst die für einen Booksprint so wertvolle Ver-knüpfung der einzelnen Kapitel durch die kontinuierliche Identifikation von inhaltlichen Über-schneidungen und Anknüpfungspunkten schon während des Schreibens.

VIRTUELLE MEETINGS:

A) TECHNIK:Es ist darauf zu achten, dass eine ausreichend funktionierende Video-Technik genutzt wird, die allen Beteiligten in der gleichen Art und Weise zur Verfügung steht. Eine einfache Audio-Verbin-dung reicht für die Durchführung eines Booksprints nicht aus; es ist vielmehr wichtig, dass sowohl Audio als auch Video in ausreichender Qualität zur Verfügung stehen. Technische Ausfälle sind äußerst hinderlich sowohl für den Arbeitsfluss als auch für die Motivation der Teilnehmer und sollten durch die Wahl des Produkts minimiert werden.Dies ist auch bei der Nutzung der geteilten Online-Text-Dokumente ein wichtiger Faktor. Bestimmte Produkte von Google sind z.B. nur für Personen zugänglich und nutzbar, die über einen

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83 entsprechenden Mailaccount verfügen. Für einen zukünftigen Booksprint müssen diese techni-schen Faktoren genauer bedacht und angepasst werden.

B) STRUKTUR UND DURCHFÜHRUNG:Für die Prozessbetreuer stellt die Strukturierung der Meetings eine der wichtigsten Aufgaben dar. So sollte beispielsweise darauf geachtet werden, dass in jeder Sitzung vorrangig nur über die neuen Passagen der jeweiligen Kapitel gesprochen und eine strikte Zeiteinteilung eingehalten wird. Dennoch sind zumindest ein paar Minuten Small Talk zu Beginn einer jeden Session ein wich-tiges „weiches Element”, das den Ausfall der für den klassischen Booksprint so wichtigen sozialen Komponente des Kennenlernens und Miteinanderlebens abzufedern hilft. Obwohl ein Booksprint ein offener Prozess ist, müssen die Meetings konzentriert „gesteuert“ werden, ohne dass eventuelle Initiativen dadurch abgeblockt werden. Dies erfordert viel Fin-gerspitzengefühl durch die Leiter der Meetings. Hilfreich ist es zudem, wenn die Moderatoren/Moderatorinnen in der Thematik zu Hause sind und so auch als „Sparringpartner” für die Autoren/Autorinnen wirken und mit eigenen Fragen und Kommentaren zum Prozess beitragen können. Insofern stellt die Güte der Moderatoren/Moderatorinnen bei virtuellen Booksprints einen wesent-lichen Erfolgsfaktor dar.

ZEITPLANUNG:

Für das Gelingen eines Booksprints ist die Zeitplanung ein wesentlicher Aspekt, der insbesondere von den Autorinnen und Autoren vorab zu berücksichtigen ist. Dabei muss stets auch auf den ver-bindlich zu kommunizierenden Abschlusstermin geachtet werden, damit die gemeinschaftliche Arbeit auch zu einem gemeinsamen Termin beendet werden kann. Dies erfordert eine entspre-chend strikte Strukturierung der eigenen Arbeit.Neben der eigenen Schreibtätigkeit, zu der auch die Einarbeitung der von den anderen Autoren vorgenommenen Anmerkungen am eigenen Text zählt, ist die Teilnahme und Vorbereitung der virtuellen Meetings sehr zeitaufwändig (z.B. durch das Lesen aller anderen (neuen) Passagen aller Texte).

Abschließend bleibt die Frage zu beantworten, ob ein virtueller Booksprint den klassischen, „phy-sischen” Booksprint ersetzen kann. Unsere Antwort lautet ja. Wie hier bewiesen wurde, konnte auch so ein erstklassiges Ergebnis erzielt werden. Jedoch erfordert aus unserer Sicht ein Book-sprint in dieser Form eine noch strengere Strukturierung, eine noch lückenlosere und deutlichere Kommunikation und eine noch genauere Begleitung jedes einzelnen Arbeitsschritts durch die Prozessmoderatoren als ein „klassischer”, bei dem zu jedem Zeitpunkt flexibel auf alle Entwick-lungen reagiert werden kann.

