fourier, theorie der vier gen

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  • 8/8/2019 Fourier, Theorie Der Vier gen

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    Charles Fourier

    Theorie der vier Bewegungen

    und der allgemeinen Bestimmungen

    Herausgegeben von Theodor W. Adorno

    Eingeleitet von Elisabeth Lenk

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    Deutsche bertragung von Gertrud von Holzhausen

    1966 by Europische VerlagsanstaltFrankfurt am Main

    Anmerkung:

    Dieser Textabdruck folgt der Ausgabe der Europischen Verlagsanstalt, ist abernicht seitenidentisch mit ihr. Aufgrund der Digitalisierung per OCR (Optical Cha-racter Recognation) knnen sich einzelne Erkennungsfehler und Buchstabenver-drehungen in den Text eingeschlichen haben.

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    Inhaltsverzeichnis

    Vorwort (von Theodor W. Adorno)............................................................................................................................4Einleitung zur deutschen Ausgabe der >Theorie der vier Bewegungen< von Charles Fourier ............................6

    Der Sonntagssoziologe ......................................................................................................................................6Unglckliche Liebe zur Praxis .........................................................................................................................8Kosmischer Rationalismus .............................................................................................................................12Theorie der Leidenschaften ...........................................................................................................................17Dunkle Vorhimmel .........................................................................................................................................22Konstruktion des Glcks ................................................................................................................................ 25Modi der Freiheit ............................................................................................................................................30

    Einfhrung..................................................................................................................................................................34Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen (Destines Gnerals) ................................ 35

    Vorrede ............................................................................................................................................................ 35I. Merkmale und Methoden, die zu der angekndigten Entdeckung fhrten ......................................36II. ber die landwirtschaftliche Vereinigung ........................................................................................... 39III. Die leidenschaftliche Anziehungskraft und ihre Beziehung zu den beweisbaren Wissenschaften..44IV. Wie die unexakten Wissenschaften den Verstand verwirren .............................................................47V. Allgemeine Vorurteile der Zivilisierten ................................................................................................51VI. Plan ..........................................................................................................................................................56

    ERSTERTEIL ............................................................................................................................................................... 59Darlegung einiger Zweige der allgemeinen Bestimmungen ...................................................................................59

    Argument.........................................................................................................................................................59Die Einschrnkung .........................................................................................................................................60Allgemeine Kenntnisse der Bestimmungen ..................................................................................................61

    I. Definition und Einteilung.................................................................................................................61II. Die Hierarchie der vier Bewegungen............................................................................................... 62III. Die soziale Bewegung......................................................................................................................64IV. Phasen und Perioden der sozialen Ordnung auf dem dritten Planeten, Erde genannt......................64

    V. Anmerkung ber die erste, unheilvolle Schpfung und darber, wie sie sich in der ersten Phase undder achten Periode auswirkt, welche die zweite Phase erffnet.......................................................69

    VI. Die boreale Krone............................................................................................................................72VII. Die erste Periode des aufsteigenden Umsturzes (die ungeordneten Serien), die Erinnerungen, die sie

    als Fabel vom irdischen Paradies hinterlassen hat ...........................................................................81VIII. Auflsung der Serien ....................................................................................................................... 84IX. ber die fnf, in der Form unverbundener Familien organisierten Perioden, die zweite, dritte,

    vierte, fnfte und sechste ................................................................................................................. 86X. Gegensatz zwischen einer Gesellschaft progressiver Serien und einer aus unverbundenen Familien

    .........................................................................................................................................................90XI. ber das Studium der Natur durch Erforschung der leidenschaftlichen Anziehungskraft...............97XII. Der Baum der Leidenschaften und seine Zweige, auch Rangordnung der Krfte der ersten, zweiten,

    dritten, vierten und fnften Stufe genannt...................................................................................... 101

    XIII. Die zwlf Grundleidenschaften der Oktave ...................................................................................107XIV. Wesen, berschneidungen und Phasen der gesellschaftlichen Perioden.......................................110XV. Folgerungen: Das Migeschick der Himmelskrper whrend der Phasen der gesellschaftlichen

    Unverbundenheit............................................................................................................................116Epilog........................................................................................................................................................120ber den bevorstehenden Beginn der gesellschaftlichen Vernderung ....................................................120

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    Vorwort (von Theodor W. Adorno)

    Nachdem das Institut fr Sozialforschung vor einigen Jahren einen wichtigen ge-sellschaftstheoretischen Text der Vergangenheit, die Esquisse von Condorcet, he-rausgebracht hat, folgt nun ein zweiter, die Quatre Mouvements von Charles Fou-rier. Die Anregung zur Publikation ging von Prof. Gottfried Salomon-Delatour aus,der, nach seiner Rckkehr, als emeritierter Ordinarius der Wirtschafts- und Sozial-wissenschaftlichen Fakultt der Johann Wolfgang Goethe-Universitt, am Institut

    in zahlreichen Vorlesungen und Seminaren wirkte. Weiterreichende Plne, die sichvor allem auf die editorische Ttigkeit bezogen, hat Salomons jher, beklagenswer-ter Tod zunichte gemacht. Er hatte sich noch um die bersetzung des Buches ge-kmmert und skizzierte eine Einleitung; seine Witwe stellte das Fragment liebens-wrdigerweise dem Institut zur Verfgung. Offensichtlich handelt es sich um dieerste Niederschrift von Ideen. Unter deren Wahrung mute eine endgltige undselbstndige Einleitung erarbeitet werden. Die schwierige Aufgabe lste ElisabethLenk, die als Studentin auch bei Salomon gehrt und seine Seminare besucht hatte,mit ebensoviel Zartheit und Piett wie produktiver geistiger Kraft. Ihr ist die Qua-dratur des Zirkels gelungen, das von Salomon Entworfene zu erhalten und gleich-wohl ein durchaus Eigenes zu geben, das fr sich selber spricht.

    Fr die bersetzung ist Frau Dr. Gertrud von Holzhausen aufs herzlichste zudanken; sie scheute keine Zeit und Mhe, stets wieder ndernd und bessernd derungezhlten Probleme sich anzunehmen, die das Verstndnis Fouriers aufwirft. DieRedaktion des Bandes lag in den Hnden von Frau Dr. Margarete Adorno.

    Zum Inhalt und zur theoretischen Deutung der Quatre Mouvements ist der Ein-leitung nichts hinzuzufgen. Nur soviel sei gesagt: angesichts der Dogmatisierungsozialistischer Theoreme, die im stlichen Machtbereich aus politischen Motiven

    erfolgte, gewinnen Gedanken erneute Aktualitt, die schon frh und nicht erst in jenem Bereich als utopisch verfemt worden sind. Unter den Utopisten nimmt derUnrevolutionre Fourier eine extreme Position ein. Keiner bietet dem Vorwurf desUtopismus schutzloser sich dar als er; bei keinem aber auch ist die Anflligkeit derDoktrin so sehr gezeitigt vom Willen, die Vorstellung des besseren Zustands zukonkretisieren. Das Verbot auszudenken, wie es sein solle, die Verwissenschaftli-chung des Sozialismus, ist diesem nicht nur zum Guten angeschlagen. Das Verdiktber Phantasie als Phantasterei fgte sich einer Praxis ein, die sich Selbstzweck war

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    und mehr stets im Bestehenden verstrickte, ber das sie einmal hinaus wollte. Vorihr hat Fourier die rcksichtslose Kritik an Versagung voraus. Wenn fr einen,dann gilt fr ihn der Vers, den Karl Kraus nach dem Tod von Peter Altenbergschrieb: Ein Narr verlie die Welt, und sie bleibt dumm.

    Mai 1966Theodor W. Adorno

    Institut fr Sozialforschung

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    Einleitung zur deutschen Ausgabe der>Theorie der vier Bewegungen< vonCharles Fourier

    Mag auch die Soziologie mit wichtiger Miene und mit leichtbertriebenem Nachdruck verknden, da sie nunmehr er-wachsen sei, ich sehe nicht, mit welchem Recht sie Werkenwie dem Ihren den Stempel des Unstimmigen und Lcherli-chen aufdrckt, Werken, in denen eine Khnheit, die nochkeine Grenzen kennt, wirklicher Humanitt dienstbar wird.(Andre Breton)

    Der Sonntagssoziologe

    Zum ersten Mal liegt in deutscher bersetzung ein zentraler Text Fouriers inseiner vollstndigen Fassung vor. Er enthllt eine Welt, von deren Reichtum dieschulmeisterlich-schematischen Auswahlen nichts ahnen lieen. Fouriers Werk hat

    bei seinen Zeitgenossen zwiespltige Reaktionen hervorgerufen. Er wurde bald derPhantasterei beschuldigt, bald als genialer Entdecker gefeiert oder als klein-

    brgerlicher Utopist verspottet. Und bis heute ist man in Verlegenheit, wenn man

    genau angeben sollte, wo seine Theorie, dies Gewebe aus realistischer Beobach-tung, Phantasie und Kalkl, einzuordnen sei. Soll man die Schriften Fouriers, wieso manches Werk, das man sich weigert, ernstzunehmen, in die sogenannte schneLiteratur abschieben? Dafr sprche, da es Literaten und Dichter wie Stendhal,Saint-Beuve, Balzac waren, die Fourier zuerst ffentlich anerkannt haben, und daauch heute wieder ein Dichter, Andre Breton, mit seiner >Ode Charles Fou-rierL'Utopie et les Utopies< Fouriers Bei-trag zu den Gesellschaftswissenschaften mit dem des Douanier Rousseau in derMalerei verglichen. Wie Rousseau ein von auen kommender Sonntagsmaler so seiFourier ein sociologue du dimanche, ein Sonntagssoziologe gewesen. In der Tatist Fourier ebenso wie der Douanier Rousseau ein Autodidakt, dem die Not der

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    Unkenntnis akademischer Mittel zur Tugend wird, Indem er deren Beschrnktheitaufsprengt. Beider Genie trgt den Stempel einer von den Znftigem gleicherma-en belchelten und bewunderten Naivitt. Man hat hufig in wissenschaftlichenKreisen, auch den marxistischen, das zwiespltige Gefhl, jene Mischung ausSpottlust und Bewunderung, das einen bei der Lektre eines Fouriertextes befllt,dadurch zu neutralisieren gesucht, da man Fourier in einen rationalen, genau beo-

    bachtenden, scharfsinnig kritisierenden und in einen abstrusen Denker spaltete. Ge-rade damit aber verstellt man die Einsicht in die Grundstruktur des FourierschenDenkens, in dem grenzenloser Optimismus und unbestechlich kritischer Blick zueiner dialektischen Einheit verschmolzen sind. Die oft bespttelten Aussagen Fou-riers ber Sterne, Kommaregeln oder Kohlkpfe gehorchen nicht weniger als seineEinsichten in gesellschaftliche Zusammenhnge einerinneren Logik. Alles in die-sem System entspringt einem einzigen Prinzip: der Behauptung, da das menschli-che Glck nicht nur mglich, sondern als Bestimmung des Menschen im Plan der

    Schpfung selbst vorgesehen sei. Les attractions sont proportionnelles aux desti-nes lautet der sibyllinische Satz, in den Fourier sein Denken zusammenfat. Esist dies gleichsam der ins Praktische gewandte Satz der Identitt. Wie in der Identi-ttsphilosophie die Dichotomie von Subjekt und Objekt in der absoluten Einheitaufgehoben ist, so ist fr Fourier Glck als hchstes Prinzip die Seligkeit erfllterLeidenschaft. Das Glck in seiner Einheit hat nach seiner subjektiven Seite hin dieForm der attractions, die hier mit Leidenschaften bersetzt werden mssen, undnach seiner objektiven Seite die der Bestimmung. Fouriers Grundsatz lautet, wennman diese Entsprechung von Attraktion und Bestimmung dem Sinne nach wieder-gibt: ein leidenschaftliches Verlangen kann nicht auf grundstzlich Unerreichbaresgehen; mehr noch: jedes leidenschaftliche Begehren ist von Anbeginn dazu be-stimmt, erfllt zu werden.

