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In einem ersten Prozeß wurde der 56jährige Garzón wegen Amtsanmaßung zu elf Jahren Berufsverbot verurteilt; er hatte Politiker abhören lassen, die in einen Korruptions- skandal verstrickt waren. Im zweiten Pro- zeß, in dem ihm vorgeworfen wurde, das Amnestiegesetz von 1977 mißachtet zu ha- ben, wurde er freigesprochen. Diesmal hatte Garzón auf der Anklagebank gesessen, weil er das Schicksal von 112.000 Opfern des Spa- nischen Bürgerkriegs und der Franco-Dikta- tur aufklären wollte. Im Schatten des Pro- zesses standen die Angehörigen der Opfer, die durch das Berufsverbot für Garzón ihren wichtigsten Fürsprecher verloren haben. ein ganzes Leben habe ich auf diesen Moment gewartet«. Der 73jährigen Marcelina Alcarria fällt das Sprechen schwer, so aufgewühlt ist sie. »Nun habe ich endlich einen Ort, an dem ich um meinen Vater trauern kann.« Die alte Dame hat sich zur Feier des Tages schick gemacht, wie alle, die an je- nem wolkenverhangenen 10. Oktober 2011 in der hintersten Ecke des Friedhofs von Cuenca ver- sammelt sind. Schweigend treten sie einer nach dem anderen vor, um die mitgebrachten Blu- men an der soeben enthüllten riesigen schwar- zen Gedenktafel abzulegen. 459 Namen sind darin eingraviert, darunter der des Vaters von Marcelina Alcarria: Marcelino Alcarria. Hinter den Namen stehen Daten aus dem Zeitraum 1939 bis 1949. Marcelina Alcarria ist eine von Hundert- tausenden Spaniern, die sich seit Jahrzehnten 32 konkret »Atmosphäre der Angst« Angeklagt, die Befugnisse seines Amtes überschritten und das Amnestiegesetz mißachtet zu haben, stand im Januar und Februar Baltasar Garzón, einer der bekanntesten Richter Europas, in Spanien vor Gericht. Mit katastrophalen Folgen für die Opfer der Franco-Diktatur. Von Annika Müller M Foto: dpa »Wir tun so, als gäbe es sie nicht«: Pro-Garzón-Demonstranten mit Bildern von Franco-Opfern vor dem Obersten Gericht in Madrid, Februar 2012 mueller 21.03.2012 0:23 Uhr Seite 2

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Page 1: Foto: dpa - · PDF fileHinter den Namen stehen Daten aus dem Zeitraum 1939 bis 1949. Marcelina Alcarria ist eine von Hundert- tausenden ... chilenischen Diktatoren, die Garzón unter

In einem ersten Prozeß wurde der 56jährigeGarzón wegen Amtsanmaßung zu elf JahrenBerufsverbot verurteilt; er hatte Politikerabhören lassen, die in einen Korruptions-skandal verstrickt waren. Im zweiten Pro-zeß, in dem ihm vorgeworfen wurde, dasAmnestiegesetz von 1977 mißachtet zu ha-ben, wurde er freigesprochen. Diesmal hatteGarzón auf der Anklagebank gesessen, weiler das Schicksal von 112.000 Opfern des Spa-nischen Bürgerkriegs und der Franco-Dikta-tur aufklären wollte. Im Schatten des Pro-

zesses standen die Angehörigen der Opfer,die durch das Berufsverbot für Garzón ihrenwichtigsten Fürsprecher verloren haben.

ein ganzes Leben habe ich auf diesenMoment gewartet«. Der 73jährigenMarcelina Alcarria fällt das Sprechen

schwer, so aufgewühlt ist sie. »Nun habe ichendlich einen Ort, an dem ich um meinen Vatertrauern kann.« Die alte Dame hat sich zur Feierdes Tages schick gemacht, wie alle, die an je-

nem wolkenverhangenen 10. Oktober 2011 in derhintersten Ecke des Friedhofs von Cuenca ver-sammelt sind. Schweigend treten sie einer nachdem anderen vor, um die mitgebrachten Blu-men an der soeben enthüllten riesigen schwar-zen Gedenktafel abzulegen. 459 Namen sinddarin eingraviert, darunter der des Vaters vonMarcelina Alcarria: Marcelino Alcarria. Hinterden Namen stehen Daten aus dem Zeitraum1939 bis 1949.