Trotz der Virtualität des abgewandelten Formates hat sich zwischen den Autoren ein Gruppen-gefühl entwickelt, und so war der Booksprint zwar eine große Herausforderung für alle Beteilig-ten, jedoch auch zweifelsohne eine großartige Erfahrung, die von allen Beteiligten als ein großer persönlicher und professioneller Gewinn bewertet wurde, da jeder etwas über vorher nicht oder wenig bekannte Themenfelder erfahren hat, einen Anlass zur intensiven Auseinandersetzung mit der eigenen Arbeit hatte und neue Kontakte knüpfen konnte, auf die auch in Zukunft zurückge-griffen werden kann.

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84 AN STELLE EINES FAZITS: KÜNFTIGE HERAUSFORDERUNGEN DER (KREATIV-)WIRTSCHAFTSFÖRDERUNG

NOÉMIE CAUSSEJOSEPHINE HAGE

Der vorliegende “creative sprint” ist Ausdruck des Diskurses über Kreativwirtschaft als Treiber für Wachstum und Innovation in Europa. In der letzten Dekade wurde eine große Bandbreite kreativwirtschaftlicher Förderinstrumente erprobt, Strukturen wurden aufgebaut und konsolidie-ren sich. Gleichwohl sind in Europa regional sehr unterschiedliche Förderansätze zu beobachten. Dutzende europäische Projekte haben sich um den Austausch über Best-Practice, die Vernetzung von Akteuren und die Sichtbarkeit der Branche verdient gemacht.1 Zu einem Zeitpunkt, an dem der Kreativwirtschaft eine wichtige Rolle für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachs-tum zugeschrieben wird, fragt “creative sprint” deshalb nach der künftigen raison d’être der Kre-ativwirtschaftförderung und nach deren Implikationen für andere Branchen. Zusammenfassend sollen auf der Grundlage der hier im “creative sprint” enthaltenen Kapitel vier wesentliche Trends skizziert werden.

1. INTERNATIONALISIERUNG

Die kleinteilige Struktur der Kultur- und Kreativwirtschaft bringt es mit sich, dass viele Freibe-rufler und Unternehmen nur auf lokalen und regionalen Märkten agieren und dadurch in ihren Wachstumsmöglichkeiten beschränkt bleiben.2 Diesem Umstand wird in den Untersuchungen zur Kultur- und Kreativwirtschaft unseres Erachtens bisher nur unzureichend Rechnung getragen. In diesem Zusammenhang verweist Giorgia Boldrini auf die Anstrengungen der Stadt Bologna, Künstler und Kreative beim Aufbau internationale Netzwerke zu unterstützen und betont auch die Rolle von intermediären Netzwerkmanangern, angesichts des internationalen Marktes für kul-turelle und kreative Güter und Dienstleistungen3 passgenaue Internationalisierungslösungen zu finden. Gleichzeitig gewinnen aus ihrer Sicht auch Fragen nach dem Schutz und der Verwertung von Urheberrechten dabei zunehmend an Bedeutung.

Für die Niederlande gibt es zur internationalen Dimension kreativwirtschaftlicher Förderung bereits eine detailliertere Analyse. Allerding wurde hier ebenfalls heraus gearbeitet, dass nur wenige kreativwirtschaftliche Organisationen von der Außenhandelsförderung aktiv erfasst sind.4 Hinzu kommt, dass es auch seitens der Wirtschaftsförderung kaum Erfahrungen mit Interna-tionalisierungsstrategien gibt, zumal die einzelnen Teilmärkte sehr unterschiedliche Anforde-rungen stellen. In den Niederlanden wurde deshalb im Jahr 2013 ein Fonds5 aufgelegt, der die Erschließung internationaler Märkte für Kreativwirtschaftsunternehmen gezielt fördert. Die hier-bei gesammelten Erfahrungen können für die Ausgestaltung von Programmen zur Förderung der Internationalisierung wertvolle Hinweise liefern.