    Fourier behauptet - darin brigens ganz dem Denken des achtzehnten Jahrhun-derts verhaftet -, da das unendlich Groe, der Kosmos, auf das Glck des kleinenMenschen hin angelegt sei. Dieser einer Jahrtausende alten Evidenz widerspre-chende Satz scheint heute absurd. Aber es liegt darin ein abgrndig humoristischesMoment insofern, als die Verrcktheit, die menschlichen Wnsche in den Mit-telpunkt des Universums zu rcken, uneingestandene Verrcktheit allerMenschenist, noch derer, die ber Fouriers methodischen Wahnsinn nachsichtig lcheln. Fou-rier hat daher die Gegenfrage gestellt, ob nicht vielleicht gerade die anderen ver-rckt seien, all jene, die immer gleich bereit sind, sich zum Anwalt glcksfeindli-cher Notwendigkeiten zu machen und die doch selber niemals aufhren, auf dieErfllung ihrer Wnsche hinzuarbeiten. Ist nicht deren vernnftig-erwachseneEinsicht in die Notwendigkeit bloe Heuchelei und ebenso absurd wie es dieLiebe zur Verachtung seiner selbst wre1?

    1 Vgl. Fouriers Satire ber L'amour du mpris de soi-mme in: Publications des manuscrits de

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    Fouriers System ist die Khnheit, nicht nur der menschlichen Gesellschaft, son-dern dem Kosmos und schlielich Gott selbst die Erfllung aller menschlichenWnsche abzutrotzen. Wenn es auch schwerfallen drfte, den Ausfhrungen Fou-riers mit eben dem Ernst und der Naivitt zu folgen, die zweifellos den Autor be-seelten, so wird doch nur der einen Text wie den vorliegenden mit Gewinn lesen,dem es ergeht wie einem der ersten Rezensenten Fouriers, der im >Mercure deFrance< vom 9. Januar 1830 schreibt, er habe bei der Lektre eines eben erschiene-nen Fourier-Buchsan seiner eigenen Vernunft mindestens ebenso sehr gezweifeltwie an der Fouriers2.

    Unglckliche Liebe zur Praxis

    Die 1808 auf eigene Kosten verffentlichte >Theorie der vier Bewegungen istdas erste Buch eines Unbekannten, der fr sich in Anspruch nimmt, ein genialerEntdecker zu sein. Fourier glaubt, das Geheimnis sozialen Glcks wiedergefundenzu haben, das ber Jahrtausende hin verloren gegangen war: die Ordnung desmenschlichen Zusammenlebens nach Assoziationen oder, wie er sagt, nach Seri-en, die auf leidenschaftliche Anziehung gegrndet sind. Er nennt dies die Entdek-kung des sozialen Kompasses und schreibt dazu: Der Name pat ausgezeichnet zuden progressiven Serien, denn diese Einrichtung, so einfach und leicht sie auch zuverwirklichen ist, lst alle erdenklichen Probleme des sozialen Glcks, und sie al-lein gengt, die Menschen im Labyrinth der Leidenschaften zu leiten, wie die Ma-gnetnadel allein gengt, die Schiffe durch Nacht, Sturm und die Unendlichkeit der

    Meere zu fhren.3

    Er selbst fhlt sich als der von Gott auserwhlte Erlser derMenschheit: Ein einfacher Handelsangestellter wird die politischen und morali-schen Bibliotheken, diese schmhlichen Frchte antiker und moderner Gaukelei,der Lcherlichkeit preisgeben. Es ist nicht das erste Mal, da Gott sich des Einflti-gen bedient, um den Hoffrtigen zu demtigen, und da erden Unbekannten aus-erwhlt, um der Welt die wichtigste Botschaft zu bringen.4

    Die Theorie der vier Bewegungen, die alle Momente des Fourierschen Denkensbereits in sich enthlt, ist noch ganz vom Schwung der berzeugung getragen, dadie Zeitgenossen die neue Entdeckung mit Begeisterung aufnehmen und ohne Ver-

    zug in die Tat umsetzen werden. Das Buch ist in praktischer Absicht geschrieben.

    Charles Fourier, Paris, Librairie phalanstrienne 1851-1858 ; 4 Bnde, im folgenden zitiertManuscrits, etc.

    2 Abgedruckt in Charles Pellarin; Fourier. Sa vie et sa thorie. Paris 1849; im folgenden zitiertPellarin, etc.

    3 bersetzt nach Thorie des quatre mouvements, uvres compltes de Charles Fourier, BandI ; 2. Auflage Paris 1841, S. 151 Anm.; im folgenden zitiert Quatre Mouvements, etc.

    4 bersetzt nach Quatre Mouvements, a.a.O., S. l52.

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    Fourier nennt es einen Prospekt, der zur Grndung eines Unternehmens auffordernsoll, eines Unternehmens allerdings, das sich von den Grndungen der Zivilisationdarin unterscheidet, da es eine neue geschichtliche Phase einleiten wird: die ge-sellschaftlicher Harmonie. Er ldt zur Subskription ein, wird nicht mde, die Ren-tabilitt des geplanten Versuchs zu beweisen, der obendrein zur Quelle des Nach-ruhms derer werde, die den Mut aufbringen, ihn zu finanzieren. Was da gegrndetwerden soll, ist ein aus 1600-1800 Personen aller Klassen, Generationen und Cha-raktere zusammengesetztes Phalanstre, das primr auf land- und hauswirtschaftli-che Arbeit gegrndet, aber in seiner konkreten Form eher einer cit future hn-lich ist. Fourier hat mit der ihm eigenen Pedanterie einen genauen Plan des zugrndenden Phalanstre entworfen, angefangen von den 2300 Hektar, die der Ver-suchskanton umfassen soll, bis hin zu den architektonischen Details der Gebude,die fr das Leben der harmoniens, ihre Feste, Arbeiten, Liebesfreuden undMahlzeiten ntig sind. Sie sollen durch glasgedeckte, galerieartige Straen mitein-

    ander verbunden sein, eine Konstruktion, die an jene Pariser Passagen erinnert, diehundert Jahre spter in die Mythologie der Moderne eingegangen sind. Fourierglaubt, das erste Phalanstre werde eine derartige Anziehungskraft ausben, da

    bereits in einem Zeitraum von wenigen Jahren mit einer weltweiten Verbreitungdes Prinzips der leidenschaftlichen Serien zu rechnen sei. Die soziale Metamor-

    phose knne sich vollziehen, ohne da auch nur ein einziger gewaltsamer Hand-streich gefhrt zu werden brauche. Knige, Kleriker, Wilde, Kapitalisten, Hndlerund Verbrecher werden sich mit all ihren Lastern harmonisch in die neue Ordnungeinfgen. Selbst der blutdrstige Nero wre, ohne da man seine Natur htte ndernmssen, ein ntzliches Mitglied der Harmonie, nmlich der beste aller Metzger,geworden.

    Fourier ist so besessen von der Idee einer sofortigen Realisierung seines Plans,da er in diesem seinem ersten Buch auf die systematische Darstellung seiner Ge-danken verzichtet. Die >Theorie der vier Bewegungen< appelliert nicht an die Ver-nunft, sondern an die Leidenschaften der Leser, sie gibt Proben, die jeweils auf ei-nen bestimmten Lesertypus berechnet sind. Die Wissensdurstigen erhalten einenExtrakt aus der Theorie, den Wollstigen, an den praktischen Konsequenzen Inter-essierten, werden die Vorzge der neuen Ordnung fr ihr privates Dasein aufge-zeigt; schlielich wendet ein dritter Teil sich an die virtuellen Kritiker seiner Theo-rie, deren Streitlust dadurch absorbiert werden soll, da sie auf einen wrdigerenGegenstand gelenkt wird: auf die Kritik an der Zivilisation. berdies versucht er,sie fr seinen Plan zu kdern durch die Aussicht auf ein Prestige, das etwa dem derheutigen Soziologen gleichkommt. Wie sehr es Fourier auf ein praktisches Experi-ment als einzig mglicher Verifizierung seiner Theorie ankam, das geht aus einemDetail seines Lebens hervor, von dem sein Biograph Pellarin berichtet: Fourier, derzeitlebens ein kleiner Handelsangestellter war, machte es sich in den letzten zehn

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    Jahren seines Lebens zur Regel, jeden Mittag punkt 12 Uhr nach hause zurckzu-kehren. Das war die Stunde, die er dem Kandidaten angegeben hatte, demjeni-gen, der bereit wre, Reichtum und Einflu fr einen Versuch mit den leidenschaft-lichen Serien zur Verfgung zu stellen. Der Erfinder fand sich jeden Tag zur ver-abredeten Stunde ein - schreibt Pellarin - aber der reiche Mann lie sich nicht

    blicken.5 - Nur einmal ist zu Lebzeiten Fouriers der Versuch gemacht worden, einPhalanstre zu errichten. Der Abgeordnete Baudet-Dulary grndete zu diesemZweck eine Aktiengesellschaft und stellt zusammen mit den Brdern Devay einenBesitz in Cond-sur-Vgres zur Verfgung. Aber schon im Stadium der Vorberei-tung stellte sich heraus, da die Fonds zu dem geplanten Unternehmen nicht aus-reichten. Der Versuch wurde zur malosen Enttuschung Fouriers abgebrochen,noch ehe man zum entscheidenden Punkt: zur Einfhrung des Prinzips der leiden-schaftlichen Serien gekommen war.

    Das Scheitern Fouriers an der Praxis, auf die doch sein Denken unablssig ge-

    richtet war, ist mehr als bloes Migeschick. Als ob seine Gedanken Stacheln ht-ten, struben sie sich gegen jede unmittelbar praktische Verwertung, und dies viel-leicht gerade darum, weil sie mehr sein wollen als bloe Gedanken. Aus der Per-spektive der harmonischen Zukunftsordnung, an die Fourier so fest glaubt wie anseine eigene Existenz, gewinnt er das, was er den absoluten Abstand zu seinerZeit nennt. Das methodische Prinzip des absoluten Abstands wird bei ihm zum sati-rischen Blick, dem Jahrtausende der Kultur zur bloen Farce zu-sammenschrumpfen. Er, der sich nicht ohne Koketterie einen ungebildeten Men-schen nennt, verhhnt, darin Rousseau verwandt, jenen Begriff, der seinen Zeitge-

    nossen Triumph und ... hchste Entfaltung der Vernunft bedeutet, den der Zivili-sation6.

    Wo sieht man die Vernunft, die Gerechtigkeit und die Wahrheit gedeihen?,spottet er. In den Bchern, denn ich sehe nicht wo anders man sie finden knnte.Unsere wissenschaftlichen Fortschritte reduzieren sich darauf, Weisheit und Glckin der Theorie, in der Praxis aber Korruption und Unglck zu schaffen. 7 Diehochmtigen Schnredner der Zivilisation, die deren uneingeschrnkte Vervoll-kommnungsfhigkeit predigen, Perfektibilisten, wie er sie darum nennt, habendie Leiden der Menschheit nicht gelindert, sondern ihnen lediglich die Maske des

    Fortschritts aufgeklebt. Ihre 400 000 Bnde, die tauben Ohren die Liebe zur sanf-ten und reinen Moral predigen, haben zum Glck der Menschen nichts beigetra-gen. Die illustren Werke von Platon und Seneca bis hin zur franzsischen Aufkl-rung - von deren Denkern er allerdings Voltaire und Rousseau als fr die Wahrheit

    5 Pellarin, a.a.O., S. 146.6 Hazard: La pense europenne au XVIIIe sicle. Paris 1946, Band II, S.136.7 Manuscrits I, a.a.O., S. 321

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    noch nicht verdorbene Anwrter ausnimmt - seien allenfalls dazu gut, in der neu-en Ordnung, mit Glossen versehen, die Liebhaber der sozialen und burlesken Ar-chologie zu erheitern. -

    ber die Philosophie und deren totgeborenes Kind: die konomie, ber den

    Handel mit seinen zweiundvierzig Arten und Unterarten des Bankrotts, ber die brgerlichen Liebessitten stimmt Fourier zuweilen ein Lachen an, das schon dasbefreite derer ist, die der alten Welt entronnen sind.