Marcelina Alcarria ist eine von Hundert-tausenden Spaniern, die sich seit Jahrzehnten

32 konkret

»Atmosphäre der Angst« Angeklagt, die Befugnisse seines Amtes überschritten

und das Amnestiegesetz mißachtet zu haben, stand im Januarund Februar Baltasar Garzón, einer der bekanntesten RichterEuropas, in Spanien vor Gericht. Mit katastrophalen Folgenfür die Opfer der Franco-Diktatur. Von Annika Müller

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»Wir tun so, als gäbe es sie nicht«: Pro-Garzón-Demonstranten mit Bildernvon Franco-Opfern vor dem Obersten Gericht in Madrid, Februar 2012

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Page 2: Foto: dpa - · PDF fileHinter den Namen stehen Daten aus dem Zeitraum 1939 bis 1949. Marcelina Alcarria ist eine von Hundert- tausenden ... chilenischen Diktatoren, die Garzón unter

darum bemühen herauszufinden, was mit ih-ren Angehörigen zur Zeit des Bürgerkriegs undin den Jahren danach geschehen ist. Unter Fran-co waren diese Nachforschungen gefährlich; spä-ter waren sie politisch nicht gewollt. Denn nachdem Tod des Diktators im Jahr 1975 wurde einAmnestiegesetz erlassen, das den gesellschaftli-chen Frieden in Spanien sichern sollte. Letztlichführte das 1977 verabschiedete Gesetz aber da-zu, daß die Opfer des spanischen Faschismusund ihre Angehörigen zum Schweigen verur-teilt blieben. »Es herrschte weiterhin eine At-mosphäre der Angst«, erklärt Emilio Silva, Prä-sident der »Asociación para la Recuperación dela Memoria Histórica« (ARMH; deutsch etwa»Vereinigung zur Wiederherstellung des ge-schichtlichen Gedächtnisses«). Silvas Organisa-tion ist es zu verdanken, daß auf dem Friedhofder Provinzhauptstadt Cuenca in den vergange-nen Jahren 500 Leichen exhumiert wurden unddaß Marcelina Alcarria nun endlich einen To-tenschein in der Hand hält.

Spendenfinanziert und mit der Unterstüt-zung zahlreicher Freiwilliger hat die ARMH seitihrer Gründung im Jahr 2000 weit über 300Massengräber ausgehoben und rund 5.500 Toteidentifizieren können. Dabei geht es Silva nichtum Vergeltung oder darum, Täter vor Gerichtzu bringen. Ihn schmerze es lediglich, daß »die-jenigen, die ihr Leben im Kampf gegen denFranquismus gegeben haben, nicht nur wäh-rend der Diktatur, sondern vor allem im demo-kratischen Spanien beschwiegen wurden«.

Denn selbst nach der »Transición«, der pre-kären Übergangszeit in die Demokratie Endeder siebziger, Anfang der achtziger Jahre, bliebdas Thema tabu. Historikern, Journalisten undAngehörigen wurde der Zugang zu Dokumentenverwehrt, Massengräber blieben unangetastet.Zahlreiche Mitglieder der Falange-Partei Fran-cos, die an den Verbrechen der Diktatur betei-ligt waren, machten auch in der Demokratiepolitische Karriere. So zum Beispiel ManuelFraga, der Begründer der zur Zeit regierenden Par-tido Popular (PP), der unter Franco als Touris-mus- und Informationsminister gedient hatteund nach dem Tod des »Generalissimo« als In-nenminister die aufkommenden sozialen Unru-hen blutig niederschlagen ließ. Das Desinteres-se der rechtskonservativen PP an einer Aufklä-rung der Franco-Zeit ist also erklärlich. Aberauch der damalige sozialistische Ministerpräsi-dent Felipe González schlug sich auf die Seitedes politischen Gegners, als er 1986 erklärte, einBürgerkrieg sei kein Ereignis, dessen man ge-denken sollte.