1 Vgl. das INTERREG-Projekt “Capitalisation” Creative Industries, das die Ergebnisse der bisherigen INTERREG-Projekte mit Kreativwirtschaftsbezug auswertet: http://www.interreg4c.eu/good-practices/capitalisation/creative-industries/

2 Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, 2011. Monitoring zu ausgewählten wirtschaftlichen Eckdaten der Kultur- und Kreativwirtschaft 2011, Langfassung, Berlin, S. 21. Verfügbar unter <http://www.kultur-kreativ-wirtschaft.de/Dateien/KuK/PDF/monitoring-zu-ausgewaehlten-wirtschaftlichen-eckdaten-der-kultur-und-kreativwirtschaft-2011-langfassung,property=pdf,bereich=kuk,sprache=de,rwb=true.pdf> [Zugriff 20.02.1014]

3 Für eine Übersicht über den internationalen Handel mit kreativen Gütern und Dienstleistungen siehe Creative Economy Report 2008, 2010 und 2013. Verfügbar unter <http://www.unesco.org/new/en/culture/themes/creativity/creative-economy-report-2013-special-edition/> [Zugriff 18.02.2014]

4 Aalbers, R., Mulder, J. and Poort, J., 2005. International oppotunities for the creative industries. Report commissioned by the Ministry of Economics Affairs, Agency for international Business and Cooperation (EVD), Amsterdam. Verfügbar unter <http://www.seo.nl/uploads/media/821_International_opportunities_for_the_creative_industries.pdf< [Zugriff 10.02.2014]

5 Vgl. “Creative Industries Fonds NL to implement the Creative industries Internationalization Programme 2013-2016”, http://stimuleringsfonds.nl/en/internationalization/

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85 Die bestehenden kreativwirtschaftlichen Clusterstrukturen sind in Europa zumeist erst wenige Jahre alt und konzentrierten sich bisher vor Allem auf die Vernetzung ihrer Mitglieder und den Aufbau eines Profils zur Sichtbarmachung der Branchen in der Region und gegenüber anderen Branchen. Basierend auf unserer Arbeit und der Beobachtung der Szene in Europa schätzen wir, dass zukünftig vor allem Formate, die die internationale Vernetzung und die Erschließung interna-tionaler Absatzmärkte für kreativwirtschaftliche Cluster in den Vordergrund rücken, zunehmend an Bedeutung gewinnen werden. Die hohe Anzahl an Freiberuflern und die geringe Ausstattung mit Eigenkapital der Kleinst- und Kleinunternehmen in der Kreativwirtschaft dürfte dabei hohe Ansprüche an die Nachhaltigkeit geförderter Internationalisierungsmaßnahmen stellen.

Im europäischen Vergleich sind in den Mitgliedstaaten sehr unterschiedliche “Geschwindigkeiten” im Umgang mit den insgesamt steigenden Exportraten kreativwirtschaftlicher Güter und Dienst-leistungen zu beobachten.6 Die skandinavischen Länder haben vorgemacht, wie mit regionalpoli-tisch verankerter Markenbildung (insbesondere für Design) kreativwirtschaftliche Arbeit jenseits nationaler Grenzen Früchte tragen kann.7

2. SPILLOVER

Die zahlreichen lokalen, regionalen und nationalen Kultur- und Kreativwirtschaftsberichte in Europa haben den Branchenkomplex quantitativ und qualitativ umfassend erfasst. Aus unserer Sicht dienen sie damit in erster Linie als Legitimation für (wirtschafts-)politisches Handeln und haben zur Entwicklung eines breiten Spektrums an Förderinstrumenten beigetragen, das der spe-zifischen Ökonomie der Kreativwirtschaft8 Rechnung trägt. In den ersten Jahren der Förderung der Branche standen dabei Beratungs- und Vernetzungsprojekte mit regionalökonomischen oder stadtplanerischen Motiven im Vordergrund. Wo sich kreativwirtschaftliche Förderstrukturen entwickelt und konsolidiert haben, stellt sich – nicht zuletzt angesichts des Anbruchs der neuen EU-Förderperiode und europapolitischer Initi-ativen wie der Innovationsunion9 – nicht nur für uns die Frage nach der Weiterentwicklung der Kreativwirtschaftsförderung in Europa. Sie schwingt in allen Kapiteln dieses “creative sprint” mit, sei es aus der Perspektive der öffentlichen Verwaltung (Giorgia Boldrini), als Aufforderung an die Ausbildungsinstitutionen und die Akteure selbst (Steinar Valade-Amland), als Plädoyer für kolla-borative Innovationsprozesse (Emma Estborn) oder als Ruf nach der Anwendung von Techniken aus der Kreativwirtschaft auf andere Inhalte und breitere gesellschaftliche Herausforderungen (Carsten Busch). Schließlich kommt der Erweiterung der Kreativwirtschaftsförderung als Hebel für Innovationsprozesse in anderen Branchen eine entscheidende Rolle zu (Carsten Becker).