    Gegen die Unfruchtbarkeit der reinen Philosophie spielt Fourier nicht nach Artdes Positivismus die Welt der Fakten aus. Seine Kritik ist grundstzlicher. Er bringtsie mit einem Selbstbewutsein, das nur philosophisch heien kann, auf die For-meln des absoluten Abstands und des absoluten Zweifels. Wenn der absoluteAbstand die Distanz bezeichnet, die ihn, den Seher einer neuen Ordnung, von sei-ner Zeit und ihren Anschauungen trennt, so proklamiert er gleichzeitig, die Carte-

    sianische Methode nachvollziehend, mit dem Prinzip des absoluten Zweifels dieNotwendigkeit der Herleitung aller Theorie aus ersten Prinzipien. Diese beiden me-thodischen Grundstze des Philosophen kommen auf Schritt und Tritt dem Pragma-tismus des Sozialreformers in die Quere. Denn aus ihnen folgt nicht allein diekompromilose Kritik an der Gegenwart, sondern auch, da der bergang zur neu-en Welt nicht kontinuierlich, sondern ein qualitativer Sprung sein msse. WennFourier sich zuweilen dazu herablt, konkrete, der kurzen Perspektive des Brgersangepate bergangslsungen aufzuzeigen, wie etwa die Grndung einer Genos-senschaftsbank und hnliche Reformen, die er unter dem Stichwort des Garantis-mus zusammenfat, so nurmit halbem Herzen und mit einem Ghnen, das dem

    Leser nicht verborgen bleibt8

    . Im Grunde ist er berzeugt davon, da solche Einzel-reformen Flickarbeit sind, da das Neue dadurch, da es sich dem Alten kommen-surabel machen will, seine unwiderstehliche Anziehungskraft verliert. Eben dieseKraft der Faszination aber haftet noch heute gerade jenen Einsichten Fouriers an,die nicht unmittelbar praktisch einlsbar sind.

    Man hat Fouriers Denken ob dieser das Gegebene transzendierenden Kraft zuRecht utopisch genannt. Jedoch mu, was unter utopisch zu verstehen sei, mit sei-nem Selbstverstndnis konfrontiert werden. Die sich hier aufdrngende prinzipielleFrage, wie denn Utopie sich zu Wissenschaft verhalte, ob wirklich utopisches Den-

    ken den Rahmen des wissenschaftlichen notwendig sprengt; und umgekehrt, obwissenschaftliches, genauer: sozialwissenschaftliches Denken ohne utopischesberhaupt mglich sei, kann dabei nur gestreift werden. Fourier selbst fhlt sichnicht allein als Pragmatiker, sondern mchte auch als empirischer Wissenschaftlergelten. Mit dem Positivismus hat er gemein, da er von Fakten ausgeht und aufFakten bezogen bleibt, da er ganz ebenso wie Saint-Simon und spter Comte den

    8 Vgl. etwa Quatre Mouvements, a.a.O., S. 270

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    bloen Ideenkmpfen der Philosophen mitraut. Auch er mchte im Gebiet derWissenschaften vom Menschen die deduktiv-spekulative durch die induktiv-empirische Methode ersetzen. So unterscheidet er zwischen unexakten Wissen-schaften und exakten, denen er seine eigene zurechnet. Allerdings hat bei ihmder Begriff der Empirie eine Weite, die dem Positivismus unbekannt ist. Empirischist fr ihn nicht allein die wissenschaftlidi-konstatierende Beobachtung dessen, wasist, sondern ebenso die konkrete, exakter Phantasie entspringende Vorstellung des-sen, was sein knnte. Die Weise, in der Fourier im Bereich des Imaginren vorgeht,lt seine Ausfhrungen zuweilen als Parodie positivistischer Exaktheit erscheinen.Aus der Tatsache, da Fourier sich der Phantasie als eines Erkenntnismittels be-dient, hat man den Schlu gezogen, da er ein Phantast und kein Wissenschaftlergewesen sei. Das setzt voraus, da man wie Comte die Einbildungskraft aus derwissenschaftlichen Methode verbannen will. Fourier dagegen ist der Meinung, daeine Wissenschaft, die sich allein aufs Bekannte, auf dessen Beobachtung und

    Analyse beschrnkt, rmlich, einfallslos und tendenziell unwissenschaftlich sei. Erbedient sich der Phantasie mit der gleichen Selbstverstndlichkeit wie der Beobach-tung. Gegen den Vorwurf, da er nur phantasiert habe, hat er selbst versucht, sichzu wappnen: Die oberflchlichen Geister, die einem Erfinder zu schmeichelnglauben, wenn sie sagen, er habe sehr viel Phantasie (imagination), machen damitein sehr dummes Kompliment. Zweifellos mssen Mnner wie Kepler und ich, dieeinen ausgeprgten Instinkt fr einen bestimmten Zweig der Wissenschaften haben,zunchst ohne Prfung jede neue Idee empfangen und kultivieren, die der Instinktihnen eingibt; aber diese Mnner wrden weit unter den Romanschriftstellern ste-

    hen, wenn sie solche Ideen ohne ausreichende Beweise bernehmen wrden. Ei-nem Romancier ist es erlaubt, sich blind seiner Phantasie zu berlassen ..., aber dieexakten Wissenschaften sind Regeln und Beweisen unterworfen.9

    Wenn dennoch seine ber die erfahrbare Realitt hinausgehenden Konstruktio-nen den Eindruck des Phantastischen und mitunter Komischen erwecken, so nicht,weil sie irrational wren, sondern gerade, weil sie ber die Maen rational sind;weil hier eine selbsterfundene soziologischmathematische Methode, Beobachtungund gesunder Menschenverstand mit skurriler Pedanterie aufs noch nicht Bekannte;noch nicht Wirkliche angewandt werden.

    Kosmischer Rationalismus

    Fourier glaubt, mit seiner Entdeckung des sozialen Kompasses den Schlssel ge-funden zu haben, der unfehlbar auch die Geheimnisse der Natur aufschliet. Ersetzt mit seinen kosmischen Spekulationen da ein, wo die Wissenschaft ste-

    9 Manuscrits I, a.a.O., S. 128

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    hengeblieben sei. Ihn interessiert nicht so sehr das Was der Schpfung, sondern erstellt die Kinderfrage des Warum. Warum hat die Giraffe einen so langen Hals,warum ist das Zebra gestreift, nach welchen Gesichtspunkten hat Gott die Sterneverteilt? Wie fr die rationalistische Aufklrungsphilosophie Wolffs steht fr Fou-rier die Vernnftigkeit der Welt fest. Gott ist nur der emphatische Ausdruck dieserdurchgehenden Gesetzlichkeit aller Naturdinge. Mehr noch: Gottes Wesen ist dieerklrende Hypothese fr die Schicksale des Menschen. Die in der Menschenweltentdeckte Gesetzlichkeit wird als Natur Gottes hypostasiert. Fourier stattet Gott mitder kompletten Skala der Leidenschaften aus. Dieser vernnftige und leidenschaft-liche Gott ist ihm Garant der Richtigkeit des Universums, das er nicht allein erkl-ren, sondern verstehen will. Er unternimmt es, aus seinen Werken Gottes Absichtenund Motive zu entziffern. Dabei setzt er voraus, da Gott sich bei der Schpfungvon drei unvernderlichen Prinzipien hat leiten lassen: von der Einheit des Sy-stems, von der Universalitt der Vorhersicht und der konomie der Krfte.

    Die Einheit des Systems ist das hchste der gttlichen Attribute. Sie wird garan-tiert durch das universelle Bewegungsgesetz der Attraktion. Fouriers Theorie dervier Bewegungen besagt, da nicht allein die materielle, sondern auch die organi-sche, animalische und soziale Bewegung dem Gesetz der Attraktion unterworfensind. Diese Tendenz, das Newtonsche Gesetz zu universalisieren, lt sich durch-aus bereits im Denken des achtzehnten Jahrhunderts nachweisen. Aber whrendman bislang versucht hatte, das psychische und soziale Leben in Analogie zur Ma-terie zu begreifen, kehrt Fourier dies Verhltnis um und erklrt die soziale Bewe-gung zum Grundphnomen des Universums, dem die anderen Ordnungen analo-gisch nachgebildet seien. Der Mensch, so lautet die optimistische These Fouriers,ist nicht nur fr sich selbst, sondern auch fr Gott der foyer, der Mittelpunkt, desWeltalls. Daher bedeutet das zweite der Attribute Gottes, die Universalitt derVorhersicht, da die Schpfung in all ihren Details zum Besten des Menschen an-gelegt sei. Der Schpfer ist kein Gott der Strenge und der Moral, sondern ein Gottder Wollust. Die Gensse seiner menschlichen Geschpfe sind der wichtigste Ge-genstand der gttlichen Berechnungen.10Das dritte Attribut schlielich, die ko-nomie der Krfte, besagt, da Gott zur Durchsetzung seiner Ziele sich nicht un-zhliger, sondern jeweils nur eines Werkzeuges bedient. So hat er dem Menschenals bewegendes Prinzip die Leidenschaften eingebaut. Sie sollen der alleinige Mo-

    tor der sozialen Bewegung sein. Gott hat die Menschen nicht zwiespltig ge-schaffen. Er will, da sie ihrer Natur und dieser allein gehorchen. Die menschliche

    Natur braucht nicht durch philosophische oder polizeiliche Manahmen korrigiertzu werden; sie ist, wie alles, was Gott geschaffen hat, gut, oder besser: zu etwasgut, denn Fourier argumentiert niemals moralisch, sondern vom Standpunkt derZweckmigkeit.

    10 bersetzt nach Quatre Mouvements, a.a.O., S. 237.

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    Wie aber, wenn Gott, getreu seinen drei Attributen, nur die beste aller mglichenWelten hat schaffen knnen, erklrt es sich, da es viele Krfte und Geschpfe inder Welt gibt, die jenen drei Prinzipien widersprechen? Der Optimist Fourier sttwie Leibniz notwendig auf die Frage, wie denn das Bse in die Welt komme. Ergibt darauf eine merkwrdige Antwort: die Feindseligkeit oder zumindest Gleich-gltigkeit vieler Naturdinge gegenber dem Menschen erklre sich daraus, da derKosmos vom Zustand der sozialen Welt abhngig sei. Die aber stehe so lange aufdem Kopf, wie die Vernunft sich zum Beherrscher der menschlichen Natur auf-wirft. Der Kosmos ist fr Fourier ein der Gesellschaft entsprechendes universellesSystem von Beziehungen, in dem nichts zufllig oder bedeutungslos ist: ein Kryp-togramm, das der Mensch lernen mu, mit philologischer Genauigkeit zu entzif-fern. Die verschiedenen Bereiche der Natur sind in allen ihren Details ebensovieleSpiegel irgendeiner Erscheinungsform unserer Leidenschaften; sie bilden ein im-menses Museum von allegorischen Bildern, in die die Verbrechen und Tugenden

    der Menschheit eingezeichnet sind.11

    Fouriers kosmisches System der sozialenAnalogien ist hchst kompliziert. Von den Gesellschaften des Planeten Erde istunmittelbar nur das abhngig, was er das Mobiliar eben dieses Planeten nennt,mittelbar auch das Universum, das den Planeten umgibt. Neben dem Planeten Erde

    jedoch nimmt er noch andere von Menschen bewohnte Gestirne an, die wiederumwie die Erde Mittelpunkt einer Welt sind. Es gibt also nicht nur ein Universum,sondern auch ein Biniversum, Triniversum etc. bis hin zum Oktaversum als demhchsten Zusammenklang aller Welten. Wohl ist die Harmonie all dieser Sphrenim Plan der Schpfung vorgesehen. Sie stellt sich jedoch nicht automatisch her,sondern der Kosmos hat wie die menschlichen Gesellschaften eine Geschichte. Dain Fouriers Weltbild das Groe sich um das unendlich Kleine dreht, sind es dieMenschen, die fr den Zustand ihres Universums verantwortlich sind. Solange dieMenschen sich dreist dem universellen Gesetz der Attraktion widersetzen und zurGewalt als der sozialen ultima ratio ihre Zuflucht nehmen, solange bleibt auch Gottnichts anderes brig, als das Mobiliar des Planeten diesem traurigen Zustand anzu-

    passen. Unsere Spinnen, Krten und hundertdreiig Schlangenarten, ja selbst das jhrlich sich verschlechternde Wetter, seien Spiegel, die Gott den Menschen vor-halte, damit sie endlich erkennen sollen, da sie mit ihren Zuchthusern und Hen-kern auf dem falschen Wege sind. Die brigen Planeten aber, die Fourier als dop-

    pelgeschlechtliche, leibseelische Wesen begreift, haben sich wie Nachbarn, die denUnglcklichen meiden, vom Planeten Erde abgewandt. Ein Planet in subversivemZustand ist fr die anderen, was fr uns ein Lepra- oder Pestkranker ist, man mei-det seinen Kontakt.12

    11 Zitiert bei Pellarin, a.a.O., S. 114 f.12 Manuscrits I, a.a.O., S. 330. Subversiv heit bei Fourier: aufsssig gegen das gttliche Gesetz

    der Attraktion.