»Wer zugab, unter Franco im Gefängnis ge-sessen zu haben, gefoltert worden oder auchnur Angehöriger eines Opfers zu sein, wurdebehandelt wie ein Aussätziger«, beschreibt Sil-va, was er am eigenen Leib erfahren hat. DerJournalist ist bei der Suche nach der Leiche sei-nes Großvaters Ende der neunziger Jahre aufzahlreiche Hindernisse gestoßen – aber auchauf Dutzende Leidensgenossen. Ein Glück fürSilva war, daß es noch Zeugen gab, die sich andas Schicksal der »13 von Priaranza«, zu denen

auch Silvas Großvater gehörte, erinnerten.Emilio Silva Senior war am 16. Oktober 1936 inVillafranca de Bierzo in der nordspanischenProvinz Leon festgenommen und noch in der-selben Nacht vor dem Dorf Priaranza mit zwölfanderen Republikanern erschossen worden. InBierzo ehrte ein Monolith immer noch den fran-quistischen Kommandanten Manso als »Befrei-er der Stadt«, und ein Gedenkstein erinnerte inPriaranza an die gefallenen franquistischen Sol-daten. Einen Hinweis auf die Opfer der Fran-quisten suchte Silva umsonst.

Die Suche nach dem Grab erwies sich trotzder Hilfe einiger alter Dorfbewohner als außer-ordentlich schwierig. »Du wirst hier mehr Toteaußerhalb der Friedhofsmauern finden als in-nerhalb«, sagte man Silva. Ein Blick in die Ak-ten der Franco-Zeit hätte Aufschluß geben kön-nen, wurde Silva jedoch verweigert. Dennochfand er schließlich 15 Massengräber rund umdie kleine Ortschaft Priaranza. Und er stieß aufden damals 85jährigen Francisco Cubero, der 64Jahre lang ein Geheimnis mit sich herumgetra-gen hatte: Er selbst hatte die Leichen seinerFreunde von der Sozialistischen Jugend ver-scharrt – die Pistolen der vier Falangeros imNacken, die Cubero schließlich laufen ließen.

Mit Unterstützung von vier Archäologen,einer Anthropologin, einem Professor der Ge-richtsmedizin und weiteren freiwilligen Hel-

fern konnte Silva im Jahr 2000 die »13 von Pria-ranza« exhumieren. Es war das erste Massen-grab überhaupt, das seit Einführung der De-mokratie in Spanien geöffnet wurde. »Man hatmeinen Großvater im Straßengraben verscharrt.Mit einem ordentlichen Grab bekommt er nuneinen Teil seiner Würde zurück.« Doch das warSilva nicht genug. Er wollte allen, »die für ihreTräume von der Freiheit ermordet wurden, dieIdentität zurückgeben«.

nter den freiwilligen Helfern der erstenGrabaushebung war auch der Schriftsteller

und Journalist Santiago Macías, der sein Schaf-fen seither ganz der Aufarbeitung der Franco-Zeit gewidmet hat. Silva und Macías gründetenim Jahr 2000 die ARMH und machten sich nochim selben Jahr an die Öffnung von acht Gräbernin der Ortschaft Cubillos del Sil, ebenfalls in derProvinz León. Erleichtert wurde die Arbeit derOrganisation, die mittlerweile Ableger in allenProvinzen Spaniens und Tausende freiwilligeHelfer hat, durch das im Jahr 2007 vom damali-gen Ministerpräsidenten Zapatero erlassene»Gesetz des historischen Andenkens«, der »Leyde la Memoria Histórica«. Dieses Gesetz ent-hielt unter anderem eine vage Zusage öffentli-cher Hilfen bei der Suche, Identifizierung undeventuellen Exhumierung von Opfern franqui-stischer Gewalt. Außerdem wurde in dem Ge-setz den Opfern des Bürgerkriegs bzw. des Fran-

co-Regimes sowie deren Nachkommen – rechtunkonkret – Hilfe versprochen.