Wie beispielsweise durch Diskussionen während des Barcamps und im weiteren Projektverlauf bestätigt, verdeutlicht diese Entwicklung unseres Erachtens auch die sich ändernde Rolle der Wirtschaftsförderung, weg vom Verwalter von Fördermitteln hin zu einem aktiven Agenten bei der Kontaktanbahnung zwischen unterschiedlichen Branchen und bei der Netzwerkarbeit eine zentrale Rolle einnimmt.

6 Vgl. Staines, J. und Mercer, C., 2013. Mapping of Cultural and Creative Industry Export and Internationalisation Strategies in EU Member States, European Expert Network on Culture Report. Verfügbar unter <http://www.eenc.info/wp-content/uploads/2013/04/JStaines-CMercer-Mapping-CCI-Export-Strategies-Feb-2013.pdf< [Zugriff 10.02.2014]

7 Vgl. dazu das Kapitel von Steinar Valade-Amland.8 Vgl. Caves, R., 2000. Creative Industries. Contracts between Art and Commerce. Cambridge, MA: Harvard University Press.9 http://ec.europa.eu/research/innovation-union/index_en.cfm

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86 3. IDENTITÄT / ROLLENVERSTÄNDNISSE DER AKTEURE:

Ein weiteres wichtiges Thema, das von den Autoren aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet wird, ist das Thema der Identität und der Rollenverständnisse der Akteure innerhalb der Kultur- und Kreativwirtschaft. Die Dynamik der Branche und ihre steten Veränderungen unterworfenen Beziehungen zu anderen Märkten zwingt die “Betroffenen” dazu, sich neu zu definieren. Diese Thematik ist auch in der weiteren Analyse des Projekts Creative Capital Conference häufiger aufgetaucht und wurde von Akteuren in Workshops und Diskussionen mehrfach selbst angespro-chen.

Künstler und Kreative können nicht erwarten, vom Staat oder Dritten für ihren Lebensunterhalt und die Ausübung ihrer schöpferischen Praxis auskömmlich subventioniert zu werden. Wie auch Valade-Amland schreibt, gelingt es nur den wenigsten, gefeierte Bildende Künstler und Starar-chitekten zu werden oder die Erste Geige zu spielen – die meisten müssen mit ihrer Kunst und kreativen Arbeit Geld “am Markt” verdienen. Die Krise, die steigende Arbeitslosigkeit in weiten Teilen Europas und die Kürzungen im Kulturbereich verlangen auch von Künstlern und Kreativen einen neuen Unternehmergeist. Wie Giorgia Boldrini in einem Gespräch bestätigte: “Before, it was difficult to find a job in the cultural sector in Italy. Now, it is impossible.” Unter anderem deshalb ist eine veränderte Selbstpositionierung – from the ‘creator’ to the ‘creative’10 – unabdingbar, um eine Herabwürdigung kreativer Arbeit zu vermeiden und kreative und künstlerische Leistungen effizent erwerbswirtschaftlich einsetzen zu können.

Wie wir im Projektverlauf durch zahlreiche Interviews und Workshops in Erfahrung bringen konn-ten, erwächst das Renommee eines Künstlers innerhalb der “Szene” noch immer in erster Linie durch die Realisierung freier und nicht-kommerzieller Projekte. Daraus lässt sich ableiten, dass der eigenen Vermarktung von Künstlern und Kreativen oder ihrer produktiven Zusammenarbeit mit der Wirtschaft leider noch immer etwas Anrüchiges anhaftet.