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    Die Planeten, und Gott selbst, teilen die Leiden und Freuden der Menschen; undwenn sie auch unendlich viel weniger betroffen sind, so mssen sie doch nach demGesetz der Analogie auf die Menschheitsgeschichte von Fall zu Fall reagieren. Soetwa steht es ,fr Fourier fest, da die Schpfungsfreudigkeit, die er als Kopulationder Planeten begreift, durch die sozialen Zustnde der Menschen verlangsamt oderaber angeregt werden kann. Unsere Erde hat bislang erst zwei Schpfungen hervorgebracht: eine erste Versuchsschpfung, die Gott, weil sie mit ihren Mammutenund Fossilien zu gro geraten war, durch eine Sintflut wieder ausgewischt habe,und die gegenwrtige, stagnierende und sehr mangelhafte Schpfung. Von derHerbeifhrung gesellschaftlicher Harmonie erwartet Fourier eine entscheidendeAnregung der Schaffenslust unseres Planeten. Er sieht fr den Zeitraum der Har-monie nicht weniger als vierzehn neue Schpfungen vor, Schpfungen, deren An-kndigung nichts berraschendes hat, denn die Erde, die zwei hervorgebracht hat,kann sehr wohl auch vier oder neun hervorbringen. Wer die gegenwrtige Schp-

    fung theoretisch zu erklren vermag, kann daraus auch die Theorie der zuknftigendeduzieren.13 Fourier sagt fr die knftigen Schpfungen 549 neue Tierarten, da-von sieben Achtel zhmbare, sowie das Erscheinen von Antikrokodilen, Antilwen,Antiratten und unzhlige weitere Neuerungen voraus, von denen die mittelmigePhilosophie sich nichts trumen lasse. Die Atmosphre werde gereinigt werdendurch die Rckkehr von fnf Sternen, die sich der Erde freundschaftlich zugesellenund ihr die Dienste von wohlwollenden Nachbarn erweisen14.

    Aus dem Bewutsein, die bislang verborgenen Geheimnisse der Schpfung ent-rtselt zu haben, ergibt sich fr Fourier ein eigenartiges Verhltnis zu Gott einer-

    seits und zu der die menschliche Vernunft reprsentierenden Philosophie anderer-seits. Die Erforschung der Ursachen der Schpfung entspringt keineswegs einemblinden Gottesglauben, sondern eher einem der Aufklrung verpflichteten Rationa-lismus. Fourier distanziert sich von aller Theologie und nennt sich selbst einenAtheisten, aber er optiert fr einen zusammengesetzten, man knnte sagen dia-lektischen Atheismus, der vom blinden Gottesglauben ebensoweit entfernt sei wievon jener philosophischen Richtung, die die Erfindung der selbstherrlichen Ver-nunft an die Stelle einer gttlichen Ordnung setzt. Der dialektische Atheist negiertzunchst ganz wie der simple angesichts der mangelhaften Schpfung einen weisevorausschauenden Gott, zugleich aber negiert er diese einfache Negation Gottes,wobei der Klger: die selbstherrliche Vernunft, selber zum Angeklagten wird. Derdialektische Atheist ist zugleich bescheidener und unbescheidener als der simple.Bescheidener, weil er sich nicht willkrlich die Kompetenz der sozialen Gesetzge-

    bung anmat, sondern lediglich den im kosmischen Plan mit angelegten sozialencode zu entziffern sucht; unbescheidener insofern er sich zutraut, alle gttlichen

    13 a.a.O., S. 319.14 a.a.O., S. 330 u. 347.

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    Gesetze zu entdecken. Er glaubt sich imstande, den Geheimnissen der Natur auf dieSpur zu kommen, von denen die Philosophie behauptet hatte, da ein ehernerSchleier sie verberge. Daraus ergibt sich Fouriers charakteristische Doppelstel-lung. Unablssig spielt er Gottes in der Natur sich offenbarende Weisheit gegen diefalsche Vernunft der Philosophen aus. Zugleich aber fhlt er, der als erster GottesPlne durchschaut hat, sich zu einer immanenten, vernnftigen Kritik an GottesWerken berufen. Immanent ist diese Kritik, weil Fourier an die Schpfung denMastab anlegt, von dem er fest annimmt, da er auch Gottes Mastab sei: dieWohlfahrt des Menschen. Von daher hat er gegen die aktuelle und provisorischeSchpfung manches vorzubringen, nach dem Motto jenes Alphonse de Castille,der gesagt hat: Wenn Gott mich in Sachen der Schpfung um Rat gefragt htte,ich htte ihm manchen ntzlichen Hinweis gegeben.14a Fourier moniert, da dieErdachse um einige Grade zu hoch plaziert sei, da unzhlige Tiere weder ebarnoch arbeitsam seien und vieles andere mehr. Dieser letztere Einwand macht die

    Grenzen von Fouriers Anthropozentrismus deutlich: die Tiere gehren in die Ge-sellschaft der harmonischen Wesen nicht mit hinein. Sie sind wie alle die Men-schen umgebende Natur bloes Mobiliar und allenfalls Zerrbilder menschlicher Ei-genschaften. Die Tiere bleiben auch in der harmonischen Ordnung menschlicherGewalt und Willkr ausgeliefert. Es bleibt ihm daher, um dennoch die Universalittdes Prinzips der Attraktion zu retten, nichts anderes brig, als die Ochsen mit einerLeidenschaft fr den Schlachthof auszustatten15.

    Aus dem doppelten Proze, den Fourier gegen Gott und die menschliche Ver-nunft anstrengt, geht Gott mit seinen drei Attributen unbeschadet hervor. Zum

    Schuldigen wird jene Vernunft, die - statt bescheiden Gottes Gesetze zu suchen -sich selbst zum Gesetzgeber aufwirft. Gott, der seinen drei Prinzipien getreu, aufautoritre Mittel zur Durchsetzung seiner Absichten verzichtet, ist auf die frei-willige Mitarbeit der Menschen angewiesen. Wenn er fr den Zwang optiert htte,so wre es ihm ein leichtes gewesen, sehr viel mchtigere Polizeischergen als dieunseren zu schaffen, amphibische Giganten von zehn Fu Hhe, schuppig, unver-letzlich und in unsere militrische Kunst eingeweiht. Sie wren unvermutet aus denMeeren gestiegen, htten unsere Hfen, unsere Geschwader, unsere Armeen zer-strt und in Brand gesteckt und im Handumdrehen die aufsssigen Reiche gezwun-gen, der Philosophie abzuschwren, um den gttlichen Gesetzen der Attraktion zufolgen. Wenn Gott darauf verzichtet hat, sich mit solchen Giganten zu versehen, dieebenso leicht zu schaffen wren wie die groen Wale, so mu man daraus schlie-en, da er nur die Attraktion im Sinn hatte und da die Attraktion der einzige For-14a Alphons X., Knig von Kastilien (13. Jahrhundert). Dieser Ausspruch ist berliefert in: Bayle,

    Dictionnaire historique et critique 1730, tome II, p. 95.15 Fourier: Le nouveau monde industriel et socitaire ou invention du procde d'industrie at-

    trayante et naturelle, distribuee en sries passionnes in: uvres compltes Band VI. 3. Aufla-ge Paris 1846, S. 288; im folgenden zitiert als Nouveau Monde, etc.

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    schungsgegenstand eines Jahrhunderts sein soll, das sich mit Gott verbnden will,indem es die Natur und ihre Bestimmung erforscht.16

    Das bel entspringt nicht der menschlichen Natur. Es liegt gerade darin, dadiese Natur sich noch nicht ihrer Bestimmung entsprechend entfaltet, sondern - von

    Philosophen und Theologen irregeleitet - im Labyrinth der Geschichte verirrt hat.Fourier fhlt sich dazu berufen, den Leiden und Irrwegen der Menschen, in die derKosmos und selbst Gott verstrickt sind, ein Ende zu bereiten. Anthropologie undGeschichte, Soziologie und Moral fgen sich ihm zu einem System, das den theore-tischen Schlssel zur neuen Welt geben soll.

    Die Leidenschaften bilden ein Orchester von 1620 Instru-menten; unsere Philosophen, die es dirigieren wollen, glei-

    chen einer Legion von Kindern, die in die Oper einbrechen,sich der Instrumente bemchtigen und eine frchterlicheKatzenmusik veranstalten; soll man daraus schlieen, dadie Musik den Menschen feind sei und da man die Geigenunterdrcken, die Bsse zum Schweigen bringen und dieFlten ersticken msse?

    Nein; man sollte diese kleinen Tlpel verjagen und dieInstrumente wieder Experten bergeben.(Fourier)

    Theorie der Leidenschaften

    Die Grundlage der Erkenntnis des sozialen Bewegungsgesetzes ist fr Fourierdie Wissenschaft vom Menschen. In ausdrcklichem Gegensatz zur philosophi-schen Tradition jedoch sieht er das Wesen des Menschen nicht in der Vernunft. Diesei nur die Schale, und es gelte zu den Leidenschaften als den eigentlichen Triebfe-dern der Seele vorzudringen.

    Fourier fat die Leidenschaften zusammen unter dem fr ihn grundlegenden Be-

    griff der Attraktion. Die kosmische Kraft der Attraktion uert sich in der sozialenBewegung als innerer Impuls und Motor des Menschen17. Sie bestimmt dieSpontaneitt der Leidenschaften, die ebensoviele Modifikationen jener Grundkraftsind. Empirisch sind die Leidenschaften niemals rein, sondern immer schon imVerhltnis zu Moral und Vernunft anzutreffen. Sie sind daher zunchst nur negativzu definieren als das, was im Menschen sich allen Bndigungsversuchen wider-16 Nouveau Monde, a.a.O., S. 355 f.17 Vgl. Analyse de l'Attraction passionne in: Nouveau Monde, a.a.O., S. 47 ff.

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    setzt: strrische Natur18. Und doch sind es nicht blinde, anarchische Krfte, die eserst glte, durch Vernunft zu migen und in gesittete Bahnen zu leiten, sonderndie Leidenschaften sind als Emanationen der Attraktion dazu bestimmt, Sitz derAutonomie und Selbstbettigung des Menschen zu sein. Es sind Impulse, die nicht

    blo Trieb- und Instinktcharakter haben; sie sind immer schon materiell-sinnlichund geistig-seelisch zugleich und als solche zusammengesetzten Impulse unend-licher Steigerung und Entfaltung fhig. Sie bedrfen keiner Ergnzung durch ver-nnftige oder ethische Zwecksetzung, vielmehr sind sie selber in sich ideologisch.

    Nach Art der Ziele, auf die sie hinstreben, unterscheidet Fourier fnf sensuelle, aufdas Wohlleben (luxe) gerichtete Leidenschaften, vier affektive oder Gruppenlei-denschaften und schlielich drei noch fast unbekannte soziale Leidenschaften.Wenn hier von Zielen der Leidenschaften die Rede ist, so darf das nicht miver-standen werden. Es bedarf, damit die Leidenschaften ihren ideologischen Charakterentfalten, nicht der Absicht des einzelnen Menschen. Vielmehr wirkt in den Lei-

    denschaften so etwas wie die Hegelsche List der Vernunft. Whrend das Indivi-duum seine konkreten Ziele: diese Frau, diesen schnen Gegenstand, dies Vergn-gen im Auge hat, besorgt es doch zugleich kraft seiner Partizipation am System derLeidenschaften das Allgemeine; gerade dadurch, da es seinen hchst individuellenImpulsen folgt, erfllt es das Gesetz der Attraktion.