Laut Màximo Molina, dem Vorsitzendendes regionalen Ablegers der ARMH in der Pro-vinz Cuenca, ist das Gesetz völlig unzureichend.»Nach wie vor haben die Angehörigen nicht au-tomatisch das Recht, zu erfahren, wo ihre Ver-wandten begraben sind.« Es obliege den Pro-vinzgerichten und Gemeinden, zu entscheiden,ob Nachforschungen betrieben werden odernicht. Zudem hätten längst nicht alle Betrof-fenen die versprochenen Entschädigungen er-halten. Auch der zweite Bestandteil des Geset-zes, der sich auf die Entfernung von franquisti-schen Denkmälern und Symbolen bezieht undVersammlungen an Francos Mausoleum im Valle de los Caidos verbietet, ist absichtsvoll un-deutlich formuliert. Viele Gemeinden igno-rier(t)en die Vorschrift, ohne daß dies Folgenhätte, klagt Molina und nennt ein Beispiel ausseiner Provinz: »Im Ort Horcajo de Santiagohatte der sozialistische Bürgermeister diejeni-gen Straßen umbenannt, die die Namen vonFranco-Generälen trugen. 2011 hat der neueBürgermeister von der PP dies einfach wiederrückgängig gemacht.« Die »Ley de la MemoriaHistórica« habe nichts daran geändert, daß dieDiktatur noch immer omnipräsent sei. »Wasbringt uns ein Gesetz, wenn keiner es durch-setzt?« fragt Molina.

Immerhin lieferte die »Ley de la MemoriaHistórica« erstmals einen rechtlichen Rahmenfür Silvas ARMH. Denn die Institute, die dieGentests durchführten, oder die Gemeinden, aufderen Grund gegraben wurde, waren bis dahinein gewisses Risiko eingegangen. Silva undrund 500 Mitstreiter hatten sich daher bereitsim Jahr 2006 mit einer Sammelklage an den Un-tersuchungsrichter Baltasar Garzón gewandt,nachdem sie bei den Regional- und Provinzge-richten abgewiesen worden waren. Garzón, dermit Prozessen gegen Pinochet, ETA-Terrori-sten, aber auch gegen die staatliche spanischeAnti-Terror-Truppe (GAL) oder mit der Unter-suchung von Folterverbrechen in Guantánamoweltberühmt geworden war, erklärte sich fürzuständig.

Als Richter am Obersten Spanischen Ge-richt, der »Audiencia Nacional de España«, er-öffnete er 2008 Untersuchungen in 112.000 Fäl-len und ordnete die Aushebung von 19 Massen-gräbern an. Darunter war auch das, in dem derbekannte, im August 1936 von Falange-Milizio-nären ermordete Dichter Federico García Lorcalag. Diese Maßnahme wurde jedoch vom Ple-num der Audiencia Nacional in einer Mehr-heitsentscheidung gestoppt. Garzón selbst hat-te zuvor bereits seine Nichtzuständigkeit er-klärt, da alle Tatverdächtigen bereits verstorbenwaren, und die Fortsetzung von Untersuchun-gen über die verschwundenen Opfer des Fran-quismus den lokalen und regionalen Gerichtenüberlassen. Dennoch reichte im Jahr 2009 dieultrarechte Beamtengewerkschaft »Manos Lim-pias« (»Saubere Hände«) Klage wegen Mißach-tung des Amnestiegesetzes von 1977 ein. Damitnahm seinen Gang, was Ende Februar 2012 in

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»Du wirst mehr Tote außerhalb der Friedhofs-mauern finden als innerhalb«

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jenem Prozeß endete, für den sich die Welt-presse deutlich mehr interessierte als für dieArbeit der ARMH.

Garzón wußte von Beginn an, worauf er sich da eingelassen hatte. Ein deutliches Zei-chen bekam er, als Zapatero 2007 nach dem Er-laß der »Ley de la Memoria Histórica« von Poli-tikern aller Parteien Revanchismus vorgeworfenwurde. Ehemalige Anhänger Francos kritisier-ten, mit dem Gesetz würden die Meinungs-freiheit unterdrückt und lediglich die Opferder Franquisten rehabilitiert. Der damalige Oppositionsführer und heutige Ministerprä-sident Mariano Rajoy mahnte damals, man

solle keine Gräben zwischen den Spaniern auf-reißen.