Dem stellen wir die Behauptung entgegen, dass das volle Potenzial kreativer Ideen nur dann voll ausgeschöpft werden kann und Absolventen kreativer und künstlerischer Studiengänge nur dann in die Lage versetzt werden können, mit ihrer Kunst und ihren kreativen Leistungen ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, wenn ein radikales Umdenken in der Ausbildung von Kreati-ven erfolgt. So können Kunsthochschulen und andere Ausbildungsstätten für kreative Disziplinen durch ihre Beratungsstellen zuvorderst daran mitwirken, unternehmerische und betriebswirt-schaftliche Kompetenzen bei den Akteuren der Kultur- und Kreativwirtschaft zu stärken und ihre Studierenden auf die wirtschaftlichen Herausforderungen vorzubereiten, die eine freiberufliche Tätigkeit mit sich bringt. Dies wird beispielsweise in Dänemark von CAKI 11, der Gründungsbera-tung für die Studierenden aller Kunsthochschulen in Kopenhagen oder durch die International Summer School of Creative Entrepreneurship (ISSCE) des Berlin Career College an der Universität der Künste in Berlin12 bereits in die Tat umgesetzt.

Nur mithilfe solcher Angebote kann es aus unserer Sicht gelingen, die Kreativen aus der Zuschuss-falle zu befreien. Wie auch schon Valade-Amland schreibt: Kreative und Künstler müssen sich ihres (Markt-)Potenzials bewusster sein, selbstbewusster auftreten, ihre eigene Lobby bilden und für ihre eigenen Interessen eintreten, wenn sie wahr- und ernstgenommen werden wollen13. Die

10 Vergleiche Kapitel Giorgia Boldrini.11 http://caki.dk/english/ [Zugriff 1.02.2014] 12 http://www.udk-berlin.de/sites/sommerkurse/content/index_eng.html [Zugriff 1.02.2014] 13 Vergleiche Kapitel Steinar Valade-Amland: ““Thus, this is above all a plea to design practitioners and their allies to get their

act together and build a comprehensive and indisputable business case for the future of their own profession, and then to go to the same lengths and use the same mechanisms to be heard in parliaments and ministries like any other professional community.”

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87 bereits starken Interessensverbände in der Musik-14, Film15- und Designwirtschaft16 weisen einen möglichen Weg, den andere Teilbranchen der Kultur- und Kreativwirtschaft auch gehen könnten 17.

4. ALTE STRTUKTUREN VS. NEUE VERHALTENSWEISEN

Wie ein roter Faden zieht sich der Slogan “Old structures versus new behaviours” vom ersten bis zum letzten Kapitel des Booksprint. Gemeint ist die Tatsache, dass die alten linearen Strukturen der Förderlandschaft, der Arbeits- und Sozialpolitik, der Verwaltung, der Ausbildung usw. den neu entstehenden bzw. bereits praktizierten Lebens- und Arbeitsmodellen einer wachsenden Anzahl von Menschen nicht mehr gerecht werden, ja, sie sogar behindern und ihnen schaden. Dabei wird nicht zuletzt ein riesiges Innovationspotenzial verspielt 18. Wie im Kapitel “Transeuropa-Express: Wie gelingt ein länderübergreifender Booksprint?” schon angemerkt, befinden wir uns in einer Phase des Umbruchs: Durch den technischen Fortschritt in der Kommunikationstechnologie, die Globalisierung und die Krise verändert sich die Gesellschaft in eine Richtung, die mehr Kollaboration möglich macht und auch erfordert. Spätestens seit der Arbeit von Friebe und Lobo19 ist bekannt, dass sich – vor allem in der Kreativbranche – neu-artige, flexiblere und mobilere Lebens- und Arbeitsmodelle mit flexiblen Arbeitszeiten immer mehr durchsetzen:Arbeitnehmer und Freelancer reklamieren immer häufiger eine ausgewogene „Work-Life-Balance“, ziehen die Erfüllung der eigenen Visionen dem sicheren 9-to-5-Job mit sozi-aler Absicherung vor, sind global vernetzt, arbeiten im Zug, im Home Office oder in Coworking Spaces weil sie nicht ortsgebunden sind aber Wert auf die Zusammenarbeit mit anderen inspi-rierenden Menschen legen, beherrschen Fremdsprachen und reisen durch die Welt, sind „im Netz zuhause“ und wollen sich weder durch echte noch virtuelle Grenzen aufhalten lassen. Zwar mag dieses Szenario für einige noch wie Zukunftsmusik klingen, doch stimmen wir der von Emma Estborn in ihrem Kapitel geäußerten Vermutung zu, dass sich diese Veränderungen und neuen Praktiken auch in anderen Bereichen ihren Weg bahnen werden. Dies erfordert, wie alle Autoren bemerken, ein Umdenken auf allen Ebenen und die Einrichtung, Anerkennung und gerechte Ent-lohnung flexibler Arbeitsverhältnisse und neue Arbeitsmarktvorschriften müssen den kreativen Karrieren Rechnung tragen 20.