    Fourier spricht zunchst von Trieben, die, wenn auch unter verschiedenen Na-men, hinreichend bekannt sind. Es sind die fnf Sinne und die vier Gruppenleiden-schaften: Freundschaft, Ehrgeiz, Liebe und Familientrieb. Diese Neun glten zuRecht als der Motor aller bisherigen sozialen Bewegung, und doch habe, wer nur

    sie kennt, ein verkrztes und daher falsches Bild vom Menschen und seiner Be-stimmung. Ihren eigentlichen, nmlich gesellschaftlichen Sinn verleihe diesen ele-mentaren Impulsen erst die letzte, das System krnende Gruppe der sozialen Lei-denschaften: die Streitlust (cabaliste), der Schmetterlings- oder Vernderungstrieb(papillonne) und die Begeisterung (composite). Diese drei Leidenschaften sollen inder zuknftigen Gesellschaft die Hauptrolle spielen und die bislang in periodischenExplosionen sich uernde soziale Bewegung rhythmisieren und harmonisieren.Die sozialen Leidenschaften sind im Unterschied zu den brigen rein formal. Essind in der menschlichen Natur verankerte Bewegungsprinzipien, deren einzelneMomente in Fouriers Universum so genau aufeinander abgestimmt sind wie Disso-nanz, Rhythmus und Konsonanz in einem Musikstck. Soziologisch knnte mandie der Streitlust und der Begeisterung entsprechenden Pole, zwischen denen sichdas Leben der neuen Gesellschaft in immer neuen Variationen bewegen soll, alsGruppenkonkurrenz und Gruppensolidaritt bestimmen. Gesellschaftliche Antago-

    18 L'Attraction passionne est I'impulsion donne par la nature antrieure-ment la rflexion, et

    persistante malgr l'opposition de la raison, du devoir, du prjuge, etc. Nouveau Monde,a.a.O., S. 47.

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    nismen und deren Gegenstck: die aus erzwungener Gleichheit entspringende Lan-geweile sollen gleichermaen gebannt werden, nicht indem die soziale Bewegungstillgestellt wird, sondern indem sie im Medium der drei sozialen Leidenschaftensich mit der menschlichen Natur vershnt.

    Die sozialen Leidenschaften seien es, die die brigen, scheinbar immergleichenund natrlichen erst ihrer wahren Bestimmung zufhren19. Noch befnden diese sichin einem beklagenswerten Zustand: whrend die fnf Sinne bei der berwiegendenMehrzahl der Menschen grob und ungeschlacht seien, htten die affektiven Leiden-schaften die Tendenz, zu winzigen, alle Bewegung stauenden Gruppen zu erstarren.Erst die Entfaltung der sozialen Leidenschaften werde die elementaren aus dieserStarre erlsen. Die fnf Sinne werden in Zukunft nicht mehr das passive Instru-mentarium sein, das die Welt einfach nur registriert, sondem sie werden aktiv-kritisch auf stndiges Raffinement, auf stndige Vervollkommnung drngen unddamit auch auf Vervollkommnung ihrer Objekte. Zugleich werden die privaten und

    oft so sterilen Gruppen sich stets fluktuierend zu greren Gruppen (Serien) hinerweitern.

    Wenn Fourier ganz ebenso wie Saint-Simon und Owen von der Organisation derArbeit und von der Assoziation als dem Produktionsverhltnis der Zukunft spricht,so leitet er die Notwendigkeit dieser konomischen Reform aus der prinzipiellen,seiner Theorie der Leidenschaften entspringenden Gesetzlichkeit ab. Das Grund-

    problem aller konomie ist fr ihn die konomie der Leidenschaften. Die Leiden-schaften als die Organe, durch die hindurch der Mensch sich zur ueren Natur undzu seinesgleichen verhlt, sind die eigentlichen Produktivkrfte. Aus ihnen ent-

    springen allererst konomische Kategorien wie die der Produktion, Konsumtionund Distribution. Deren Verhltnis zueinander, wie es sich bei Fourier darstellt, sollhier kurz skizziert werden.

    Hufig haben an Marx orientierte Theoretiker sich daran gestoen, da FouriersKapitalismuskritik so ausschlielich um die Sphre der Zirkulation zentriert ist.Und in derTat rckt er mit seiner Denunziation der Schurkereien und Betrgereiendes Handels20, mit seinem kaum verhehlten Antisemitismus - immer ist es Ischariot,der die Lawinenwirkung des Bankrotts einleitet - in die Nhe der faschistischenUnterscheidung von schaffendem und raffendem Kapital. Vor deren Konsequenzen

    jedoch schtzt ihn sein soziologischer Ansatz: er rechnet Raffgier und Betrgereiweder dem Individuum noch gar einer so und nicht anders gearteten Rasse, sondernder gesellschaftlichen Organisation zu, die fr ihn mit der Organisation der Leiden-schaften ' identisch ist. Da die Zirkulationssphre sich derart verselbstndigen

    19 Fourier: Trait de l'association domestique et agricole (figuriert unter dem Titel Thorie del'Unit universelle, uvres compltes, Bnde II u. III) uvres compltes, 2. Auflage 1841,Band III, S. 114.

    20 Vgl. dazu Quatre Mouvements, a.a.O., S. 331 ff.

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    konnte, ist nach Fourier lediglich Symptom fr ein grndliches Miverhltnis vonKonsumtion und Produktion. Das wahre, nmlich leidenschaftlich-produktive Ver-hltnis der Menschen zu den Dingen sei gestrt. Dies drcke sich darin aus, da dieArbeit als Zwang und Strafe vom Lebensgenu radikal getrennt sei.

    Wenn die Assoziation eine wirklich qualitative Vernderung gesellschaftlicherVerhltnisse herbeifhren soll, mu sie imstande sein, diese Dichotomie, die denMenschen gleichsam in zwei einander bekriegende Teile spaltet, aufzuheben. Pro-duktion und Konsumtion sollen gegeneinander ausgewogen werden, bis sie nurnoch Pole ein und derselben Bewegung, nmlich spontane Manifestation von Lei-denschaften sind. Fourier hat ihr Wechselverhltnis konkret am Beispiel der Ga-stronomie bestimmt: nur der knne einen allen Anforderungen entsprechendenWein produzieren, dessen Zunge fein und kultiviert genug sei, diesen Wein wirk-lich in seiner spezifischen von allen anderen Weinen abweichenden Nuance zugoutieren, ja eigentlich nur der, der auf diese Nuance leidenschaftlich versessen sei.

    Umgekehrt werde bei der Konsumtion die Kenntnis der Art und Weise, wie dieserWein zustande kommt, zur Vervollkommnung des Genusses beitragen. Was fr dieEkultur gelte, gelte fr die gesamte Kultur. Wahre Konsumtion kann nicht ab-gespalten von der Produktion vor sich gehen und umgekehrt. Im Phalanstre wirdder Genu mit dem gleichen Ernst betrieben wie die Arbeit und die Arbeit mit dergleichen Leidenschaft wie der Genu. Arbeit ist produktive Konsumtion und kon-sumtive Produktion zugleich. Der Begriff der anziehenden Arbeit, der bei FouriersTheorie der Assoziation im Mittelpunkt steht, umfat die Traubenkultur ebenso wiedie Liebe, die Pflanzung eines Waldes nicht weniger als die ausgedehnte, variierte

    und raffinierte Mahlzeit.Eine solche Metamorphose der Arbeit ist allerdings nur mglich, wenn die Asso-

    ziation auf Attraktion gegrndet, das heit, wenn sie jene ausgeklgelte gesell-schaftliche Konstellation ist, in der alle Leidenschaften spontan wirken knnen,ohne die Ordnung des Ganzen zu gefhrden. Die Assoziation ist dann die kunstvol-le Ordnung der menschlichen Beziehungen derart, da jeder Akt eine dreifache Be-deutung gewinnt. Er ist zunchst spontane Manifestation einer individuellen Lei-denschaft, eines Begehrens. Er ist zweitens, weil dies Begehren immer schon ge-sellschaftlich vermittelt ist, produktiv, weil er zur Schaffung des begehrten Objekts

    anstachelt. Und er ist drittens, weil jede individuelle Leidenschaft zugleich demobjektiven System der Leidenschaften angehrt, ein gesellschaftsbildender, Be-ziehungen stiftender Akt. Da dies komplizierte System nur darum funktionierenkann, weil der Mensch sich primr auf Objekte und erst durch Vermittlung dieserObjekte auf seinesgleichen bezieht, hat Fourier ausdrcklich betont. Es bedarf nichteines durch moralische Appelle oder durch eine gemeinsame Weltanschauung er-zeugten Konsensus, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu garantieren, son-dern dieser wird hinter dem Rcken der nur ihren Leidenschaften folgenden Men-

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    schen durch die List der Attraktion immer aufs neue realisiert. Es gibt nur eine Be-ziehung, in der der soziale Mechanismus stillzustehen droht, weil er gleichsamkurzgeschlossen ist: das Liebesverhltnis. Fouriers Pldoyer fr die freie Liebescheint der Auffassung des Spieers diametral entgegengesetzt. Es ist in der Tat

    progressiv, ja revolutionr, weil es auf Zerstrung der Institution der Familie ab-zielt. Fouriers Beschreibung der beiden wilden Republikaner21, die nur sich selbstkennen und lieben, erinnert an das, was Bloch zu Recht als kleinbrgerlich-schnbelndes Paar denunziert hat. Und dennoch schwingt in Fouriers Abneigunggegen die ausschlieliche Liebe neben antibrgerlichem Spott noch etwas anderesmit: die Angst vor dem anarchischen, ganz und gar asozialen Moment in der Liebe.Wie, wenn die Leidenschaften jene Bahnen, in denen Allgemeines und Besonderesminutis aufeinander abgestimmt sind, verlassen, um sich willkrlich an einer Stel-le zu kristallisieren, sich in ein besonderes und hchst zuflliges Wesen zu vergaf-fen, hinter dem nun die wirkliche Welt wie ein Traum versinkt? Das Gesetz der At-

    traktion, das als Naturgesetz konzipiert war, verwandelt sich an diesem Punkt in einethisches. Fourier, der doch immer fr die Freiheit und gegen die Pflicht pldiert,erhebt paradoxerweise die freie, nicht ausschlieliche Liebe zur Pflicht. Ihr zumin-dest verspricht er die hchsten Ehren.

    Die Liebe wird im Phalanstre einen durchaus ffentlichen Charakter annehmen.Einmal von den Fesseln der Monogamie befreit, wird sie ganz neue, gesellschafts-

    bildende Eigenschaften entwickeln. Es wird eine noblesse galante, einen galan-ten Adel geben, der an Ranghhe nur noch vom Stand der Heiligen bertroffenwird. Diesem Adel gehren alle diejenigen an, die durch zahlreiche Liebesbezie-

    hungen ebensoviele neue soziale Bande geknpft haben: Laster heit vor dem Ge-setz der Attraktion alles, was die Zahl der Beziehungen vermindert, Tugend alles,was sie vermehrt ... Bei den >Polygynen

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    schaften und Charaktere. Jede, noch die wunderlichste Leidenschaft wie etwa dieVorliebe fr zhe Hhner, hat ihren unersetzlichen Platz in der konomie diesesUniversums. Die Leidenschaften, die Fourier als die Triebkrfte der neuen Ord-nung beschreibt, haben fast fetischistische Zge: sie heften sich ans Detail. Der Fa-natiker der Butterbirne ist dem Anhnger der festen Birne spinnefeind. In dieserLeidenschaft frs einzelne, der Empfindlichkeit fr Nuancen gleichen die genos-senschaftlichen Zukunftsmenschen Fouriers dem aristokratischen Dandy, der alslebendiger Protest gegen Banalitt und Mittelmigkeit des brgerlichen Lebens-stils zu seiner Zeit aufgetaucht war.