»Was die Spanier wirklich entzweit«, meintMáximo Molina, »ist, daß die einen seit über 70Jahren ihren Toten Blumen bringen können unddie anderen nicht«. Franco habe seine Gefal-lenen bereits im Laufe der vierziger Jahre exhu-mieren und würdevoll bestatten lassen. 40 Jahrelang wurden Messen für die Opfer »der Roten«gelesen. Und nun müsse man sich fragen, ob esgut für eine Gesellschaft sei, wenn »über dasganze Land Ermordete verstreut liegen und wirso tun, als gäbe es sie nicht«. Molina vergleichtdiese Situation mit der Leugnung des Holo-caust und fügt hinzu: »Die argentinischen undchilenischen Diktatoren, die Garzón unter dem

Jubel der Welt vor Gericht gebracht hat, habennicht einmal ein Fünftel so viele Menschen aufdem Gewissen wie Franco.«

Immerhin bekamen einige der Angehörigen,die sich ursprünglich an Garzón gewandt hat-ten, im Rahmen des Prozesses erstmals dieMöglichkeit, öffentlich ihre Geschichte zu er-zählen. Allerdings nicht, wie ursprünglich er-hofft, als Zeugen der Anklage in einem Prozeßum die Franco-Verbrechen, sondern als Entla-stungszeugen für Garzón. Es waren traurigeLebensberichte, die man da zu hören bekam,Geschichten von Folter, Verschleppung, Er-schießungen. Die Fernsehsender berichteten

ausführlich oder übertrugen sogar live, und sokam es, daß das Thema Franquismus im Fe-bruar dieses Jahres endlich ins Bewußtsein derspanischen und auch der internationalen Öf-fentlichkeit geriet.

Trotz Garzóns Freispruch in Sachen Verlet-zung des Amnestiegesetzes habe der Prozeßeine klare Botschaft gehabt, empört sich Mo-lina: »Laßt die Finger von dem Thema!« Für dieFamilien der Opfer ist schon die Anklage ihresFürsprechers ein fatales Zeichen gewesen, dennviele Menschen hatten ihre über Jahrzehnte ge-hegten Hoffnungen auf Garzón gesetzt. »Ich ha-be ihm sofort geschrieben, als ich im Fernse-hen von der Aufnahme des Verfahrens gehörthabe«, erinnert sich Alfredo Abreu. Er zeigt den

Durchschlag des Briefes, auf dem er in fein säu-berlicher Schreibschrift alles darlegt, was erüber den Tod seines Vaters, einst Chef derZollstation in Viveiro, in Erfahrung hat bringenkönnen. »Man hatte vor den Augen meiner Mut-ter zweimal auf ihn geschossen. Meine Mutterstarb einige Jahre später aus Kummer, ihn nichteinmal christlich bestatten zu können«, berich-tet der 79jährige, der, wenn man ihm sagte, wosein Vater liegt, »selbst die Schaufel in die Handnehmen« würde. Daß die Nachforschungen mitdem Prozeß gestoppt wurden, bedeute für ihn»die größtmögliche Frustration«.

Es sei traurig, wenn in einem Land wie Spa-nien der einzige, der im Zusammenhang mit»Verbrechen gegen die Menschlichkeit« auf dieAnklagebank kommt, der Ankläger sei, findetMolina. Denn darum handele es sich schließ-lich: »Es war ein systematisches Massaker anden Kontrahenten Francos, ein Genozid an derspanischen Linken.« Dies deckt sich mit derAuffassung Garzóns, der derzeit als Berater amInternationalen Strafgerichtshof in Den Haagarbeitet: »Ein Amnestiegesetz, das Verbrechengegen die Menschlichkeit auszuradieren ver-sucht, obwohl diese nicht als politische Verbre-chen angesehen werden können, ist nichtig«,pariert Garzón den Vorwurf, mit seinen Unter-suchungen gegen das Amnestiegesetz versto-ßen zu haben.