Wir stehen inzwischen immer mehr vor teilweise sehr komplexen Herausforderungen: Demogra-fischer Wandel, grassierende Arbeitslosigkeit in weiten Teilen Europas, neue und alte Umwelt-fragen … Wenn wir zur Lösung dieser Probleme an althergebrachten Mustern festhalten, werden wir nicht weit kommen, sondern in unproduktiver Starre verharren21. Stattdessen ist die Zusam-menarbeit von Spezialisten der verschiedensten Disziplinen vonnöten. Auch um die Kultur- und

14 z.B. http://www.initiative-musik.de und http://www.musikindustrie.de [Zugriff 1.02.2014] 15 In der Filmwirtschaft existieren eine Reihe von Verbänden für die unterschiedlichen Gewerke, z.B. für Produzenten (http://

www.filmproduzentenverband.de), Filmautoren (http://www.bdfa.de), Film- und Fernsehschauspieler (http://www.bffs.de) und vieles mehr. [Zugriff 1.02.2014]

16 z.B. https://www.agd.de und http://www.bdg-designer.de [Zugriff 1.02.2014] 17 Für Informationen zu Interessensverbänden aller 11 Teilmärkte der Kultur- und Kreativwirtschaft, gehe zu: http://www.kultur-

kreativ-wirtschaft.de/KuK/Navigation/kultur-kreativwirtschaft.html [Zugriff 1.02.2014] 18 Vgl. Arndt, O., Kimpeler, S. et al., 2012. Die Kultur- und Kreativwirtschaft in der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfungskette

- Wirkungsketten, Innovationkraft, Potenziale, Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. Verfügbar unter http://www.kultur-kreativ-wirtschaft.de/Dateien/KuK/PDF/die-kultur-und-kreativwirtschaft-in-der-gesamtwirtschaftlichen-wertschoepfungskette-wirkungsketten-innovationskraft-potentiale-endbericht,propert-y=pdf,bereich=kuk,sprache=de,rwb=true.pdf [Zugriff 18.02.2014]

19 Friebe, H. und Lobo, S. 2006. Wir nennen es Arbeit. Wilhelm Heyne Verlag.20 Vergleiche Kapitel Steinar Valade-Amland: “Retaining this privilege will demand a radical change in how we educate

designers, a close look at both labour market legislation in many European countries and at how the design community organises itself, new ways of talking about, promoting and supporting design, and a much less dogmatic approach to what being a designer means.”

21 Vergleiche Kapitel Emma Estborn: “It’s when we are facing complex problems, however, that co-created solutions are necessary. If we continue to apply the same type of solution in these cases, we tend to get the same results.”