    Die von den drei sozialen Leidenschaften dirigierte, stets aufs neue sich konstitu-ierende Serie ist die Kompanadel der sozialen Welt. Sie zeigt auf das Wunder-land, von dem die Menschheit seit der Vertreibung aus dem Paradies getrumt hat.Wenn einmal die richtige Hierarchie der Leidenschaften etabliert ist, die es erlaubt,die menschlichen Fhigkeiten ad infinitum zu steigern und zu differenzieren, dann -

    so glaubt Fourier - werden die Menschen den ihnen allen gemeinsamen Grundtonentdecken: den Einheitstrieb, der gerade den ganz und gar individualisierten Men-schen als einen Teil der Menschheit definiert. Der Einheitstrieb (unitisme) ist diehchste Verwirklichung aller Bestimmungen, das Zusammenklingen aller Leiden-schaften, wie das Weie die einheitliche Farbe aller anderen ist. Fourier nennt ihnden pivot, den Angelpunkt der harmonischen Ordnung. Der Einheitstrieb wird andie Stelle der falschen, man knnte mit Herbert Marcuse sagen, entsinnlichten Ver-nunft, treten, die der Angelpunkt aller verkehrten Gesellschaften ist. Er wird nichtnur die Leidenschaften, sondern auch die Vernunft ihrer wahren Bestimmung zu-

    fhren. Solange nmlich die Vernunft Feindin der Leidenschaften ist, solange istsie auch mit sich selbst uneins. Und bei all ihrer angematen Autoritt erreicht siedoch immer nur das Gegenteil dessen, was sie erreichen will. Einmaliges Resultatdes perfectionnement der Vernunft. Es fhrt dazu, sie aus allen Beziehungen zuverbannen.23 Die Herrschaft der Vernunft wird berflssig werden, wenn die Ge-sellschaft im gttlichen code social mit der Natur des Menschen vershnt ist.Dann erst wird die Vernunft zu ihrer wahren positiven Bestimmung gelangen, dienichts anderes ist als das Raffinement der Lust.

    Dunkle Vorhimmel

    Wenn es stimmt - und das behauptet Fouriers Theorie der Leidenschaften -, dader Mensch nur seiner Natur zu folgen braucht, um glcklich zu sein, warum hat erauf die Stimme der Natur, die zugleich Gottes Stimme ist, nicht gehrt? Die Ant-wort auf diese Frage soll seine Geschichtsphilosophie geben. Geschichte ist hiernicht mehr, wie noch bei Condorcet, der in der Gegenwart gipfelnde Proze einer

    23 Fourier; Thorie de l'Unit universelle, uvres compltes, a.a.O., Band II, S. 105.

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    Hherentwicklung der Vernunft. Eher wre Fouriers Geschichtsphilosophie zy-klisch zu nennen. Seiner Kosmologie entspricht ein Geschichtsdenken in immensenZeitrumen, in deren Perspektive sich die bisherige Geschichte der Menschheit alsein kurzes und miglcktes Vorspiel ausnimmt. Eben dieses Vorspiel aber unter-nimmt er, mit mikroskopischer Genauigkeit zu untersuchen.

    Die Menschheitsgeschichte beginnt mit dem Auseinandertreten zweier ursprng-lich vereinigter Momente: des menschlichen Glcksverlangens auf der einen undder Bedingungen seiner Realisierung auf der anderen Seite. Sie ist Geschichte derIndustrie und Geschichte der Leidenschaften, der stets sich wiederholende und stetsmilingende Versuch, beide in Einklang zu bringen. Es gibt einen ge-sellschaftlichen Urzustand, in dem sie schon einmal bewutlos, da blo natrlich,vereinigt waren: den Edenismus, an den die Menschen aller folgenden histori-schen Phasen eine vage und glckliche Erinnerung bewahren. Vag ist die Erinne-rung und darum unfruchtbar, denn das eigentliche Geheimnis des paradiesischen

    Zustands, die Gesellschaftsform der leidenschaftlichen Serie, ging verloren. Damitaber hat die Menschheit gleichsam den Faden verloren; es beginnt die Geschichtedes Abfalls der Menschen von ihrer Bestimmung. Fourier erklrt die Vertreibungaus dem Paradies nicht moralisch, sondern konomisch: durch die Zunahme derBevlkerung, die das Grundbel der Armut erzeugte. Die Armut ist das radikalebel, Grundprinzip unseres sozialen Elends.24 Not trieb die Menschen zu allen La-stern und Zwangsmanahmen, deren folgenschwerste die Aufhebung der Freiheitder Liebesbeziehungen, deren Institutionalisierung in Familienform, ist. Die Abl-sung der Serie als gesellschaftlicher Grundform durch die Familie ist fr Fourier

    der Anfang dessen, was er soziale Zerstckelung nennt. Zugleich sei die Familieals institutionalisierte Unterdrckung der Frau Keimzelle der brutalen Herrschaft,die der Mensch von nun an ber sich selbst ausbt. Die Stellung der Frau ist frFourier der Probierstein einer jeden Gesellschaftsordnung. Am Verhltnis der Ge-schlechter lasse sich das Verhltnis des Menschen zu sich selbst, zu seiner eigenen

    Natur ablesen. Darum sei das Ma der Befreiung der Frau das Ma menschlicherEmanzipation.

    Nach Art der Familienformen, denen jeweils ein bestimmtes Arbeitssystem zu-geordnet sei, unterscheidet Fourier die vier Gesellschaftsordnungen der Wildheit,

    des Patriarchats, der Barbarei und der Zivilisation. Die historische Aufeinanderfol-ge dieser Formen zeigt keineswegs eine Hherentwicklung der Gesellschaft an. Sounterscheidet etwa die Barbarei sich von der Zivilisation lediglich dadurch, da siejedes der Laster, die die Barbarei in einfacher Form praktiziert, zu einer zusam-mengesetzten Existenz erhebt, ihnen einen doppelten, zweideutigen, heuchlerischenCharakter verleiht.25 Alle vier Gesellschaftsordnungen sind an dem einzig gltigen

    24 Manuscrits I, a.a.O., S. 50.25 Zitiert in Armand, F., Maublanc, R.; Fourier. Paris 1937, Band I, S. 181.

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    Mastab, dem Zustand der Leidenschaften, gemessen, verkehrt (subversiv), weildie natrlichen Neigungen der Menschen, statt zum Ziel zu kommen, Quelle stn-dig sich multiplizierenden Unglcks sind. Das Schicksal der Leidenschaften ist indiesen vier falschen Gesellschaften dem von Bienen vergleichbar, die man auf einede, nur mit Felsen bedeckte Insel transportiert hat: Sie werden dort nicht eineBlume finden, dennoch werden sie unablssig auf der Suche nach Blumen sein,weil ihre wesentliche Bestimmung ist, von den Pollen der Blumen zu leben... Sohat Gott die menschlichen Leidenschaften auf den Zustand des Reichtums und derWollust hin angelegt, der ihre wahre Bestimmung ist.26 Es entsteht in den vierden, auf Armut und Zwang gegrndeten Gesellschaften ein stndiger qualvollerberschu von Wnschen ber die Mglichkeiten ihrer Erfllung hinaus.

    Der einzige Fortschritt der Zivilisation gegenber den drei vorausgehenden Ge-sellschaften ist die Fortentwicklung der Industrie als der objektiven Voraussetzungeiner harmonischen Gesellschaft. Aber gerade dieser materielle Fortschritt lt ihre

    soziale Rckstndigkeit kra hervortreten. Fourier vergleicht die Zivilisation in ei-nem Bild, das an Brechts Palast erinnert, dem Pfau, der mit all seinem prachtvol-len Gefieder auf hlichen Fen steht. Ihre hlichen Fe sind die barbarischenRelikte von Herrschaft. So wie alle an sich guten Leidenschaften sich in der Zivili-sation zu Lastern verkehren, so haben die Fortschritte der Industrie das Elend derMasse nur gesteigert. Die Zivilisation ist das vollkommene Bild der verkehrtenWelt. Aber gerade dies, da sie in all ihren hlichen Zgen bereits entwickelt ist,gibt Fourier die Hoffnung, da sie die lngste Zeit gedauert habe. Auf das Lob ei-nes Rezensenten hin, der geschrieben hatte, da Fourier zu Recht die Unvollkom-

    menheit unserer Zivilisation geiele, hhnt er: Unvollkommen? - Er habe im Ge-genteil bewiesen, da sie in ihrer Art sehr vollkommen sei. Nur knnten das offen-bar die vom grauen Star befallenen zivilisierten Kritiker nicht begreifen. - Er ent-wirft das Schema einer dynamischen Soziologie: Jede Gesellschaft hat die Fhig-keit, diejenige aus sich zu erzeugen, die auf sie folgen wird. Sie gelangt zur Ge-

    burtskrise, wenn sie alle ihre wesentlichen Zge entwickelt hat.27 Die Metamor- phose der Raupe zum harmonischen Schmetterling stehe unmittelbar bevor.-

    In der Oberzeugung, da der bergang aus der brgerlichen Gesellschaft - und

    nichts anderes bedeutet Zivilisation - in die Harmonie ein qualitativer Sprung seinmsse, ist Fourier nicht weniger radikal und kompromilos als Marx. Nur stelltsich ihm dieser Sprung nicht als Aufbegehren einer unterdrckten Klasse dar, diehistorisch im Recht ist, sondern als Aufbegehren der Leidenschaften, die immer -unabhngig von allen historischen und gesellschaftlichen Bedingungen - im Recht

    26 Thorie de l'Unit universelle, uvres compltes, a.a.O., Band III, S. 315.27 Zitiert in Armand, Maublanc, a.a.O., S. 100. Da Fourier hier ein entscheidendes Moment der

    Marxschen Geschichtsauffassung vorwegnimmt, braucht wohl nicht eigens betont zu werden.

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    sind. Die Geschichte der Menschheit ist eingebettet in die sie umgreifende Natur-geschichte. Fouriers Geschichtsphilosophie hrt daher mit der befreiten Gesell-schaft, die Sehnsucht und objektive Bestimmung der Menschheit ist, noch nichtauf. Wohl hat er fr die auf die Zivilisation folgende Harmonie 70 000 Jahre, dassind sieben Achtel der gesamten Menschheitsgeschichte angesetzt. Dann aber wirddie unerfreuliche Kindheit des Menschengeschlechts sich in umgekehrter Reihen-folge wiederholen, bis die Geschichte unseres Planeten mit einer dem Anfangszu-stand vergleichbaren, wenig komfortablen Phase zuende geht. Fr Fourier gibt eskeinen Fortschritt, aber sehr ausgedehnte glckliche Hhepunkte in der Geschichte,die sich allemal an dem soziologischen Merkmal der Serie erkennen lassen. DieGeschichte ist im Grunde nichts anderes als der Fortgang von den konfusen Serien(Horden) des Urzustandes ber die durch Armut erzwungene, in Familienform sichvollziehende Entwicklung der Industrie zu den bewut zusammengesetzten, mitdem gesellschaftlichen Reichtum kombinierten Serien der Harmonie. Die Serie ist

    das Leitmotiv der Geschichte, mit dem sie beginnt, auf das sie als ihren Hhepunkthindrngt und mit dem sie endet.

    Der vollkommene Liebhaber existiert notwendig, denn die Frauhat ihn konzipiert, ebenso gibt es den einen unwiderlegbaren Be-weis fr die Unsterblichkeit der Seele: da der Mensch aus Angstvor dem Nichts sie ersehnt... Ipsissima verba Sancti Thomae.

    (Jarry: Le Surmle)

    Konstruktion des Glcks

    Die Idee vom Glck, so hatte Saint Just in der ersten franzsischen Nationalver-sammlung gesagt, sei eine in Europa neue Idee. Wohl bedurfte es nicht der Aufkl-rung und ihres politischen Hhepunktes: der Franzsischen Revolution, um zu derErkenntnis zu gelangen, da der Stachel allen menschlichen Handelns das Glcks-streben ist. Neu an der Glcksidee war jedoch, da das Glck, und zwar das ir-dische, als legitimer Anspruch jedes Menschen ffentlich proklamiert und zum ei-gentlichen Inhalt und Ziel allen menschlichen Lebens erklrt wurde.