Auch Menschenrechtsorganisationen wieHuman Rights Watch und Amnesty Internatio-nal teilen die Ansicht, daß es sich bei der Säu-berungswelle Ende der dreißiger und währendder vierziger Jahre in Spanien um »Verbrechengegen die Menschlichkeit« gehandelt habe, dieweder verjähren noch amnestiert werden dür-fen. Der UN-Menschenrechtsrat veröffentlichteim Jahr 2009 ein Dokument zum Thema Am-nestien, in dem er feststellte: »Amnestien sindnach internationalem Recht nicht statthaft,wenn dadurch die Verurteilung von Kriegsver-brechen, schweren Menschenrechtsverlet-zungen, Verbrechen gegen die Menschlichkeitoder Genozide verhindert werden.«

ewaltsamer Tod durch Erschießung«, hatder Forensiker Francisco Etxeberria, der

bei vielen Aushebungen der ARMH mitgewirkthat, in fast 5.000 Akten geschrieben. »80 Pro-zent der Leichen, die wir ausgraben, sind durcheinen Genickschuß gestorben. Viele wiesenKnochenbrüche auf, die vor dem Tod vermut-lich durch Folter entstanden sind. In Lagernoder Gefängnissen Ermordete hatten häufig Tu-berkulose und Mangelerscheinungen.« Etxe-berria schreibt für jeden Toten einen ausführli-chen Bericht mit Todesursache, geschätztemTodesdatum und den Umständen des Todes. Ergeht davon aus, daß allein im Rahmen der Ex-humierungen, an denen er beteiligt war, eineLastwagenladung an gerichtsmedizinischenBerichten entstanden ist. »Wir hatten eigent-lich damit gerechnet, daß diese Akten bald vorGericht verwendet werden würden«, sagt er. »Esist sogar unsere Pflicht, das Gericht zu infor-mieren, wenn wir Verdacht auf einen gewaltsa-

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»Größtmögliche Frustration«: Baltasar Garzón

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men Tod hegen«, fügt der Archäologe José Ma-ria Jiménez Sánchez hinzu. Doch den lokalenund regionalen Gerichten waren die insgesamt5.500 Schädel mit Nacken- oder Hinterkopf-einschüssen, die Jiménez Sánchez, Etxeberriaund ihre Kollegen gefunden haben, keinenBlick in die Akten wert.

Daß es um ein Verbrechen gewaltigen Aus-maßes geht, bestätigen die Arbeiten der »Aso-ciación Memorial Campo de Concentración deCastuera (Amecadec)« in den Minen vor demKonzentrationslager Castuera in der westspani-schen Provinz Badajoz. »Es handelte sich beiCastuera um ein echtes Vernichtungslager«,betont der Historiker Antonio Miguel Bernalimmer wieder. In Interviews, die die ARMHim Jahr 2002 aufnehmen konnte, berichtetendie letzten vier Überlebenden zum Beispiel vonder »Indianerseil« genannten Praxis: HunderteInsassen des Lagers, das in den Jahren 1939/40existierte, wurden mit Seilen aneinander gefes-selt und in die Minenschächte gestoßen. Umsicherzugehen, daß keiner überlebte, warf manHandgranaten hinterher, die die Schächte oftzum Einstürzen brachten. Ein Gerichtsmedizi-ner der ARMH, der in seiner Freizeit Höhlenerforscht, seilte sich vor einigen Jahren in eineder intakten Minen ab, in denen mehr als 10.000Tote vermutet werden. Die Bilder, die er aus derMine mitbrachte, machten jeden Kommentarüberflüssig, berichtet Guillermo León, Präsi-dent von Amecadec.

Doch sowohl die ARMH als auch Amecadecsehen im Fall von Castuera ihre Kapazitätenüberfordert. Die beiden Organisationen versu-chen seit Jahren, den Staat zur Finanzierung desProjekts zu bewegen. »Um hier arbeiten zu kön-nen, bräuchten wir eine ganz andere Infrastruk-tur und unbedingt mehr staatliche Unterstüt-zung«, so León. Die Arbeit von Amecadec, diesich derzeit auf kleinere Gräber rund um Ca-stuera beschränkt, wird zwar subventioniert,das Geld reicht aber nur, um eine einzige Ar-chäologin anzustellen. »Die Opfervereinigun-gen haben sich eigentlich gegründet, um denAngehörigen zur Seite zu stehen. Das Findenund Bergen der Leichen sollte Sache des Staatessein«, kritisiert León. Amecadec hatte sich 2005mit dem Ziel gegründet, Gedenkveranstaltun-gen durchzuführen, ein Denkmal zu errich-ten und Reparationen für ehemalige Insassenvon Arbeits- und Konzentrationslagern zu er-streiten.