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88 Kreativwirtschaft zu unterstützen, braucht es heute eine cross-sektorale Strategie22. Die wirtschaft-liche Verwertung kreativer und schöpferischer Leistungen ist ein Querschnittsfeld, das sowohl im öffentlichen als auch im Privatsektor beheimatet ist und Schnittstellen zu vielen anderen Branchen aufzeigt. Tourismus und Regional- oder Stadtentwicklung sind nur einige naheliegende Beispiele, man denke nur an Kulturtourismus oder die Etablierung von Kultur- und Kreativzentren, die Innen-städte oder ganze Regionen neu beleben, wie dies z.B. durch die Media Evolution City23 in Malmö der Fall war. Auch für Medizin, Mobilität und Logistik kann die Zusammenarbeit mit der KKW eine Bereicherung darstellen und zu Innovationen führen, wie Carsten Busch in seinem Kapitel schildert.Wir vermuten daher, dass das volle (Innovations)potenzial der Kultur- und Kreativwirtschaft noch besser ausgeschöpft werden kann, wenn die die Begegnung dieser Schnittstellen schon früh gefördert wird. Einige Hochschulen setzen bereits auf interdisziplinäre Arbeitsgruppen, wie beispielsweise die Bauhaus-Universität in Weimar mit dem Prototypenseminar24, das von der dortigen Gründungswerkstatt Neudeli durchgeführt wird. Ein weiteres interessantes Beispiel für eine intensive Zusammenarbeit zwischen Forschung, Hochschule, Industrie und Kreativwirtschaft ist das Forschungs- und Prototypen-Labor “Medea” der Hochschule Malmö 25, in dem von Studie-renden und Professoren der verschiedensten Studienfächer an Prototypen für die Industrie aber auch an künstlerischen und sozialen Projekten gearbeitet wird, die häufig Kunst und Technologie vereinen26.

So wie die Kreativen ihre Identität und Rollen überdenken und anpassen müssen, ist im öffentli-chen Sektor ebenfalls ein Umdenken gefordert. Giorgia Boldrini schildert diesen Ansatz sehr plas-tisch am Beispiel der öffentlichen Verwaltung der Stadt Bologna. Und auch wir sind der Ansicht, dass sich – in Bologna und anderswo – die Mitarbeiter in den öffentlichen Förderinstitutionen weg vom Verwalter und hin zum Ermöglicher, Vernetzer, Brückenbauer entwickeln müssen. Dies erfor-dert natürlich spezifische Weiterbildung und die Vermittlung branchenspezifischer Kenntnisse. Die von Boldrini vorgeschlagenen öffentlich-privaten „creative agencies“ könnten eine interes-sante Möglichkeit darstellen, da sie eine Begegnung auf Augenhöhe zulassen und alle Parteien mit einbeziehen.

Ein Beispiel für eine gelungene Umsetzung dieses Prinzips ist die bereits erwähnte Media Evo-lution City27 in Malmö: Hier wurden die zukünftigen Mieter von vornherein in die Planung und Umsetzung involviert und bekamen so die Möglichkeit, nicht nur simple Mieter sondern Mitgestal-ter zu sein. Das Resultat ist ein natürlich gewachsenes Verantwortungs- und Identifikationsgefühl der dort Arbeitenden, eine Stärkung des Netzwerkgedankens und die Förderung der cross-sek-toralen gegenseitigen “Befruchtung” der Mieter untereinander.

Ein weiteres Beispiel ist das Spiel „Nordjylland på spil“28, das im Auftrag der Regionalverwaltung der dänischen Region Nordjütland durchgeführt wurde, um die Bevölkerung und vor allem die Jugend mehr für die Belange der Regionalentwicklung zu interessieren und so mehr Bürgerbe-teiligung zu erreichen. Anstatt eine fertige Lösung abzuliefern, entwickelte das mit der Aufgabe betraute Unternehmen JK Innovation29 einen Spielprozess mit offenem Ausgang, der sowohl die öffentliche Verwaltung als auch die Schulen des Landes miteinbezog und dabei Gebrauch von social media tools und anderen Medien machte. Nach der anfänglichen Abwehrhaltung auf beiden Seiten hat dieser offene Prozess eine Begegnung auf Augenhöhe aller Beteiligten, die Vernetzung

22 Vergleiche Kapitel Emma Estborn: “In the public sector, working with CCI development structures has made it very clear that this industry requires cross-sector collaboration in order to meet its full needs.”

23 http://www.mediaevolutioncity.se [Zugriff 1.02.2014]24 https://www.uni-weimar.de/de/medien/institute/neudeli/lehre/prototypenseminar/ [Zugriff 1.02.2014]25 http://medea.mah.se [Zugriff 1.02.2014]26 Siehe http://medea.mah.se/projects/ und http://medea.mah.se/category/living-labs/ [Zugriff 1.02.2014]27 http://www.mediaevolutioncity.se [Zugriff 1.02.2014]28 http://www.nordjyllandpaaspil.rn.dk/ [Zugriff 1.02.2014]29 http://jkinnovation.dk [Zugriff 1.02.2014]