    Die philosophischen Optimisten, die zunchst, von der neuen Idee berauscht, diegesamte Natur auf das Glck hin interpretierten, waren bald enttuscht. Auf derSuche nach dem Glck begegneten sie berall glcksfeindlichen Notwendigkeiten,die nur fanatische Borniertheit einfach wegleugnen konnte. Auf die Frage, wasdenn Optimismus sei, lt Voltaire den Candide antworten: Hlas! c'est la rage desoutenir que tout est bien quand tout est mal! Und whrend man auf der einen Sei-te, um dennoch die Glcksbilanz positiv zu halten, auf erprobte Glcksrezepte der

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    Bescheidung zur Vermeidung von Unlust wieder zurckgriff, entstand auf der an-deren die Idee, da das Glck erst noch zu realisieren sei. Es sind die nachrevolu-tionren Sozialreformer, die zum ersten Mal die Frage nach der mglichen Objek-tivitt des. Glcks... bis zur Struktur der gesellschaftlichen Organisation derMenschheit vorgetrieben haben28. Auf der Suche nach objektiven Kriterien desGlcks greifen sie, Saint-Simon nicht weniger als Fourier28a, auf das BenthamscheIdeal des grten Glckes der grten Anzahl zurck, das sich an der Teilhabe alleram gesellschaftlichen Reichtum ablesen lasse. Aber whrend fr Saint-Simon undvor allem dann fr die Saint-Simonisten das Glck wiederum zum Problem wird inForm der Frage, wie denn das Glck des Einzelnen mit dem Glck aller zusam-menbestehen knne, betrachtet Fourier dies Problem als ein fr allemal gelst. SeinGrundsatz les attractions sont proportionnelles aux destines besagt, da dieGlcksgleichung aufgeht: jedem nur irgend denkbaren natrlichen Verlangen istdie Erfllung vorherbestimmt. Fourier, der wie die Saint-Simonisten den Libe-

    ralismus bekmpft, hlt doch gerade am Egoismus als dem treibenden Moment al-ler sozialen Bewegung fest. Bereicherungssucht und persnlicher Ehrgeiz sollennicht, wie bereits Adam Smith selbst gelehrt hatte, durch Moral beschrnkt, son-dern umgekehrt noch gesteigert werden; denn das Gesetz der sozialen Harmoniesetzt sich dann am reinsten durch, wenn die Menschen ohne jeden ethischen Vor-

    behalt ihren natrlichen Neigungen und nur ihnen folgen.

    Fourier hebt wie Marx das materiell-sinnliche Moment am Glck hervor. Aucher ist der Auffassung, da in einer Welt, in der die Mehrzahl der Menschen zurArmut verdammt bleibt, die hheren geistigen Freuden bloe Ideologie oder, wie er

    sagt, Illusionen und Albernheiten sind. In Formulierungen, die an Brecht erin-nern, hhnt er, da, wer Hunger hat, vom Glck, in einer Republik zu leben, nochnicht satt wird. Doch whrend Marx sich absichtlich auf die Frage beschrnkt, wiedie objektiven Bedingungen des Glcks zu schaffen seien, versucht Fourier, nebendem elementaren Problem der Abschaffung der Armut ein prinzipielleres zu lsen:die Abschaffung der Langeweile. Auch der junge Marx hatte sich Gedanken zu die-ser Frage gemacht, da nmlich, wo er von der Entfremdung des Habens spricht,davon, da selbst der Kapitalist ein verkehrtes, nicht glckliches Verhltnis zu sei-nen Reichtmern hat. Fourier hat die richtige, nicht Langeweile, sondern Glck

    produzierende Beziehung der Menschen zu ihren Reichtmern in den Mittelpunktseiner Betrachtungen gerckt. Er versucht, das Glck nicht allein von seiner objek-tiven Seite der industriellen Produktion, sondern von der subjektiven Seite her zu

    28 Herbert Marcuse; Zur Kritik des Hedonismus in: Zeitschrift fr Sozialforschung, Jahrgang VII1938, S. 66.

    28a Da auch Saint-Simon sich ausdrcklich auf Bentham bezieht, weist Werner Leendertz nachin seiner Schrift: Die industrielle Revolution als Ziel und Grundlage der Sozialreform. Einesystematische Darstellung der Ideen Saint-Simons und seiner Schler. Emsdetten 1938.

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    konstruieren. Weder wird der Besitz von materiellen Gtern schon automatisch dasGlck hervorbringen, noch liegt es in Migung und weiser Resignation. Glckentsteht erst, wenn der gegenstndliche Reichtum mit dem Zauberstab der entfalte-ten Leidenschaften berhrt wird. Fourier erklrt die merkwrdige Beziehungslosig-keit der Menschen zu der sie umgebenden Welt, die heute als Entfremdung in allerMunde ist, aus der Fesselung der Leidenschaften durch die Vernunft. Der mo-ralische, zivilisierte Mensch sei zerrissen; er stehe auf stndigem Kriegsfu mitsich selbst und darum tendenziell auch mit allen anderen Menschen. Er sei ein ab-surder Mechanismus und wre die Schande des Schpfers, wenn dieser nicht dieMittel vorgesehen htte, diesen doppelten Krieg durch eine doppelte Harmonie zuersetzen29. Solange dieser Zustand nicht erreicht ist, sind die Menschen ver-krampft. Sie stehen meist unter der despotischen Herrschaft einer Leidenschaft, dienicht befriedigt werden kann. Diese Verkrampfung kann noch andauern, wennschon die objektiven Elemente und Bedingungen des Glcks vorhanden sind. Da

    innerhalb der Zivilisation selbst die Reichen nicht vllig glcklich sein knnen, er-klrt Fourier daraus, da auch sie am falschen gesellschaftlichen Zustand der Lei-denschaften notwendig partizipieren; wenn auch alle ihre elementaren Leidenschaf-ten befriedigt seien, so knnten doch die sozialen sich nicht entfalten. Glck aberist fr Fourier die reale, nicht nur scheinhaft spielerische, Befriedigung allerLei-denschaften. Gott hat uns zwlf Leidenschaften gegeben, wir knnen erst glck-lich sein, wenn wir sie alle zwlf befriedigen.30 Da die Leidenschaften sich nur aufgesellschaftliche Weise voll entfalten knnen, so kann auch das Glck nicht Sachedes Einzelnen sein. Nicht nur seine objektiven Bedingungen, das Glck selbst istgesellschaftlicher Natur. Solange die Leidenschaften aus den entscheidenden ge-sellschaftlichen Beziehungen verbannt und aufs Privatleben verwiesen sind, kannes wirkliches Glck nicht geben31. Das Paradoxe am Glck ist, da wir nur als Pri-vatpersonen von ihm Kenntnis haben; gerade dies uns bekannte Glck aber ist eine

    bloe Spiegelung; es hat - zumindest nach Auffassung Fouriers - keine wirklicheExistenz. Das wirkliche Glck ist fr ihn etwas Objektives. Es wird die richtig kon-struierte Gesellschaft wie eine Aura umgeben, so wie der Charme das gar nichtausbleibende Resultat eines gelungenen Kunstwerks ist. In der Tat betrachtet Fou-rier die richtige Gesellschaft in Analogie zu sthetischen Sachverhalten. Die neueKunst, l'art social, besteht darin, das Zusammenspiel der Leidenschaften nicht

    mehr dem Zufall zu berlassen, sondern ihre richtigen Proportionen zu finden undsie so zu kombinieren, da ein soziales Kunstwerk entsteht.

    Wenn alle Herrschaft, auch jener Zwang, den jeder zivilisierte Mensch ber sich

    29 Fourier; Piges et charlatanisme des deux sectes Saint-Simon et Owen, qui promettent l'asso-ciation et le progrs. Paris 1831, S. 57 f.

    30 Fourier: Nouveau Monde, a.a.O., S. 348.31 Vgl. dazu auch Marcuse: Zur Kritik des Hedonismus, a.a.O., S. 59.

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    selbst ausbt, aufgehoben ist, werden Krfte freiwerden, die allen bisherigen Ge-sellschaften unbekannt waren. Der Dynamik der Leidenschaften entspricht danneine Dynamik des Glcks, deren Ausma sich nicht an den wenigen Gastvorstel-lungen ablesen lt, die das Glck in der bisherigen Geschichte gegeben hat, son-dern eher an der Dynamik des Unglcks, das periodisch ber die Zivilisation he-reinbricht. Glck und Unglck sind fr Fourier dynamische Kategorien. Nichts seifalscher als das von den Philosophen Gerechtigkeit genannte Prinzip der Kompen-sation: da ein jedes Gut durch ein bel und ein jedes bel durch ein Gut ausgegli-chen und neutralisiert werde. Nicht nur stimme dieses Gesetz empirisch nicht, son-dern es sei auch als Ideal das Dmmste, was den Theologen und Philosophen htteeinfallen knnen. Denn Mittelma, Lauheit und Monotonie, auf die ein solches Ge-setz des Ausgleichs hinausluft, seien die Todfeinde des Glcks. Fourier weistnach, da in der Zivilisation das Unglck nicht einfach oder gar zusammen mit ei-nem Glcksgut auftritt, sondern da es sich in der Regel lawinenartig vergrert.

    Er schliet aus dem stndig sich steigernden und verfeinernden Unglck der Zivili-sation auf die Mglichkeit eines stndig sich steigernden und raffinierendenGlcks. Die Zivilisation ist ihm das genaue Negativ des richtigen Zustands. Alssolches versucht er sie in allen Einzelheiten zu deuten, bis hin zum Bandwurm, dereine verkehrte Hieroglyphe des immensen Appetits sei, den die Menschen in derharmonischen Ordnung entwickeln werden.

    Warum, wenn eine Gesellschaft imstande ist, das Unglck des Einzelnen zu ver-vielfachen, sollte nicht einer anderen, dieser entgegengesetzten Ordnung das Um-gekehlte gelingen: das Glck jedes Einzelnen zu garantieren und zu multiplizieren.

    Fourier nennt einige der Glcksgarantien der harmonischen Ordnung. Es wird zumBeispiel in jedem Phalanstre eine Glcksbrse geben, an der Abend fr Abend dieeinem jeden Wunsch und Charakter entsprechenden Vergngungen notiert undvermittelt werden. Zudem wird jeder, auch der rmste Bewohner eines Phalanstre- Fourier will, um der fr eine Serie notwendigen Differenzierungen willen, dieSchichtunterschiede beibehalten - pro Tag mindestens eine Glcksstrecke durch-laufen. Die Glcksstrecke ist eine von Fourier am Gegenbild der Pechstrhne ent-wickelte Vorstellung. Sie braucht ebensowenig wie die Pechstrhne bewut veran-staltet zu werden, ist aber auch nicht nur die Gnade eines Moments; sie fllt gleich-sam ab als tgliches Nebenprodukt der auf Serien gegrndeten Gesellschaft. Siewird von Fourier mit dem Anspruch mathematischer Exaktheit beschrieben als diein wenigen Stunden sich vollziehende Versiebenfachung des Glcks, wobei einlustvolles Ereignis fr die sechs weiteren Vergngungen die Basis abgibt. Leanderwar erfolgreich bei der Frau, die er umworben hatte. Das ist ein zusammengesetz-tes, gleichermaen sinnliches und seelisches Vergngen. Sie bergibt ihm gleichdarauf die Befrderungsurkunde zu einer lukrativen Stellung, die sie ihm verschaffthat: zweites Vergngen. Eine Viertelstunde spter fhrt sie ihn in den Salon, wo er

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    glckliche berraschungen erlebt; er begegnet einem Freund, den er tot geglaubthatte: drittes Vergngen. Wenig spter trifft ein berhmter Mann ein, Buffon oderCorneille, den Leander seit langem schon hatte kennenlernen wollen und der zumDiner bleibt: viertes Vergngen; folgt eine erlesene Mahlzeit: fnftes Vergngen.Leander befindet sich dabei an der Seite eines mchtigen Mannes, der sich bereiterklrt, ihm mit einem Kredit zu helfen: sechstes Vergngen. Whrend der Mahl-zeit schlielich wird ihm die Nachricht berbracht, da er einen Proze gewonnenhat (die harmoniens, deren Streitlust ungleich weiter entwickelt ist als die unsere,

    prozessieren gern und oft, E. L.): siebtes Vergngen.32Solche Glcksstrecken, wiesie brigens auch in Balzacs >Illusions perdues< geschildert werden, sind nachFouriers Auffassung in der Zivilisation gnzlich unbekannt. Selbst die Knigeknnten sie sich nicht verschaffen. - Wenn man auch geneigt sein mag, die Freudender zivilisierten Knige denen Leanders zumindest gleichzusetzen, so wird docham konkreten Bild eines solchen parcours eines deutlich: das Glck verliert in

    der harmonischen Ordnung den Charakter des Exzeptionellen, nur augenblickswei-se Aufblitzenden. Es gehrt zum Leben derer, die an seiner gesellschaftlichen Kon-struktion partizipieren, wie die Luft, die sie einatmen.