Ein kleiner Schritt Richtung Transparenzist eine digitale Spanienkarte, die die inzwi-schen eingesetzte staatliche Stelle für »Ge-schichtsgedächtnis« (»Memoria Histórica«)veröffentlicht hat. Darauf sind die 2.246 Mas-sengräber verzeichnet, welche die Opferorgani-sationen in den Provinzen bislang lokalisierenkonnten. Zahlreiche rote Fähnchen weisen auflaufende oder abgeschlossene Ausgrabungenhin. Der ARMH-Präsident Silva stellt aber klar:»Dieses Ergebnis ist fast ausschließlich den lo-kalen und regionalen Opferverbänden und denfreiwilligen Helfern zu verdanken. Die Zahl derGräber, die von staatlicher Seite aus lokalisiert

oder ausgehoben wurden, ist verschwindendgering.«

Auch daß in Andalusien mittlerweile über500 und in Aragón fast 600 Gräber gefundenwurden, läge vor allem daran, daß die Bevöl-kerung dort besonders aktiv sei. Daß hingegenzum Beispiel in der Extremadura nur 46 Gräbergefunden wurden, bedeute nicht, daß es dortnur wenige gäbe, sondern, daß »dort die Re-pression noch immer fortwirkt«. Silva fordertmehr moralische Unterstützung und Anerken-nung für diejenigen, »die Kilometer für Kilo-meter ablaufen und mit Schaufeln Felder undStraßengräben ausheben, bis sie etwas gefun-den haben«. Während alle Welt nach Madridund in den Gerichtssaal blickte, beendete dieARMH in Guillena (Sevilla) in aller Stille undohne Medienresonanz die Exhumierung der als»17 Rosen« bekannten Ehefrauen von Republi-kanern, die man direkt auf dem Friedhof er-schossen hatte. Dennoch hatte es fast ein Jahr-zehnt gedauert, bis die Helfer ihr Grab fanden.

Mit Garzóns Freispruch vom Vorwurf desVerstoßes gegen das Amnestiegesetz ist dieSache nun für die Weltpresse und auch für ei-nen Großteil der spanischen Öffentlichkeit er-ledigt. Doch Silva weist darauf hin, daß dieRechtslage noch unklarer geworden ist, da imPrinzip das Amnestiegesetz noch einmal bestä-tigt wurde. »Es ist viel Schaden durch den Pro-zeß entstanden«, bedauert er. Seit Erhebung derAnklage gegen Garzón hätten lokale und regio-nale Gerichte die Gesuche der Opferorganisatio-nen rundweg abgelehnt. Ein Problem seienauch die Urteile derjenigen Gerichte, an dieGarzón damals die Kompetenzen abgegebenhatte. So sind zum Beispiel alle Nachforschun-gen im Zusammenhang mit dem Valle de Caí-dos (»Tal der Gefallenen«) auf Jahre verboten. Indem Tal, an dessen Ende sich Franco von Zwangs-arbeitern ein monströses Mausoleum bauen ließ,liegen bis zu 38.000 Gefallene beider Seiten. »Eswäre für die Familien schon hilfreich zu wissen,daß ihre Toten dort liegen, was sich mit bloßemAktenstudium klären ließe«, sagt der HistorikerJulián Casanova: »Was Spanien wirklich braucht,ist endlich eine Öffnung der Archive.«

Viel Zeit, sich der Ära des Faschismus inSpanien zu stellen, hat das Land nicht mehr,denn die Überlebenden sterben. Vor wenigenWochen wurde ein Brief an Baltasar Garzón ver-öffentlicht, in dem José María Echézar schil-dert, wie er zunächst seinen Vater verlor unddann einer seiner Brüder bei der gemeinsamenFlucht nach Frankreich erschossen wurde. Einweiterer Bruder starb an den Folgen fünfjähri-ger Folter, ein dritter beim Fluchtversuch ausdem Konzentrationslager »Miranda de Ebro«.Echézar hofft in dem Brief, der aus dem Jahr2008 stammt, sich mit Spanien noch versöhnenzu können. Doch er starb 2010 im französischenExil, ohne je irgend etwas über den Verbleib derLeichen seiner Familienangehörigen in Erfah-rung gebracht zu haben. l

Annika Müller schrieb in KONKRET 3/12 überArbeitsmigranten in Spanien

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