Page 87: FRIEDRICH HOLL DIRK KIEFER - esf.brandenburg.de · u.E. jedoch eindrucksvoll, wie mit diesem Format – auch länderübergreifend – gearbeitet werden kann und dass durch die Zusammenarbeit

89 der Anwohner und die Schaffung von etwas Neuem ermöglicht. Im Privatsektor erfordert die Zusammenarbeit zwischen KKW und Unternehmen anderer Branchen eine strategische Einbin-dung, wie dies durch z.B. Designstrategien in größeren Unternehmen schon öfter der Fall ist, man denke nur an Braun oder Apple. Wie sich unter anderem durch die Arbeit der Thüringer Agentur für die Kreativwirtschaft30 zeigt, die mit dem Projekt “KMU Kreativ”31 den Versuch unternimmt, kleine und mittelständische Unternehmen für die Zusammenarbeit mit kreativen und die Integ-ration kreativer Leistungen in ihre Arbeitsprozesse zu öffnen, sehen sich jedoch gerade kleinere Unternehmen vor erhebliche Schwierigkeiten gestellt, wenn es darum geht, solche Neuerungen umzusetzen. Aus unserer Sicht müssten daher verstärkt auf solche Programme gesetzt werden, die eine gesonderte Unterstützung bieten, wie beispielsweise das Förderprogramm Design Trans-fer Bonus der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Frauen Berlin, und über ihre Erweiterung und Verbesserung nachgedacht werden.32

Was aus unserer Sicht allen Fällen der skizzierten Zusammenarbeit jedoch gebraucht wird – von Kreativen untereinander, von Kreativunternehmen mit dem öffentlichen Sektor und der Privatwirt-schaft – ist ein verstärkter, offener und ernst gemeinter Austausch. Nur so können Förderer und traditionelle Unternehmen verstehen, welchen Mehrwert kreative Arbeit hat. Und die Kreativen können so ihre betriebswirtschaftlichen Kenntnisse verbessern. Dies würde ihnen dabei helfen, den Ruf des „risky business“ loszuwerden und sich als Innovationstreiber zu etablieren, als die sie in Carsten Beckers Kapitel beschrieben werden. Derzeit werden innovative Geschäftsmodelle und -Ideen ohne technischen Aspekt oft nicht als solche anerkannt, was nach wie vor den Weg zum wirtschaftlichen Erfolg verstellt, wie schon von Carsten Becker betont.

Die Entwicklung der Kultur- und Kreativwirtschaft steht derzeit also trotz der langjährigen Beschäftigung von Poltik, Verwaltung und Wirtschaft mit der Thematik am Beginn tiefgreifen-der Veränderungen. Wie Giorgia Boldrini in ihrem Kapitel schreibt, könnte die EU-Förderperiode 2014–2020 genutzt werden, um neu entwickelte, unkonventionelle, auf Interdisziplinarität und Kollaboration basierende Modelle in die Umsetzung zu bringen. Die Potenziale für Wachstum und Innovation der Kultur- und Kreativwirtschaft sind mittlerweile ausreichend nachgewiesen, zum Teil haben sie sich in den volkswirtschaftlichen Statistiken bereits überdeutlich gezeigt33.

30 http://www.thueringen-kreativ.de [Zugriff 1.02.2014]31 http://www.kmu-kreativ.de [Zugriff 1.02.2014]32 http://www.designtransferbonus.de/ [Zugriff 1.02.2014]33 Vgl. für den deutschen Kontext die Monitoringberichte der Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft der Bundesregierung,

zuletzt „Monitoring zu ausgewählten wirtschaftlichen Eckdaten der Kultur- und Kreativwirtschaft 2012“, hrsg. vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Berlin 2014. Verfügbar unter http://www.kultur-kreativ-wirtschaft.de/KuK/Redaktion/PDF/monitoring-wirtschaftliche-eckdaten-kuk-2012,property=pdf,bereich=kuk,sprache=de,rwb=true.pdf und Department für Culture, Media and Sport, 2014. Creative Industries Economic Estimates January 2014, London. Verfügbar unter https://www.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/271008/Creative_Industries_Economic_Estimates_-_January_2014.pdf [Zugriff 18.02.2014]