    Fourier kann sich als leidenschaftlicher Systematiker bei solcher Ausmalung ge-sellschaftlichen Glcks nicht bescheiden. Glck mu, wenn es der Rede wert seinsoll, etwas Absolutes sein. Dafr aber gibt es eine rgerliche Schranke: den Tod.Fourier, der alle Notwendigkeiten und Pflichten negiert, negiert konsequenterweiseauch den Tod als die dunkelste aller Notwendigkeiten. Gott, der bestimmt hat, daunsere Neigungen niemals auf Unerreichbares gehen, kann dem zhesten aller

    menschlichen Wnsche, dem Wunsch nach Unsterblichkeit, die Erfllung nichtverweigert haben. Das den Menschen auf diesem Planeten bestimmte Glck wreunvollkommen, wenn sie in dieses Leben nicht wiederkehren knnten.33 Fourier

    begngt sich, in der Pose des strengen Wissenschaftlers, nicht mit der Deduktionder Unsterblichkeit aus dem Grundsatz seines Systems; er nennt eine ganze Skalavon Beweisen, deren Ausfhrung er allerdings aufschiebt, weil fr die Wohlfahrtdieser Welt allzuviel noch zu tun sei. Die Unsterblichkeit wird, aus ihrem christli-chen Zusammenhang des Lohnes fr erduldete Leiden herausgelst, zum Garantenfr die Ewigkeit der Lust. Nicht durch Furcht, sondern durch Liebe will derSchpfer uns fr sich gewinnen; durch die Garantie von Vergngungen, die in derEwigkeit wie in diesem Leben ins Unendliche variiert sind.34 Der Himmel, den erhier als Goldgrund der Harmonie malt, habe nichts mit dem faden Jenseits derTheologen und Philosophen gemein, diesen elyseischen Gefilden, auf denen dieSeelen der Gerechten zu monotonen Spaziergngen und sterilen Gesprchen ber

    32 Fourier; Nouveau Monde, a.a.O., S. 349.33 Fourier: Thorie de l'Unit universelle, uvrcs compltes, Band III, a.a.O., S. 309.34 a.a.O., S. 343.

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    die Tugend antreten; diesem Olymp, da die Gtter und Halbgtter immer das glei-che, immer Ambrosia essen, und den anderen asketischen Aufenthalten, bei denendie wichtigsten Sinne, der Geschmacks- und Tastsinn keinerlei Befriedigung fin-den35. In Fouriers Himmel kommen alle Sinne und Leidenschaften auf ihre Kosten,auch der Schmetterlingstrieb, denn den abgeschiedenen, in einem Feuer-Luft-Krper wohnenden Seelen ist es erlaubt, ganz nach Wunsch umherzuflattern, ande-re Planeten zu besuchen oder auch hin und wieder auf der Erde wiedergeboren zuwerden. Nur, wer schon in dieser Welt wenig geniet, kann sich fr das Jenseits mitden rmlichen theologischen Freuden begngen. Das Unrecht der Menschen war

    bislang nicht - wie die Moralisten glauben -, zu viel, sondern zu wenig zu verlan-gen. Die Seelen der Abgeschiedenen, die lebendiger und weiser als die irdischensind, wissen, da die Bestimmung der Menschen die Harmonie ist. Sie, die engerals wir mit der Seele des Planeten verbunden sind, leiden mit ihm an der Zivilisa-tion genannten Krankheit, die ihn befallen hat. Sie warten ungeduldig darauf, in

    einer besser organisierten Welt wiedergeboren zu werden. Der beste Dienst, derden Verstorbenen wie den Lebenden zu erweisen wre, ist daher, ohne Verzug diegesellschaftliche Harmonie herbeizufhren.36

    Modi der Freiheit

    Fouriers Theorie der Bestimmungen ist kein Determinismus. Der Mensch ist frei,dem gttlichen code social zu folgen oder nicht. Noch die auf Zwang gegrnde-

    ten Gesellschaften sind das Resultat von Freiheit. Es gilt daher, nach formaler undinhaltlicher Freiheit zu unterscheiden. Formale Freiheit hat der Mensch, weil Gottihm von Anbeginn das libre arbitre zugestanden hat37. Er kann aber zur wahren,das ist inhaltlichen Freiheit erst gelangen, wenn er sich mit seiner Natur vershnt,seinen eigenen Willen mit dem Gottes in bereinstimmung gebracht hat. In derGeschichte sind formale und inhaltliche Freiheit auseinandergetreten.

    Die Form, die Freiheit in der nachrevolutionren Zelt angenommen habe, sei dieder Phrase. Sie sei in die liberalen Konstitutionen eingegangen, deren nominalerGehalt Gleichheit, Brderlichkeit, deren tatschlicher Gehalt aber Zwang, Schergen

    und Galgen sind38

    . Whrend Gleichheit und Brderlichkeit fr Fourier noch alsIdeale bloe philosophische Torheiten sind, die - wenn es je gelnge, sie zu ver-

    35 a.a.O., S. 310.36 a.a.O., S. 334.

    37 Vgl. die fr seinen Freiheitsbegriff aufschlureiche Abhandlung Fouriers: Du libre arbitre,uvres compltes, Band II, 2. Auflage Paris 1841, S. V-LXVIII.

    38 Fourier: Thorie de l'Unit universelle, uvres compltes, Band III, a.a.O., S. 184.

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    wirklichen - nur Mittelma und tdliche Langeweile erzeugten, mchte er fr dieFreiheit Kriterien schaffen, nach denen endlich zwischen nominaler und realerFreiheit zu unterscheiden wre. Der Proze der Hherentwicklung der Industrie seizugleich einer des Verkmmerns von Freiheit. Das Stadium der Wildheit etwa, ob-wohl sehr unvollkommen in bezug auf die Industrie und die beklagenswerte Stel-lung der Frau, sei dennoch, am Mastab inhaltlicher Freiheit gemessen, der Zivili-sation, die die Freiheit stndig im Munde fhrt, weit berlegen. Der Wilde nmlichsei im Besitze einer zusammengesetzten Freiheit. Er habe krperlich-aktive Frei-heit, denn er knne frei nach seinen Impulsen leben und handeln, und zugleich habeer sozial-aktive Freiheit, denn er knne ber die Belange seiner Horde mitbestim-men. Die groe Masse der Zivilisierten dagegen habe nicht einmal eine dieser bei-den Freiheiten ganz. Der Lohnarbeiter knne wohl nominell im Gegensatz zumSklaven ber seinen Krper frei verfgen. Diese krperliche Freiheit aber sei wo-chentags lediglich passiv, da er aus Not zu Arbeiten gezwungen sei, die seinen Im-

    pulsen nicht entsprechen, und daher krperliche Qual statt Freiheit seien. Der Preisder modernen Industrie war die Abschaffung jener elementaren Freiheitsrechte, dieselbst der Wilde geniet. Jeder Lohnarbeiter wrde sich glcklich schtzen, wenner nach seinem Appetit essen, frhlich und sorglos leben, jagen, fischen, streitenund stehlen knnte wie der Wilde.39Ihm anstelle der sieben elementaren Rechte,deren Verlust mit dem Verlust von Spontaneitt identisch sei, die Charta der Men-schenrechte anzubieten, sei bloer Hohn.

    Allerdings zieht Fourier aus dieser vorgeblichen berlegenheit des Wilden bersieben Achtel der Zivilisierten nicht den Schlu, da es glte, zum Stadium der

    Wildheit wieder zurckzukehren. Erstens, so argumentiert er gegen Rousseau, exi-stiert die Natur berhaupt nicht, sondern es gibt ebenso viele Naturen wie Gesell-schaftsordnungen. Allein fr die erste Phase der menschlichen Geschichte knne erneun verschiedene Naturen aufzhlen, und man wisse nicht recht, welche dieFreunde der reinen Natur eigentlich meinen. Zweitens ist die Natur der Wilden,verglichen mit der der Zivilisation, eine einfache und darum fr uns falsche Natur,weil das die Natur vermittelnde Element der Industrie fehlt. Die Industrie aber ge-hre zur Bestimmung des Menschen wesentlich mit hinzu. Wahre Freiheit mu da-her eine doppelt-zusammengesetzte sein. In ihr mssen die elementaren Frei-heitsrechte des Wilden sich mit der modernen Industrie verbinden. Das erste Recht,das es in moderner Form wiederherzustellen gilt, ist das Recht auf Sorglosigkeit.Post equitem sedet atra cura gilt fr die gepeinigten Familienvter der Zivilisati-on. Sorglosigkeit knnen die einen sich nicht leisten, weil sie Hungers sterben wr-den, und die anderen, weil sie der gesellschaftlichen Acht verfielen. Ein wenig

    begterter Familienvater, der den Versuch machen wrde, sich ganz dem Vergn-gen zu widmen, ohne sich um seinen Betrieb zu kmmern, ohne etwas fr die Steu-39 a.a.O., S. 170.

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    er, den Mietzins und die zuknftigen Ausgaben beiseite zu legen, wrde bald durchdie ble Nachrede und durch die Steuerbeamten des Finanzamts daran erinnert, daer nicht das Recht hat, nach Art der Wilden und Tiere unbekmmert zu leben, daer die natrliche Neigung zur Sorglosigkeit In sich ersticken mu.40Um ein qui-valent des natrlichen Rechts auf Sorglosigkeit zu schaffen, fordert Fourier fr je-den, vom Arbeiter bis hin zum Reichen, ein Minimum, einen Anteil am ge-sellschaftlichen Reichtum, der ihm jeweils fr ein Jahr vorgeschossen wird, eineArt lebenslanges Stipendium, das ein fr allemal den Zwang zur Arbeit beseitigensoll. Er wei, da eine solche radikale Neuerung, fr ihn unabdingliche Vorausset-zung wirklicher Freiheit, das Grundgesetz der Zivilisation sprengen mte.

    Die Zivilisation ist eine verkehrte Welt, weil in ihr Freiheit sich nur auf destruk-tive Weise, gegen die bestehende Ordnung, realisieren kann. Whrend die eigent-lich produktive Arbeit auf Not und Zwang gegrndet ist, werde mit Leidenschaftnur jene negative Industrie betrieben, die Diebstahl heit, und die auf einfache

    Weise oder aber in Form des Handels vor sich gehe. In der Lust des Hndlers amLgen und Betrgen berlebe etwas von der Freiheit des Wilden, der mit Lust jagt,fischt, stiehlt und streitet. Man glaube nur nicht, da ein Hndler ein krperlichesUnbehagen empfnde, wenn er an einem Vormittag hundert Stoffballen entrollt,unzhlige Lgen von sich gegeben und unzhligen Hosen verkauft hat. Diese An-strengung ist Vergngen, anziehende Arbeit, krperliche Freiheit; und zum Beweiswird unser Kaufmann, der heute sehr befriedigt ist, morgen belgelaunt und gries-grmig sein, wenn er keine Kufer eintreten sieht und weder lgen noch verkaufenkann.41 - Whrend der Redliche zum Mittelma und zur Leidenschaftslosigkeit fa-

    der Sonntage verdammt ist, berlebt etwas von dem, was Freiheit einst war undwas sie sein knnte, paradoxerweise im Laster, in Perversionen und selbst imVerbrechen. Hier trifft Fourier sich mit Einsichten Sades und Nietzsches. Nur ge-langt er nicht wie sie zur Konzeption des allein Freiheit realisierenden, alle sozialeGesetzlichkeit sprengenden libertin oder freien Geistes, sondern ihm schwebteine sozietre Ordnung vor, in der die Freiheiten aller wie Stcke eines Puzzle-spiels ineinandergreifen. Wenn Diebstahl und Verbrechen nicht unausrottbare,stndig zu bekmpfende bel, sondern lediglich falsche Modi der Freiheit sind,dann wird es, wenn nur erst die in ihnen sich manifestierenden Leidenschaften alsgesellschaftlich ntzliche, im gttlichen